Alles liegt in Gottes Händen - Uschi Bauer

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Alles liegt in Gottes Händen - Uschi Bauer
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stern.de - 26.6.2004 - 15:56
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Interview
"Alles liegt in Gottes Händen"
Der amerikanische Neurochirug Benjamin Carson über
Beruf, Berufung und die bevorstehende Trennung von
Lea und Tabea.
Professor Carson, was war Ihr Eindruck, als Sie zum
ersten Mal am Bett von Lea und Tabea standen?
Mir fiel natürlich sofort auf, wie niedlich diese Mädchen
sind. Außerdem hat es mich ermutigt, dass beide so lebhaftes
Interesse an dem zeigen, was um sie herum geschieht. Das ist
nicht selbstverständlich. Oft dominiert bei Zwillingen einer.
Aber Lea und Tabea sind gleich aktiv und kräftig.
© Anne Schönharting
Benjamin Carson im Aufenthaltsraum des "Children's Hospitals des
Johns Hopkins Hospital Baltimore
Wünscht sich ein Chirurg wie Sie insgeheim eine so
außergewöhnliche Herausforderung wie die Trennung
siamesischer Zwillinge?
Sie werden überrascht sein: Ich bin nicht einmal gerne
Chirurg. Vom ersten Moment meiner Karriere an habe ich es
gehasst, Blut sehen zu müssen. Das ist immer noch so. Doch
Gott hat mir nun einmal das Talent eines Chirurgen gegeben.
Und sicher nicht, damit ich es nicht nutze. Was also soll ich
machen?
Was halten Sie denn für Ihre herausragenden Fähigkeiten?
Fürs Operieren ist das perfekte Zusammenspiel von Augen und Händen wichtig. Außerdem hat mir Gott wohl einen besonderen
Sinn für Konsequenzen gegeben. Als Chirurg muss ich bei jedem Schritt möglichst weit voraus denken und entsprechende
Entscheidungen treffen. Darum bete ich immer, Gott möge mir Weisheit verleihen. Weisheit, wie sie der biblische König
Salomon hatte - mein zweiter Vorname ist übrigens Solomon. Jeden Tag beginne und schließe ich damit, in der Bibel die Sprüche
dieses Königs zu lesen. Das Alte Testament erzählt, wie er einmal einen Fall zu entscheiden hatte, bei dem zwei Frauen Anspruch
auf dasselbe Kind erhoben. Weil sie sich nicht einigen konnten, entschied Salomon, das Kind solle in der Mitte geteilt werden. So
wurde er berühmt. Und auch ich bin bekannt geworden, weil ich Kinder durchtrenne. Gott scheint Humor zu haben.
Haben Sie keine Angst vor der Verantwortung, Lea und Tabea zu operieren?
Nein. Mir ist doch klar, was für ein schreckliches Leben sie ohne eine Trennung hätten. Darum müssen wir uns dieser Aufgabe
stellen.
Spielt es für Sie eine Rolle, dass die Eltern der Zwillinge gläubige Menschen wie Sie selbst sind und für Sie beten?
Darüber bin ich sehr glücklich. Sie glauben das vielleicht nicht, aber ich fühle tatsächlich die Kraft solcher Gebete, während ich
operiere. Ich trete auch niemals an einen OP-Tisch, ohne vorher selbst gebetet zu haben. Ich bitte Gott um Weisheit und Führung.
Und auch meine Kollegen ermutige ich dazu. Das Gleiche gilt für die Patienten. Je mehr Menschen beten, desto besser ist es.
Aber natürlich zwinge ich niemandem meinen Glauben auf.
Angeblich hören Sie beim Operieren klassische Musik...
Ja. Ich liebe besonders Barockmusik. Und der OP-Saal ist dafür extra mit einer Stereoanlage ausgerüstet worden.
Wie viele siamesische Zwillinge haben Sie schon getrennt?
