978-3-476-02352-0 Marx (Hrsg.), Hamlet-Handbuch © 2014
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978-3-476-02352-0 Marx (Hrsg.), Hamlet-Handbuch © 2014
978-3-476-02352-0 Marx (Hrsg.), Hamlet-Handbuch © 2014 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de) 5. Musik in Hamlet 5. Musik in Hamlet Während man heutzutage vor allem ins Theater geht, um ein Stück zu sehen – ein deutlicher Akzent also auf dem visuellen Kommunikationskanal der Theateraufführung liegt –, beschrieb man das Theatererlebnis in der englischen frühen Neuzeit vor allem in akustischen Begriffen, so wie Hamlet dies tut, wenn er sagt: »We ’ ll hear a play tomorrow« (II.2.521). Die frühneuzeitliche Dominanz des Akustischen ist den vergleichsweise beschränkten Möglichkeiten hinsichtlich des Bühnenbildes, der Ausstattung und Beleuchtung des elisabethanischen Theaters geschuldet und führte zu der Praxis, fehlende visuelle Impulse durch Worte, die sogenannte Wortkulisse, zu ersetzen. Die materielle Dimension von Sprache – das Klingen oder gar Verstummen – spielt eine wichtige Rolle im Hamlet, denn neben vielen anderen Themen befasst sich das Drama auch mit den Grenzen der Sprache. Dies wird gleich zu Anfang deutlich, wenn die ersten Auftritte des Geistes zunächst ohne akustische Verlautbarungen vonstatten gehen. Horatios Aufforderung »If thou hast any sound or use of voice, / Speak to me« (I.1.128 f.) kommt er nicht nach. Der Zuschauer – und Horatio – werden dazu genötigt, Sinn jenseits des gesprochenen Wortes aufzuspüren und die Bedeutung des Erlebten vermittels alternativer Kommunikationskanäle zu konstruieren. Ähnlich exponiertes Schweigen begegnet dem Publikum am Ende des Dramas, als Hamlet seine berühmten letzten Worte spricht: »The rest is silence« (V.2.347). Mit diesen Worten schließt sich ein Kreis, der durch Schweigen markiert ist: Das anfängliche und das beschließende Schweigen sind auf der thematischen Ebene Ausdruck von Sprachzweifel im Sinne eines Wissens um die Grenzen der Sprache; auf der Ebene der Publikumslenkung dient es dazu, die Wahrnehmung zu sensibilisieren für alle akustischen Ausdrucksweisen, denen auch Schweigen zuzurechnen ist. Wie in jedem Drama spielt in Hamlet die soundscape (darunter ist jede Form von akustischem Ereignis im Text und in der Aufführung zu verstehen) eine wichtige Rolle. Neben der Wortkulisse, dem gesprochenen Wort, ist es vor allem die Musik, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss. Literatur- und Theaterwissenschaftler sowie Theaterpraktiker sind sich darin einig, dass der Musik im Theater Shakespeares eine Schlüsselfunktion zukommt, denn sie vermag es ebenso wie die gespro- 13 chene Sprache, das fehlende oder nur angedeutete Bühnenbild zu ersetzen oder akustisch zu evozieren und Informationen über Räume oder Figuren zu transportieren. Ein Blick in das Shakespearesche Œuvre zeigt jedoch, dass die Rolle der Musik in den verschiedenen dramatischen Genera unterschiedlich gewichtet ist. Auf diesen Umstand hat bereits Frederick W. Sternfeld in seiner Studie zu Music in Shakespearean Tragedy (1963) hingewiesen: Während in Shakespeares Komödien in der Regel extensiver Gebrauch von Musik – in der Regel Vokalmusik – gemacht wird, ist diese Praxis in den Tragödien deutlich seltener anzutreffen. Für die unterschiedliche Prominenz von Vokalmusik in den Tragödien und Komödien gibt es vielfältige Gründe, wobei Sternfeld die Differenz vor allem theaterhistorisch begründet. Die englische Dramatik stand unter starkem Einfluss von Senecas Tragödien, in denen weder Vokal- noch Instrumentalmusik vorgesehen waren. Shakespeare folgte dieser Tradition