Einsichten und Perspektiven

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Einsichten und Perspektiven
Bayerische
Landeszentrale
für politische
Bildungsarbeit
4|08
Einsichten
und Perspektiven
Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte
Europäische Sicherheit nach
dem Georgien-Krieg • Ideen
einer Pax Germanica nach
1990 • Bevölkerungs- und
Wirtschaftsentwicklung im
vereinten Deutschland • Das
Reichskristallnachtpogrom
und seine juristische Aufarbeitung • Die Signifikanz
der Nürnberger Prozesse
Einsichten und Perspektiven
Autorinnen und Autoren dieses Heftes
Impressum
Prof. Dr. Alexander Gallus ist seit 2006 Juniorprofessor für
Einsichten
Zeitgeschichte am Historischen Institut der Universität Rostock.
und Perspektiven
Prof. Dr. Günther Heydemann hat seit 1993 den Lehrstuhl für
Verantwortlich:
Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig inne und
Werner Karg,
ist u.a. Mitglied des wissenschaftlichen Fachbeirats der Bundes-
Praterinsel 2,
stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin.
80538 München
Prof. Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik
Redaktion:
am Institut für Politikwissenschaft der Universität der Bundes-
Monika Franz, Werner Karg
wehr München.
Gestaltung:
Dr. Edith Raim arbeitet am Institut für Zeitgeschichte in Mün-
Griesbeckdesign
chen, derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Die
www.griesbeckdesign.de
Verfolgung der NS-Verbrechen durch deutsche Justizbehörden
seit 1945“.
Druck:
creo Druck &
Prof. Dr. Christoph J. M. Safferling, LL.M. (LSE) hat die Pro-
Medienservice GmbH,
fessur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht
Gutenbergstraße 1,
und Völkerrecht am Institut für Kriminalwissenschaften und In-
96050 Bamberg
stitut für Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität in Marburg inne. Er leitet hier auch das Forschungs- und Dokumentati-
Titelbild: Altersspezifisches
onszentrum für Kriegsverbrecherprozesse.
Wandervolumen in Deutschland in Gegenwart und Zukunft, vgl. S. 266.
Die Landeszentrale konnte die Urheberrechte nicht bei allen Bildern dieser
Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit,
glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren.
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Einsichten und Perspektiven
Inhalt
240
250
262
Alexander Gallus
Ideen einer Pax Germanica nach 1990.
Betrachtungen zum Erbe des deutschlandpolitischen „dritten Wegs“
Günther Heydemann
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im
vereinten Deutschland zwischen Wachstumsund Schrumpfungsprozessen
277
Veranstaltungshinweis
Bilanz und Vorausschau Große Koalition und
Bundestagswahl 2009
278
Edith Raim
Das Reichskristallnachtpogrom und seine
juristische Aufarbeitung
288
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Carlo Masala
Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Christoph Safferling
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Europäische Sicherheit
nach dem Georgien-Krieg
Von Carlo Masala
Gori, August 2008
240
Foto: ullstein bild
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Der folgende Beitrag geht der Frage nach, welche Veränderungen sich für Sicherheit
und Stabilität in und für Europa infolge des Georgien-Krieges erkennen lassen und
wie sich diese möglicherweise auf die europäische Sicherheit auswirken bzw. auswirken werden.
Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, dass der
russisch-georgische Krieg im Sommer 2008 für Europa
eine Zäsur darstellte. Wie sich diese auf die Kooperation
der Staaten des europäischen Kontinentes konkret auswirken wird, ist heutzutage nur schwer einzuschätzen.
Dazu sind viele Entwicklungen entweder noch im Embryonalstadium oder sie befinden sich in flux. Deshalb muss
jedes Spekulieren über die Auswirkungen der GeorgienKrise auf die europäische Sicherheit von einem festen theoretischen Fundament ausgehen, damit aus Spekulationen
begründete Spekulationen werden, die für den Leser nachvollziehbar und somit auch diskutierbar respektive kritisierbar werden. Dies will der vorliegende Beitrag dadurch
leisten, dass er zunächst – in gebotener Kürze – darlegt, von
welchen theoretischen Prämissen die Überlegungen des
Verfassers geleitet werden, um sich danach der Frage zuzuwenden, was durch den Georgien-Krieg verändert wurde
und was nicht. In einem dritten Schritt wird die Frage gestellt, welche Auswirkungen sich durch die Veränderungen
möglicherweise für die europäische Sicherheit ergeben werden bzw. bereits in nuce zu erkennen sind.
Theoretische Vorüberlegungen
Der vorliegende Beitrag geht von den neorealistischen Prämissen1 aus, wonach Außen- und Sicherheitspolitik sich in
einem dezentralisierten anarchischen Selbsthilfesystem
vollziehen, in dem Staaten unter den Bedingungen eines
Macht- und Sicherheitsdilemmas agieren und interagieren.2
Aus dieser Grundkonstellation resultiert ein kompetitiver
Charakter in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Da keine effektive übergeordnete Instanz existiert, die für Ordnung und Sicherheit im internationalen System Sorge tragen
kann, stellen staatliche Existenzerhaltung und ggf. Exis-
tenzentfaltung Probleme ersten Ranges dar. In ihren zwischenstaatlichen Beziehungen sind Staaten stets mit dem
Problem der Macht konfrontiert bzw. ihr ausgesetzt, sodass
Kooperation zwar nicht unmöglich, aber schwierig ist, da
eine übergeordnete Instanz fehlt, die den an der Kooperation beteiligten Staaten Erwartungssicherheit hinsichtlich
der voraussichtlichen Kosten/Nutzen bietet bzw. einen
Ausgleich zwischen Vor- und Nachteilen gewähren kann. In
dieser Perspektive ist Außen- und Sicherheitspolitik immer
Machtpolitik.
Ausgehend von dieser – zugegebenermaßen – sehr
holzschnittartigen Skizzierung der theoretischen Grundannahmen stellt sich nunmehr die Frage, welche Veränderungen sich im Internationalen System des 21. Jahrhunderts
abzeichnen und wie diese auf die internationale Politik wirken.
Veränderungen
Das Ende des Ost-West-Konflikts hat eine entscheidende
und einschneidende Veränderung mit Blick auf die Machtverteilung zwischen den Großmächten im internationalen
System nach sich gezogen, die fälschlicherweise von einigen
Wissenschaftlern3 und vor allem von der öffentlichen Meinung als Unipolarität charakterisiert wird.
Ein genauer Blick auf die gegenwärtig zwischen den
Großmächten existierende Machtverteilung, die an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben werden kann,
offenbart, dass es sich bei der gegenwärtigen internationalen Konstellation um ein multipolares System mit
unipolarem sicherheitspolitischem Kern handelt,4 in
dem die USA auf Grund ihrer militärischen Stärke eine
besondere, jedoch nicht die herausragende Stellung einnehmen.
1 Vgl. Carlo Masala, Kenneth Waltz, Eine Einführung und Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, Baden-Baden 2005.
2 Vgl. John H. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, S. 130–131.
3 William Wohlforth/Stephen G. Books, International Relations Theory and the Case Against Unilateralism, in: Perspectives on Politics, Bd.
3, Nr. 3, September 2005, S. 509–524.
4 Vgl. ausführlicher dazu: Carlo Masala, Den Blick nach Süden. Die NATO im Mittelmeerraum (1990–2003), Baden-Baden 2005, Kapitel II.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tagt in einer außerordentlichen Sitzung zum Georgien-Krieg, New York, August 2008.
Foto: ullstein bild
Ziel jeder amerikanischen Administration war es bislang,
die herausgehobene Position der USA im internationalen
System beizubehalten und sie sogar noch auszubauen. Auch
der zukünftige Präsident der USA, Barack Obama, hat sich
in seinen bisherigen Wahlkampfreden in diese Tradition
eingeordnet und die Stärkung der amerikanischen
Machtposition als Ziel seiner Administration hervorgehoben.5
Konsequenzen
Welches sind nunmehr die Konsequenzen, die aus der
Grundstruktur des internationalen Systems für die Außenund Sicherheitspolitik Europas resultieren?
Im Folgenden werden vier Auswirkungen näher zu
betrachten sein. Dies sind im Einzelnen der Aufstieg von
Großmächten, die Schwächung multilateraler Institutionen, das Ende des politischen Westens und die Rückkehr des
zwischenstaatlichen Krieges nach Europa.
Der Aufstieg von Großmächten. Nicht erst seit dem russisch-georgischen Krieg vom Sommer 2008 ist die Tendenz
zu beobachten, dass regionale Mächte mit zunehmendem
Selbstbewusstsein und ordnungspolitischem Anspruch auf
die Bühne der internationalen Politik zurückgekehrt sind.
Insbesondere Russland und China machen aus ihrem
Anspruch, regionale Ordnungsmächte zu sein, keinen
Hehl und betreiben, teils offen, teils verdeckt eine „strategy-of-denial“-Politik, die darauf abzielt, den militärischen, politischen und ökonomischen Einfluss der USA
in ihren jeweiligen Regionen zurückzudrängen.6 Aber
auch Brasilien und Indien entwickeln sich zu selbstbewussten regionalen Großmächten, die zunehmend die
institutionellen Strukturen der in Zeiten des Ost-WestKonfliktes aufgebauten Weltordnung in Frage stellen.7
All diesen aufsteigenden Mächten ist gemein, dass sie
(noch?) keine offen revisionistische Politik betreiben, die
5 Vgl. Barack Obama: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs Juli/August 2007, unter:
http://www.foreignaffairs.org/20070701faessay86401/barack-obama/renewing-american-leadership.html (Stand: 4. 12. 2008).
6 Zu Russland siehe Monica Duffy Toft, Russia’s Recipe for Empire, unter: http://www.foreignpolicy.com/story/cms.php?story_id=4462
(Stand: 4. 12. 2008); zu China vgl. Thomas Christensen, Fostering Stability or Creating a Monster? The Rise of China and U.S. Policy
toward East Asia, in: International Security 31 (2006) 1, S. 81–126.
7 Vgl. Sarah Sewall, A Strategy of Conservation: American Power and the International System, Harvard Kennedy School (Faculty Research
Papers) Mai 2008 (RWP08-028), S. 8.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
auf eine revolutionäre Umgestaltung der gegenwärtigen
internationalen Ordnung abzielt. Jedoch gibt es bereits Anzeichen dafür, dass einige dieser Staaten neben der machtpolitischen Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten auch
einen ordnungspolitischen Dissens bei der Interpretation
staatlicher Souveränität zu westlichen Staaten suchen.
Die von europäischen Staaten sowie den USA in der
letzten Dekade zusehends aufgeweichte Souveränitätsnorm, wonach interne Angelegenheiten eines Staates
unter gewissen Umständen (Genozid, ethnische Vertreibungen) das Eingreifen anderer Staaten zur Pflicht
machen (responsability to protect8) wird von diesen
aufsteigenden Mächten abgelehnt. An die Stelle einer
Aufweichung der Souveränitätsnorm betonen diese
Staaten (insbesondere Russland und China) die fortdauernde Relevanz des Nichteinmischungsprinzips.9
Wie sich der Aufstieg neuer Großmächte in Zukunft in concreto vollziehen wird, ob kooperativ oder konfrontativ, ist
eine Frage, die aus der heutigen Sicht nicht beantwortet werden kann. Gleichwohl ist es jedoch bereits jetzt absehbar,
dass das zukünftige internationale System ein multipolares
sein wird. Die Frage, ob diese Multipolarität eine stabile
oder instabile10 sein wird, hängt maßgeblich davon ab, ob
die aufsteigenden Mächte die neue Ordnung als eine legitime, somit ihren Interessen dienlich, oder illegitime perzipieren werden. Sollte letzteres der Fall sein, so ist eine Rückkehr zu einer globalen Politik der Konfrontation nicht auszuschließen.
Die Schwächung multilateraler Institutionen. Es ist bereits
angedeutet worden, dass die neuen aufstrebenden Großmächte die multilaterale Ordnung der Zeit des Ost-WestKonflikts zunehmend in Frage stellen.
Doch auch seitens der Staaten, die maßgeblich am Aufbau dieser Ordnung beteiligt waren (allen voran die
USA), wird die etablierte multilaterale Ordnung zunehmendem Druck ausgesetzt. Denn seit dem Ende des
Ost-West-Konflikts lehnen die USA zwar nicht den
Multilateralismus als System der zwischenstaatlichen
Beziehungen ab, torpedieren jedoch einen vertragsbasierten Multilateralismus, der ihre eigene Handlungsfreiheit (aus amerikanischer Perspektive) unnötig
einschränkt.11
An die Stelle vertraglich basierter und damit handlungseinschränkend wirkender multilateraler Institutionen setzen
die Vereinigten Staaten zunehmend auf informelle Gremien
(wie z.B. die Proliferation-Security-Initiative), die aus ihrer
Perspektive flexibler und effektiver sind und die die reale
Machtverteilung zwischen den USA und den anderen an
solchen Initiativen beteiligten Staaten widerspiegeln. Die
zunehmende Abkehr der USA von tradierten Institutionen
(insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich) wirkt darüber hinaus unmittelbar auf die europäische Sicherheitspolitik, auf Grund der Tatsache, dass eine Reihe von europäischen Staaten Mitglied der NATO ist. Aus amerikanischer
Sicht ist die Allianz ein zu vernachlässigendes Instrument
ihrer politischen und militärischen Machtprojektion gewor-
8 Vgl. Allen Buchanan/Robert O.Keohane, The Legitimacy of Global Governance Institutions, in: Ethics and International Affairs, 20 (2006)
4, S. 405–437.
9 Vgl. Joint statement on a new world order in the 21st century issued by China and Russia on 04/07/2005,
unter http://au.china-embassy.org/eng/xw/t202227.htm (Stand: 4. 12. 2008).
10 Zu der Unterscheidung zwischen stabiler und instabiler Multipolarität siehe John J. Mearsheimer, The Tragedy of Great Power Politics,
New York 2001, Chapter 8.
11 Vgl. G. John Ikenberry, Is American Multilateralism in Decline?, in: Perspectives on Politics, 1 (2003) 3, S. 533–550.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Karikatur: Götz Wiedenroth
den, wenn sie nicht zur Durchsetzung amerikanischer Interessen genutzt werden kann. Da nach dem Ende des OstWest-Konfliktes Interessendivergenzen zwischen den USA
und insbesondere den „alten europäischen“ NATO-Mitgliedern in nahezu allen politischen und militärischen Fragen
vorherrschen,12 ist seitens der amerikanischen Administration, aber auch der außenpolitischen Eliten am Potomac13
ein zunehmendes Desinteresse an der Allianz zu konstatieren. An die Stelle von Politik im Rahmen von Institutionen
tritt zunehmend Politik außerhalb von Institutionen, in
Direktoraten oder sogenannten Koalitionen „der Willigen“
und Fähigen.
Die Schwächung multilateraler Institutionen ist
jedoch nicht nur auf der globalen Ebene zu konstatieren und
nicht nur durch die USA verursacht, sondern vollzieht sich
auch regional.
Durch ihre Erweiterung nach Osten bei gleichzeitig
ausbleibender Vertiefung ist auch der europäische
Handlungsrahmen der Bundesrepublik Deutschland
in eine schwere Krise geraten, und zwar nicht nur
hinsichtlich der institutionellen Weiterentwicklung
der EU, sondern auch ihre Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik betreffend.
Insbesondere die Fragen, wie die Beziehungen zu den USA
und zu Russland zukünftig gestaltet werden sollen, spaltet
die Unionsmitglieder. Die meisten osteuropäischen Staaten
würden eine Konzeption befürworten, in der Europa unter
amerikanischer Hegemonie eine konfrontative Politik gegenüber der Russischen Föderation betreibt, was von den
meisten Gründungsmitgliedern der EU abgelehnt wird.
Dieser konzeptionelle Dissens lähmt die konsequente Wei-
12 Vgl. Helga Haftendorn, Das Ende der alten NATO, in: Internationale Politik 4/2002, S. 49–54.
13 So haben sich beide Kandidaten im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf kaum zur Allianz und ihrer Bedeutung für die Außen- und
Sicherheitspolitik der USA geäußert.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Karte: www.welt-atlas.de
terentwicklung der GASP (Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik) und vor allem der ESVP (Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik) hin zu Instrumenten
politischer und militärischer Machtprojektion der EU.14
Das Ende des politischen Westens. Die skizzierte Schwächung der beiden – für die Außen- und Sicherheitspolitik Europas zentralen multilateralen Institutionen –
fördert eine Einsicht zu Tage, der sich die meisten führenden Politiker der Bundesrepublik Deutschland bis
heute verwehren: nämlich die Tatsache, dass der Westen
als politische Handlungseinheit nicht mehr existiert.
Zwar werden die europäischen Staaten und die USA auch
weiterhin durch ihre gemeinsame Geschichte und Kultur
aufs Engste verbunden bleiben. Daraus aber zu folgern, dass
sie auch zukünftig eine stabile politische Handlungseinheit
bilden werden, ist verfehlt.15 Nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindes werden die USA und Europa nur noch auf
einer Ad-hoc-Basis, wenn Interessenidentität besteht, gemeinsam handeln, bei Interessendivergenzen zwischen den
USA und den Europäern, aber auch unter den Europäern
selbst wird Außen- und Sicherheitspolitik im transatlantischen und europäischen Rahmen durch Koalitionen der
Willigen und Fähigen dominiert sein. Diese werden sich
teils der vorhandenen Institutionen bedienen, wenn dies
jedoch nicht möglich sein sollte, auch außerhalb dieser handeln.
Die Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges nach Europa.
Die militärische Auseinandersetzung zwischen Russland
und Georgien im Sommer dieses Jahres hat deutlich gemacht, dass ein längst vergangen geglaubtes Szenario die
Bühne europäischer Politik wieder betreten hat: der zwischenstaatliche Krieg.
Kriege zwischen Staaten in Europa, so die bislang
gängige Meinung, waren theoretisch zwar nicht auszuschließen, wurden jedoch von sicherheitspolitischen
Planern als Residualkategorie betrachtet, deren Wahrscheinlichkeit eher gering war. Die militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und Georgien hat
jedoch deutlich gemacht, dass der zwischenstaatliche
Krieg zwischen europäischen Staaten beileibe kein
14 Daniela Kietz/ Volker Perthes (Hg.): Handlungsspielräume einer EU-Präsidentschaft. Eine Funktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im
ersten Halbjahr 2007, Berlin 2007.
15 Anders als Angelo Bolaffi und auch Werner Link sehe ich auch nicht die Aufteilung in den amerikanischen und den europäischen Westen,
da die Interessendivergenzen unter den Mitgliedstaaten der EU ebenso groß sind wie die zwischen der EU und den USA. Vgl. Angelo
Bolaffi in der FAZ vom 19. 05. 2003. Allerdings würde ich in Anknüpfung an beide Autoren auch argumentieren, dass die Rekonstruktion
des europäischen Westens eher wahrscheinlich ist als die des transatlantischen Westens.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Russische Panzer in Georgien, August 2008
Foto: ullstein bild
Relikt der Vergangenheit ist, sondern möglicherweise
europäische Sicherheit zukünftig stärker bestimmen
wird, als dies bislang angenommen wurde.
Einschränkend sollte jedoch darauf hingewiesen werden,
dass der zwischenstaatliche Krieg nicht die Charakteristika
des voll industrialisierten Krieges des 20. Jahrhunderts aufweisen wird,16 sondern eher ein begrenzter sein wird, in dem
kriegerische Handlungen dazu eingesetzt werden, Regierungen zu erpressen bzw. sie zu einer Veränderung existierender Politiken zu bewegen. Darüber hinaus wird der zwischenstaatliche Krieg des 21. Jahrhunderts keiner sein, in
dem Staaten Truppen über weite Entfernungen verlegen
werden, sondern es wird sich eher um Kriege zwischen
Nachbarstaaten handeln, die ohnehin schon große Truppenkontingente an ihren Grenzen massiert haben.
Auswirkungen auf die europäische
Sicherheitspolitik
Welches sind nunmehr die Auswirkungen, die die skizzierten Veränderungen auf die Sicherheit und Stabilität in und
für Europa haben werden? Es lassen sich bereits heute drei
Auswirkungen identifizieren: die Flexibilisierung europäischer Kooperation, die Flexibilisierung transatlantischer
Kooperation, die Herausbildung eines neuen Verhältnisses
zur russischen Föderation.
Die Flexibilisierung europäischer Kooperation. Die Veränderungen in den Rahmenbedingungen haben bereits in der
Vergangenheit dazu geführt, dass sich Kooperation innerhalb EU-Europas flexibilisiert hat. Dieser Trend wird sich
mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft fortsetzen.
Angesichts der Blockade, in der sich die Union seit geraumer Zeit befindet, könnte eine Pioniergruppe von
Staaten (im Idealfall die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge) vorangehen und dem Konzept der
differenzierten Integration endlich konkrete Gestalt
verleihen. Staaten, die politisch willens und fähig sind,
sollten in einzelnen Politikbereichen ihre Verbindungen
stärken, ohne dass sie von integrationswilligen Staaten
daran gehindert werden können.
Über ein solches Europa der variablen Geometrie würde
sich dann (im besten Falle) ein Kern europäischer Staaten
16 John Keegan: The First World War, London 1999.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
herausschälen, der in allen Politikbereichen der EU eine
Vertiefung ihrer Beziehungen anstrebt.17 Dieser Kern, der
potentiell für andere Staaten offen sein muss, würde insbesondere im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die EU nach außen (d.h. in der Internationalen
Politik) repräsentieren. Er würde die EU global handlungsfähig und zu einem verlässlichen Partner für andere Großmächte (und auch für die USA) machen. Zugleich würde damit auch die Voraussetzung geschaffen, an der der deutschen Bundeskanzlerin so viel liegt: eine „Stärkung [der]
transatlantischen Sicherheitspartnerschaft“.18
Die Stärkung der EU über die differenzierte Integration
würde es Deutschland und Frankreich als europäische
Führungsmächte erlauben, als Mitgestalter der zukünftigen multipolaren Ordnung auf der internationalen Bühne aufzutreten, ohne dass bei den europäischen
Staaten Ängste hinsichtlich einer deutsch-französischen
Dominanz über dem europäischen Kontinent geweckt
werden würden, da diese, qua ihrer integrativen Verflechtung mit Deutschland und Frankreich, Mitspracherechte19 bei deren Politik (sofern sie im europäischen
Rahmen erfolgt) hätten.
Die Flexibilisierung transatlantischer Kooperation. So wie
sich europäische Politik flexibilisieren wird, wird dies auch
im transatlantischen Verhältnis erfolgen. Die Zeiten, in
denen die USA und die europäischen Staaten eine politische
Einheit gebildet haben, sind passé. An die Stelle starrer
Handlungseinheiten werden flexible Koalitionen (je nach
politischer Interessenlage und machtpolitischer Fähigkeiten) treten. Dieses Szenario ist die Fortschreibung einer
bereits existierenden Tendenz.
Betrachtet man sich einmal die Art und Weise, wie im
Rahmen der NATO Kooperation über die letzten Jahre
erfolgt ist, so stellt man fest, dass sich allerorten Koalitionen der Willigen und Fähigen zusammenfinden,
wenn – was meist der Fall ist – gemeinsames Handeln
nicht möglich ist.
Diese Koalitionen gehen im Rahmen der NATO – wie dies
mit Blick auf die Afghanistan-Operation bereits der Fall
ist – sogar so weit, dass sie sich separat voneinander treffen,
um ihr Vorgehen zu beraten.20
Die Herausbildung eines neuen Verhältnisses zur russischen
Föderation. Zu den weitaus unklareren Perspektiven für die
Stabilität europäischer Sicherheit gehört die Frage, wie das
zukünftige Verhältnis zu Russland ausgestaltet werden soll.
Idealtypischerweise gibt es zwei denkbare Möglichkeiten. Die erste ist eine Verlängerung der Entwicklungen, die seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu
beobachten sind und die unter dem Schlagwort „Versailles-Komplex“ zusammengefasst werden können.