Lea und Tabea werden das fünfte Paar sein. Solche Operationen sind nicht nur sehr selten, sondern immer auch höchst
kompliziert. Außerdem ist jeder Fall ganz anders als der vorhergehende - und darum eine große Herausforderung.
Sie können eine solche Aufgabe nur mit einem sehr kompetenten Team bewältigen. Wie wichtig ist es, dass da die Chemie
stimmt?
Ganz wichtig! Das ist auch der Grund, warum ich diese Operation zu Hause in Baltimore durchführen möchte. Hier arbeiten
einige der besten Spezialisten überhaupt, und zudem kenne ich die meisten schon mehr als 20 Jahre. Für den Verlauf der
Trennung ist es sehr wichtig, dass wir uns alle gut verstehen und viele Erfahrungen teilen.
Wie groß wird das Team sein?
Genau weiß ich es noch nicht. Bei der ersten Besprechung des Falles waren wir etwa 35 Chirurgen, Anästhesisten, Radiologen,
Kinderärzte, Schwestern und Pfleger. Es können aber noch mehr werden. Vielleicht 50.
Haben Sie schon entschieden, wie Sie Lea und Tabea trennen wollen?
Noch nicht. Erst wenn wir aus allen Untersuchungsdaten ein dreidimensionales Modell der Köpfe gebaut haben, können wir
sagen, wie wir am besten vorgehen und ob wir vielleicht noch besondere Instrumente brauchen.
Von den 60 am Kopf zusammengewachsenen
Zwillingskindern, die bisher weltweit operiert wurden,
überlebten nur sieben ohne bleibende Schäden. Haben
Lea und Tabea bessere Voraussetzungen für eine
Trennung als andere?
Die Geometrie der Köpfe ist sehr symmetrisch. Aber das
allein hilft im Moment nicht viel weiter. Die Neurochirurgie,
die wir zu bewältigen haben, ist sehr schwierig. Positiv ist
dabei aber die gute körperliche Verfassung der Kinder.
Sind Sie schon sicher, dass beide Mädchen vollständige
und voneinander getrennte Gehirne haben?
Das scheint so zu sein. Und es bedeutet, die beiden haben
gute Chancen, durch die Operation keine Hirnschäden zu
erleiden. Vorausgesetzt natürlich, es kommt nicht zu ernsten
Komplikationen wie einem Schlaganfall.
© Anne Schönharting
Lea und Tabea bei den ersten Untersuchungen: "Die
Trennungsoperation kann leicht 24 Stunden in Anspruch nehmen.
Inzwischen hat man den beiden Mädchen so genannte
Expander unter die Kopfhaut gepflanzt, die nach und
nach aufgepumpt werden, um zusätzliche Haut zu bilden
- der erste Schritt für die Trennung. Wann sind die
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30.06.2004
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Vielleicht dauert sie sogar zwei oder drei Tage"
Vorbereitungen abgeschlossen? Gibt es schon einen
Operationstermin?
Die Hauterweiterung wird etwa zehn bis zwölf Wochen in
Anspruch nehmen. Zurzeit gehen wir deshalb davon aus, die Trennung im September durchführen zu können.
Was werden Sie am Abend vor der Operation machen? Werden Sie lesen, Musik hören, beten und früh zu Bett gehen?
All das. Es sollte einfach ein entspannter Abend sein. Vielleicht spiele ich mit meiner Frau auch Pool-Billard. Ganz sicher aber
werde ich mit meiner Familie beten. Meine Frau und die Söhne werden auch am Tag der OP mit Ihren Gebeten bei mir sein. Wie
alle anderen Menschen auch, die am Schicksal der Zwillinge Anteil nehmen, werden sie den Atem anhalten und warten, wie es
ausgeht.
Vielen Chirurgen ist es wichtig, bei ihrer Arbeit die Gefühle so weit wie möglich zu unterdrücken. Denken Sie auch so?