jedoch nicht uneingeschränkt. In seinen Tragödien spielen musikalische Einlagen durchaus eine Rolle. Während vor allem Instrumentalmusik regelmäßig eingesetzt wird, um eine ›akustische Kulisse‹ zu schaffen, sind reine Gesangsnummern jedoch selten anzutreffen. Vor diesem Hintergrund erweist sich Hamlet als ein besonderes Drama. Denn in diesem spielt Vokalmusik tatsächlich eine vergleichsweise exponierte Rolle. In Hamlet gibt es siebzehn Bühnenanweisungen die Musik betreffend und sechs Lieder, von denen Ophelia die ersten fünf singt und der Totengräber das sechste: 1. »How should I your true-love know« (IV.5.23–26, 29–32, 36, 38 ff.), 2. »Tomorrow is Saint Valentine ’ s Day« (IV.5.48–55, 58–66), 3. »They bore him barefaced on the bier« (IV.5.164– 167), 4. »For bonny sweet Robin is all my joy« (IV.5.185), 5. »And will ’ a not come again« (IV.5.188–197-91), 6. »In youth when I did love« (V.1.58–61, 67–70, 87– 90, 112 f.). Damit kann Hamlet – neben Othello – mit einer Rarität im Shakespeareschen Tragödien-Œuvre aufwarten: einer singenden Heldin. Hinsichtlich der Überlieferung der Lieder ist allerdings festzuhalten, dass nur die Texte derselben überliefert sind. In jüngerer Zeit wurden darum von Ross W. Duffin Versuche unternommen, die Musik zu rekonstruieren und für eine Aufführung verfügbar zu machen (vgl. Duffin 2004). 14 Im Folgenden soll die Funktion von sowohl instrumentaler als auch vokaler Musik in Hamlet dargestellt und die dramatische Qualität und Funktion der musikalischen Beiträge näher bestimmt werden. Die Darstellung geht von der Prämisse aus, dass Musik nicht nur ein ›Extra‹ ist und wie ein Ornament hinzugefügt wird, sondern integraler Bestandteil des Dramas und dessen Aufführung und somit untrennbar mit dessen Substanz, Struktur und dramatischem Gehalt verbunden ist. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, zwischen zwei Formen musikalischer Beiträge zu unterscheiden: die der Präsentation sowie die der Repräsentation. Mit musikalischer Präsentation ist die in der Aufführung tatsächlich erklingende Musik gemeint, wie der Gesang oder die Bühnenmusik, die in den dramatischen Ablauf integriert und mimetisch vermittelt ist. Zu unterscheiden wäre hiervon extra-dramatische Musik, die beispielsweise vor oder nach den Aufführungen erklang. Auf der Ebene der diegetisch repräsentierten Musik ist jede Form sprachlich vermittelter Musik zu berücksichtigen. Damit ist Musik gemeint, die nicht materiell erklingt, sondern erzählt oder durch Rede evoziert wird, zum Beispiel durch Tropen, die dem musikalischen Diskurs entlehnt sind. Die repräsentierte Musik ist ebenso wie die präsentierte auf ihre Einbindung in das Drama und deren Funktion hin zu untersuchen. Jenseits der dramatisch gestalteten und eingesetzten Musik spielt Musik auch auf der Metaebene der Shakespeare-Forschung eine Rolle. Hier wären vor allem die Arbeiten Wolfgang Clemens zu nennen, dessen literaturwissenschaftliche Terminologie Anleihen an musikalischen Parametern (z. B. Rhythmus) macht (vgl. Clemen 1951, 1966; Barry, 1963). Es können in Hamlet also musikalische Konstellationen auf zwei Ebenen identifiziert werden: die der real erklingenden präsentierten Musik sowie die der sprachlich repräsentierten und nicht real erklingenden Musik. Auf der Ebene der real erklingenden Musik soll zwischen Instrumental- und Vokalmusik unterschieden werden. Während die instrumentale Bühnenmusik häufig dazu benutzt wird, um Orte als soziale Räume zu markieren oder eine bestimmte Atmosphäre zu verdichten, fungiert die Vokalmusik in der Regel als Mittel der Figurencharakterisierung. Diesen unterschiedlichen Konstellationen