Diese Entwicklung würde bedeuten, dass der Westen bei der
Gestaltung seiner Politik weiterhin keine Rücksicht auf russische Interessen nimmt. Die NATO würde sich in diesem
Szenario – wie von allen amerikanischen Administrationen
gewünscht – um Georgien und die Ukraine erweitern und
würde auch den Bestrebungen der baltischen Staaten entsprechen, deren Sicherheit über Vorwärtsstationierungen zu
erhöhen.21 Russland würde dies als eine Einkreisung betrachten und mit einer forcierten Politik der Drohgebärden
reagieren.
Gegenwärtig könnte Russland, als Antwort auf eine solche Politik, auch noch seine energiepolitischen Muskeln spielen lassen und westeuropäischen Staaten mit einer
Reduzierung von Erdgaslieferungen drohen. Aber auch
nach 2014, dem Zeitpunkt, zu dem die meisten Analysten
eine Erschöpfung russischer Erdgasreserven erwarten, hätte
Russland noch genügend Macht, um die Stabilität des europäischen Kontinentes (negativ) zu beeinträchtigen.22 Von
der Öffentlichkeit, aber auch von der Wissenschaft kaum
beachtet, existiert zudem die Möglichkeit, die aus der Suspendierung des KSE-II-Vertrages resultierenden Möglichkeiten zur Dislozierung von konventionellen Streitkräften
in den europäischen Teil des Landes zu vollziehen. Dies
würde zu einer erheblichen Verschlechterung der konventionellen Sicherheitslage in Eurasien führen.
Will man ein solch negatives Szenario verhindern, scheint es
unumgänglich, zu einem politischen Ausgleich mit Russland zu gelangen. Die Tatsache, dass sich Russland von der
NATO und ihrer fortschreitenden Erweiterung in seinen
17 Aus der Fülle der Literatur, die zu diesem Konzept existiert, sei nur eine neuere Studie genannt. Janis Emmanouilidis, Conceptualizing a
Differentiated Europe, Athen 2008.
18 Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Eröffnung der neuen US-Botschaft, 4. 07. 2008 Berlin, abrufbar unter:
http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2008/07/2008-07-04-eroeffnung-amerikanische-botschaft.html (Stand 4. 12. 2008).
19 Vgl. Joseph M. Grieco, State Interests and Institutional Rule Trajectories: a Neorealist Interpretation of the Maastricht Treaty and European
Economic and Monetary Union, in: Benjamin Frankel (Hg.), Realism. Restatements and Renewal, London 1996, S. 261–306.
20 So die Auskunft eines hohen NATO-Beamten.
21 Vgl. www.guardian.co.uk/commentisfree/2008/oct/28/nato-georgia. (Stand 4. 12. 2008).
22 Dieter Senghaas, Konfliktformationen im internationalen System, Frankfurt/M. 1988.
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
Der russische Präsident
Medwedew spricht zur
Lage der Nation, Moskau,
November 2008.
Foto: action press
Generalsekretär der NATO,
de Hoop Scheffer, kündigt
die Wiederaufnahme der
Gespräche mit Russland an,
Brüssel, 3. 12. 2008.
Foto: Reuters
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Europäische Sicherheit nach dem Georgien-Krieg
vitalen nationalen Interessen bedroht fühlt, muss akzeptiert
werden.
Wie aus der Forschung zu den Internationalen Beziehungen bereits seit langem be- und anerkannt ist,
beruht staatliches Handeln weniger auf objektiven
Gegebenheiten, sondern stark auf der Wahrnehmung
und Perzeption äußerer Entwicklungen.23 Die russische
Perzeption sollte, auch wenn man sie seitens des
Westens nicht grundsätzlich teilt, ernst genommen
werden.
Sie sollte die Basis sein, um in einen politischen Dialog mit
der Russischen Föderation zu treten. An dessen Ende sollte die Schaffung einer möglicherweise neuen paneuropäischen Sicherheitsstruktur stehen. Dabei kann es selbstredend seitens der europäischen Staaten nicht hingenommen
werden, dass Russland einen solchen Dialog ohne die Vereinigten Staaten führen will.24
Dass Russland inakzeptable Vorbedingungen an einen solchen Dialog geknüpft hat,25 kann nicht automatisch bedeuten, dass man sich einem solchen Dialog verweigert. Der
Westen hat in den fünfziger und sechziger Jahren die Sowjetunion beständig in einen politischen Dialog eingebunden,
der in den siebziger Jahren zum Helsinki-Prozess (KSZE)
geführt hat, obgleich es auch damals die Intention der Sowjetunion gewesen war, die USA aus Europa herauszuhalten.
Akzeptiert man die Einsicht, dass politische Dialoge insbesondere in den Zeiten von Bedeutung sind, in denen
politische Beziehungen schwierig oder kompliziert sind,
ergibt die (mittlerweile partiell revidierte) Reaktion der
NATO, auf die Georgien-Krise die politische Dimension
des NATO-Russland-Rates auszusetzen, keinen Sinn.
Gegenwärtig ist es noch offen, in welche Richtung sich die
westlich-russischen Beziehungen entwickeln werden. Eins
ist jedoch deutlich geworden. Eine Politik, die auch weiterhin auf Abgrenzung und Ausgrenzung zielt, wird von
Russland als Provokation aufgefasst und mit einer konfrontativen Politik beantwortet werden. Eine solche Konstellation hätte jedoch für beide Seiten nur Nachteile. Sie würde
die Sicherheitslage in Europa erheblich verschlechtern.
Fazit
Der vorliegende Beitrag ist der Frage nachgegangen, welche
Auswirkungen der russisch-georgische Konflikt auf die europäische Sicherheit haben wird. Um diese Frage zu beantworten, wurden Entwicklungen in der internationalen Politik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nachgezeichnet
und analysiert.
Anknüpfend daran, wurden verschiedene Optionen der Entwicklung europäischer Sicherheit skizziert (die
europäische, die transatlantische und die russische Dimension). Dabei wurde deutlich, dass der Ausgestaltung der
westlich-russischen Beziehungen ein zentraler Stellenwert
für die Sicherheit und Stabilität des europäischen und eurasischen Kontinents zukommt. Ohne Russland, so die Argumentation, ist Stabilität in und für Europa nicht zu erzielen.
Aus dieser Perspektive scheinen eine An- und Einbindung des problematischen Partners Russland unerlässlich. Eine Strategie der Ausgrenzung würde für alle Seiten
nur Nachteile nach sich ziehen und den europäischen Kontinent instabiler machen. Die Errungenschaften jahrzehntelanger kluger Politik des Westens gegenüber der Sowjetunion und ihres Nachfolgestaates droht verloren zu
gehen. ❙
23 Robert Jervis, Perception and Misperception in International Relations, Princeton 1976.
24 Vgl. Reinhard Krumm, Das doppelte Russland. Zum Aufbruch bereit, in der Tradition gefangen, Berlin 2008.
25 Anlässlich des EU-Russland-Gipfels vom 14. November 2008 rückte Medwedew von dieser Vorbedingung ab.
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Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Ideen einer Pax Germanica
nach 1990
Betrachtungen zum Erbe des deutschlandpolitischen „dritten Wegs“
Von Alexander Gallus
Abbildung: Titelblatt 1981
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Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Am 10. März 1952 schlug die Sowjetregierung den Westmächten in einer Note den
Abschluss eines Friedensvertrags mit Deutschland vor. Es sollte seine Einheit und
Souveränität wiedererlangen, demokratisch verfasst sein und eine Nationalarmee
besitzen dürfen. Als Gegenleistung schwebten dem Kreml eine strikte Bündnisfreiheit
des Landes in der Mitte Europas und die Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze vor.
Es folgte ein Notenaustausch, der bis Ende September desselben Jahres anhielt und ergebnislos verlief. Denn für die
Westalliierten und Adenauer stand von Anfang an die
Ablehnung eines neutralisierten Gesamtdeutschland fest.
Schon bald nach der Stalinschen Offerte setzte der Streit
darüber ein, ob im Frühjahr 1952 mit dem Festhalten am
Westintegrationskurs der Bundesrepublik eine Chance zur
Wiedervereinigung verpasst wurde.
Aus einer zunächst politisch-publizistischen hat
sich bald eine Historikerdebatte entwickelt, die seit vielen
Jahren stets von Neuem auflebt und um die Frage kreist, ob
es sich bei der Stalin-Note um ein seriöses Angebot für ein
wiedervereinigtes Deutschland oder lediglich um ein propagandistisches Manöver handelte, um die westliche Integrationspolitik zu stören. Nach dem Ende des Ost-WestKonflikts hat die Diskussion ein neues Stadium erreicht, da
nun erstmals – auch interne – sowjetische Regierungsakten
zugänglich geworden sind. Zu einem Konsens zwischen den
Streitparteien hat dies indes nicht geführt. Die Auseinandersetzung hält auch noch mehr als ein halbes Jahrhundert
nach der sowjetischen Notenoffensive an.1 Insofern lebt das
Thema eines deutschlandpolitischen dritten Weges in dieser
Debatte fort, die ihre Brisanz seit jeher aus der Frage bezog,
„ob 1989/90 die erste oder die zweite Chance zur Wiedervereinigung ergriffen worden ist“.2
Mindestens in symbolischer Hinsicht besaß das Jahr
1952 eine große, weit ausstrahlende Bedeutung, spiegelte die Ablehnung der Stalin-Note doch die „Entscheidung für den Westen“ in komprimierter Form wider.3
Es mochte so scheinen, als sei die Option der deutschen
Blockfreiheit bereits 1952, spätestens aber mit dem west-
deutschen NATO-Beitritt 1955 endgültig vom Tisch
gewesen.
Sie war vor allem deshalb kein Thema mehr, weil die deutsche Einheit bis zum Fall der Mauer nicht wirklich auf der
Tagesordnung der internationalen Politik stand. Nach 1959
fanden für fast genau dreißig Jahre keine Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland
statt.5
Wer aber in den deutschlandpolitischen Akten des
Bundeskanzleramts der Jahre 1989/90 liest, dem begegnet häufig ein Schlagwort, das über Jahrzehnte hinweg
nicht mehr in regierungsoffiziellen Unterlagen aufgetaucht war. Die Rede war da von deutscher Neutralität,
Neutralisierung oder gar von Neutralismus.6
Der folgende Beitrag widmet sich zunächst der Diskussion
im Schlüsseljahr 1990, skizziert dann in „gegenchronologischer“ Weise die Bestrebungen eines dritten Weges in der
deutschen Frage bis dahin und würdigt dieses historisch im
Grunde klar begrenzbare Phänomen, bevor er – ungeachtet
dieser Tatsache – einen Ausblick vornimmt und nach Traditionsbeständen oder Überresten dieser Ideen nach der Wiedervereinigung sucht.
Die Diskussion im Wendejahr 1990
Gleichsam über Nacht kehrte die deutsche Frage auf das diplomatische Parkett zurück und mit ihr die Idee eines neutralen Gesamtdeutschland zwischen den Blöcken, wie es
Stalin 1952 vorgeschlagen hatte. Knapp vierzig Jahre später
1 Vgl. die neuesten Studien von Jürgen Zarusky (Hg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002;
Peter Ruggenthaler (Hg.), Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007.
Gerade die kommentierte Quellenedition Ruggenthalers liefert überzeugende Indizienbeweise für die „Propagandathese“. Siehe aber auch
die Kritik von Bernd Bonwetsch, Die Stalin-Note 1952 – kein Ende der Debatte, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung
2008, S. 106-113.
2 So Jürgen Zarusky: Einführung, in: ders. (wie Anm. 1), S. 10.
3 Erwin Wickert, Entscheidung für den Westen. Das Jahr 1952, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Januar 2002.
4 So pointiert Gregor Schöllgen, Die Macht des Mythos. Der Kalte Krieg, der Fall der Mauer und der Spielraum der deutschen Politik, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 1997.
5 Vgl. die grundlegende Studie von Hanns Jürgen Küsters, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit
Deutschland 1945–1990, München 2000.
6 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
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Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Unterzeichnung der „Zwei-Plus-Vier“-Dokumente durch die Außenminister (sitzend v. li. n. re.: James Baker (USA), Douglas Hurd
(GB), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Roland Dumas (F), Lothar de Maizière (DDR), Hans Dietrich Genscher (Bundesrepublik),
Moskau, 12. September 1990
Foto: ullstein bild
drohte der Neutralitätsstatus als sowjetische Bedingung für
ein wiedervereinigtes Deutschland zu einem ernstgemeinten Angebot zu werden, das sich nicht leicht würde ausschlagen lassen angesichts des Wunsches der Deutschen
nach staatlicher Einheit.
Die sowjetische Führung gab zwar schon frühzeitig im Februar 1990 ihr grundsätzliches Einverständnis zur
Wiedervereinigung. Sie beharrte aber hartnäckig auf dem
Standpunkt, dass ein vereintes Deutschland nicht der
NATO angehören dürfe. Michail Gorbatschows Deutschlandexperte Valentin Falin schloss in jenen Monaten eine
solche Kombination kategorisch aus: „Wer dafür ist, dass
ganz Deutschland an die NATO fällt, ist nicht für die deutsche Einheit.“7 Anders als bei diesem Hardliner und der unnachgiebigen Deutschlandabteilung des sowjetischen Außenministeriums verspürten Kanzler Helmut Kohl und
Präsident George Bush in der Absage von Kremlchef Gorbatschow gegenüber der NATO-Lösung indes eine gewisse Unsicherheit, ein Schwanken.
Die Amerikaner setzten dem bereits Ende
November 1989 eine entschlossene Ablehnung jeder Neu-
tralisierung als ein „essential“ für die Wiedervereinigung
entgegen. Sie suchten nach anderen Gegenleistungen, um
die Zustimmung der Sowjetunion zur Einheit unter westlichen Vorzeichen zu erhalten. Dabei hatten sie den Vorteil,
aus einer Position der Stärke heraus agieren zu können, ganz
im Unterschied zum außen- wie innenpolitisch angeschlagenen, ja in Auflösung begriffenen Sowjetreich. Unter dieser Grundbedingung der sowjetischen Schwäche gelang es
einer überaus geschickten amerikanischen Verhandlungsführung, Gorbatschow bei seinem Besuch in Washington
Ende Mai 1990 das Zugeständnis abzuringen, dass ein vereintes Deutschland selbst entscheiden dürfe, welchem
Bündnis es angehören wolle. Am 12. September 1990
schließlich unterzeichneten die sechs Außenminister der
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Moskau den „Vertrag
über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, der die freie Bündniswahl der Deutschen festschrieb.8
Alle Hindernisse für eine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands waren aus dem Weg geräumt. Dass
dies, was uns heute so selbstverständlich erscheint,
7 „Für militärische Neutralität“. Gorbatschows Deutschland-Experte Valentin Falin über die deutsche Einheit, in: Der Spiegel vom 19. Februar 1990, S. 169.
8 Zum diplomatischen Prozess siehe die Darstellung von Philip Zelikow/Condoleeza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit
und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997; die Rolle der Bundesregierung bei der Aushandlung der NATO-Mitgliedschaft relativiert
in pointierter Weise Andreas Rödder, „Durchbruch im Kaukasus“? Die deutsche Wiedervereinigung und die Zeitgeschichtsschreibung, in:
Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002, München 2003, S. 113–140.
252
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Ideen einer Pax Germanica nach 1990
gelingen sollte, war zu Beginn der Sondierungen alles
andere als gewiss. Eine solche Lösung kam erst in
Betracht, nachdem mit der kranken, bald dahingerafften Sowjetunion die gesamte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffene bipolare Ordnung ins
Straucheln geraten war.
Der Ost-West-Konflikt prägte die internationalen Beziehungen fast der gesamten zweiten Hälfte des „kurzen“ 20.
Jahrhunderts, das der britische Historiker Eric Hobsbawm
bezeichnenderweise Anfang der neunziger Jahre enden
sieht. Das in das atlantische Bündnis fest integrierte Gesamtdeutschland ist deutlichstes Symbol für das Ende des
Kalten Krieges, aus dem der „Westen“ als Sieger hervorgegangen ist, ohne dass damit das bald viel beschworene „Ende der Geschichte“ erreicht worden wäre.
Bis zu Gorbatschows „Kapitulation“ im Frühsommer
1990 stand die deutsche Neutralität allerdings noch auf
der Tagesordnung, und diese Tatsache nährte nicht
zuletzt bei Helmut Kohl die Befürchtung, eine solche
alternative Konzeption zur Westbindung könnte bei
der deutschen Linken und bei der Bevölkerung an
Einfluss und so auch innenpolitisch an Stoßkraft
gewinnen.
Hätte Gorbatschow schon bald nach dem Fall der Mauer
das Angebot einer raschen Wiedervereinigung gegen Neutralität unterbreitet, meinte Kohl einmal in seiner Schilderung des bündnispolitischen Einigungsprozesses, so wäre
ein solcher Vorschlag in der Öffentlichkeit beider deutscher
Staaten wohl auf Zustimmung gestoßen und hätte die Verhandlungsposition von Bundesregierung und Westalliierten
entscheidend schwächen können.
Das Institut für Demoskopie Allensbach fragte die Bundesbürger während der gesamten achtziger Jahre regelmäßig danach, wie sie zur Wiedervereinigung unter folgenden
drei Bedingungen stünden: Erstens sollten beide deutsche
Staaten aus den entgegengesetzten Militärbündnissen austreten, zweitens würde das vereinte Deutschland eine internationale Garantie für seinen neutralen Status erhalten, drittens schließlich dürften die Deutschen ihr Gesellschaftssystem selbst bestimmen. Diesen Vorschlag begrüßten stets jeweils rund fünfzig Prozent der Befragten. Es fand sich eine
Mehrheit für ein neutrales wiedervereinigtes Deutschland,
insofern das Ziel der Einheit mit Frieden und Sicherheit wie
mit Freiheit vereinbar wäre. Kohl mag diese und andere
Umfrageergebnisse, die ein schlummerndes neutralistisches
Potenzial in der Bevölkerung belegten, gekannt haben. Die
Aussicht, es könnte durch die Opposition zu neuem Leben
erweckt werden, bereitete ihm Sorge. In einem Gespräch
mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand
äußerte er Anfang März 1990 die Befürchtung, „dass die
gleichen Leute, die sich 1983 gegen die Stationierung der
Pershing II eingesetzt hätten, heute versuchten, eine Politik
der Neutralität für ein vereinigtes Deutschland durchzusetzen“.9
Rückblick auf ein historisches Phänomen
Ideen eines dritten Weges von der Nachrüstungsdebatte bis zur Wiedervereinigung
Helmut Kohl erinnerte an die Nachrüstungsdebatte Anfang
der achtziger Jahre, die damals im In- und Ausland den Eindruck erwecken konnte, Deutschland wolle sich vom Westen „abkoppeln“ und befände sich in einer „Akzeptanzkrise“. Der Historiker Michael Stürmer warnte fast beschwörend vor einem „Niedergang der Pax Americana“, mit dem
der „Aufstieg eines neuen Nationalismus neutralistischer
Observanz“ einhergehe. In dieser Entwicklung lägen „Gefahren, die die Nachricht vom Ende des deutschen Sonderwegs durch die Realität bald dementieren könnten“.10 Intellektuelle verschiedener Couleur waren in jenen Jahren
aufgeschreckt: Hans-Ulrich Wehler sah schon die Auferstehung der „Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland“,11 Arnulf Baring wunderte sich über „unseren neuen
Größenwahn“ und wies auf die Gefahr einer zumindest
„inneren Neutralisierung bei Aufrechterhaltung der formalen Westbindungen“ hin.12 Und der französische Beobachter Pierre Hassner fragte alarmiert: „Was geht bloß in
Deutschland vor?“13 Angesichts der vermeintlichen Drohkulisse und des möglichen internationalen Vertrauensverlusts wurden führende Politiker der Union, der Liberalen,
aber auch der Sozialdemokraten nicht müde, ihre Abneigung gegenüber jeglichen „neutralistischen Sonderwegen“
zum Ausdruck zu bringen.
Im historischen Rückblick erscheint die Aufregung
überzogen, zumindest was die „Nationalneutralisten“
9 In einem Telefongespräch vom 5. März 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik (wie Anm. 6), S. 911.
10 Michael Stürmer, in: Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München/Wien 1982, S. 45.
11 Hans-Ulrich Wehler: Wohlbehagen im Wolkenkuckucksheim. Die Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland, in: ders., Preußen ist
wieder chic… Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt/M. 1983, S. 47–52.
12 Arnulf Baring, Unser neuer Größenwahn. Deutschland zwischen Ost und West, Stuttgart 1988, S. 61.
13 Pierre Hassner, Was geht in Deutschland vor? Wiederbelebung der deutschen Frage durch Friedensbewegung und alternative Gruppe, in:
Europa-Archiv, 37 (1982), S. 517–527.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
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Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Broschüre der Berlin-Arbeitsgemeinschaft in der Alternativen
Liste aus dem Jahr 1981
Abbildung: Privatbesitz
Titelblatt 1983
betrifft, die ein blockfreies Gesamtdeutschland propagierten.14
Wohl zeigten sich in der SPD während des Stationierungsstreits und der Phase der „zweiten Ostpolitik“ Tendenzen
einer gewachsenen Distanz zu Amerika und der Äquidistanz. So tat Oskar Lafontaine in einem Aufsehen erregenden Buch seine „Angst vor den Freunden“ kund.15 Die Forderung des sozialdemokratischen Völkerrechtlers Theodor
Schweisfurth nach einer „‚Deutschen Eidgenossenschaft‘
immerwährender Neutralität“16 blieb indes die Ausnahme
in seiner Partei. Auch die Grünen waren ganz überwiegend
NATO-Gegner und von einem antiamerikanischen oder
wenigstens amerikakritischen Ressentiment geprägt. Aber
für ein vereintes Deutschland machten sie sich deswegen
noch lange nicht stark. In ihren Reihen dominierten „Euroneutralisten“, NATO-Befürworter waren ebenso wie nationale Neutralisten in der Minderheit.
Entgegen der zeitweise großen Aufmerksamkeit, die
ihm entgegengebracht wurde, blieb der „Nationalneutralismus“ eine Randerscheinung, die allerdings
im gesamten politischen Spektrum von weit links bis
rechts außen anzutreffen war.
Neben Einzelkämpfern in den etablierten Parteien zählten
die Mitglieder der „Arbeitsgruppe Berlin- und Deutschlandpolitik“ der Berliner Alternativen Liste (mit Herbert
Ammon und Peter Brandt als Ideengebern17) ebenso dazu
wie Rolf Stolz’ „Initiativkreis Linke Deutschland-Diskussion“, aber auch Nationaldemokraten wie Neonationalsozialisten, Nationalrevolutionäre wie Neue Rechte.
Zu unterschiedlich jedoch waren ihre Motive und Ziele,
zu mächtig ihre Einbindung in die traditionellen Lager
der Linken und Rechten, zu fundamental die Differenzen zwischen Demokraten und Extremisten, als dass
14 Vgl. die Gesamtdarstellung von Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–
1990, Düsseldorf 2006; siehe auch ders., Von Heinemann bis Havemann. Dritte Wege in Zeiten des Kalten Krieges, in: Deutschland Archiv,
41 (2007), S. 422–430; ders., Neutralistische Bestrebungen in Westdeutschland im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Relevanz – Varianten – Vertreter, in: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.), Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland
1945–1955, Essen 2008, S. 37–51; weiterführend auch Dominik Geppert/Udo Wengst (Hg.), Neutralität – Chance oder Chimäre? Konzepte
des Dritten Weges für Deutschland und die Welt 1945–1990, München 2005.
15 Oskar Lafontaine, Angst vor den Freunden. Die Atomwaffenstrategie der Supermächte zerstört die Bündnisse, Reinbek bei Hamburg 1983.
16 Theodor Schweisfurth, Neutral – sicher – frei: Eine deutsche Eidgenossenschaft?, in: Wolfgang Heisenberg/Dieter S. Lutz (Hg.), Sicherheitspolitik kontrovers. Auf dem Weg in die neunziger Jahre, Baden-Baden 1987, S. 659.