Das Bild vom eiskalten Chirurgen sollte ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Ich habe nie gelernt, meine Emotionen am
Eingang des OPs abzulegen. Und ich hoffe, ich werde das auch nie lernen. Wie kann ich denn gefühllos sein, wenn Patienten so
viel Vertrauen in mich legen, dass sie mir ihren Körper anvertrauen, sogar ihr Gehirn, die Grundlage ihres Lebens? Wenn ich auf
ein Gehirn schaue, dann ist mir bewusst, dass ich dort die gesamte Persönlichkeit eines Menschen vor mir habe, all seine
Gedanken und Gefühle.
Wissen Ihre Patienten das zu schätzen?
Ja. Sogar, wenn etwas schief geht, nehmen sie einem das nicht übel, denn sie wissen, dass ich alles gegeben habe.
Was ist bei der Trennung von Lea und Tabea besonders gefährlich?
Blutungen sind in solchen Fällen ein riesiges Problem.
Könnten die beiden sogar verbluten?
Leider ja. Dazu kommt noch die Gefahr schwerer Schlaganfälle. Die Zwillinge teilen ein Stück einer wichtigen Vene, über die
das Blut vom Gehirn zurück zum Herzen fließt. Bei der Trennung werden wir dieses System verbundener Kreisläufe
manipulieren und dabei sehr auf der Hut sein müssen. Darum werden wir die Mädchen genauestens überwachen.
Im Fall der deutschen Binder-Zwillinge, die Sie 1987 getrennt haben, kam es zu gefährlichen Hirnschwellungen.
Befürchten Sie etwas Ähnliches bei Lea und Tabea?
Wir müssen auf so etwas vorbereitet sein. Sollte der Hirndruck tatsächlich ansteigen, werden wir nicht schneller, sondern
langsamer weiterarbeiten. So bekommt der Organismus der Mädchen Zeit, sich allmählich anzupassen.
Wie hoch ist das Infektionsrisiko? Und wann können Sie
sicher sein, dass diese Gefahr überstanden ist?
Da können wir leider nie sicher sein. Wir werden vorsorglich
Antibiotika einsetzen und natürlich unter höchster Sterilität
arbeiten. Darum sollten auch nicht mehr Menschen im OP
sein als erforderlich. Außerdem werden wir versuchen,
während der Operation so wenig Kontakt nach außen wie
möglich zu haben.
Wie lange werden Sie für die Trennung voraussichtlich
brauchen?
Eine solche Operation kann leicht 24 Stunden in Anspruch
nehmen. Sie kann sogar zwei oder drei Tage dauern.
Bei den Mädchen sind die Gefäße kleiner als bei
Erwachsenen. Wird die Trennung dadurch besonders
schwierig?
Wo nötig, werden wir ein Mikroskop einsetzen. Das Alter
der beiden hat aber auch einen großen Vorteil: die so
© Anne Schönharting
genannte Plastizität ihrer Gehirne. Einfach gesagt bedeutet
Ihr Glaube hilft Peter und Nelly, die schwierige Zeit durchzustehen
das, viele ihrer Neuronen haben sich noch nicht entschieden,
welche Aufgabe sie wahrnehmen wollen. Deshalb kann das
Gehirn notfalls noch relativ leicht bestimmte Funktionen von einem Areal auf ein anderes übertragen. Das ist sehr hilfreich für
uns.
Benjamin Carson
Vom Ghetto-Kid zum Star-Chirurgen
Seine Biografie liest sich wie ein Drehbuch
über den "schwarzen amerikanischen
Traum". Benjamin Carson war gerade acht,
als der Vater die Familie verließ - "wegen
Frauen und Drogen", wie der Sohn in seiner
Autobiografie schreibt. In der Schule war
Ben das gehänselte "Dummchen", Mutter
Sonya litt unter schweren Depressionen und
wusste kaum, wie sie ihn und den zwei Jahre
älteren Bruder Curtis durchbringen sollte. Düsterer konnten die
Startbedingungen für den 1951 in Detroit geborenen Jungen kaum
sein. Doch Ben landete nicht auf der Straße oder im Gefängnis,
sondern fand Halt im Glauben und rackerte sich Schritt für Schritt
heraus aus dem Ghetto. Arzt wollte er werden. Das wusste er schon
mit zehn. Und der Traum wurde wahr. Mit 33 war er bereits Professor
und Direktor der Kinderneurochirurgie an der renommierten Johns
Hopkins Universität in Baltimore, wo er heute noch arbeitet und mit
seiner Frau und drei Söhnen lebt. Nach bereits vier
Trennungsoperationen mit einem spektakulären Erfolg 1997 in
Südafrika gilt Carson als Top-Spezialist für am Kopf
zusammengewachsene siamesische Zwillinge.