soll in der folgenden Darstellung systematisch Rechnung getragen werden. I. Stoffgeschichte und Ausgaben Bühnenmusik I: Mit Pauken und Trompeten Die Funktion der im Hamlet eingesetzten Bühnenmusik kann mit dem Begriff der soundscape (vgl. Schafer 1977; Smith 1999) zutreffend beschrieben werden. Sie ist beteiligt an der Herstellung von sozialen Räumen und entlastet damit das gesprochene Wort. Die Ankündigung sozial hochrangiger Figuren wird regelhaft ganz konventionell mit Pauken und Trompeten angekündigt (z. B. III.2.86 ff., Regieanweisung: »Enter trumpets and Kettledrums, King, Queen, Polonius, Ophelia«). Aber auch die Theateraufführung im Stück erfährt eine musikalische Rahmung, wodurch deren repräsentativer Charakter im Kontext höfischer Unterhaltung hervorgehoben wird. Allerdings machen verschiedene Fassungen des Hamlet unterschiedliche Angaben, was die verwendeten Instrumente, Oboe (vgl. Sternfeld 1964, 218) oder Trompete (Hamlet Studienausgabe III.2, Regieanweisung vor V. 130) anbelangt. Darüber hinaus geht die Bühnenmusik mit einer der Figuren eine besonders enge Bindung ein: Claudius wird nicht nur standesgemäß von Trompeten angekündigt, sondern generell mit lauter Musik in Verbindung gebracht, nämlich mit lärmender Festmusik (I.4.11 f.). Diese Musik erklingt offstage und wird von Hamlet kommentiert. Dadurch wird eine tatsächliche Darstellung von Claudius ’ ausschweifender Hofhaltung etwa durch die Inszenierung eines Gelages überflüssig gemacht. Neben diesem bühnenökonomischen Vorteil ergibt sich noch eine weitere Funktion dieser Szene: Dadurch, dass Claudius ’ Treiben durch Hamlet fokalisiert wiedergegeben und bewertet wird, wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die grundsätzliche und unüberwindbare Differenz zwischen den beiden Figuren gelenkt. Während Claudius von hedonistischem Lärm umgeben ist und sich sogar dazu versteigt, volkstümliche Tänze (»swaggering upspring reels«; I.4.9) zu tanzen, ist Hamlet eher den leisen Tönen zugetan und zeigt für derlei akustische Ausschweifungen und die durch sie repräsentierte moralische Haltung kein Verständnis. Trompeten kündigen jedoch nicht nur Claudius oder dessen Lustbarkeiten an, sondern werden metaphorisch auch in Bezug zum Geist von Hamlets Vater gesetzt. Der Geist tritt unangekündigt aus dem Nichts auf, sein Abgang wird jedoch akustisch eingeleitet: Er verschwindet, nachdem der Hahn, »the trumpet to the morn« (I.1.150), gekräht hat. Die 5. Musik in Hamlet Darstellungen beider Herrscher – des gegenwärtigen und des ermordeten – bedienen sich akustischer Unterstützung bei der Repräsentation ihrer Macht. Während die Trompeten Claudius ’ weltliche Macht symbolisieren, verfügt der Geist nicht mehr über diese spezifische akustische Signatur der Macht. Sein Machtbereich wird durch den Hahnenschrei als jenseits des Tages befindlich markiert, denn der Geist gehört einer Sphäre an, die vom Tag und der Welt geschieden ist. Auf der akustischen Ebene manifestiert sich die Alterität des Geistes in der Art und Weise, wie seine Auftritte akustisch untermalt werden: Sie vollziehen sich zunächst stumm, erst später wird er zu sprechen anheben. Ursupator und legitimer Herrscher werden auf der akustischen Ebene über eine strukturell inversive Analogie zueinander in Beziehung gesetzt und damit zugleich einander konstrastierend gegenübergestellt: Während die Trompeten die Präsenz des illegitimen Königs ankündigen, kündigt die metaphorische Trompete, der Hahn, vom Verschwinden des Geistes des legitimen Herrschers. Trompetenklänge spielen auch am Ende des Dramas eine zentrale Rolle, wenn