17 Einen guten Eindruck von der Position eines „linken Patriotismus“ vermittelt der Band von Peter Brandt: Schwieriges Vaterland. Deutsche
Einheit. Nationales Selbstverständnis. Soziale Emanzipation. Texte von 1980 bis heute, Berlin 2001; auch schon ders./Herbert Ammon
(Hg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek bei Hamburg 1981.
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Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Flugblatt der Gesamtdeutschen Volkspartei, o.J.
Abbildung: Deutsches Historisches
Museum, Berlin
sich auch nur im Ansatz eine einflussreiche Neutralitätsbewegung hätte herausbilden können.
Die gemeinsame neutralistische Idee vermochte diese stärkeren Bande nicht zu sprengen, auch wenn es an Versuchen
dazu nicht gefehlt hat. Verschiedene Aufrufe, Initiativen
und Unterschriftensammlungen, am bekanntesten die Havemann-Brief-Initiative Ende 1981, dienten diesem Zweck.
Auch der umtriebige Berliner Journalist Wolfgang Venohr,
der seit den fünfziger Jahren für ein neutrales Deutschland
focht, setzte sich unermüdlich mit publizistischen Mitteln
für einen dritten Weg als Pax Germanica, jenseits von links
und rechts, ein. Doch das öffentliche Echo, das solche Aktionen hervorriefen, verhallte rasch.18
Rückgriff auf Ladenhüter aus den fünfziger Jahren
Als der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann 1987 „Einheit statt Raketen“19 forderte, wunderte
sich Wilhelm Grewe, der alte außenpolitische Mitstreiter
und Gedankengeber Konrad Adenauers, dass es „keinen
Ladenhüter vergangener Konferenz- und Notenschlachten“ gebe, „der hier nicht in aller Unschuld wieder hervorgebracht würde“. Er meinte, „dass alles, aber auch alles“,
was Friedmann vorschlug, „im Laufe der letzten vierzig
Jahre schon unzählige Male gesagt, geschrieben, verkündet,
bezweifelt, beantwortet“ worden war.20
Das Thema der deutschen Neutralität war in
Grewes Augen von gestern, ein historisches Phänomen des
ersten Nachkriegsjahrzehnts, das schon damals seine Untauglichkeit erwiesen habe. Er dürfte hier insbesondere an
Gustav Heinemanns Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP)
gedacht haben, die bei den Bundestagswahlen 1953 lediglich
knapp 1,2 Prozent der Stimmen erlangen konnte. Ungeachtet dieser elektoralen Schlappe waren die Jahre bis zum
NATO-Beitritt der Bundesrepublik 1955 aber ähnlich wie
die achtziger Jahre von einer Vielzahl neutralistischer Vorstöße geprägt.21 Dabei unterschieden sich die zwei „Blütezeiten“ des Nationalneutralismus’ dadurch, dass die erste
deutlich mehr diplomatische Relevanz besaß als die zweite,
die – abgesehen vom Jahr 1990 – nie über eine Standortdebatte zur deutschen Frage in engen publizistischen Bahnen hinausgelangte.22
Adenauer, der die neue Tradition der Westbindung
begründete und zu seinem Herzensanliegen machte,
sorgte sich ähnlich wie sein Enkel Kohl Jahrzehnte
später, dass die deutsche Neutralität zum Gegenstand
von Vier-Mächte-Verhandlungen werden könnte.
18 Siehe dazu auch Lutz Haarmann, „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“. Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren, Berlin 2005
19 Vgl. Bernhard Friedmann, Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept, Herford 1987.
20 Zit. nach Baring (wie Anm. 12), S. 183, 310.
21 Vgl. Gallus, Neutralisten (wie Anm. 14), S. 57–264; sowie die ältere Studie von Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in
Westdeutschland zwischen 1945 und 1955, Hamburg 1974; zusätzlich Michael Werner, Die „Ohne-mich“-Bewegung. Die bundesdeutsche
Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949–1955), Münster 2006.
22 Vgl. Karl-Rudolf Korte, Der Standort der Deutschen. Akzentverlagerungen der deutschen Frage in der Bundesrepublik Deutschland seit
den siebziger Jahren, Köln 1990.
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Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Titelblatt 1983
Titelblatt 1949
Denn bis in die fünfziger Jahre hinein tauchte im Vorfeld
von internationalen Konferenzen das Gespenst einer Neutralisierung hin und wieder auf. Und solche Pläne waren
nicht nur sowjetischen, sondern gelegentlich auch westalliierten Ursprungs.23 So durchlebte der erste Bundeskanzler,
dem Neutralisierung gleichbedeutend mit Sowjetisierung
war, vor Beginn der Pariser Vier-Mächte-Konferenz im
Frühjahr 1951 angstvolle Monate, als ihn die Nachricht erreichte, so einflussreiche Persönlichkeiten wie der ehemalige amerikanische Präsident Herbert Hoover und der Publizist Walter Lippmann träten für einen Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa ein.24
Fast zur gleichen Zeit bemühten sich verschiedene
neutralistische Gruppen in Deutschland um eine Vereinigung. Auf Einladung des Hamburger Journalisten Wolf
Schenke versammelten sich in Frankfurt 130 Personen aus
35 Gruppierungen, um den „Deutschen Kongress“ zu gründen, der für eine aktive deutsche Neutralitätspolitik eintrat.
Dies war der ehrgeizigste Versuch der Neutralisten während der fünfziger Jahre, sich öffentlich Gehör zu verschaffen und politisch an Kraft zu gewinnen. Doch stattdessen
endete er nach wenigen Treffen in einem Eklat und symbolisierte damit das Scheitern der Neutralitätsanhänger überhaupt. Den Protagonisten des Kongresses – neben Schenke
und seiner „Dritten Front“ der Würzburger Geschichtsprofessor Ulrich Noack und sein „Nauheimer Kreis“ sowie
der ehemalige schleswig-holsteinische Landwirtschaftsminister Erich Arp und seine „Oppositionellen Sozialdemokraten“ – gelang es nicht, einen Kompromiss zu finden.
Das gemeinsame nationalneutralistische Fundament war wenig tragfähig und brach rasch ein. Schenke
fluchte angesichts dieser Tatsache einmal, er gedenke „in
Zukunft keine Minute Zeit mehr daran zu verschwenden,
irgendeine Sammlung heterogener Kräfte zusammenzubringen oder zu fördern, die sich lediglich in der Frage der
deutschen Außenpolitik einig sind“.25
Ende und Bedeutung der Bestrebungen nach einem
deutschlandpolitischen dritten Weg
Der „Deutsche Kongress“ repräsentierte den Zustand des
Nationalneutralismus, der ein wenig einheitliches Phänomen war. Denn über den von Schenke benannten Minimalkonsens hinaus wichen die Positionen der einzelnen Neutralistenzirkel in vielfältiger Weise voneinander ab. Waren
für die einen nationale Beweggründe entscheidend, so überwog bei den anderen eine pazifistische Grundhaltung. War
die Neutralität für manche nur ein pragmatisches Mittel, um
die Einheit zu erlangen, so galt sie anderen als Voraussetzung für einen weitergehenden dritten Weg einer gesellschaftlich-politischen Neuordnung.
23 Vgl. Andreas Hillgruber, Alliierte Pläne für eine „Neutralisierung“ Deutschlands 1945–1955, Opladen 1987.
24 Siehe hierzu Thomas Reuther, Die ambivalente Normalisierung. Deutschlanddiskurs und Deutschlandbilder in den USA, 1941–1955,
Stuttgart 2000, S. 307–339.
25 Wolf Schenke, in: Informationsbrief der Dritten Front, Nr. III/27 vom 12. Oktober 1953.
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Ideen einer Pax Germanica nach 1990
In letzterem lag der entscheidende Unterschied zwischen den verschiedenen Neutralisten: Die einen fühlten sich dem politischen System der Bundesrepublik
und ihrer Gesellschaftsordnung verpflichtet, während
die anderen über den außen- und sicherheitspolitischen
dritten Weg hinaus einen gesellschaftlich-ideologischen
Neutralismus befürworteten, gar den deutschen Eigenoder „Sonderweg“ fortsetzen wollten.
Da beide Richtungen Außenseiterpositionen blieben und
mit ihrem Anliegen eines neutralen Gesamtdeutschlands in
einer Zeit scheiterten, die keine Zwischenpositionen zuließ,
stellt sich die Frage, worin dann die Bedeutung der Neutralisten besteht. Sie liegt in zweierlei begründet:
• Erstens gab es keine zweite Strömung, die während der
gesamten deutschen Teilungsgeschichte von 1945 bis 1990
derart anhaltend für die deutsche Einheit als Ziel einer handelnden Politik eingetreten ist, so unausgegoren und inakzeptabel ihre Vorstellungen im Einzelnen auch gewesen sein
mögen. Unaufhörlich haben sie auf die „Wunde namens
Deutschland“ (Martin Walser) hingewiesen.
• Zweitens ist die Tatsache des Scheiterns selbst von Bedeutung. Die Schwäche der Nationalneutralisten, die keineswegs von vornherein zu erwarten war, standen sie doch stärker als die Anhänger der Westbindung in der Tradition der
deutschen Geschichte, spiegelt nämlich in besonders deutlicher Weise den Bruch der Bundesrepublik mit dem viel
beschworenen antiliberalen, antiwestlichen und antidemokratischen „Sonderweg“, ja mit der deutschen Geschichte
selbst wider. Eine deutsche Schaukelpolitik zwischen Ost
und West sollte es nach 1945 nicht mehr geben. Im
Epochenjahr 1990 flackerte die deutsche Neutralitätsidee
nochmals kurzzeitig auf, bevor sie in das Reich der Vergangenheit verwiesen wurde.
Das Erbe und die Tradition des
„deutschen Weges“ nach 1990
Die Neutralisten haben uns wenig hinterlassen. Gemeinsam
mit ihnen, diese Grundthese dürfte kaum von der Hand zu
weisen sein, ist der „Sonderweg“ begraben worden und
Deutschland endgültig im Westen angekommen. Aber genauso wie inzwischen wiederholt Kritik an den allzu
schnörkellosen Narrativen einer reinen westdeutschen Er-
folgs- und Ankunftshistorie geübt worden ist,26 soll die Frage nach dem neutralistischen Erbe und Traditionsbeständen
eines „deutschen Weges“ wenigstens aufgeworfen werden.
In der Tat favorisierte auch nach 1990 manch eingefleischter Neutralist aus der Zeit des Ost-WestKonflikts einen außenpolitischen dritten Weg für
Deutschland.27
So war der Fernsehjournalist Michael Vogt, in den achtziger
Jahren ein Verfechter der gesamtdeutschen Neutralität an
der Seite Wolfgang Venohrs und aktiv im burschenschaftlichen Milieu, noch 1992 von folgendem Grundgedanken
überzeugt: „Über die militärische Neutralität führt der Weg
[…] zu einer Sicherheits-Partnerschaft mit Russland. Die
geopolitischen Gesetze bleiben auch im ausgehenden 20.
Jahrhundert gültig.“ Weiter hieß es: „Das wiedergeborene
Deutschland wird den Weg im 21. Jahrhundert in der Sicherheitspartnerschaft mit Russland gehen, oder es wird auf
die nächste, diesmal vielleicht letzte, weil endgültige Katastrophe seiner Geschichte zusteuern.“ Vogt, der dem neurechten Milieu zuzurechnen ist, zeichnete Zerrbilder der in
seinen Augen antideutschen Organisationen des „NATOMilitärpakts“ und „EG-Wirtschaftsblocks“. Schließlich
hätten sie niemals ein ernsthaftes Interesse an der deutschen
Einheit besessen. Deshalb sei es an der Zeit, dass aus diesen
angeblichen „‚Partnern’ wieder Konkurrenten, Gegner,
Feinde“ würden. Stattdessen werde die neue „deutsch-russische Freundschaft“ die nötige Sicherheit gegen „westliche
Begehrlichkeiten und latente Aggressionen“ gewährleisten.28
Nicht ganz so ungestüm wie sein früherer Kollege
bekundete auch Venohr seine Anti-NATO-Haltung. Im
Jahr 1991 plädierte er dafür, nach der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation bis spätestens 1999 die
NATO aus Europa zu entfernen und durch das historische
Modell einer europäischen „Pentarchie“ zu ersetzen. Die
„fünf
europäischen
Verantwortungs-Großmächte“
Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und
„Großrussland“, wie es bei Venohr hieß, sollten Europa in
steter Kooperation außen- und sicherheitspolitisch neu
ordnen. Dies werde ihnen dann am besten gelingen, wenn
sie „bei den beiden großen Staatsmännern des 19. Jahrhunderts, bei Metternich und Bismarck, in die Schule“ gin-
26 Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bände, München 2000; Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1999; zur Kritik an der „Ankunftshistorie“ vgl. Klaus Naumann: Reden wir endlich vom
Ende!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. August 2001.
27 Vgl. Eckhard Jesse, Der „dritte Weg“ vor und nach der Wiedervereinigung, in: Rainer Zitelmann u. a. (Hg.): Westbindung. Chancen und
Risiken für Deutschland, Berlin/Frankfurt/M. 1993, S. 215–241; dieser Teil stützt sich wesentlich auf Gallus: Neutralisten (wie Anm. 14),
S. 479–485.
28 Michael Vogt, Von der Rückkehr zur Normalität. Deutschlands Weg in die Völkergemeinschaft, in: Handbuch zur Deutschen Nation, Band
4: Deutschlands Einigung und Europas Zukunft, hg. von Hellmut Diwald, Tübingen u. a. 1992, S. 38, 47 (Hervorhebungen im Original).
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Titelblatt 1982
Titelblatt 1993
gen.29 Auch diese hanebüchene Stellungnahme aus dem Jahr
1991 erschien in einem Organ der radikalen intellektuellen
Rechten, in der „Jungen Freiheit“.
„Deutschland gehört dem Osten.“32
Der sich selbst als Nationalpazifist bezeichnende
Alfred Mechtersheimer, der eine ähnlich wechselvolle politische Karriere, zwischen rechts und links schwankend, wie
Eichberg hinter sich hatte und nach 1990 als Kopf des so
genannten Starnberger Friedenskomitees 2000 sowie der
„Deutschland-Bewegung“ fungierte, hoffte im Jahr 1993
ebenfalls auf eine Entlegitimierung der NATO. Damit verband er einen deutschen „Friedenspatriotismus“. Deutschland sei zur Friedensmacht prädestiniert, weil es – wie es in
einer Äußerung, die nur Kopfschütteln hervorrufen konnte, hieß – „die am wenigsten kriegerische Vergangenheit in
Europa“ vorzuweisen habe. Dies war in Mechtersheimers
höchst abenteuerlicher Geschichtssicht ein „historischer
Besitzstand, der auch durch die deutsche Mitschuld am
Ersten und die Schuld am Zweiten Weltkrieg nicht zerstört
wurde“. Die deutsche Zukunft erkannte er in der Bündelung der eigenen, der nationalen Kräfte.33
Rolf Stolz, 1990 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender des Friedenskomitees 2000, übte 1997 – wie schon vor
der Wiedervereinigung – heftige Kritik an der Integration
Deutschlands in europäische und atlantische Strukturen.
Das „Diktat der Zwei-plus-vier-Verträge“ von 1990 erinnerte ihn an die Versailler Bestimmungen vom Ende des
Ersten Weltkriegs. Die neuen Regelungen würden
„Deutschland auf unabsehbare Zeit den amerikanischen Be-
Überhaupt schrieben nach 1990 rechtsextreme und
nationalrevolutionäre Kräfte das Ausscheiden Deutschlands aus der NATO auf ihre Fahnen. Zu wünschen sei
– so war während des Golfkrieges von 1991 im NPDParteiorgan „Deutsche Stimme“ zu lesen – „nach dem
Ausscheiden Mitteldeutschlands, der ehemaligen DDR,
aus dem Warschauer Pakt nun endlich auch der Austritt der Bundesrepublik aus der NATO“.30
Der europäischen Integration begegneten die Rechtsextremisten ohnehin ablehnend und interpretierten neben der
NATO die EG/EU als „Instrumente der internationalen
Disziplinierung und Fremdbestimmung der Deutschen“.31
Der nationalrevolutionäre Vordenker Henning Eichberg
verwarf aus ähnlichen Beweggründen die Westbindung in
einem weit über sicherheitspolitische Aspekte hinausreichenden Verständnis. Er hielt eine äquidistante oder neutrale Haltung für unzureichend. Es sei zu bedenken, dass
Deutschland „immer wesentliche Teile seines Erbes und seiner Inspiration aus dem Osten bezogen“ habe, „aus seinem
eigenen Osten und aus dem weiteren europäischen Osten“.
Eichberg bündelte dies in einem regelrechten Schlachtruf:
29
30
31
32
33
Wolfgang Venohr, Europa braucht eine neue Statur, in: Junge Freiheit vom April 1991, S. 7.
Deutsche Stimme, Nr. 3/1991, zit. nach: Verfassungsschutzbericht 1991, hg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1992, S. 111.
Zit. nach: Verfassungsschutzbericht 1993, hg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1994, S. 132.
Henning Eichberg, Der Fall der Mauer. Fragen und Fragmente, Sonderdruck aus: Wir selbst, Nr. 1/1990, S. 2.
Alfred Mechtersheimer, Friedensmacht Deutschland. Plädoyer für einen neuen Patriotismus, Berlin-Frankfurt/M. 1993, S. 376, 380.
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satzungstruppen und anderen Okkupanten ausliefern und
es an den amerikanisch dominierten NATO-Block ketten“.
Stolz’ Polemik richtete sich aber nicht nur gegen äußere
„Gegner“, sondern auch gegen die politische Ordnung der
Bundesrepublik sowie der Europäischen Union: Heute sei
„das staatlich vereinigte Restdeutschland von seinen eigenen Herrschern, von einer Allparteienkoalition aus Landesverrätern und Polit-Profiteuren, zur Liquidation zugunsten
der schon bei ihrer Gründung bankrotten Brüsseler
Schwindelfirma ‚EUROPA AG‘ freigegeben. In ihrem
grenzenlosen Hass gegen das deutsche Volk, gegen seine
Geschichte, seine Kultur und seine Sprache“, trieb Stolz seinen verbalen Feldzug auf die Spitze, „streben diese Leute
ein freiwilliges Super-Versailles an, die Endlösung für die
deutsche Nation, die Auslöschung Deutschlands durch Beseitigung der teils durch Zuwanderer ersetzten, teils zu
multikulturellen und multifunktionalen Euro-Zombies
umfunktionierten Ex-Deutschen.“34 Die Übereinstimmungen in Rhetorik und Ideologie mit rechtsextremistischen
Stellungnahmen waren im Falle Stolz’, der sich selbst stets
als Linken bezeichnete, augenfällig.
Zumal in dieser Radikalität repräsentieren Vogt,
Venohr, Eichberg, Mechtersheimer und Stolz – wenn überhaupt – eine denkbar kleine Anzahl von einstigen Nationalneutralisten, die den alten Ideenbestand hochhielten oder
sogar in manch steile neue These transformierten. Sie machten sich damit selbst zum Teil einer kaum ernst zu nehmenden „lunatic fringe“.
Eine explorative Umfrage unter weniger exzentrischen Anhängern des Neutralitätsgedankens aus den achtziger Jahren zu den Themen der Neutralität und Westbindung nach 1990 zeitigte weniger dramatische – oder besser:
skurrile – Antworten. Gefragt – „Wenn in den Jahren 1989/
90 die uneingeschränkte Wahl zwischen einem neutralen auf
der einen Seite und einem der NATO angehörenden Gesamtdeutschland auf der anderen Seite bestanden hätte, welchen Weg hätten Sie für wünschenswerter gehalten? (Oder
hätten Sie einen von diesen beiden Möglichkeiten abweichenden Weg bevorzugt?)“ –, stimmte Bernhard Friedmann, in den achtziger Jahren CDU-Bundestagsabgeord-
neter und von 1996 bis 1999 Präsident des Europäischen
Rechnungshofes in Luxemburg, ohne Wenn und Aber für
die NATO-Zugehörigkeit.35 Der einstige Begründer des
Initiativkreises Friedensvertrag, Richard Sperber, wünschte
sich für Deutschland innerhalb der NATO einen Frankreich vergleichbaren Status,36 der „linke Patriot“ Herbert
Ammon ein stärkeres Eigengewicht des Landes innerhalb
des Verteidigungsbündnisses.37 Sein Mitstreiter im Kampf
um ein „unverkrampfteres“ linkes Nationsverständnis,
Peter Brandt, schwebte „langfristig eine Verschmelzung der
Strukturen von OSZE und NATO“ vor, wobei er auf eine
besonders enge und weiter zu vertiefende deutsch-französische Kooperation hoffte. „Das Ziel wäre aber nicht eine
imperiale Supermacht Westeuropa, sondern die sicherheitspolitische Absicherung einer gegenüber Nordamerika und
Ostasien alternativen zivilisatorischen Entwicklung im alten Kontinent (mit den bekannten demokratisch-sozialen
und ökologischen Elementen).“38 Auch der der SPD nahestehende Theodor Schweisfurth wünschte sich die „Umwandlung der KSZE in ein kollektives Sicherheitssystem“,
seien NATO und Warschauer Pakt doch die „organisatorischen Formen der Spaltung des Kontinents und der Konfrontation seiner Teile gewesen“.39
Die Befragten begrüßten insgesamt die außenpolitische Westbindung, mahnten allerdings durchweg eine
Öffnung nach Osten an. Außer Sperber, der von einem „verhängnisvollen Irrweg“40 sprach, begegneten sie der voranschreitenden europäischen Integration mit Wohlwollen, sofern damit keine fortschreitende Distanzierung zu Ost(mittel)europa einhergehe. Für Peter Brandt sollte Deutschland
in dieser Hinsicht eine „Brückenfunktion in Gesamteuropa“41 erfüllen.
In den Antworten auf die Frage – „Wenn Sie die
innen-, gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entwicklung Deutschlands seit Beginn des Vereinigungsprozesses
betrachten, begrüßen Sie diesen Vorgang oder hätten Sie
sich einen anderen Ablauf gewünscht, für richtiger gehalten?“ – beschränkte sich die Kritik auf einzelne Aspekte;
eine grundstürzende Alternative oder gesellschaftspolitischen dritten Weg präsentierte keiner der Befragten.
34 Rolf Stolz, 1967 bis heute: Blicke zurück auf einige Bewegungen, in: Claus-M. Wolfschlag (Hg.), Bye-Bye ’68... Renegaten der Linken,
APO-Abweichler und allerlei Querdenker berichten, Graz/Stuttgart 1998, S. 217.
35 Vgl. den von Bernhard Friedmann beantworteten Fragebogen an den Autor vom 16. Juli 1998.
36 Vgl. Brief Richard Sperbers an den Autor vom 3. Juli 1998.
37 Vgl. Brief Herbert Ammons an den Autor vom 9. Juli 1998.
38 Brief von Peter Brandt an den Autor vom 31. August 1998; vgl. auch Peter Brandt, Deutsche Identität, in: Die Neue Gesellschaft, 41 (1994),
S. 838–843; ders., Warum nicht Katalysator für einen besseren Kontinent?, in: Neues Deutschland vom 30. August 1990; als das Verbleiben
Deutschlands in der NATO Anfang 1990 noch nicht feststand, plädierte er für die Auflösung der beiden Militärblöcke: vgl. ders., Nach der
Zukunft der Blöcke wird man jetzt wohl fragen dürfen, in: Frankfurter Rundschau vom 20. Januar 1990.
39 Ausgefüllter Fragebogen von Theodor Schweisfurth an den Autor vom 21. August 1998.
40 Sperber (wie Anm. 36), S. 2.
41 Peter Brandt: Demokratische Nation oder Viertes Reich? Der historische Ort des neu vereinigten Deutschland. Vortrag in Gelsenkirchen
am 28. Oktober 1993 (Manuskript), S. 16.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
259
Ideen einer Pax Germanica nach 1990
Das Thema des Nationalneutralismus im engeren Sinne
geriet nach 1990 selbst für einst führende Vertreter
dieses deutschland- und sicherheitspolitischen Politikansatzes an ein unwiederbringliches Ende. Das weitere
Problem, das Spannungsfeld von Integration und
Nation, blieb freilich ein wichtiges Thema bei der
Ausrichtung der deutschen Außenpolitik nach der
Wiedervereinigung.