Wie lange können Sie bei einer solchen Operation
durchhalten, ohne müde zu werden und die
Konzentration zu verlieren?
Das kann eigentlich nicht passieren. Es wird für mich und die
anderen Mitglieder des Teams immer wieder Zeit geben,
auszuruhen und sogar zu schlafen. Wir werden zum Beispiel
für jeweils fünf bis sieben Stunden abwechselnd auf der
Vorder- und Rückseite der Köpfe arbeiten. Dazwischen
werden die Zwillinge umgedreht. Diese heikle Prozedur
dauert ungefähr eine halbe Stunde. So lange haben wir schon
einmal Pause.
Könnte es bei gravierenden Problemen passieren, dass Sie
die Trennung abbrechen? Oder gibt es einen Punkt, von
dem an das nicht mehr ginge?
Wir werden Schritt für Schritt vorgehen und sehr genau
beobachten, was geschieht. Wir sind ja nicht in Eile. Sollte
sich also der Zustand der Mädchen verschlechtern, könnten
wir ihnen Zeit zum Erholen geben, bevor wir weitermachen.
Und schließlich könnte das auch bedeuten, dass wir ganz
abbrechen, die Situation neu analysieren und dann später
einen weiteren Versuch zur Trennung unternehmen müssten.
Ist es im ungünstigen Fall denkbar, dass Sie ein Mädchen zugunsten des anderen opfern müssen?
Auch das ist möglich. In diese Situation kamen wir zum Beispiel bei den Iranerinnen Ladan und Laleh im vergangenen Jahr in
Singapur. 90 Prozent der Operation hatten sie bereits gut überstanden. Doch dann verschlechterte sich ihr Zustand erheblich. Wir
mussten trotzdem weitermachen, weil die beiden erwachsenen Frauen sich für eine Trennung um jeden Preis entschieden hatten.
Bei Lea und Tabea wird das anders sein, da es solche Absprachen nicht gibt. Es ist allein die Entscheidung des medizinischen
Teams, wie wir vorgehen und wie weit wir gehen.
Wann werden die Mädchen nach einer erfolgreichen Trennung wieder wach sein? Wahrscheinlich etwa nach einem Tag.
Und wie lange werden sie dann noch auf der Intensivstation bleiben müssen? Nicht sehr lange, vermute ich. Als uns zum Beispiel
1997 die Trennung von Zwillingen in Südafrika gelungen war, konnten die Kinder schon nach drei Tagen wieder mit ihren Eltern
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30.06.2004
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essen.
Wie viele Folgeoperationen halten Sie bei Lea und Tabea für erforderlich?
Nur wenige. Und vielleicht könnten die sogar in Deutschland durchgeführt werden. Wie schwer ist es dabei, die jetzt noch
fehlenden Teile der beiden Schädel zu bilden? Verglichen mit der sehr komplexen Neurochirurgie, die wir bei der Trennung
hinter uns bringen müssen, ist das geradezu ein Kinderspiel.
Glauben Sie, Nelly und Peter werden Weihnachten mit ihren Zwillingen schon wieder zu Hause in Lemgo feiern können?
Das hoffe ich sehr. Aber ob es dazu kommen wird, liegt nicht in meinen, sondern in Gottes Händen.
Anette Lache/ Frank Ochmann
Meldung vom 25. Juni 2004
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30.06.2004