das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Klangqualitäten genutzt wird, um die bestehende Dissonanz, das verweigerte dénouement akustisch zu versinnbildlichen. Das Szenario wird wie folgt gestaltet: Als das Duell zwischen Hamlet und Laertes beginnt, ruft der König nach Trompeten, die seine Unterstützung für Hamlet in angemessener Art und Weise kundtun sollen. Die Hybris des Königs wird sprachlich vermittels der Figur der gradatio gestaltet: »Give me the cups / And let the kettle to the trumpet speak, / The trumpet to the cannoneer without, / The cannons to the heavens, the heaven to earth, / ›Now the king drinks to Hamlet‹ […]« (V.2.263–267). Das profane Handeln des Königs soll erhöht werden, indem es durch Pauken, Trompeten und Kanonen dem Himmel kommuniziert wird, welcher nun seinerseits vom Ansinnen des Monarchen kündet. Ein letztes Mal vermerkt eine Regieanweisung den Einsatz von Trompeten und Trommeln, als Hamlet einen Treffer im Duell landet. Kurz danach greift seine Mutter zum vergifteten Trank und die Ereignisse überschlagen sich. Als Hamlet stirbt, versucht Horatio dieses einschneidende Erlebnis dadurch zu würdigen, dass er in seinen Abschiedsworten eine völlig andere Klangwelt evoziert: »And flights of angels sing thee to thy rest!« (V.2.349). Doch die erhoffte Jenseitigkeit und himmlische Harmonie kann sich nicht ent- 15 falten, denn die Trauer wird abrupt unterbrochen von der Ankunft des Fortinbras und seines Gefolges, die von Trommeln begleitet werden. Fortinbras ordnet ein Staatsbegräbnis mit militärischen Ehren für Hamlet an, und das Drama wird beschlossen von der Aufforderung, den Leichenzug mit »soldiers ’ music, and the rites of war« (V.2.388) zu begleiten. Diese Musik bleibt im Stück jedoch ungespielt, denn Fortinbras ’ Aufforderung beschließt die Aufführung. Der Zuhörer muss die evozierten Klänge imaginieren und das Drama selbst zu einem glorreichen Ende führen. Durch diese Verschiebung des Staatsbegräbnisses in die Vorstellungskraft der Zuschauer wird zugleich der visuell vermittelte Eindruck der Desolatheit – die Bühne ist übersät mit Leichen – verstärkt. Bühnenmusik II: Die singende Ophelia Noch enger als im Fall der Bühnenmusik ist die Vokalmusik mit einzelnen Figuren und deren dramatischem Standort verbunden. Wie bereits eingangs bemerkt, zählt Hamlet neben Othello zu den wenigen Tragödien, in denen die weibliche Hauptfigur singt. Ophelias Lieder erklingen allesamt in der fünften Szene des 4. Aktes. Die Musik zu den einzelnen Liedern ist nicht überliefert und auch die textliche Gestalt bleibt fragmentarisch und bedarf einer kenntnisreichen Ergänzung durch das Publikum (oder der Gelehrten). Die einzelnen Gesangsbeiträge sind nicht als geschlossene Nummern gestaltet, sondern werden immer wieder von Versuchen der Kommunikation mit Vertretern des Hofes oder Handlungen (beispielsweise dem Verteilen von Blumen) unterbrochen. Die fünfte Szene beginnt mit dem Auftritt der Königin, Horatios und eines weiteren Herrn. Die Anwesenden unterhalten sich über Ophelias prekäre geistige und emotionale Verfassung. Man beschließt, das Gespräch mit ihr zu suchen, um zu verhindern, dass ihr Verhalten und ihre Äußerungen Andere zu subversivem Verhalten animieren. Ophelia wird gebracht, und bereits ihre erste Äußerung zeichnet sich durch eine für den weiteren Verlauf der Szene charakteristische Ambivalenz aus, denn die Frage »Where is the beauteous majesty of Denmark?« (IV.5.21) erscheint aufgrund der Tatsache, dass die Königin zugegen ist, eigentlich als überflüssig. Auf die Frage der Königin – »How now, Ophelia?