Es spielte beispielsweise in den außenpolitischen Überlegungen Egon Bahrs eine große Rolle. Der einstige „Architekt der Ostpolitik“, der bis heute als wichtiger Politikberater und Ideengeber der SPD (zumal in außen- und sicherheitspolitischen Fragen) gelten darf, lehnte für sich die Bezeichnung eines Neutralisten stets vehement ab. Ungeachtet
dieses Selbstbildes wiesen seine deutschlandpolitischen
Überlegungen im Zeitalter des Kalten Krieges aber manche
Parallele zu Ideen eines dritten Weges in der deutschen
Frage auf.42
Bahr bekannte sich indes wiederholt zu einer von
nationalen Motiven angetriebenen Politik. Im Jahr 1967 mit
dem Vorwurf konfrontiert, ein unsicherer Kantonist in
Sachen Wiedervereinigung zu sein, soll er gegenüber dem
Staatssekretär im Bundeskanzleramt Karl Theodor Freiherr
von und zu Guttenberg einmal geäußert haben, er sei „eigentlich ein Nationalist“.43 Als „deutschen Nationalisten“,
der „kein überzeugter Anhänger der westlichen Gemeinschaft“ und „frei von allen gefühlsmäßigen Bindungen an
die Vereinigten Staaten“ sei, bezeichnete ihn Henry Kissinger in seinen „Memoiren“.44 Gesine Schwan schließlich warf
Bahr 1988 vor, einen deutsch-nationalen Alleingang zurück
zu Bismarck zu betreiben.45
Zehn Jahre nach dieser Kritik plädierte Egon Bahr
in einer fulminanten Rede für den Fortbestand nationalstaatlicher Strukturen, gerade im Angesicht der Globalisierung.46 Außerdem trumpfte er ebenfalls im Jahr 1998 mit
einer Streitschrift unter dem selbstbewussten Titel „Deutsche Interessen“ auf. Darin machte er – ähnlich wie Peter
Brandt oder Theodor Schweisfurth – keinen Hehl aus seinem Wunsch, ein sicherheitspolitisch eigenständiges Europa zwischen den Vereinigten Staaten und Russland zu schaffen. Von seinem sicherheitspolitischen Standpunkt – und
Titelblatt 1998
nur von diesem aus – liege ihm der Osten nämlich näher als
die atlantische Weltmacht; schließlich sei die „geopolitische
Realität“ von der Zeitenwende zwischen 1989 und 1991
unberührt geblieben. Weiterhin müsse der „Raum zwischen
Lissabon und Wladiwostok“ in sicherheitspolitischen Belangen als eine „Einheit betrachtet werden“. Die Vereinigten Staaten indes hätten in dieser Hinsicht ihre Schuldigkeit
getan. Ohne Umschweife heißt es, Europa brauche „Amerika nicht mehr zu seinem Schutz vor einem Gegner, den es
nicht mehr gibt“. Die NATO sei ein von den Ereignissen
überholtes Zweckbündnis, ja ein reines „Kind des Kalten
Krieges“: „Sie sollte die alte Bundesrepublik schützen, bis
die Einheit erlangt sein würde. Für uns hat das Bündnis erreicht, wozu es gebraucht und gedacht war.“ Der OSZEProzess sei soweit fortzuführen, bis eine tragfähige europäische Sicherheitsstruktur entstehe, wodurch die NATO
in Europa endgültig überflüssig werde.47
Im Jahr 2002 schließlich sorgte Bundeskanzler Gerhard
Schröder im Vorfeld der Bundestagswahlen für einige
Verblüffung, als er seine Friedens- und Sicherheitspoli-
42 Vgl. zu diesem „Antineutralisten in neutralistischer Tradition“ Gallus: Neutralisten (wie Anm. 14), S. 296–308; allgemein Andreas
Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende
bis zur Vereinigung, Bonn 1996.
43 Zit. nach Andreas Wilkens, Der unstete Nachbar. Frankreich, die deutsche Ostpolitik und die Berliner Vier-Mächte-Verhandlungen
1969–1974, München 1990, S. 62.
44 Henry Kissinger, Memoiren 1968–1973, Bd. 1, München 1979, S. 443.
45 Gesine Schwan, Souveräner Alleingang zurück zu Bismarck. Das Deutsch-Nationale in der SPD, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt
vom 6. Mai 1988.
46 Egon Bahr, Der Nationalstaat: überlebt und unentbehrlich, Göttingen 1998.
47 Ders., Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, München 1998, S. 43, 49, 70, 103.
260
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Ideen einer Pax Germanica nach 1990
tik unter den normativ höchst aufgeladenen Begriff
eines „deutschen Weges“ stellte.48
Diesen Impuls aufgreifend, war es erneut Bahr, der öffentlichkeitswirksam und offensiv für einen „deutschen Weg“
stritt.49 Der außenpolitische Vordenker der SPD wetterte
gegen allzu viel „Amerika-Beflissenheit“50 und forderte
mehr Mut bei der Formulierung und Verfolgung genuin
deutscher Interessen. Bahr favorisierte eine eigenständige
deutsche Politik oder sogar Führungsrolle im Rahmen
europäischer Sicherheitsstrukturen. Solchermaßen müsse
Deutschland zur Normalität finden und sich von einer übertriebenen Vergangenheitsfixiertheit emanzipieren:
„Die Deutschen“, formulierte Bahr mit Nachdruck,
„müssen endlich die Abnormalität abschütteln, bei vielen Problemen von heute auf gestern zurückzuschauen
und damit Lösungen für morgen zu erschweren.“ In
der Normalisierung ihres Nationsverständnisses bestehe eine wesentliche „Bringschuld der Deutschen“.51
Das waren ohne Zweifel starke und provozierende Thesen.
„Hätte ein CDU-Vordenker solche Sätze publiziert“, kommentierte Patrick Bahners damals in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, „hätten die Jusos früher Mahnwachen
vor dem Konrad-Adenauer-Haus aufgestellt.“52 Mit seinen
Überlegungen zu einem forcierten Aufbau europäischer
Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen, auch als Korrektiv zu hegemonialen Neigungen der atlantischen Supermacht,53 stand Bahr angesichts einer am Beginn des neuen
Jahrtausends wieder gewachsenen deutschen Amerika-,
oder besser Bush-Kritik indes nicht alleine. Seine zu Streitschriften gebündelten Gedanken dürfen als konzentrierte
Impulse im außenpolitischen Selbstfindungsprozess
Deutschlands nach 1990 gelten und als solche durchaus begrüßt werden. Schon wegen der offensiven Wortwahl eines
„deutschen Weges“ mag man hierin eine ältere Tradition
Deutschlands als Mittelmacht zwischen Ost und West und
damit auch einen Erbbestandteil des Nationalneutralismus
erkennen.
Titelblatt 2003
Wenn das transatlantische Bündnis aber in eine Krise geraten sein sollte54 und Gedanken einer „Europäisierung Europas“ zwischenzeitlich eine Renaissance erfuhren, dann
jedoch gewiss nicht aufgrund solcher Gedankenexperimente von deutschlandpolitischen Veteranen aus den Zeiten
des Ost-West-Konflikts. Das hieße ihre Rolle zu überschätzen. Im Übrigen hofft auch Egon Bahr nach der Wahl
Barack Obamas zum US-Präsidenten auf eine Wiederbelebung der europäisch-amerikanischen Beziehungen in kooperativer Weise.55 Auf eine erfolgreiche Erneuerung der
Zusammenarbeit darf man in der Tat schon deswegen hoffen, weil das westliche Bündnis und die weit umfassendere
westliche Wertegemeinschaft nie statische Gebilde waren.
Vielmehr gleichen sie seit jeher einem recht offenen System,
das innere Spannungen gemäß dem Leitsatz „we agree that
we may disagree“ noch stets aufgefangen hat. ❙
48 Vgl. auch im Bezug zu einer neutralistischen Traditionslinie innerhalb der SPD Alexander Gallus, Die Tradition des „deutschen Weges“.
Neutralistische Bestrebungen bei SPD und Grünen, in: Günther Heydemann/Eckhard Jesse (Hg.), 15 Jahre deutsche Einheit. Deutschdeutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Berlin 2006, S. 107–127.
49 Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal, München 2003.
50 Ebd., S. 149.
51 Ebd., S. 137.
52 Patrick Bahners: Deutsche Wege. Wir sind wir, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003.
53 Werner Link: Das antiimperiale Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 2003.
54 Dazu aufschlussreich Jeffrey Anderson/John Ikenberry/Thomas Risse (Hg.), The end of the West? Crisis and change in the Atlantic order,
Ithaca 2008.
55 Vgl. „Demokratie ist kein Exportartikel“. Egon Bahr nennt seine Erwartungen an den neugewählten amerikanischen Präsidenten – und fordert mehr Selbstbestimmung der Europäer, in: Die Zeit vom 13. November 2008.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
261
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Bevölkerungs- und
Wirtschaftsentwicklung
im vereinten Deutschland
zwischen Wachstums- und
Schrumpfungsprozessen
Von Günther Heydemann
I.
Wäre ein Satellit in der Lage, die Wanderungsströme von
Menschen aufzuzeichnen und im Zeitraffer wiederzugeben,
so würde das vereinte Deutschland in der Mitte Europas
sofort auffallen. In der Tat weist kein anderes europäisches
Land in den letzten zwanzig Jahren „großflächig so starke
regionale demographische und wirtschaftliche Verwerfungen auf wie Deutschland“.1
Aber auch die Mikroperspektive ergibt ein ähnliches Bild, insbesondere, wenn der Fokus auf einige Städte
in den neuen Ländern gerichtet wird: Seit der Wiedervereinigung hat z. B. Dessau, das noch zu DDR-Zeiten über
100.000 Einwohner zählte, mehr als 23.000 Bürger verloren.
Allein zwischen 2000 und 2004 haben Stadt und Region 6,4
Prozent der Bevölkerung eingebüßt. Noch in den zwanziger Jahren eine aufstrebende Stadt mit hoch entwickelter
Industrie (Chemie; Flugzeugbau) und weltweit führend in
Architektur und Design, gelten Stadt und Region inzwischen als Negativbeispiele für den massiven demographisch-ökonomischen Wandel, der sich seit der „Wende“ in
Ostdeutschland vollzogen hat.2
Doch die drittgrößte Stadt Sachsen-Anhalts und ihre z. T.
desaströse Entwicklung stellt noch nicht einmal das
schlimmste Beispiel jüngster ostdeutscher Stadtgeschichte
dar. Noch stärker als Dessau wurde das sächsische Weißwasser vom fundamentalen sozioökonomischen Wandel
betroffen, der nach 1990 erfolgte. Zählte der ehemalige industrielle Vorzeigestandort der DDR im Jahre 1987 noch
mehr als 37.000 Einwohner, so wies die ostsächsische Stadt
2003 nur noch 23.000 Menschen auf.
Ist dieser Aderlass schon rein quantitativ kaum mehr
kommunalpolitisch verkraftbar, so schlägt weiter
erschwerend zu Buche, dass es in soziologischer und
demographischer Hinsicht vor allem die jüngeren
Personengruppen sind, welche die Stadt inzwischen
zu Tausenden verlassen haben und weiter verlassen.
Jährlich verliert Weißwasser rund vier Prozent seiner
Einwohner, wobei diese hohe Durchschnittszahl zu vier
Fünftel durch Abwanderung bedingt ist.3
Eine Folge ist die sukzessive Überalterung der Stadt, sodass
immer mehr Rentner in ihr leben; ebenso bleiben aber auch
1 Vgl. Steffen Kröhnert/Iris Hoßmann/Reiner Klingholz, Die demografische Zukunft von Europa, Wie sich die Regionen verändern,
München 2008, Artikel: Deutschland. Vorreiter in Sachen demografischer Wandel, S. 156–171, hier S. 157.
2 Vgl. ebd., S. 156.
3 Matthias Bernt/Andreas Peter, Bevölkerungsrückgang und Alterung als maßgebliche Entwicklungsdeterminanten: der Fall Weißwasser, in:
Raumforschung und Raumordnung 3 (2005), S. 216–222, hier S. 217 f. Vgl. dazu auch Ulrike Biehounek, Schrumpfen statt sterben, in: Bild
der Wissenschaft 8 (2006), S. 72–76.
262
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Aktuelle Bevölkerungsentwicklung
Quelle: BBR (2005): Raumordnungsbericht 2005. Berichte Bd. 21, Bonn, Seite 31
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
263
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
eine hohe Zahl von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern
zurück. Daher hat man im Verwaltungsdeutsch inzwischen
den Begriff „A-Gruppe“ eingeführt, nämlich für „Arbeitslose, Arme und Ausländer“.4 Inzwischen hat der Abriss von
mehr als 4000 Wohnungen in Plattenbausiedlungen begonnen und soll bis 2010 fortgeführt werden, weil sie z. T. schon
seit Jahren leer stehen.5 Doch die hohe Abwanderung zeitigt auch in technisch-infrastruktureller Hinsicht ganz unvorhergesehene, bislang unbekannte Folgen: Durch den
geringeren Verbrauch von Abwasser, z.B. aufgrund der
schrumpfenden Einwohnerzahl, verringert(e) sich auch
dessen Abflussgeschwindigkeit in den Röhren, was wiederum zu Ablagerungen im bestehenden Leitungssystem und
Verstopfungen führt, die kostenaufwändig beseitigt werden
müssen.
Wird die einstige Energiehochburg wieder zum Heidedorf?6 Diese (Rück-)Entwicklung ist nicht völlig ausgeschlossen.
In anderen, ehemaligen Industriezentren des Arbeiter- und
Bauernstaates, die zu DDR-Zeiten mit hohem Aufwand zu
solchen ausgebaut wurden, wie Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda, Wolfen, aber auch in Guben und Wittenberge ist die
Situation kaum anders.7 Doch nicht nur dort. Bis 2020 werden den Prognosen zufolge zahlreiche ostdeutsche Landkreise gegenüber 1990 über die Hälfte ihrer Einwohner verloren haben.8
Was sind die Ursachen für diesen dramatischen demographischen und sozioökonomischen Wandel in den neuen
Ländern, von dem indes nicht nur die Kommunen, sondern
vor allem auch ländliche Regionen betroffen sind? Sind hier
seit dem „annus mirabilis“ 1989 neue Ungleichheiten entstanden? Wie zumeist, liegt dem ein ganzes Bündel von Faktoren zugrunde, die keineswegs nur auf den seit der Wiedervereinigung einsetzenden Transformationsprozess zurückgeführt werden können.
4
5
6
7
8
9
10
11
12
II.
In der Tat hat sich die demographische Situation in Westund Ostdeutschland schon seit dem Kriegsende 1945 unterschiedlich entwickelt.9 Insgesamt waren es im Jahr 1949
68 Millionen Menschen, welche in den beiden neu gegründeten deutschen Staaten lebten, davon 19 Millionen in der
DDR. Schon bei der Zuwanderung von Vertriebenen aus
den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches mit
rund zwölf Millionen hatte die junge Bundesrepublik stärker profitieren können als die DDR.10 Der nachkriegsbedingte Baby-Boom bis Mitte der sechziger Jahre mit einer
hohen Fertilitätsrate über 2,1 Kinder pro (Durchschnitts-)
Frau, die für eine stabil bleibende Bevölkerungszahl entscheidend ist, brach jedoch ab 1964 ein, sodass „bereits ab
1970 der Schwellenwert für eine stationäre Bevölkerung,
das Bestandserhaltungsniveau, unterschritten wurde. Die
Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erreichte
damit als eine der ersten Staaten weltweit das Stadium des
Zweiten Demographischen Übergangs. Ab 1975 pendelte
sich die durchschnittliche Kinderzahl bei etwa 1,4 ein.“11
Weil inzwischen jede Müttergeneration etwa um
ein Drittel kleiner ist als die vorherige, d. h. seit ca. 30
Jahren 100 Frauen nur noch 60–70 Töchter bekommen,
sind die Bedingungen für einen „exponentiellen
Schrumpfungsprozess der Bevölkerung“ erreicht.12
Der seither einsetzende demographische Rückgang der
westdeutschen Bevölkerung ist jedoch auch deshalb von der
Politik übersehen worden, weil die Einwohnerzahl in der
alten Bundesrepublik trotzdem zunächst nicht ab-, sondern
zunahm. So ist es insbesondere auf drei Gründe zurückzuführen, dass heute fast zehn Prozent mehr Menschen in den
alten Ländern leben als 1970. Dies war zunächst bedingt
durch eine günstige innere Zusammensetzung der Bevölkerung, sodann durch eine steigende Lebenserwartung und
Ebd., S. 76.
Vgl. ebd., S. 74.
Ebd., S. 72.
Siehe hierzu die schon etwas ältere Forschungsliteratur von Christine Hannemann/Sigrun Kabisch/Christine Weiske (Hg.), Neue Länder –
Neue Sitten? Transformationsprozesse in Städten und Regionen Ostdeutschlands, Berlin 2002, sowie Demographische Entwicklung im
Freistaat Sachsen – Analysen und Strategien zum Bevölkerungsrückgang auf dem Arbeitsmarkt, (= Institut für Wirtschaftsforschung
Dresden, 36), Dresden 2004.
Vgl. Kröhnert/Hoßmann/Klingholz (wie Anm. 1), S. 157.
Zur deutsch-deutschen Bevölkerungsentwicklung in den fünfziger und sechziger Jahren siehe jüngst auch Jörg Roesler, Das Zusammenspiel
von innerdeutscher und transnationaler Migration nach Deutschland. Von der Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, in: DA 41
(2008), H. 3, S. 447–455.
Vgl. ebd., S. 161, da sich acht Millionen der Vertriebenen in der Bundesrepublik und vier Millionen in der DDR niederließen.
So Hansjörg Bucher, Raumordnungsprozesse und demographischer Wandel, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 32 (2007), H. 1-2,
S. 123–136, hier S. 126.
Vgl. ebd.
264
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau 2003
1,3 und weniger
1,31 bis 1,4
1,41 bis 1,5
1,51 bis 1,6
1,61 bis 1,7
mehr als 1,7
Datengrundlage: Statistisches Bundesamt
schließlich durch den Umstand, dass die Bundesrepublik
über Jahrzehnte hinweg faktisch ein Einwanderungsland
war. Erst „seit 2003 sind die Wanderungsgewinne nicht
mehr hoch genug, um die Sterbeüberschüsse ausgleichen zu
können“.13
Anders verlief die Bevölkerungsentwicklung in der
DDR. Auch nach dem Auslaufen der Immigration der
Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten bis in
die fünfziger Jahre hinein hielt die innerdeutsche
Ost-West-Wanderung weiter an. Bis zum Mauerbau
verließen 2,6 Millionen Menschen die DDR.
Um den bereits eingetretenen demographischen Schwund
zu kompensieren, entwickelte die SED zwar ein breites,
sozialpolitisches Programm, allerdings mit wenig Erfolg:
„Obwohl in der DDR in fast jedem Jahr mehr Personen
geboren wurden als verstarben und das Land insgesamt einen Geburtenüberschuss erzielte, hatte es zum Fall der
Mauer etwas weniger Einwohner als bei deren Bau. […] Der
13 Vgl. ebd., S. 126 f.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
265
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Zu- und Fortzüge sowie Nettomigration nach Ostdeutschland 1989 bis 2006a
Ostdeutschland vor 1991
a
ohne Westberlin, Nettomigration = Zuzug - Fortzug
(nur Binnenmigration)
Quellen: Statistisches Bundesamt:
Darstellung des IWH.
Altersspezifisches Wandervolumen in Gegenwart und Zukunft
Quellen: BBR Bonn 2008, Statistisches Bundesamt: Sonderauswertung der Wanderungsstatistik 2004,
11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 1-W2)
Rückgang der Bevölkerung in Ostdeutschland ist somit ein
Prozess, der seit über einem halben Jahrhundert andauert.
Die DDR war das einzige Land der Welt, das in diesem
Zeitraum durchgängige Bevölkerungsverluste zu verzeichnen hatte.“14 Diese sollten sich bald nach dem Fall der Berliner Mauer noch einmal dramatisch steigern, als die Geburtenrate unmittelbar nach der Friedlichen Revolution in der
DDR von 1,3 Prozent im Jahr 1990 auf 0,77 Prozent absank.15
Seit 1990 beträgt der ostdeutsche Nettoverlust der dort bisher ansässigen Bevölkerung bis zum Jahre 2006 insgesamt
1,74 Millionen Menschen; im Schnitt haben jährlich ca.
50.000 Bürger die neuen Länder verlassen.
Während die dortige Abwanderung der Bevölkerung „die Schrumpfung insgesamt verstärkten, trugen sie in
Westdeutschland zum Wachstum der Bevölkerung bei“.16
Auch der Zuzug von Westdeutschen nach Ostdeutschland
14 Vgl. Kröhnert/Hoßmann/Klingholz (wie Anm. 1), S. 161.
15 Vgl. Thorsten Erdmann, Regionale Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung, in: DA 38 (2005),
H. 3, S. 402–409, hier S. 406.
16 So Ralf Mai, Die altersselektive Abwanderung aus Ostdeutschland, in: Raumforschung und Raumordnung 5 (2006), S. 355–369, hier S. 355.
266
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Frauenanteil je 100 Männer im Alter von 20 bis 29 Jahren 2005
Sylt
Fehmarn
unter 85
Rügen
85 bis unter 88
Usedom
88 bis unter 91
91 bis unter 94
94 bis unter 97
97 bis unter 100
100 bis unter 103
103 und mehr
Datengrundlage: destatis
während dieses Zeitraums hat den eingetretenen Bevölkerungsschwund nicht ausgleichen können.17
Immerhin, so die jüngste gesamtdeutsche Entwicklung,
ist die Zahl der Neugeborenen erstmals seit 1997 wieder
gestiegen. Gegenüber 2006 wurden im Jahr 2007 12.141
Kinder geboren, ein Anstieg um 1,8 Prozent. Dadurch
erhöhte sich auch die bundesdeutsche Geburtenrate
leicht von 1,33 auf 1,37 Kinder pro (Durchschnitts-)
Frau. Gleichwohl sank die Einwohnerzahl in den neuen
Ländern im Jahre 2007 erneut um rund 107.000 Menschen.18
III.
Da die innerdeutsche Migration von Ost- nach Westdeutschland jedoch nicht gleichmäßig über alle Alterskohorten erfolgt(e), sondern vor allem von den sog. „Berufs-
17 Vgl. die Angaben bei Alexander Kubis/Lutz Schneider, im Fokus: Wanderungsverhalten der Ostdeutschen, in: Wirtschaft im Wandel 14
(2008), H. 4, S. 128–131, hier S. 128.
18 Vgl. Mehr Kinder – aber trotzdem weniger Deutsche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 6. 2008, S. 9.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
267
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Land im Umbruch
Sylt
Fehmarn
Rügen
Usedom
Datengrundlage: Statistische Landesämter
Obwohl die Einwohnerzahl seit dem Jahr 2003 zurückgeht,
wächst die Bevölkerung in manchen Gebieten weiter stark.
Die hellgrünen, meist wirtschaftsstarken Gebiete erleben
einen Zuzug vor allem junger Menschen und verzeichnen
deshalb auch mehr Geburten als Sterbefälle.
Die dunkelblauen Zonen profitieren zwar von der Zuwanderung, haben aber zu wenige Kinder, um die Sterbefälle zu
kompensieren. Hellblau bedeutet doppelten Bevölkerungsverlust: weil die Menschen abwandern und weil mehr Menschen
sterben, als geboren werden. Diese Entwicklung hatte bereits
2005 weit mehr als die Hälfte aller deutschen Landkreise und
kreisfreien Städte erfasst.
268
Bevölkerungsveränderung nach Ursachen für alle
deutschen Landkreise und kreisfreien Städte 2005 8
Geburtenüberschuss/Wanderungsgewinn (46)
Geburtenüberschuss/Wanderungsverlust (14)
Sterbeüberschuss/Wanderungsverlust (223)
Sterbeüberschuss/Wanderungsgewinn (156)
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
und Bildungswanderern“ im Alter zwischen 18 und 30 Jahren getragen wird, ist der Bevölkerungsverlust in den neuen
Ländern um so gravierender, zumal gerade jene Generation
ihrer Heimat den Rücken kehrt, welche die größte Fertilität
aufweist.
So geht die negative Wanderungsbilanz Ostdeutschlands seit 1991 zu 54 Prozent auf die Verluste gerade dieser Generation zurück.19
Weil es in dieser jungen Alterskohorte aber wiederum
vor allem junge Frauen im Alter zwischen 18 und 30
Jahren sind, die stärker als Männer im gleichen Alter
die neuen Länder verlassen,20 stellen sie „als potentielle
Mütter eine besonders kritische Gruppe im Hinblick auf
die langfristige demographische Entwicklung einer
Region“ dar.21
So sind in absoluten Zahlen in geschlechtsspezifischer Hinsicht zwischen 1991 und 2004 aus den neuen Ländern rund
364.000 Männer abgewandert, im gleichen Zeitraum jedoch
536.000 Frauen.22
Insgesamt hat die Ost-West-Binnenmigration somit nicht nur zu einer Schrumpfung, sondern auch zu einer
Alterung der Bevölkerung und damit auch des Erwerbspotentials in den neuen Ländern geführt. Entsprechend ist der
Altersdurchschnitt der dort lebenden Menschen von 38,6
Jahren im Stichjahr 1991 auf 42,6 im Jahr 2002 angestiegen.23
Von der Abwanderung besonders junger Ostdeutscher, die
eine klare Präferenz für die alten Länder aufwiesen, profitierten diese „mit einem Anteil von 84 Prozent weit überproportional an den Wanderungsgewinnen“ innerhalb
Gesamtdeutschlands.24
IV.
Auch wenn sich diese jüngsten demographischen Entwicklungsprozesse auf die Regionen Gesamtdeutschlands sehr
unterschiedlich auswirken, so haben sich grundsätzlich
zwei Entwicklungen vollzogen: Einerseits eine großräumige Migration von den neuen in die alten Länder seit 1990.
Andererseits bildeten sich in Ostdeutschland seither kleinräumige siedlungsstrukturelle Gefälle zwischen den Kernstädten und ihrem Umland heraus.25
Kurz zum historischen Kontext: Schon bald nach
1990 wies das wieder vereinte Deutschland eine Zweiteilung
in Boom- und Schwundregionen auf – und zwar in demographischer wie in sozioökonomischer Hinsicht. Und das
hat sich bis heute nicht verändert, sondern eher noch verstärkt:
So zählen die neuen Länder im gesamtdeutsch-regionalen Vergleich fast ausnahmslos zu den Schwundregionen, da vor allem die wirtschaftsstarken Gebiete im
Süden und Südwesten Deutschlands, in Bayern und
Baden-Württemberg, aber auch im Norden und Nordwesten, in Hamburg, im westlichen Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen, einen kontinuierlichen Zuzug
junger Menschen, vornehmlich aus Ostdeutschland,
erfahren und dadurch in jeder Hinsicht profitieren.
Für die neuen Länder wiederum bedeutet das im Gegensatz
dazu nicht nur eine schrumpfende Fertilität, verbunden mit
sukzessiver Überalterung der dort verbleibenden Menschen, sondern Kommunen und Gemeinden werden dort
auch zunehmend mit einer reduzierten Steuerleistung und
nachlassender Kaufkraft zu kämpfen haben – z. T. ist das
jetzt schon der Fall. Hält dieser Trend an, wobei der Alterungseffekt hinzukommt, wird die Bevölkerung in den neuen Ländern im Jahre 2020 nur noch bei 14,5 Millionen liegen statt bei 15,1 Millionen wie gegenwärtig. Das bedeutet
gleichzeitig, dass sich die Abhängigkeit Ostdeutschlands
von finanziellen Transferleistungen aus Westdeutschland
nicht vermindert, wobei offen bleibt, was nach dem Ende
von Solidarpakt II im Jahre 2019 sein wird. Nach wie vor
hängen davon rund 850.000 Arbeitsplätze in den neuen
Ländern ab.
19 Vgl. ebd., S. 129.
20 Gründe hierfür sind u. a., dass viele junge Frauen bereits nach der Schulausbildung, junge Männer hingegen erst nach der Berufsausbildung
ihre Regionen verlassen; hinzu kommt, dass für junge weibliche Erwerbstätige eine höhere Migrationsbereitschaft aufgrund der schlechteren Lehrstellensituation besteht, vgl. Günter Herfert, Regionale Polarisierung der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland –
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse?, in: Raumforschung und Raumordnung 5 (2007), S. 435–455, dort S. 449.
21 Vgl. Alexander Kubis/Lutz Schneider, „Sag mir, wo die Mädchen sind…“ Regionale Analyse des Wanderungsverhaltens junger Frauen, in:
Wirtschaft im Wandel 13 (2007), H. 8, S. 298–307; Zitat S. 298.
22 Siehe Mai, S. 360. Die Abwanderung aus ostdeutschen Regionen lief dabei nach Mai in drei Phasen ab: 1991–1993,
1994–1997 und 1998–2001. Insgesamt setzt sie sich, wenn auch vermindert, weiter fort; vgl. ebd., S. 364f.
23 Vgl. Joachim Ragnitz/Lutz Schneider, Demographische Entwicklung und ihre ökonomischen Folgen, in: Wirtschaft im Wandel 6 (2007), S.
19–202; dort S. 195. Entsprechend wird auch „die Größe der Altersgruppen der 15–20Jährigen und der 20–40Jährigen…bis 2020 mit -46%
bzw. 28% dramatisch abnehmen“, ebd.
24 So Bucher (wie Anm. 11), S. 128.
25 Vgl. ebd., S. 129.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
269
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Regionale Polarisierung der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland 2003–2005
Datengrundlage: Berechnungen der Statistischen Landesämter
Im gleichen Zeitraum haben sich in den neuen Ländern,
bedingt durch die Abwanderung von Bevölkerungsteilen in den Westen, „zwei polarisierte Raumtypen“
herausgebildet, nämlich „die Wachstumsinseln Berlin/
Potsdam, Dresden, Leipzig und die thüringische Städtereihe mit Jena, Weimar und Erfurt einerseits und
großflächige Regionen mit stark schrumpfender
Bevölkerung andererseits“.26
Trotz einer leicht abgeschwächten Abwanderung in den
Jahren 2003–2005 blieben diese regionalen Raummuster bestehen, d.h. die bereits genannte Auseinanderentwicklung
hat sich weiter stabilisiert.27 Im Rahmen dieser sich fortsetzenden Polarisierung unterscheidet die sozio-demographische Raumforschung in den neuen Ländern zwischen drei
geographisch-demographischen Grundmustern:
26 So Herfert (wie Anm. 20), S. 441.
27 Vgl. ebd., S. 443.
270
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Bevölkerungsentwicklung nach Raumtypen und Gemeindegrößen 2000–2005 Index 2000 = 100
Quelle: Berechnungen der
Statistischen Landesämter
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
271
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
• Wachstumsräume, in denen Kernstädte28 mit Wanderungsgewinnen dominieren, im Umland nach dem Auslaufen der Suburbanisierungswelle jedoch zunehmend Sterbefallüberschüsse zu registrieren sind;
• Übergangsräume, hier dominiert in den Kernstädten
(Greifswald, Stralsund, Chemnitz, Zwickau, Magdeburg,
Halle) infolge zurückgehender Wanderungsverluste ein
Sterbefallüberschuss, während in den peripheren Räumen
Wanderungsverluste dominant bleiben;29
• stark schrumpfende Räume, in welchen sowohl hohe
Wanderungsverluste, etwa in den Kernstädten (Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Dessau, Gera, Cottbus), als auch
im peripheren Raum zu verzeichnen sind.
Obwohl die Entwicklung noch keineswegs abgeschlossen
ist, hat sich in der Raumforschung gegenwärtig folgender
Forschungsstand herauskristallisiert:
Vor dem Hintergrund massiver Wanderungsverluste
aus den neuen Ländern wird davon ausgegangen, „dass
Reurbanisierungsprozesse in Ostdeutschland aktuell
nur in den Wachstumsinseln stattfinden werden“.30
Dieser Reurbanisierungsprozess wird vornehmlich von
sehr mobilen, jungen Altersgruppen getragen, das bedeutet
vorwiegend von Singles und kinderlosen Partnerschaften,
während Familien eher eine untergeordnete Rolle spielen.31
Im Unterschied dazu bleibt in den stark schrumpfenden Räumen eine demographische Entwicklung des
„kollektiven Abgleitens“ in allen Gemeindegrößengruppen
erhalten. Hier ist kaum eine Abschwächung der Abwanderung zu konstatieren; erschwerend kommt hinzu, dass
der Anteil der jungen, zwischen 19 und 35 Jahre alten Menschen daran in einigen Randgebieten zwischen 70 und 80
Prozent beträgt.32 Besonders hoch bleibt der Wanderungsverlust in den bereits genannten Städten wie z. B. Weißwas-
ser, Hoyerswerda, Wolfen, Guben und Wittenberge, die
vom ökonomischen Transformationsprozess besonders
stark betroffen wurden. Hier verlassen „neben den jungen
Mobilen auch Familien mittlerer und höherer Altersgruppen die Stadt“.33 In den Übergangsräumen schließlich ist die
demographische Schrumpfung zwar reduziert, bleibt aber
problematisch.34 Ihre weitere Bevölkerungsentwicklung
hängt von ihrer Lage zu Wachstumsinseln, auch und nicht
zuletzt zu westdeutschen ab, etwa Hamburg, Lübeck oder
Hannover.
Fasst man die bisherige Entwicklung zusammen, so
kommt man an der Feststellung nicht vorbei, dass es in den
neuen Ländern aufgrund der dargelegten Wachstums- und
Schrumpfungsprozesse zu beidem gekommen ist. In der Tat
konnte der bisherige sozioökonomische Transformationsprozess auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bislang nur in
einigen Wachstumsinseln und dem dazu gehörigen Umland,
aber nicht flächendeckend, Erfolge zeitigen. Die enorme
staatliche und privatwirtschaftliche Wirtschafts- und Infrastrukturförderung in Ostdeutschland35 hat zwar beträchtliche Erfolge aufzuweisen, die nicht leichtfertig unterschätzt
werden sollten, in der Fläche ist sie aber bisher gescheitert.
Strukturschwache, bevölkerungsarme und zugleich
überalterte Regionen auf dem Lande und an der Peripherie werden einigen ökonomisch starken Regionen
in Ostdeutschland gegenüberstehen, die zukünftig die
Funktion von „Wachstumskernen“ ausüben (sollen).
Tatsächlich gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen konnten im vereinten Deutschland bislang
noch nicht realisiert werden, trotz massiver Finanzund Investitionsleistungen seit fast zwei Jahrzehnten,
besonders von West- nach Ostdeutschland.36
Daraus resultieren die eigentlichen Ursachen für den bisher
nicht gestoppten innerdeutschen Migrationsprozess von
Ost nach West, der fast ausschließlich in den neuen Ländern
28 Selbst ostdeutschen Städten gelingt es inzwischen, in die top ten europäischer Städte vorzustoßen, wie das Beispiel Leipzig zeigt, obwohl
die Arbeitslosigkeit dort nach wie vor doppelt so hoch ist wie in westdeutschen Städten; so gelang es der Messestadt, im Rahmen einer
europaweiten Untersuchung von 31 Städten Platz 5 einzunehmen; vgl. Urban Audit Perception Survey – local perceptions of life in 31
European cities, (2008); www.urbanaudit.org (Stand: Dezember 2008).
29 Vgl. ebd.
30 Ebd., S. 445.
31 Vgl. ebd., S. 446.
32 Vgl. ebd., S. 448.
33 Ebd., S. 449.
34 Vgl. ebd.
35 Schon seit längerem gibt es daher eine Diskussion über die „Fehlfinanzierung Ost“; vgl. jüngst Manfred Schweres, Fehlfinanzierung
Aufbau Ost. Für eine offene Diskussion der Abgrenzung von Förderregionen in der Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik, in: DA 41 (2008),
H. 3, S. 408–415.
36 Das schlägt sich auch im Bruttoinlandsprodukt zwischen den alten und neuen Ländern nieder; selbst im wirtschaftlich stärksten der neuen
Länder, in Sachsen, beträgt dessen Durchschnittswert nur 78 % des Bundesdurchschnitts. Vgl. Freiberg wächst am stärksten, in: Leipziger
Volkszeitung vom 9. 7. 2008, S. 6.
272
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
negativ zur Auswirkung kommt und dort in demographischer Hinsicht bereits eine Situation „30 Jahre nach 12“ geschaffen hat.
V.
Was sind die eigentlichen Ursachen für die in demographischer wie in sozioökonomischer Hinsicht nach wie vor
problematische Entwicklung in den neuen Ländern?
Zuallererst sind es die noch immer nachwirkenden
Folgen der von der SED geschaffenen zentralen Planverwaltungswirtschaft und ihrer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, die von den politischen und
wirtschaftlichen Eliten der alten Bundesrepublik offenkundig unterschätzt, wie andererseits die Leistungsfähigkeit der westdeutschen Marktwirtschaft überschätzt worden ist.37
Schlagwortartig zusammengefasst gehören dazu i. E. vor allem folgende Faktoren: Der weiter bestehende Mangel an
Arbeitsplätzen – nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit in den
neuen Ländern im Schnitt doppelt so hoch wie in den alten;
der teilweise noch immer bestehende Produktivitätsrückstand, der auch auf eine zu geringe Forschungsintensität
und mittelständische Kapitalknappheit zurückgeht, der zu
langsam wachsende Industrieanteil der Wirtschaft, die
Kleinteiligkeit der Produktionsstätten sowie fehlende Konzernzentralen.38 Diese Probleme haben sich nach der Transition der zentralen Planverwaltungswirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft teilweise verschärft oder konnten auf
makro- und mikroökonomischer Ebene bisher nur partiell
gelöst werden.
Solche Feststellungen behalten grundsätzlich an
Gewicht, obwohl sich in den neuen Ländern bereits auf
volks- wie betriebswirtschaftlicher Ebene ein umfassender
Modernisierungsprozess vollzogen hat: Denn bereits nach
der Jahrtausendwende befand sich die Wirtschaft in Ostdeutschland auf dem Weg zu einer modernen, postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Schon 2004 war der
Beschäftigtenanteil in der Land- und Forstwirtschaft (primärer Sektor) von 9,0 Prozent (1989) auf 3,3 Prozent (2004)
gesunken, und der Anteil der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe (sekundärer Sektor) von 45,9 Prozent
(1989) auf 26,3 Prozent (2004) gefallen, während die Be-
schäftigung im tertiären Sektor, den Dienstleistungen, von
45,1 Prozent (1989) auf 70,4 Prozent (2004) gestiegen war.39
In diesem Zusammenhang sollte auch nicht übersehen
werden, dass die privaten Haushalte in Ostdeutschland,
die noch 1989 nur dem Standard eines durchschnittlichen westdeutschen Haushalts zu Ende der fünfziger,
Anfang der sechziger Jahre entsprachen, bereits Mitte
der neunziger Jahre das westdeutsche Niveau von 1992
erreicht hatten. Das bedeutet einen Wohlfahrtssprung
von 30 Jahren innerhalb von einem Jahrfünft!
Greift man nur eines der vielen gravierenden Defizite der
DDR-Wirtschaft heraus, so wird rasch deutlich, mit welchen ökonomischen Problemen der Transitionsprozess von
Anfang an behaftet und belastet war: Stichwort Arbeitsproduktivität. In der DDR ohnehin durchweg niedriger als in
der Bundesrepublik, befand sich der SED-Staat im Jahr der
Wende „auf einem Entwicklungsstand bei Produktion und
Beschäftigung, wie er für die alte Bundesrepublik in den
sechziger Jahren anzutreffen war“.40 Entsprechend belief
sich die Arbeitsproduktivität in der DDR-Wirtschaft im
Jahre 1983 nur noch auf 47 Prozent im Vergleich zur Bundesrepublik; zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war sie
noch niedriger. De facto war die DDR-Wirtschaft bis zu
ihrem Zusammenbruch nur noch in der künstlichen Abschottung des RGW überlebensfähig gewesen, gemessen an
den Anforderungen einer globalen Konkurrenzwirtschaft
war sie das schon seit längerem nicht mehr. Erschwerend
kam hinzu, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion
ab 1991 auch ihr wichtigster Handelspartner wegfiel. Es verwundert daher nicht, dass nach der Wiedervereinigung und
der Öffnung der internationalen Märkte in der NochDDR-Wirtschaft Beschäftigung und Produktionsausstoß
der ostdeutschen Betriebe auf ca. ein Viertel des Standes
vom Jahr 1989 gesunken waren. Die Mehrzahl von ihnen
war nicht mehr in der Lage, „marktgängige Güter zu kostendeckenden Preisen“ auf einem globalen Markt anzubieten.41
VI.
Diese grundlegenden ökonomischen Defizite konnten mittel- und langfristig nur durch eine ordnungspolitische
Kehrtwende – die Privatisierung – und den raschen Abbau
37 Vgl. ebd. S. 408.
38 Vgl. Udo Ludwig, Mittel- und langfristige Wachstumsprojektionen für Ostdeutschland, in: Wirtschaft im Wandel 6 (2007), S. 210–218, dort
S. 210.
39 Vgl. ders., Licht und Schatten nach 15 Jahren wirtschaftlicher Transformation in Ostdeutschland, in: DA 38 (2005), H. 3, S. 410–416; dort
S. 413.
40 Vgl. ebd., S. 412.
41 Vgl. ebd., S. 414.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
273
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Maschinenbau Sachsen Umsatz (Mrd. Euro)/Beschäftigte
Quelle: Statistisches Landesamt
Sachsen
von defizitären, industriellen Produktionsanlagen beseitigt
werden.42 Daraus resultierte allerdings unweigerlich ein
ebenso rasanter Abbau von Arbeitsplätzen – mit sozialen
und sozialpsychologischen Folgen bis hinein in die Gegenwart.
Doch die millionenfache Wegrationalisierung von
Arbeitsplätzen traf auf eine Gesellschaft, die darauf
völlig unvorbereitet war. Denn bei allen Mängeln und
Defiziten der Planwirtschaft in der DDR blieb eines
immer sicher: Niemand verlor seinen Arbeitsplatz.
Diese Arbeitsplatzsicherheit war in der ostdeutschen
Gesellschaft tief verinnerlicht.
Die völlige Veränderung der bisher gewohnten Beschäftigungsverhältnisse bedeutete daher auch meist einen massiven Umbruch von persönlichen Lebensverhältnissen. Hinzu kam, dass die nach 1990 einsetzenden außer- und innerbetrieblichen Umstrukturierungen der jahrelangen Propaganda der SED scheinbar Recht gaben: „Kommt der Kapitalismus, kommt die Arbeitslosigkeit.“ Die „Wahrheit“ dieser
apodiktischen Feststellung erfüllte sich somit subjektiv für
viele arbeitslos Gewordene. Dabei ist den vielen Betroffenen meist nicht bekannt, dass ihre Abwanderung auch eine
Folge der in beiden deutschen Wirtschaften bereits vor 1989
bestehenden Beschäftigungsprobleme war, wenn auch aus
unterschiedlichen Gründen und in differenten Formen: In
der Bundesrepublik durch die seit Ende der siebziger Jahre
sukzessiv steigende Arbeitslosigkeit, nicht zuletzt aufgrund
des stetig ansteigenden Lohnniveaus; in der DDR eine systembedingte Beschäftigungskrise in Form „verdeckter Arbeitslosigkeit“, wie sie in allen Planwirtschaften auftritt.
Diese doppelte Belastung hat den unumgänglichen Transformationsprozess der DDR-Ökonomie in eine soziale
Marktwirtschaft zweifellos erheblich erschwert.
In der Tat ist der in den neuen Ländern noch immer bestehende Mangel an Arbeitsplätzen der Hauptgrund für die
massive Binnenwanderung, die sich seither von Ost- nach
Westdeutschland ergeben hat und noch weiter ergibt. Vor
allem jüngere Ostdeutsche haben ihre Städte und Dörfer
verlassen und sind in jene westdeutsche Regionen oder in
die Schweiz und Österreich abgewandert, die ihnen Arbeitsplätze anboten, nachdem sie in ihrer eigenen Heimat
keine solchen mehr vorfanden oder zu wenige davon.
Allerdings zeigt sich nach fast zwei Jahrzehnten
erstmals etwas Licht am Ende des Tunnels: Hatte die Arbeitslosigkeit in Gesamtdeutschland im Februar 2005 ihren
Höhepunkt mit 5,3 Millionen erreicht, so ist sie im September 2008 auf ihren bisher niedrigsten Stand von 3,08 Millionen gefallen, wobei der Abbau der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland sogar noch höher ausgefallen ist als in West-
42 Vgl. Hans Luft, Die Treuhandanstalt. Deutsche Erfahrungen und Probleme bei der Transformation von Wirtschaftsordnungen, in: DA 24
(1991), H. 12, S. 1270–1287.
274
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
Bundesagentur für Arbeit erwartet geringes Defizit
Zahl der Arbeitslosen in Millionen1
1
Registrierte Arbeitslose, die für
die Vermittlung verfügbar sind
Haushaltssaldo der Bundesagentur in Mrd. Euro
Quelle: Bundesagentur für
Arbeit/FAZ, Grafik Broker/Niebel
Quelle: FAZ vom 9. 8. 2008, S. 9
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
275
Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland
deutschland: In der Veränderung zum Vorjahr eine Reduzierung um 1,9 Prozent im Unterschied zu den alten Ländern von 0,9 Prozent. Insgesamt ist mit 7,3 Prozent der
niedrigste Stand der Arbeitslosigkeit seit sechzehn Jahren
erreicht worden.43
Leider reicht das jedoch nach wie vor nicht aus,
zumal die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern im Schnitt
doppelt so hoch geblieben ist wie in den alten. Entsprechend
ist Ostdeutschland weit davon entfernt, zu Westdeutschland aufzuschließen, wie der Jahresbericht 2007 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit ohne Beschönigung konstatiert.44
Zudem bedeutet die Ansiedlung hochmoderner
Industrien keineswegs ein Allheilmittel für die Schaffung
von Arbeitsplätzen. So führte z. B. die völlige Modernisierung des traditionellen Chemiestandorts der DDR in den
Landkreisen Merseburg-Querfurt und Bitterfeld – Stichwort „Leuna“ – zwar zu international in jeder Hinsicht
konkurrenzfähigen Arbeitsplätzen. Schon auf nationaler
Ebene liegt z. B. der Umsatzzuwachs in den neuen Ländern
mit 5,7 Prozent deutlich höher als in den alten mit 2,7 Prozent.45 Diese hoch modernen Arbeitsplätze sind jedoch so
stark rationalisiert und produktionseffizient, dass sie „die
Freisetzung nicht mehr benötigten Personals nicht kompensieren“ können.46 Mit anderen Worten: Sie schaffen nur
bedingt weitere Arbeitsplätze.
Ein eventuelles Hilfsmittel des Abbaus von sozioökonomischen Ungleichheiten kann möglicherweise in einer noch differenzierteren Förderung einzelner Regionen
liegen, wozu auch der „Stadtumbau Ost“ gehören dürfte.47
Inwieweit das Erfolge zeitigt, bleibt allerdings abzuwarten.
Letztlich stellt weiteres Wachstum nach wie vor den
sichersten Garanten für die Schaffung von Arbeitsplätzen
dar, auch und nicht zuletzt in den neuen Ländern. Das hängt
aber nicht zuletzt vom weiteren Verlauf der internationalen
ökonomischen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf die Konjunktur ab, über die sich gegenwärtig
jedoch zunehmend der dunkle Schatten einer weltweiten
Finanzkrise legt. ✩
43 Vgl. Arbeitslosenzahl nähert sich der Drei-Millionen-Marke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 10. 2008, S. 13.
44 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.), Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2007, Berlin 2007, passim.
45 Vgl. „Gefragt wie geschnitten Brot“. Ostchemie sucht Arbeitskräfte, in: Leipziger Volkszeitung vom 8. 7. 2008, S. 6. Inzwischen hat sich die
chemische Industrie mit rund 81.000 Beschäftigten zum drittgrößten Industriezweig in den neuen Ländern entwickelt.
46 Vgl. Alexander Kubis/Mirko Titze/Matthias Brachert, Leuchttürme und rote Laternen – Ostdeutsche Wachstumstypen 1996 bis 2005, in:
Wirtschaft im Wandel 4 (2008), S. 144–153, hier S. 145 f.
47 Siehe hierzu i. E. Claus Michelsen, „Stadtumbau Ost“ in Sachsen: Differenzierter Einsatz der Aufwertungsförderung notwendig, in:
Wirtschaft im Wandel 2 (2008), S. 62–71.
276
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Veranstaltungshinweis
Veranstaltungshinweis
Bilanz und Vorausschau: Große Koalition und Bundestagswahl 2009
16.–18. Januar 2009, Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Nürnberg
Programm
Freitag, 16. Januar 2009
• 14.00 h, Begrüßungen und Einführung
• 14.30 h, Dr. Peter März, München
Vergleich der beiden Großen Koalitionen von 1966–1969 und von 2005–2009
• 16.15 h, Prof. Dr. Eckhard Jesse, Chemnitz
Das Parteiensystem vor der Bundestagswahl 2009
• 17.15 h, Prof. Dr. Roland Sturm, Erlangen
Die Politik der Großen Koalition seit 2005: Strategien und Politikstille
• 19.30 h Prof. Dr. Maria H. Dettenhofer, München
Wahlen und Wahlkampf zu anderen Zeiten: Wettbewerb um Ämter in der Römischen Republik
Samstag, 17. Januar 2009
• 9.00 h, Prof. Dr. Heinrich Pehle, Erlangen
Der Bundespräsident und die Große Koalition
• 10.00 h, Prof. Dr. Werner Patzelt, Dresden
Fraktionsdisziplin während der Großen Koalition 1966–1969 und 2005–2009
• 11.30 h, Prof. Dr. Oskar Niedermayer, Berlin
Die Rolle der beiden Regierungsparteien
• 14.30 h, Podiumsdiskussion: „Die veränderte Republik“? Ost-West-Gemengelage,
„Die Linke“ und die Koordinaten der Republik
Prof. Dr. Klaus Schroeder, Berlin, Dr. Martina Weyrauch, Potsdam
• 16.30 h, Prof. Dr. Frank Decker, Bonn
Koalitionsaussagen der Parteien vor den Wahlen
• 17.30 h, Thomas Schubert M. A., Chemnitz
Die Rolle der „Grünen“ und der FDP
Sonntag, 18. Januar 2009
• 9.00 h, Prof. Dr. Hans Joachim Veen, Weimar
„Ossis“ und „Wessis“ – Befunde zu(m) Elektrorat(en) in Ost und West
• 10.00 h, Prof. Dr. Ulrich Eith, Freiburg
Landtags- und Bundestagswahlen im Vergleich
• 11.30 h, Streitgespräch von Vertretern der politischen Parteien
Informationen und Anmeldung:
Beate Michl, M.A., Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
Praterinsel 2, 80538 München, Tel.: (089) 2186-2176, Fax: (089) 2186-2180
Zur Anmeldung verwenden Sie bitte dieses Formular (pdf, 90 kb)
Hinweis:
Für das Symposion wird eine Teilnehmergebühr erhoben.
Tagungsgebühr ohne Übernachtungen: € 30,--, Tagungsgebühr mit Übernachtungen:
im DZ € 130,-- / im EZ € 150,--, Studenten und Schüler mit Übernachtungen: € 40,-Studenten und Schüler ohne Übernachtungen: frei
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
277
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Das Reichskristallnachtpogrom und seine
juristische Aufarbeitung
Von Edith Raim
Brandstifter in der Synagoge der orthodoxen jüdischen Gemeinde in der Essenweinstraße 7
in Nürnberg
278
Foto: Stadtarchiv Nürnberg
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Das Pogrom vom 9./10. November 1938
Am 9./10. November 1938 kam es zu gewalttätigen
Ausschreitungen in Würzburg wie auch in zahlreichen
anderen Orten im Reich. Die Inneneinrichtung der
Synagoge in der Domerschulgasse wurde demoliert. Die
Wohnung der Familie Hanover wurde verwüstet.
Einer der Täter schilderte nach 1945 die Ausschreitungen der Pogromnacht:
„Am 9. 11. 1938 habe ich mit dem SA-Sturm 21/9 an der
Standorttotenfeier im Hutten’schen Garten teilgenommen,
die seinerzeit wegen der Ermordung des Botschaftsrates
vom Rath durchgeführt wurde. Bei dieser Totenfeier wurde
bekanntgegeben, daß mit Gegenmaßnahmen der Reichsregierung zu rechnen sei. Im Übrigen vermag ich mich an
weitere Einzelheiten nicht mehr zu erinnern.
Jedenfalls begab sich unser Sturm im Anschluß an die
Totenfeier in das Sturmlokal ‚Erzherzog Karl‘ in der
Rottendorferstraße [in Würzburg], woselbst wir etwa
um 22 oder 23 Uhr eingetroffen sein werden. Es wurde
auch an diesem Tage, wie auch sonst bei den Zusammenkünften des Sturmes, ziemlich scharf getrunken.
Ich erinnere mich noch, daß im Laufe des Zusammenseins Sturmführer U. mitteilte, er sei bei der Standarte
gewesen, dort sei ihm eröffnet worden, daß auf Befehl
der obersten SA-Führung eine Judenaktion durchgeführt werde, an der sich auch unser Sturm zu beteiligen
hätte. Es kann auch möglich sein, daß U. von einem
Befehl der Reichsregierung sprach. So genau vermag
ich mich an die Einzelheiten nicht mehr zu erinnern.
Jedenfalls äußerten mit mir eine Reihe von Sturmangehörigen gegen die Aktion Bedenken und bezeichneten diese als
ungesetzlich, es könnte bei dieser Aktion zu Ausschreitungen von Teilnehmern kommen. U. erklärte darauf, daß er die
gleichen Bedenken den verschiedenen Dienststellen auch
vorgetragen hätte, es sei ihm aber erklärt worden, die Sache
sei durchaus gesetzlich. Ob die Gaststätte H. seinerzeit die
Befehlsstelle war, ist mir nicht bekannt. U. erteilte keinen
Befehl zur Teilnahme an dieser Aktion, sondern stellte die
Teilnahme frei. Es bildeten sich verschiedene Trupps, die
sich von selbst zusammenfanden. Bei meinem Trupp waren
U., [Oberforstrat] C., zwei mir nur vom Sehen bekannte politische Leiter [NSDAP-Ortsgruppenfunktionäre] und
noch verschiedene andere Personen. Unser Trupp mag ungefähr 6 bis 8 Mann stark gewesen sein. Ich hatte schon bei
der Totenfeier Zivil an, während die meisten anderen Teilnehmer in Uniform erschienen waren. Ich war von dem Genuß des inzwischen genossenen Alkohols wohl etwas angetrunken, aber nicht betrunken. In der Rottendorferstraße
wurde angetreten. Ich begab mich sodann mit dem Trupp in
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
die Alleestraße an ein Eckhaus. Wir gingen eine Treppe hinauf. Ich weiß es aber nicht mehr, ob es sich um eine Wohnung im Parterre oder im 1. Stock handelte. Es war mir auch
nicht bekannt, daß dort ein Rabbiner namens Hanover
wohnte. Irgendjemand hat geschellt und es wurde uns geöffnet. Die Wohnung bestand aus 4 oder 5 Zimmern. Auf
der linken Seite lag ein Studierzimmer, an das ein Wohnzimmer oder ein Eßzimmer anschloß. Als ich in dem Studierzimmer, das mit Büchern und Pergamentrollen in Regalen
angefüllt war, mit der Besichtigung der Pergamentrollen beschäftigt war, befanden sich die übrigen Teilnehmer des
Trupps in den anderen Zimmern. Ich habe in der Wohnung
nichts zerstört, sondern mich nur für die Pergamentrollen
interessiert. Der Wohnungsinhaber befand sich sogar bei
mir im Zimmer und erklärte mir auch die Bedeutung der
Rollen. Ich habe weder einen Stock noch irgendeinen anderen Gegenstand bei mir gehabt. Auch von U. kann ich nicht
sagen, daß er irgendetwas bei sich gehabt hätte. Dagegen
weiß ich das bestimmt von C., der als Gehbehinderter stets
einen derben Stock mit sich führte.
Während ich im Stehen mit dem Besichtigen der Pergamentrollen beschäftigt war, hörte ich aus dem nebenanliegenden Eßzimmer ein Klirren. Ich begab mich nun
auch in das Eßzimmer und sah folgendes: C. stand hinter einem Tisch vor einem Glas- oder Kristall-Lüster.
Ich stand ihm, durch den Tisch von ihm getrennt, gegenüber. Plötzlich holte C. mit seinem schweren Stock
zum Schlage aus und schlug mit aller Wucht in den
Glas- oder Kristall-Lüster hinein. Ich bekam dabei von
der Spitze des C.’schen Stockes einen Schlag aufs Auge
und außerdem noch einen Splitter von dem Glase ins
Auge. Ich begab mich daraufhin sofort in das Badezimmer, um mir das Auge zu kühlen. C. kam schließlich
auch noch in das Badezimmer, um dort die eingebaute
Badewanne zu zertrümmern. Er wurde aber daran von
mir und U. gehindert, indem wir ihm erklärten, er solle
den Quatsch lassen, damit würde er nicht den Juden,
sondern den Hauseigentümer schädigen.
Ich habe wohl gesehen, daß in dem Eßzimmer eine Glasvitrine zertrümmert war, weiß aber nicht, wer diese zertrümmert hat. [...] Ich selbst habe nicht die geringste Zerstörung
angerichtet und wurde gleich nach Betreten des Eßzimmers
durch den Schlag des C. ausgeschaltet. Ich habe mich gleich
danach nach Hause begeben und mich am anderen Tag in
die Behandlung des Augenarztes Dr. S. begeben. Wir sind
vom Sturmlokal zur Wohnung des Rabbiners Hanover
nicht geschlossen marschiert. Ich weiß nicht mehr, wer seinerzeit geschellt hat, ich war es jedenfalls nicht. Soweit ich
mich noch erinnere, standen vor der Wohnung bei unserem
Eintreffen keine Personen. In die Wohnung hat sich der
279
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Die Aschaffenburger Synagoge
während der Pogromnacht im
November 1938
Foto: Privatarchiv Eymann,
Aschaffenburg
ganze Trupp begeben. Hanover wurde nicht mißhandelt
und auch nicht verhaftet. Eine Frau habe ich in der Wohnung gesehen. An Kinder kann ich mich nicht erinnern.“
(Aussage des Beschuldigten Dr. Walter Sch. in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Würzburg am 13. 12.
1946; aus: Würzburg Js 763/46 = KMs 5/46; Staatsarchiv
Würzburg; Staatsanwaltschaft 352. Der Täter wurde in der
Revision zu acht Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs in Tateinheit mit schwerem Hausfriedensbruch
verurteilt.)
Diese Darstellung eines Beschuldigten Dr. Walter
Sch. in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Würzburg am 13. Dezember 1946 ist ein prägnantes Beispiel der
Abläufe des Pogroms: zunächst der Anlass, die Feiern anlässlich des gescheiterten Putschs vom 9. 11. 1923, die alljährlich vom NS-Regime und insbesondere den Partei280
funktionären und SA- und SS-Mitgliedern gefeiert wurden;
anschließend der Verweis auf den Befehl des Sturmführers,
der seinerseits von der Standarte einen Befehl erhalten hatte,
und schließlich der Hinweis auf die zeitweiligen Bedenken
ob der Rechtmäßigkeit der Ausschreitungen, die als Racheaktion inszeniert werden sollten, sowie auf die Organisation
der SA in Trupps, die meist in „Räuberzivil“ (also nicht in
Uniform) die Wohnungen von Juden überfielen. Das Zerschlagen des Kristall-Lüsters ist eine geradezu sprechende
Erinnerung an den weithin verbreiteten Namen des Pogroms als ‚Kristallnacht‘ bzw. ‚Reichskristallnacht‘.
Blicken wir auf den Ablauf der Ereignisse jener Nacht in
München: Wie allgemein bekannt, hielt der Reichspropagandaleiter Dr. Joseph Goebbels eine antisemitische Hetzrede, in der er zu Ausschreitungen gegen Juden aufforderte. Als Anlass hatte ihm das Attentat von Herschel GrynEinsichten und Perspektiven 4 | 08
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Nach der Pogromnacht: Die
Trümmer der Aschaffenburger
Synagogen werden weggebracht.
Foto: Privatarchiv Eymann,
Aschaffenburg
szpan auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath
gedient. Unter dem Vorwand, Ernst vom Rath wichtige
Papiere überbringen zu müssen, hatte Herschel Grynszpan
sich am Morgen des 7. 11. 1938 Zugang zur deutschen Botschaft in Paris verschafft und den Legationssekretär Ernst
vom Rath niedergeschossen. Grynszpan war durch die
Deportation seiner Familie, die zu den ca. 18.000 in
Deutschland lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit gehörte, die aus dem Reich zur polnischen Grenze
verschleppt worden waren und im Niemandsland kampierten, zu der Tat getrieben worden.
Schon kurz nach der Veröffentlichung der Nachricht
vom Attentat selbst beziehungsweise der entsprechenden antisemitischen Kommentare in der deutschen
Presse kam es in Kurhessen (Kassel) und MagdeburgAnhalt am 7. 11. 1938 zu ersten pogromartigen
Ausschreitungen, die durch lokale und regionale
NSDAP-Funktionäre veranlasst worden waren. Goebbels begeisterte sich – wie wir aus seinem Tagebuch wissen – über die Vorfälle. Es hieß in seinem Tagebuch:
„Die Synagogen werden niedergebrannt. Wenn man
jetzt den Volkszorn einmal loslassen könnte!“
Am Nachmittag des 9. 11. 1938 erfuhr Hitler von seinem
Leibarzt Dr. Brandt, den er nach Paris geschickt hatte, dass
vom Rath seinen Verletzungen erlegen war. Um 18 Uhr an
diesem Tag waren die alljährlichen NSDAP-Versammlungen zur Erinnerung an den Hitler-Putsch von 1923 im Alten Rathaus in München angesetzt. Zu diesem Zweck waren etwa 400 Personen eingeladen worden, bei denen es sich
im Wesentlichen um Angehörige der „Alten Garde“ handelte. Reichspropagandaleiter Goebbels machte Hitler Mitteilung über die Pogrome im Gau Kurhessen und in MagdeEinsichten und Perspektiven 4 | 08
burg-Anhalt, wo bereits Synagogen angezündet und Geschäfte verwüstet worden waren.
Augenscheinlich beschloss Hitler, die Pogrome
nicht durch ein Einschreiten der Polizei beenden, sondern
vielmehr den Ausschreitungen ihren Lauf zu lassen. Goebbels notierte: „Er [Hitler] bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen.“ Goebbels
selbst hetzte in seiner Rede vor den NSDAP-Funktionären
weiter. Es galt nun, die Partei nach außen hin „nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinen treten“ zu lassen,
wiewohl sie alles organisieren und durchführen sollte. Die
Parteiführer reagierten, so Goebbels in seinem Tagebucheintrag vom 10. 11. 1938, mit stürmischem Beifall. „Alles
saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln.
Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer
wieder alles hoch.“
Die Befehle, die die NSDAP-Gauleiter in München telefonisch an die NSDAP-Kreis- und NSDAP-Ortsgruppenleiter und an Gliederungen der Partei gaben, wurden so interpretiert, dass Rache genommen werden müsse
für den Mord an vom Rath und zwar dergestalt, „daß nun
für das Blut des Parteigenossen vom Rath Judenblut fließen
müsse“. Diese Telefonate entfesselten die Ausschreitungen
im ganzen Reich, die unter dem Namen „Judenaktion“,
„Kristallnacht“ oder „Reichskristallnacht“ traurige Berühmtheit erlangt haben.
Aus einem ersten vorläufigen Bericht vom 11. 11. 1938,
den Reinhard Heydrich nach dem Pogrom an Hermann Göring sandte, geht hervor, dass 36 Menschen
getötet, 191 Synagogen in Brand gesteckt wurden, 76
zerstört, 815 Geschäfte verwüstet und 171 Wohnhäuser
demoliert wurden. Einen Tag später, am 12. 11. 1938,
281
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Einsatz von jüdischen
Männern zur Zwangsarbeit
in Hofheim in Unterfranken
nach dem Pogrom 1938
Foto: Stadtarchiv Nürnberg
hatte sich die Schreckensbilanz weiter vergrößert: Die
Zahl der verwüsteten Geschäfte bezifferte er nun auf
7500. Das Oberste Parteigericht, das ebenfalls mit
Ermittlungen beauftragt war, ging von 91 Tötungen
aus. Heutigen Schätzungen zufolge wurden nicht
knapp 200, sondern über 1400 (genau: 1406) Synagogen
und Betstuben niedergebrannt oder demoliert. In der
Pogromnacht und den darauffolgenden Tagen wurden
30.756 Juden festgenommen und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen
verschleppt, wo sie für mehrere Wochen festgehalten
wurden. Etwa 1000 von ihnen haben die Haft nicht
überlebt.
Als besonderer Hohn muss es gelten, dass Hermann Göring
am 12. November eine Konferenz abhielt, bei der Deutschlands Juden eine „Kontribution“ von einer Milliarde
Reichsmark auferlegt wurde – für die ihnen zugefügten
Schäden.
Eigentlich gilt das Pogrom als gut erforscht: Es gibt
Berichte der NSDAP, der Staatspolizeistellen, Briefe und
Tagebücher von Tätern, Opfern und Zuschauern ebenso
wie andere Zeitzeugenberichte. Allerdings stehen wir vor
dem Problem, dass die NSDAP-Quellen oder andere Dokumente des „Dritten Reichs“ selbstverständlich alles andere als unparteiisch sind. So sind die Stimmungsberichte des
Sicherheitsdienstes (des Nachrichtendienstes der Partei)
zwar eine wichtige Quelle, allerdings dürfen sie nicht als genaues Abbild der Meinung der Bevölkerung gesehen werden. Vieles bleibt nicht überprüfbar. Der Sicherheitsdienst
282
kam in seinem Abschlussbericht zu der Meinung, die Bevölkerung habe im katholischen und städtischen Süden und
Westen das Pogrom stärker abgelehnt als im protestantischen, agrarischen Norddeutschland. Insgesamt stellte
dieser fest, dass die Deutschen mehr Missbilligung als
Zustimmung für das Pogrom fanden und die Parteipropaganda schnell durchschauten.
Aufarbeitung in der Nachkriegszeit
Bereits am 5. September 1945 – und damit mehr als zwei
Monate vor Eröffnung des Internationalen Militärtribunals
gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg – erhob die
Staatsanwaltschaft Limburg Anklage gegen sechs Personen
wegen Landfriedensbruchs und Freiheitsberaubung während der Pogromnacht in Villmar; nur sieben Tage später erging das Urteil gegen die Täter vor dem Amtsgericht Weilburg. Den Angeklagten wurde „moralische Verwahrlosung“ vorgeworfen: „Es mag auch sein, daß sie, wie die meisten Deutschen, unter dem Einfluß einer jahrelangen Propaganda an moralischer Urteilsfähigkeit eingebüßt hatten,
so daß ihr Blick für die Verwerflichkeit des Vorgangs getrübt war. Es ist bekannt, daß der November 1938 der Beginn von Untaten war, die ohnegleichen in der Geschichte
sind und für die es überhaupt keine menschliche Sühne gibt.
Jedoch geschähe den Angeklagten Unrecht, wenn man ihr
Tun unter dem Eindruck dieser späteren Missetaten beurteilen würde, wie schwer es auch heute ist, sich einer solchen
Beurteilung zu enthalten.“
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Das Urteil ist beispielhaft für die Problematik, mit der sich
die deutsche Justiz nun befassen musste: die Verkehrung
ethischer Werte, der Zusammenbruch der Rechtsordnung,
die neue Beurteilung von Ereignissen, die Jahre zuvor
stattgefunden hatten, und die generelle Frage, wie solche
Verbrechen überhaupt adäquat bestraft werden können.
Noch früher, am 17. August 1945, war beim Amtsgericht
Offenbach Anklage gegen fünf Personen erhoben worden.
Das Gericht entschied auf Einstellung wegen Verjährung;
diese Entscheidung wurde erst durch die Revision beim
Landgericht Darmstadt aufgehoben. Hessen wurde zum
Vorreiter der Ahndung, weil die amerikanische Militärregierung einigen hessischen Gerichten vor allen anderen
Anfang Juni 1945 die Erlaubnis zur Wiedereröffnung erteilt
hatte.
Voraussetzungen und Hintergründe
Die meisten in der Pogromnacht begangenen Delikte wie
Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Brandstiftung,
Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl, räuberische Erpressung, Nötigung, gemeinschädliche Sachbeschädigung, Zerstörung von Bauwerken, Religionsbeschimpfung u. a. waren verjährt. Da jedoch eine effektive Strafverfolgung dieser Taten während des ,Dritten Reiches’ selbstverständlich nicht stattgefunden hatte, galt die Verjährung
als gehemmt, sodass erst ab dem 8. Mai 1945 die Frist
begann. So konnten auch Verfahren wieder aufgenommen
werden, die bereits rechtskräftig abgeurteilt waren: In Sinzenich im Kreis Euskirchen hatte die Bevölkerung ausgedehnte Diebstähle bei ihren jüdischen Nachbarn begangen.
Einer der Täter war Heinrich H., der deswegen am 30. Mai
1939 zu acht Monaten Haft verurteilt wurde. Zehn Jahre
später folgte die Verurteilung zu zwei Jahren Zuchthaus wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit
Landfriedensbruch. Während in der britischen und in der
französischen Zone die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte von den Besatzungsmächten angeordnet worden war, wurde in der amerikanischen Zone gemäß deutschem Strafgesetzbuch geurteilt.
Die Verfahren wurden teils von Amts wegen, teils
durch Anzeigen eingeleitet. Der Generalstaatsanwalt von
Oldenburg forderte die Staatsanwaltschaften Aurich, Oldenburg und Osnabrück auf, sofort die Strafverfolgung aufzunehmen: „Diese Tat hat die schwerwiegendsten Folgen
gehabt, daher auch in dem noch gesund empfindenden [!]
Teil des deutschen Volkes tiefe Empörung hervorgerufen.
[...] Das deutsche Volk, aber auch die Weltöffentlichkeit, hat
einen Anspruch darauf, daß alle an dieser Untat beteiligten
Verbrecher, soweit sie für schuldig befunden werden, die
verdiente Strafe erhalten.“
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
An vielen Orten waren es aber Überlebende, die die
Aufdeckung anmahnten. So zeigte Charles W. Anrod
aus Chicago die Schändung der Gräber seiner Eltern
und seines Bruders in der ,Reichskristallnacht’ in Niederbieber an. In Memmingen reichte der Treuhänder
der Israelitischen Kultusgemeinde, Hugo Günzburger,
eine Liste Beschuldigter ein, wobei ihm zunächst von
der Staatsanwaltschaft bedeutet wurde, es gebe keine
Handhabe, gegen die Täter vorzugehen.
Auch andernorts war Beharrlichkeit nötig: Siegfried Seligmann hatte bereits im August 1945 den Behörden mutmaßliche Täter und Zeugen der Vorgänge in Neitersen, Kreis Altenkirchen, benannt. Aber bald schrieb er enttäuscht : „Ich
muß feststellen, daß die Angelegenheit nicht so schnell und
sorgfältig bearbeitet wird, wie die Naziverbrecher dieses
seinerzeit mit unserem Gut und Leben getan haben. Wenn
ich also nicht in kürzester Zeit die Gewissheit erhalte, daß
die Ermittlungen schnell und gründlich durchgeführt werden, werde ich weitere Veranlassung nehmen müssen.“
Die Ermittlungen waren dabei alles andere als einfach. Die Beschuldigten waren verstorben, befanden sich
noch in Kriegsgefangenschaft, waren interniert oder untergetaucht. Die Alliierten hatten viele Polizeiangehörige wegen deren SS-Mitgliedschaft verhaftet, das neu rekrutierte
Polizeikorps war völlig unerfahren und mit den diffizilen
Nachforschungen vor Ort überfordert.
Ein enervierter Koblenzer Staatsanwalt äußerte über
die Vernehmungen der Polizeiverwaltung Idar-Oberstein: „Ich verbitte mir auf das Entschiedenste, in Zukunft derartige Vernehmungen wie Bl. [Blatt] 4 d. A.
[der Akten], wo ein ahnungsloser Ortsgruppenleiter
vorgestellt wird, oder wie Bl. 5 und 6 d. A., wo ein
Mann, der in der Synagoge plötzlich merkt, daß es
rechts und links von ihm brennt, vorzunehmen. [Auf]
Bl. 7 und Bl. 8 d. A. wird sogar gewagt, mir einen unschuldigen alten Kämpfer vorzustellen. Ich weiß nicht
genau, ob die Polizei mit der Niederschrift derartiger
Unsinnigkeiten selbst die Ernsthaftigkeit ihrer Tätigkeit in Frage stellen will. Ich bitte nunmehr ebenso
ernst wie dringend, die Ermittlungen in dieser Sache
zu betreiben oder mir mitzuteilen, daß die Polizei dazu
nicht in der Lage ist.“
Dem entgegnete die Polizei, dass es sich bei der Ermittlung
der „Judenaktion“ um eine „recht unangenehme, zeitraubende und schwere Arbeit“ handele, weil die Vernehmung
einer großen Anzahl von Zeugen nötig sei. Geschäftsleute
und Bekannte der Beschuldigten würden sich nicht mehr
erinnern wollen, Beschuldigte hätten vereinbart, nichts zuzugeben und alles abzustreiten. Alle Täter zu erfassen sei
283
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Registrierung von jüdischen
Häftlingen bei ihrer Einlieferung in das Konzentrationslager Buchenwald im November 1938
Foto: Yad Vashem
unmöglich, „zumal die Namen von den Zerstörungstrupps
aus Koblenz außer [...] nicht bekannt sind bzw. ermittelt
werden konnten. Man kann sich des Eindruckes nicht
erwehren, daß nur durch die Festnahme mehrerer schwer
belasteter Personen wie [...] pp. eine weitere Aufklärung
möglich ist.“
Der Untersuchungsrichter von Frankenthal zog
gegenüber dem Generalstaatsanwalt von Neustadt an der
Haardt ebenfalls ein bitteres Fazit: „Es ist im allgemeinen
davon auszugehen, daß die wertvollen Tatzeugen sich nachträglich auch als Mittäter entpuppen.“
Die „Reichskristallnacht“ vor Gericht
Vor Gericht wollten viele Zeugen ihre vor Polizei und
Staatsanwaltschaft gemachten Belastungen nicht mehr wiederholen.
Ein amerikanischer Prozessbeobachter, der die Verhandlung der Synagogenschändung von Windsbach
miterlebte, klagte, dass die Einvernahme der Zeugen
fast nutzlos gewesen sei, weil diese so außergewöhnlich
furchtsam und zurückhaltend ausgesagt hätten. Eine
Verurteilung der Angeklagten sei daher nur möglich
gewesen, weil diese freiwillig die Verbrechen gestanden
hätten. Für Hessen notierte ein Angehöriger der amerikanischen Rechtsabteilung, die deutschen Richter stünden häufig einer Mauer von Zeugen mit Pokergesichtern gegenüber, die sich an nichts erinnern wollten.
Viele Belastungszeugen hielten überdies dem Druck der
Anwälte der Verteidigung nicht stand, die schwache Vertretung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft tat ein
Übriges. Über den Pogromprozess von Andernach war zu
284
lesen: „Unter der Zuhörerschaft waren einige alte Nationalsozialisten, die mit Genugtuung die Ohnmacht der Richter
belächelten. Sie freuten sich, daß die ‚Mär von dem Unbekannten’ [Täter] zwangsläufig geglaubt werden mußte. [...]
Die merkwürdigste Erscheinung des Prozesses war zweifellos der Staatsanwalt, [...] der ruhig und gelassen [...] mit
ansah, wie diese [die Hauptbelastungszeugen] von der fünfköpfigen Verteidigung psychologisch zermürbt und anschließend grundlos lächerlich gemacht wurden.“
Die Hauptverhandlungen waren bedeutende Ereignisse. Sie fanden – teils wegen der zerstörten oder auch
von den Alliierten besetzten Gerichtssäle, teils wegen des
großen Andrangs – vor Ort statt. In Idar-Oberstein tagte
das Landgericht Bad Kreuznach in der Turnhalle, das Landgericht Wiesbaden begab sich zur Verhandlung des Pogroms in Oestrich in das örtliche „Gasthaus zur Krone“.
Für die Verhandlung der Untaten von Deidesheim reiste das
Landgericht Frankenthal vor Ort und hielt die Hauptverhandlung in der Berufsschule ab, das Landgericht Trier
urteilte über das Pogrom von Zeltingen und Rachtig in der
nächstgelegenen Kreisstadt Bernkastel-Kues, das Landgericht Aurich tagte in Leer. Für die reisefreudigen Strafkammern Koblenz und Bad Kreuznach sind Hauptverhandlungen in Ahrweiler, Andernach, Boppard, Kirchberg,
Kirn, Neuwied, Selters und Sinzig belegt.
Die Botschaft war deutlich: Es galt, Täter und Zuschauer mit den Untaten vor Ort erneut zu konfrontieren.
Die Bevölkerung nahm an den Gerichtstagen regen
Anteil. Bei der Verhandlung der „Reichskristallnacht“
von Buchau und Laupheim durch das Landgericht
Ravensburg drängten sich nicht weniger als 300 Besucher in den Saal. Die französische Militärregierung,
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Die zerstörte Aschaffenburger
Synagoge nach dem Pogrom
Foto: Privatarchiv Eymann,
Aschaffenburg
die einen Beobachter entsandt hatte, beklagte aber die
Schwerfälligkeit der Prozessführung: „Der Prozess
spielte sich in einer ruhigen, aber äußerst lustlosen
Atmosphäre ab.“ Beim Prozess gegen den Tübinger
NSDAP-Kreisleiter vermerkte die Presse, dass sämtliche
Besuchereintrittskarten, die für die Sitzung ausgegeben
worden waren, auch Abnehmer gefunden hatten.
An den Verfahren wie auch an dem beteiligten Justizpersonal entzündete sich natürlich Kritik. Urteile wurden über
Landesgrenzen hinweg mit Argusaugen beobachtet. Der
frühere Rabbiner von Bremen, Dr. Felix Aber, nun Rabbiner in den USA, reagierte entsetzt, als er aus der New York
Times erfuhr, dass die Täter Wilhelm und Ernst B., die während des Pogroms Heinrich Chaim Rosenblum getötet hatten, nur wegen Totschlags belangt und zu lediglich acht bzw.
sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurden.
Häufig scheiterten Verurteilungen an Beweismangel.
Wenn es zur Verhängung von Haftstrafen kam, waren
diese meist niedrig. Darüber hinaus mussten viele bereits verhängte Strafen von bis zu sechs Monaten aufgrund des vom Bundestag beschlossenen Amnestiegesetzes vom 31. Dezember 1949 nicht verbüßt werden.
Auch die französische Militärregierung in Baden
monierte die notorische Milde der Gerichte und führte
dies darauf zurück, dass die höheren Justizbeamten
selbst als ehemalige NSDAP-Mitglieder jetzt schlecht
gegen die Umtriebe vorgehen könnten, gegen die sie
zur Tatzeit nicht protestiert hatten: „Ehemalige Parteimitglieder unter den Justizbeamten können nicht
guten Gewissens harte Strafen für die Machenschaften
verhängen, die sie in der Vergangenheit nicht mißbilligten.“
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Die Auseinandersetzung mit dem Judentum als solchem
war eine Herausforderung, der nicht jeder Staatsanwalt und
jeder Richter gewachsen war. Das Taharahaus, das Gebäude
oder der Raum, in dem verstorbene Juden vor ihrer Beisetzung gewaschen werden, wurde fälschlich als „Friedhofssynagoge“ oder „Friedhofskapelle“ bezeichnet. Ein Richter
fühlte sich zu folgender Erklärung bemüßigt: „Die Thora
stellt eine meist kunstvoll auf Schweinsleder [!] geschriebene Heilige Schrift dar und bedeutet für die Juden das Allerheiligste [...].“
In den Urteilen finden sich mit großer Regelmäßigkeit zwei Topoi: Erstens seien die Täter ‚von außerhalb‘ gekommen, also Ortsfremde gewesen. Zweitens: Falls doch
jemand aus dem Ort beteiligt gewesen sei, habe er qua Amt
als NSDAP- oder SA-Funktionär auf einen zwingenden
Befehl ‚von oben‘ gehandelt. Aus den Ermittlungen geht
aber hervor, dass die teils nächtens von auswärts angereisten
Täter fast stets auf die Hilfe der Ortskundigen angewiesen
waren; sei es, dass ihnen der Weg zu den versteckt liegenden
Synagogen und den in Wohnhäusern befindlichen Betstuben oder zu dem abseitig gelegenen Friedhof gewiesen wurde. Manchmal wurden den Tätern Listen mit den zur Verhaftung vorgesehenen ortsansässigen Juden und Hinweise
zu deren Wohnungen oder Geschäften übergeben. Ebenso
kam oft lediglich die Initialzündung für das Pogrom von
außerhalb, Teile der Bevölkerung betätigten sich – wie etwa
in Treuchtlingen – freiwillig und ohne Order an der Verfolgung.
Bilanz in Zahlen
Insgesamt gibt es zum Pogrom 2468 Ermittlungsverfahren
und Prozesse vor westdeutschen Staatsanwaltschaften und
Gerichten, in denen sich 17.700 Beschuldigte und Ange285
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Aussagen zu treffen. Im Vergleich zu anderen NS-Verbrechen wird aber deutlich, dass die ‚Reichskristallnacht‘ ein viel heterogeneres Täterpotential mobilisierte
als andere nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Wie
schon aus den oben erwähnten Zahlen geschlossen werden kann, waren Ermittlungsverfahren mit 60 bis 70
Beschuldigten und Prozesse mit 10 bis 15 Angeklagten
keine Seltenheit. Es gab sowohl sehr junge Täter (etwa
Schulkinder oder HJ-Angehörige) als auch sehr alte
Täter, die zum Zeitpunkt der Straftat bereits die 70
überschritten hatten. Nicht selten waren ganze Familienverbände oder ‚Werkscharen‘ von Firmen losgezogen, um Haus und Hof ihrer Nachbarn zu zerstören.
Neben den immer wieder erwähnten SA- und SS-Angehörigen, NSDAP-Funktionären, Polizisten und
Feuerwehrleuten waren häufig örtliche Honoratioren –
darunter auch Lehrer oder Staatsanwälte – beteiligt.
Auch 65 Frauen wurden wegen Verbrechen im Rahmen
des Pogroms verurteilt.
Forschungsausblick
Die zerstörte Aschaffenburger Synagoge nach dem Pogrom
Foto: Privatarchiv Eymann, Aschaffenburg
klagte zu verantworten hatten. Bei 1174 dieser 2468 Verfahren handelt es sich um Prozesse. Die überwiegende Zahl der
(erstinstanzlichen) Urteile, nämlich 1076, erging bis zum
Jahr 1950. Ein letzter „Reichskristallnacht“-Prozess fand
im Jahr 1992 in Paderborn statt, ein vorletzter ist 1964 in
Bremen zu verzeichnen. Regional verteilen sich die Prozesse wie folgt: Bayern: 262 Prozesse, 1854 Angeklagte;
Rheinland-Pfalz: 219 Prozesse, 1524 Angeklagte; Hessen:
210 Prozesse, 1516 Angeklagte; Baden-Württemberg: 183
Prozesse, 690 Angeklagte, Nordrhein-Westfalen: 180 Prozesse, 828 Angeklagte; Niedersachsen: 76 Prozesse, 543 Angeklagte, Saarland: 30 Prozesse, 236 Angeklagte. In Schleswig-Holstein, Berlin, Bremen und Hamburg beträgt die
Zahl der Prozesse jeweils unter zehn. Zumeist betreffen die
Prozesse Vorfälle im jeweiligen Sprengel des urteilenden
Landgerichts. In einer sehr geringen Anzahl der Fälle ist
auch das Pogrom in Gebieten außerhalb der Westzonen
bzw. der Bundesrepublik Deutschland Gegenstand.
Angesichts der oben erwähnten Anzahl von 17.700 Beschuldigten und Angeklagten ist es schwierig, generelle
286
Inwiefern reflektieren die Ermittlungen und Prozesse die
historische Realität der Novemberpogrome? Die Prozesse
enthalten vielfach – neben den juristischen Vorgängen –
auch bedeutendes Quellenmaterial: Baupläne von Synagogen, Stadtpläne, auf denen die früheren Wohnungen ortsansässiger Juden eingezeichnet sind, Briefe jüdischer
Emigranten, die ihre Erinnerungen festhielten, und nicht
zuletzt Fotos der brennenden oder demolierten Synagogen.
Sie sind beeindruckende Momentaufnahmen des deutschen
Judentums am Vorabend der Vernichtung. Gleichzeitig
muss aber vor der Annahme gewarnt werden, dass die
Gesamtzahl der Ermittlungen und Prozesse auch die
Summe aller ‚Reichskristallnacht‘-Verbrechen widerspiegelt. Für München gibt es beispielsweise keinen einzigen
‚Reichskristallnacht‘-Prozess, sondern lediglich einige
schließlich eingestellte Ermittlungen. Nur wenig besser ist
die Situation in Hamburg oder Berlin. Die kriegsbedingte
Bevölkerungsumwälzung in den Metropolen war offenkundig zu groß, als dass Nachkriegsrecherchen erfolgreich
durchgeführt hätten werden können. Nur 30 Prozesse
befassen sich mit den amtlich während des ‚Dritten Reichs‘
festgestellten 91 Toten des Pogroms. Dazu kamen die
Einschränkungen der Verjährung. So fand die
‚Reichskristallnacht‘ in Augsburg schon allein deshalb keinen Richter, weil die Nachforschungen erst 1962 begannen.
Zu bedenken sind weitere Unwägbarkeiten: So war es wahrscheinlicher, dass sich Zeugen eher an die Beteiligung des
örtlichen Volksschullehrers beim Pogrom erinnerten als
etwa an weniger prominente Bewohner des Orts, eher an
den NSDAP-Kreisleiter als an ein einfaches NSDAPEinsichten und Perspektiven 4 | 08
Das Reichskristallnachtpogrom und seine juristische Aufarbeitung
Mitglied. Selbstverständlich liefen zudem Personen, die
nach dem Krieg an ihren Heimat-(und Tat-)Ort zurückkehrten, ein größeres Risiko, erkannt und bestraft zu werden als jene, die eigenes Bestreben oder die Zeitläufe in
andere Regionen verschlagen hatte. Die Zahl der am
Pogrom Beteiligten ist auch deshalb als deutlich höher als
die oben erwähnten 17.700 Beschuldigten und Angeklagten
einzuschätzen, da bei vielen Tätern, deren Tod nachweislich
feststand, überhaupt keine Verfahren mehr eingeleitet wurden.
Zusammenfassung
Neben den Motiven der Täter verbinden sich mit den unterschiedlichen regionalen Ausprägungen und dem zeitlichen
Rahmen vom 7. bis 11. November 1938 weiterhin wichtige
Fragen. In mancher Hinsicht gibt uns die ‚Reichskristallnacht‘ bis heute Rätsel auf. Das Jahr 1938 wird von Historikern als Zäsur in der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten gewertet. Die Gewalttätigkeit erreichte neue,
ungekannte Ausmaße, die ‚Reichskristallnacht’ stellte dabei
den traurigen Höhepunkt in einem ganzen Maßnahmenkatalog dar. Bereits im März 1938 war jüdischen Gemeinden
der Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts aberkannt worden. Ab April 1938 wurden Juden zur Anmeldung ihres Vermögens gezwungen. Im Juni 1938 wurden
1500 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, im August
1938 wurden die Zwangsvornamen Sara und Israel eingeführt. Ärzten war seit Juni, Rechtsanwälten seit September
1938 das Praktizieren verboten worden. Seit Oktober 1938
wurden die Pässe aller Juden mit dem diskriminierenden J
gekennzeichnet. Jüdischen Schülern wurde der Schulbesuch
verboten. Die Publikation jüdischer Zeitungen und Zeitschriften im Reich – immerhin 65 Zeitungen und Zeitschriften sowie 42 Mitteilungsblätter – wurde untersagt.
Zwar sind sich die Historiker einig, dass das Pogrom
den Auftakt der Entwicklung von der bürokratischen
Form der Diskriminierung hin zur gewalttätigen Verfolgung bildete, die schließlich im Massenmord endete.
Andererseits gab es bereits seit Anfang 1938 regelrechte
Gewaltwellen. Bekannt ist, dass ab Frühherbst 1938
gehäuft immer wieder pogromartige Ausschreitungen
verübt wurden. Schon im März 1938 waren jüdische
Bewohner von Altenmuhr terrorisiert worden.
In Mellrichstadt – in der Nacht vom 30. September auf
den 1. Oktober 1938 – demolierte der HJ-Bann Neustadt-Mellrichstadt die örtliche Synagoge und vier
Wohnungen jüdischer Einwohner.
In Leutershausen wurden am 14. Oktober 1938 die
Häuser einer jüdischen Familie namens Jochsberger
von HJ-Angehörigen mit Steinen beworfen. Vor dem
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Synagogeneingang wurde Mist abgeladen; am 16. Oktober 1938 wurde die Synagoge selbst durch den Pöbel
völlig demoliert, der Opferstock wurde aufgebrochen,
das Geld entnommen und dem Winterhilfswerk übergeben. Bei den Familien Benno Guthmann und Rudolf
Weil wurden Fenster eingeschlagen, bei Ignaz und
Nathan Jochsberger Haustür, Fenster und Inventar
zertrümmert.
An einigen Orten waren fortgesetzte Terroraktionen zu
beobachten: in Unsleben kam es – vor dem Novemberpogrom – bereits am 28./29. September 1938 zu Ausschreitungen gegen Juden, ihre Wohnungen und Einrichtungen, ebenso am 23./24. September 1939, ferner
am 7./8. Oktober 1939.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Gewalt über Monate
hinweg regelrecht aufbaute. Heute gehen Historiker davon
aus, dass sich viele kleine Feuer zu einem Flächenbrand ausweiteten.
Was waren die Motive der Täter? Wir können
davon ausgehen, dass die Tatmotive äußerst vielschichtig
waren. Neben Antisemitismus und Gruppendruck waren
sicher auch Rachemotive und Geldgier wichtige Auslöser
für die Taten. Maskuline Traditionen – wie exzessives Trinken –, die die Gewaltbereitschaft erhöhten, dürfen ebenfalls
nicht vernachlässigt werden. Andererseits wissen wir, dass
auch Frauen an den Exzessen beteiligt waren und dass sehr
häufig Zuschauer zu Tätern wurden. Auch waren die Opfer
nicht nur Juden. In Wunsiedel beispielsweise richtete sich
das Pogrom nicht nur gegen die ortsansässigen Juden: Mit
dem Schlachtruf „Jetzt geht es noch gegen die Schwarzen“
wurde sowohl der evangelische als auch der katholische
Pfarrer von einem aufgebrachten Mob verhaftet.
In verschiedenen Städten im Rheinland artete ein
St.-Martins-Zug in ein Pogrom aus. An einigen Orten staffierten sich die Täter mit den in den Synagogen gefundenen
Rabbinertalaren, Kopfbedeckungen und Gebetsschals aus
und plagiierten mit Schriftrollen jüdische Bräuche. In einigen Fällen war das Pogrom auch Vorgriff auf die einige Jahre
später folgende Deportation und Vernichtung: So wurde
aus Neustadt im NSDAP-Gau Saarpfalz eine 70-jährige
Frau nach Mannheim in den benachbarten NSDAP-Gau
Baden verschleppt, weil die Saarpfalz „judenfrei“ gemacht
werden sollte. ❙
Die Darstellung der Initiierung des Pogroms folgt Angela Hermann: Hitler und sein Stoßtrupp in der ‚Reichskristallnacht‘, in:
VfZ, 56. Jg., Heft 4, Oktober 2008, S. 603–619.
Eine leicht geänderte Version des Beitrags von Edith Raim
erschien zuerst in Andreas Nachama, Uwe Neumärker und
Hermann Simon (Hrsg.): ‚Es brennt!‘ Antijüdischer Terror
im November 1938, Berlin 2008, S. 146–153.
287
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Die Signifikanz
der Nürnberger Prozesse
Von Christoph Safferling
Wachen vor dem Eingang zum Schwurgerichtssaal
288
Foto: National Archives, College Park, MD, USA
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Wenn man in Europa von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit spricht, nimmt Nürnberg
eine bedeutsame Rolle ein. Das Reichsparteitagsgelände steht in besonderer Art
als Symbol für Unterdrückung und Tyrannei, der Schwurgerichtssaal 600 für
Bestrafung und Wiedergutmachung im Falle schwerwiegendster Verbrechen gegen
die Menschlichkeit.
Europa hat, nachdem es die schlimmsten Verbrechen, die
menschlich überhaupt vorstellbar sind, erleben musste, einen
Prozess der Vereinigung und Versöhnung eingeläutet, der in
den letzten 60 Jahren zu einer ungewohnt friedlichen und
prosperierenden Zeit geführt hat. Im Prozess des Erinnerns
an die blutige Geschichte Europas und des gleichzeitigen
Bemühens, die Grausamkeiten der Vergangenheit nicht zu
wiederholen, sind die Nürnberger Prozesse von besonderer
Bedeutung. Im Blick auf die Signifikanz der Nürnberger
Prozesse stehen vor allem drei Punkte im Mittelpunkt.
1. Die Errichtung von anerkannten internationalen
Kernverbrechen als Magna Charta der Menschheit,
2. die Idee einer internationalen Strafjustiz über den
Grundsatz der Staatssouveränität und
3. das Fair-trial-Prinzip als Grundlage eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens.
Wir sprechen immer von den Nürnberger Prozessen, wir
sprechen im Plural.
Im Nürnberger Schwurgerichtssaal wurden aber zwei
phänotypisch verschiedene Prozessarten durchgeführt.
Zum einen der sogenannte Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der ein internationaler Strafprozess
war, basierend auf der am 8. August 1945 in London
verabschiedeten Charta des internationalen Militärgerichtshofs. Auf der Grundlage dieser Charta wurden
von den alliierten Siegermächten, den USA, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und der Sowjetunion
insgesamt 21 vormalige Nazi-Größen angeklagt.
Auch wenn es anfangs so geplant war, fanden in der Folge
keine weiteren wirklich internationalen Strafverfahren mehr
statt. Der Kalte Krieg war bei Beendigung des ersten und einzigen Hauptkriegsverbrecherprozesses am 1. Oktober 1946
bereits so weit fortgeschritten, dass kein zweites Mal eine
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Kooperation zwischen den westlichen Siegermächten und
der Sowjetunion vorstellbar war. In der Folge wurden weitere NS-Verbrecher von nationalen Gerichten verfolgt und
abgeurteilt.
Die weiteren Verfahren, die als sogenannte Nürnberger
Nachfolgeprozesse in die Geschichte eingegangen sind,
waren Prozesse, die allein unter US-amerikanischer
Verantwortung durchgeführt wurden auf der
Grundlage von Kontrollratsgesetz Nr. 10. Parallel
wurden sowohl in der französischen wie der britischen,
aber auch in der sowjetisch besetzten Zone Verfahren
gegen Kriegsverbrecher durchgeführt, die allerdings
nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung
erlangten wie die in Nürnberg durchgeführten zwölf
Nachfolgeprozesse.
Das lag auch daran, dass die Anklagestrategie der Vereinigten Staaten eine Konzentration auf verschiedene Berufsgruppen zum Inhalt hatte. Es wurden also – vorsichtig ausgedrückt – Stellvertreterprozesse geführt gegen Ärzte, Juristen, Mitgliedern von Einsatzgruppen, gegen Industrielle
und Diplomaten. Mit dem sogenannten Wilhelmstraßenprozess, also dem Prozess gegen Angehörige des Auswärtigen Amtes, wurde im April 1949 diese Art der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Diktatur in Nürnberg beendet.
Während also der Hauptkriegsverbrecherprozess für die
Internationale Strafjustiz als Vorbild, in eingeschränktem
Sinn als Präzedenz, gelten darf, sind die Nachfolgeprozesse
trotz ihres nationalen Charakters für die Entwicklung des
materiellen Völkerstrafrechts und den moralischen Strafanspruch der internationalen Gemeinschaft bedeutsam.
Die Errichtung von anerkannten
internationalen Kernverbrechen als
Magna Charta der Menschheit
Die Signifikanz des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses als erstem internationalem Strafprozess besteht
zunächst darin, dass im Nürnberger Statut die strafrecht289
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Ansicht des Ostflügels des Justizpalastes mit dem Saal 600 – Ort der Nürnberger Prozesse – im zweiten Obergeschoss.
Foto: Stadtarchiv Nürnberg
lichen internationalen Kernverbrechen aufgestellt worden
sind, die bis heute dem Grunde nach Gültigkeit haben. Als
erstes ist dabei das Verbot des Angriffskriegs zu nennen,
Verbrechen gegen den Frieden, wie es in Art. 6a des Nürnberger Statuts heißt. Als zweites sind die Kriegsverbrechen
zu nennen, Art. 6b des Nürnberger Statuts, und zuletzt die
Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, normiert in Art. 6c des Nürnberger Statuts. Diese Liste an internationalen Verbrechen stellt in der Menschheitsgeschichte ein absolutes Novum dar. Entsprechend war die
Anerkennung dieser Verbrechenstatbestände im Verlaufe
des Nürnberger Prozesses wie auch in der Nachwirkung
höchst umstritten. Das gilt vor allem für den zuerst genannten Tatbestand des Verbrechens gegen den Frieden. Zwar
gab es in dem sogenannten Briand-Kellogg-Pakt von 1928
eine vertragliche Grundlage für die Ächtung des Krieges
in der internationalen Politik; ein strafrechtliches Verbot
war damit allerdings nicht verbunden. Im Vergleich dazu
war der zweite Tatbestand, die Kriegsverbrechen, relativ
unstrittig. Auf der Grundlage verschiedener Genfer Konventionen ebenso wie der Haager Landkriegsordnung von
1907 gab es tatsächlich gewisse Handlungen, die als Mittel
und Methode der Kriegsführung bei Androhung von Strafe
verboten waren.
290
Eine völlige Neuschöpfung hingegen bilden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieser Verbrechenstatbestand stellt den Versuch dar, die bis zum damaligen
Zeitpunkt unvorstellbare Grausamkeit und Systematik
in der Vernichtung von Menschenleben in einen Begriff
und auf einen Straftatbestand zu gießen. Die sich
dahinter verbergenden Straftaten, wie Mord, Folter,
Versklavung, Ausrottung und dergleichen, sind in
sämtlichen zivilisierten Staaten der Welt als strafbare
Handlungen zweifellos anerkannt. Fraglich ist indes,
wie man zum Ausdruck bringt, dass diese „einfachen
Verbrechen“ in einem Kontext geschehen sind, der
einen Angriff auf die Menschheit als Ganzes enthält.
Im Nürnberger Verfahren war man in dieser Kategorie relativ zurückhaltend, sodass der Tatbestand nur im Zusammenhang mit einer kriegerischen Handlung Anwendung
fand. Das bedauerliche Resultat dieser restriktiven Handhabung: Verbrechen an der deutschen Bevölkerung wurden im
Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess nicht thematisiert. Gleichwohl war im Nürnberger Statut mit der Formulierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit die begriffliche, aber auch die juristische Grundlage für diesen
neuen zusammenfassenden internationalen Tatbestand
gelegt. Im Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde der Tatbestand
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Umbau des Schwurgerichtssaals für die Nürnberger Prozesse
Foto: National Archives, College Park, MD, USA
geöffnet und der Begehungszusammenhang mit dem Krieg
als Voraussetzung gestrichen. Die moderne Tatbestandsfassung, wie etwa in Art. 7 des Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof, sieht den internationalen
Charakter des Delikts dadurch erfüllt, dass die Einzeltat im
Zusammenhang mit einem ausgedehnten oder systematischen Angriff auf eine Zivilbevölkerung stehen muss. Ein
Krieg bzw. ein bewaffneter Konflikt ist hingegen nicht
(mehr) erforderlich. Diese Liste der Verbrechenstatbestände wurde von den Vereinten Nationen bereits im Jahr 1946
bestätigt.
In dieser Liste der internationalen Verbrechen fällt
auf, dass der Völkermord nicht enthalten ist. Der Tatbestand des Völkermordes war im Jahre 1945 juristisch nicht
existent. Erst drei Jahre später, im Jahre 1948, gelang es,
durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord zu verabschieden. Dieser Straftatbestand knüpft, wenn man so will, an die Verbrechen gegen die
Menschlichkeit an, betont dabei im Speziellen aber die Vernichtung einer besonders abgrenzbaren Gruppe. Es handelt
sich dabei um eine national, ethnisch, rassisch oder religiös
definierte Gruppe.
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Die Konvention und damit den Tatbestand des Völkermordes verdanken wir dem unermüdlichen Engagement des polnischen Juristen Raphael Lemkin. Raphael
Lemkin war selbst die Flucht über Skandinavien in die
USA gelungen, verlor aber fast seine ganze Familie im
Holocaust. Nach Kriegsende diente er zeitweise im USamerikanischen Anklägerteam des obersten Bundesrichters Robert H. Jackson und versuchte dort, seine
Idee eines Völkermordtatbestandes zu verwirklichen,
konnte sich aber mit dieser neuartigen Herangehensweise nicht durchsetzen. Erst drei Jahre später gelang
ihm der Durchbruch.
Heute steht der Völkermord in Art. 6 des Römischen Statuts für den internationalen Strafgerichtshof an erster Stelle
der internationalen Kernverbrechen. So hat der Völkermord historisch zwar seinen Ursprung in den Verbrechen
der Nationalsozialisten an der jüdischen und an anderen
Minderheiten, er ist juristisch in der strafrechtlichen Aufarbeitung in der unmittelbaren Kriegsfolge allerdings nicht
zur Anwendung gelangt.
Damit wird auch ein weiterer Umstand deutlich:
Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ging es vornehmlich, der US-amerikanischen Anklagedoktrin entsprechend, um die Ahnung des Führens eines Angriffskriegs.
291
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Die Freigesprochenen geben eine Pressekonferenz im Nürnberger Schwurgerichtssaal (v.r.n.l.): Hans Fritzsche (lachend), Schacht und
Franz v. Papen (gebeugt mit Brille) 1946.
Foto: Museen der Stadt Nürnberg, Christine Dierenbach
Der Holocaust, die Vernichtung von Minderheiten und
‚menschenunwürdigen Lebens‘ traten demgegenüber eher
in den Hintergrund. Das entspricht nicht unserer heutigen
Wahrnehmung, erklärt sich aber aus den soeben skizzierten
juristischen Rahmenbedingungen und dem Umstand, dass
das wahre Ausmaß der Vernichtungsmaschinerie in
Auschwitz und anderswo erst im Laufe des Prozesses
bzw. erst einige Jahre später mit der Auffindung des sogenannten Wannsee-Protokolls im Jahre 1948 deutlich wurde.
Es mag zugleich als Ironie der Geschichte angesehen werden, dass vor allem die US-amerikanische Regierung im
letzten Jahrzehnt die Verabschiedung eines Tatbestandes
„Führen eines Angriffskriegs“ auf internationaler Ebene
erfolgreich torpediert hat. In Nürnberg war es doch gerade
dieser Tatbestand, den das US-amerikanische Anklägerteam
um Robert Jackson für alle Zukunft festgestellt haben
wollte.
Die Idee einer internationalen Strafjustiz
über den Grundsatz der Staatssouveränität
Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurden
zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die
Staatssouveränität, der Grundsatz der Immunität von
Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern sowie
292
das Rückwirkungsverbot zugunsten einer Bestrafung
führender Staatsmänner zurückgestellt.
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine Bestrafung
des als Aggressor ausgemachten deutschen Kaisers Wilhelm
II. im Versailler Vertrag kontempliert. Allerdings kam es zu
einem solchen Verfahren nie, zumal nicht nur der vorgesehene Straftatbestand, Verbrechen gegen die Heiligkeit der
Verträge, reichlich unbestimmt war, sondern auch weil die
Niederlande dem verfolgten Kaiser politisches Asyl gewährten. Prozesse gegen Kriegsverbrecher durchzuführen
wurde auf der Grundlage des Versailler Vertrages schließlich Deutschland, also der nationalen Justiz aufgetragen.
Aus der langen Liste vermeintlicher Kriegsverbrecher (zwischen 900 und 1700) wurden schließlich in den Jahren 1921–
1927 17 Verfahren vor dem Reichsgericht durchgeführt, die
als sogenannte Leipziger Prozesse in die Geschichte eingegangen sind. Die geringe Zahl der tatsächlich Verfolgten
wurde noch „garniert“ mit der großen richterlichen Milde,
mit der das Gericht den Angeklagten begegnete; bei sieben
Freisprüchen gab es nur zehn Verurteilungen. Eines haben
diese Verfahren deutlich gemacht: Eine unabhängige Justiz
zur Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen findet
sich sicherlich nicht dort, wo Richter und Angeklagte die
gleiche Nationalität besitzen. Die milden Haftstrafen verEinsichten und Perspektiven 4 | 08
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Die Hauptangeklagten vor dem Internationalen Militärgerichtshof im Saal 600
Foto: Stadtarchiv Nürnberg
bunden mit vorzeitigen Entlassungen und Begnadigungen
sprechen von einem Misserfolg auf ganzer Linie, legt man
einen gewissen Abschreckungseffekt von Strafprozessen als
Maßstab an die Leipziger Prozesse an.
Spätestens in der Moskauer Deklaration von 1943 legten sich die Alliierten deshalb auf eine Strafverfolgung
der schlimmsten NS-Verbrecher nach dem Sieg über
Nazi-Deutschland fest. Die Strafverfolgung sollte auf
verschiedenen Ebenen erfolgen und insbesondere dort,
wo es keinen expliziten territorialen Bezug gab, sollte
eine koordinierte, internationale Strafverfolgung etabliert werden. Nach der totalen Kapitulation am 8. Mai
1945 begann daher neben der verwaltungstechnischen
Organisation der Besatzungszonen zugleich die Arbeit
an einer internationalen Strafverfolgung der Hauptkriegsverbrecher.
Auch wenn sich mit Hitler und Goebbels die bedeutendsten
Figuren und Repräsentanten des NS-Regimes bereits durch
Selbstmord der Strafverfolgung entzogen hatten, standen
insbesondere mit Göring, Heß als Hitlers Stellvertreter,
Dönitz als Hitlers Nachfolger, mit mehreren Wehrmachtsgenerälen wie Keitel und Jodl, verschiedenen Reichsministern, wie von Ribbentrop und Speer, auch weitere
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Repräsentanten des Unrechtssystems noch zur Verfügung.
Mit der Anklage auch der politischen Führungsebene NaziDeutschlands wird klar, dass der Grundsatz der Immunität
für Taten, die in Ausübung eines öffentlichen Amtes begangen werden, bei schweren Menschlichkeitsverbrechen keine
Gültigkeit mehr hat. Das gilt selbst dann, wenn das jeweilige nationale Recht so ausgestaltet ist, dass die Taten keinen
Gesetzesverstoß darstellen. Auch wenn eine rückwärtige
Anwendung von Strafrecht nach allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien, die auch zur damaligen Zeit Geltung hatten, nicht statthaft ist, so kann das doch dort nicht gelten,
wo die Grundlagen der zivilisierten Welt selbst von den
angeklagten Personen angegriffen wurden. Diese einer
streng positivistischen Rechtsdogmatik zunächst widersprechenden Grundlagen basieren auf einer zutiefst moralischen Überzeugung, darüber hinaus aber auch auf einem
allgemeinen Gerechtigkeitsverständnis, sowie auf der
Überzeugung, dass es die Weltgemeinschaft nicht zulassen
kann, dass ihre eigenen Grundlagen selbst erschüttert werden. Kurz nach Abschluss der Strafverfolgung von NSVerbrechen in Nürnberg haben sich die europäischen
Staaten mit der Verabschiedung der Europäischen
Menschenrechtskonvention und der Gründung des Europarates eine menschenrechtliche Verfassung gegeben, die
genau diese Werte widerspiegelt. So wurde auch in Art. 7
293
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
der Europäischen Menschenrechtskonvention der Grundsatz des Rückwirkungsverbotes anerkannt, zugleich in
Abs. 2 aber festgestellt, dass dieses Rückwirkungsverbot
dann keine Wirkung haben kann, wenn die Tat nach den von
den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war. Diese Ausnahme vom nullumcrimen-Grundsatz wurde zunächst von der Bundesrepublik Deutschland als offensichtlicher Versuch, die Nürnberger Prozesse im Nachhinein zu rechtfertigen, bei der Ratifizierung mit einem Vorbehalt versehen. Nach dem Wiederaufleben der Idee einer internationalen Strafjustiz zunächst
durch die Schaffung des Jugoslawientribunals im Jahr 1993,
sodann durch die Verabschiedung und Errichtung des
Internationalen Strafgerichtshofs, ist die Bundesrepublik
Deutschland im Jahre 2001 auch formal auf die europäische
Linie eingeschwenkt und hat den Vorbehalt zu Art. 7 Abs.
2 EMRK offiziell zurückgezogen.
Die Legitimität von Strafverfahren hängt allerdings
auch von einer gewissen gleichmäßigen Anwendung ab.
Eine willkürliche Bestrafung widerspricht elementar dem
Rechtsstaatsprinzip. Nach Nürnberg sah sich das Völkerstrafrecht in genau dieser Falle. Der Kalte Krieg machte es
politisch unmöglich, die Versuche, die seitens der Vereinten
Nationen unternommen wurden, einen permanenten Strafgerichtshof einzurichten, in die Tat umzusetzen. Bemühungen dieser Art wurden offiziell bereits in den frühen fünfziger Jahren wieder eingestellt. Auf anderen Ebenen jedoch
wirkte das in Nürnberg Erreichte fort. So wurden die Genfer Konventionen bereits 1949 neu und umfassend formuliert, versehen auch mit einer ganzen Reihe an konkreten
strafrechtlichen Drohungen. 1977 wurde in den Zusatzprotokollen ein weiterer Fortschritt erreicht. Ähnlich auch auf
Ebene der Menschenrechte: Nicht nur im Zusammenhang
mit dem Europarat und der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden hier Fortschritte erreicht, auch auf
internationaler Ebene wurde 1966 mit der Verabschiedung
des internationalen Pakts für bürgerliche und politische
Rechte ein menschenrechtlicher Durchbruch gefeiert. Wie
schon erwähnt, wurde 1948 mit der Verabschiedung der
Völkermordkonvention ein neuer strafrechtlicher Tatbestand konkret gefasst. All das sind Nachwirkungen von
Nürnberg. Eine internationale Strafverfolgung fand indes
nicht mehr statt, auch wenn es an Gelegenheiten nicht gemangelt hätte.
Die Legitimität von Nürnberg war fast 50 Jahre mit
dem Makel behaftet, dass die einzigen Verfolgten die besiegten Deutschen waren und in Deutschland die Meinung
deshalb weit verbreitet war, die Nürnberger Prozesse seien
ein Akt von Siegerjustiz gewesen. Interessanterweise gelang
allerdings ein Durchbruch kurz nachdem sich der Kalte
Krieg mit dem Fall der Mauer 1989 dem Ende zuneigte.
294
Als sich auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien ein grausamer Bürgerkrieg entfaltete, reagierten
die Vereinten Nationen in Erinnerung an den Nürnberger Prozess mit der Errichtung eines internationalen
Straftribunals als Unterorgan des Sicherheitsrats.
So ungewöhnlich dieser Schritt formal wie politisch
war, so sehr zeugte er doch davon, dass die Idee einer
internationalen Strafverfolgung, wie sie in Nürnberg
praktiziert wurde, noch lange nicht in Vergessenheit
geraten war. Eher im Gegenteil: Das Statut des
Jugoslawientribunals vom 28. Mai 1993 erinnert stark
an das Statut des Internationalen Militärtribunals
vom 8. August 1945.
Danach, so möchte man meinen, ging alles ganz schnell.
Bereits ein Jahr später wurde ein weiteres Tribunal vom
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur strafrechtlichen
Verfolgung des Völkermordes in Ruanda eingerichtet. Im
Jahre 1998 schließlich verabschiedete eine internationale
Konferenz das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, der am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist. Die Überzeugung, dass ein Kernbestand der Menschenrechte auch für
jeden Staatsmann verbindlich ist und dass der Grundsatz
der Staatssouveränität hinter dem Schutz dieser Menschenrechte auch durch Strafrecht zurück zu stehen hat, darf im
Grundsatz weltweit als anerkannt gelten.
Das Fair-trial-Prinzip als Grundlage
eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens
Eine große Herauforderung für das internationale Strafrecht bildet das Strafverfahrensrecht. Im Vorfeld des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses war es unter den
alliierten Siegermächten mehr als strittig, ob tatsächlich ein
rechtsstaatlich ausgestattetes Strafverfahren angewendet
werden sollte oder ob nicht eine summarische Prüfung völlig ausreichend sei. Zudem wurde die Schuld der Angeklagten im Grunde als bewiesen und feststehend angesehen. Es
ist vor allem das Verdienst des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson, dass in Nürnberg schließlich der
Versuch unternommen wurde, ein Strafverfahren durchzuführen, das rechtsstaatlichen Anforderungen genügen kann.
Entscheidet man sich für ein Strafverfahren, so Robert Jackson in seiner Rede vor der amerikanischen Gesellschaft für
internationales Recht am 14. April 1945, so muss grundsätzlich von der Unschuld der Angeklagten ausgegangen werden. Ist man nicht bereit, den Angeklagten freizusprechen,
so darf man kein rechtsstaatliches Strafverfahren durchführen.
Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess
wurde dieser Grundsatz – bei aller Kritik im Einzelnen –
ernst genommen, was man auch daran ablesen kann, dass
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
Die Signifikanz der Nürnberger Prozesse
Robert H. Jackson, amerikanischer Chef der Anklagebehörde,
während der Nürnberger Prozesse
nationaler Strafprozesse ausgelöst, man spricht hier,
nimmt man den asiatischen Raum mit dazu, von weit
über 10.000 Strafverfahren weltweit und hat ein Bemühen in Gang gesetzt, schlimmste Verbrechen strafrechtlich zu ahnden, unabhängig von Raum und Zeit;
zu denken wäre hier an die spektakulären Prozesse der
Folgezeit, etwa den Ulmer Einsatzgruppenprozess, den
sogenannten Auschwitz-Prozess in Deutschland, den
Eichmann-Prozess in Jerusalem, die Verfahren gegen
Papin oder Trouvier in Frankreich und etliche mehr.
Diese Verfahren sind in Europa Teil der kollektiven
Erinnerungskultur – als Erinnerung an die schlimmsten Übergriffe, die schlimmsten Verbrechen, die sich
Menschen gegenseitig antun können, aber zugleich als
Erinnerung an die Möglichkeit, mit diesen Verbrechen
fertig zu werden, in rechtsstaatlichen Verfahren eine
passende Antwort zu finden und so ein friedliches
Zusammenleben in Zukunft zu fördern und zu
ermöglichen.
Foto: Stadtarchiv Nürnberg
mit von Papen, Fritsche und Neurath gegen den erbitterten
Widerstand der sowjetischen Richter immerhin drei Personen freigesprochen wurden. Robert Jackson war im übrigen von der Mühe, die ein internationales Strafverfahren mit
sich bringt, selbst überrascht, da er beim Beginn des Prozesses im November 1945 noch davon ausging, dass bis Weihnachten die Verurteilungen vorlägen. Dass es schließlich
noch weitere zehn Monate dauerte, ist aus heutiger Sicht
gleichwohl überraschend, bedenkt man, dass die Verfahren
vor dem Jugoslawientribunal in der Regel mehrere Jahre beanspruchen. Auch wenn das Strafverfahren in Nürnberg aus
heutiger Sicht an Fairness einiges zu wünschen übrig ließ,
muss doch berücksichtigt werden, dass den Angeklagten jeweils ein Verteidiger zur Seite gestellt wurde, dass ihnen
ausreichend Zeit und Gelegenheit gegeben wurde, Beweise,
die zur Entlastung dienten, vorzutragen und dass ein aufwendiges Dolmetschersystem die Verständlichkeit gewährleistete.
Zusammenfassung
Die Signifikanz von Nürnberg zeigt sich vor allem in drei
Punkten: Es gibt eine Liste von Kernverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen des Angriffskriegs, die Gültigkeit hat
gegenüber jeder Person, sei sie Staatsoberhaupt oder auch
nicht, und die mittels eines fairen Verfahrens vor internationalen Richtern durchgesetzt werden kann.
Ausgehend von Nürnberg hat sich daher weltweit die Meinung durchgesetzt, dass Völkerstrafrecht der Beginn eines
Neuanfangs sein kann, der es überflüssig macht, auf archaische Reaktionsmuster wie Rache und neuerlichen Krieg zurückzugreifen. Dabei darf man nicht übersehen, dass in
Nürnberg vergleichsweise ideale Verhältnisse vorlagen. Der
Krieg war zu Ende, das rechtskulturelle Umfeld war einem
strafgerichtlichen Verfahren aufgeschlossen gegenüber, der
Großteil der Bevölkerung sah in den Angeklagten die Verantwortlichen für Krieg und Leid und befürwortete daher
eine Verurteilung. Diese Grundbedingungen sind allerdings
eher selten. In Jugoslawien hatte der Bürgerkrieg noch nicht
einmal seinen Höhepunkt erreicht, als der Sicherheitsrat das
Jugoslawientribunal einrichtete. In Ruanda besteht ein ausgeprägtes alternatives Reaktionsmodell, was mit strafrechtlicher Aufarbeitung kaum vergleichbar ist, in Kambodscha
gibt es kein Vertrauen gegenüber Gerichtsverfahren. Die
Nürnberger Prozesse zeigen zwar einen und in dem konkreten Fall erfolgreichen Weg, grausames Unrecht aufzuarbeiten und ein friedliches Zusammenleben in der Zukunft
zu gewährleisten, es ist aber keinesfalls der einzige und wird
nicht in jeder Situation der richtige Weg sein. Für Europa
freilich bedeuten die Nürnberger Prozesse den Beginn einer
lange anhaltenden friedlichen Vereinigung, die weltweit
bislang ihresgleichen sucht. Das moderne Europa der
Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit hat auch in Nürnberg
seinen Ursprung. ❙
Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess hat in
der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur eine Fülle
Einsichten und Perspektiven 4 | 08
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Bayerische
Landeszentrale
für politische
Bildungsarbeit
Publikationen der Landeszentrale zu den
Schwerpunktthemen dieser Ausgabe
Sicherheit und Frieden
Die veränderte Republik
Die Bundesrepublik
Themenheft 1.08
zu Beginn des
Deutschland nach der
Deutschland
Holocaust Education
21. Jahrhunderts
Wiedervereinigung
Eine Bilanz nach 60 Jahren
530 Seiten, 2004
770 Seiten, 2006
698 Seiten, 2008
(A 111)
(A 123)
(D 70)
84 Seiten, 2008
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