« (IV.5.22) –, beginnt Ophelia überraschenderweise 16 zu singen (»How should I your true-love know«; IV.5.23–26, 29–32, 36, 38 ff.). Zunächst singt sie über die Liebe, wechselt dann aber den Gegenstand: Es ist von einem Toten die Rede. Diese Verse beziehen die umstehenden Vertreter des Hofes auf den Verlust des Vaters – für das Publikum lassen sich die Verse ebenfalls auf die gescheiterte Beziehung zu Hamlet beziehen. Diese Form von Ambivalenz prägt alle gesanglichen Äußerungen Ophelias in dieser Szene, denn die von ihr angestimmten Lieder lassen sich je nach Perspektive des Beobachters sowohl auf den getöteten Vater als auch auf das beendete Verhältnis mit Hamlet beziehen. Dies gilt insbesondere für das dritte Lied, das zunächst den Konventionen eines Klagegesangs folgt (»They bore him barefaced on the bier«; IV.5.164–167), letztlich aber offen lässt, wer genau das Objekt dieser Klage ist (»dove« kann sowohl auf den verlorenen Geliebten als auch den Vater bezogen werden). Die Uneindeutigkeit beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Frage nach dem Objekt der Lieder, sondern spielt darüber hinaus auf einer weiteren Ebene eine Rolle: So geht es im zweiten Lied um den Valentinstag (»Tomorrow is Saint Valentine ’ s Day«; IV.5.48–55, 58–66), aber das Lied erschöpft sich nicht in unschuldigen Liebeserklärungen, sondern nimmt eine deutliche Wendung ins Anzügliche. Der König reagiert auf diese Wendung mit dem Versuch, Ophelia auf das konventionelle Frauenbild einzuschwören: »Pretty Ophelia« (IV.5.56). Ophelia geht auf diese Aufforderung zur Konformität jedoch nicht ein. Dies wird besonders deutlich im vierten Lied, von dem Ophelia nur einen Vers intoniert: »For bonny sweet Robin is all my joy« (IV.5.185). Auch dieses Lied ist nicht überliefert, aber es gibt Quellen, in denen es Erwähnung findet und die nahelegen, dass es sich um ein populäres frivoles Lied handelt. Es spielt mit einem Innuendo und überlässt das Ausbuchstabieren des Intendierten letztlich den Zuschauern bzw. Zuhörern. Am Ende der Szene verstummt Ophelias Gesang, und die Verse ihres letzten Liedes (»And will ’ a not come again«; IV.5.188–197) lösen sich schließlich in Prosa auf. In Q1 ist im Unterschied zu anderen frühen Ausgaben die Rede davon, dass Ophelia die Bühne mit einer Laute in der Hand betritt (Kommentare dazu in der Arden-Ausgabe, 375). Einige Herausgeber haben argumentiert, dass die Laute in dieser Szene ein denkbar unangemessenes Instrument und darum zu streichen sei. Dies wiederum wird von anderen Kritikern aufgegriffen: Gerade die Unangemessenheit I. Stoffgeschichte und Ausgaben der Laute in dieser Szene versinnbildlicht ohne großen rhetorischen Aufwand Ophelias Wahnsinn besonders gut. Wie diese summarische Darstellung auf der Ebene der Handlung nahelegt, lässt sich für die Figur der Ophelia besonders gut aufzeigen, dass Gesang als integraler Bestandteil einer Bühnenhandlung und zur Charakterisierung einer Figur eingesetzt werden kann. Dieser Sachverhalt ist in der Forschung gut bekannt, und es kann in diesem Zusammenhang vor allem auf die sozialhistorisch ausgerichtete Studie von Frederick W. Sternfeld (1963) und neueren Datums auf die den gender studies verpflichtete Arbeit von Leslie C. Dunn (1994) verwiesen werden. Die Argumentation beider Beiträge soll in deren wesentlichen Aspekten nachgezeichnet werden. Sternfeld hat bereits früh auf die Bedeutung des Gesangs für die Figur der Ophelia im Sinne eines dramatischen Mehrwerts hingewiesen. Bei seinen Analysen hatte er vor allem die soziale Bedeutung des Gesangs im Blick. Als die verstörte Ophelia im 4. Akt vor den dänischen Hof tritt und eine Reihe von Liedern zum Besten gibt, überschreitet sie, so Sternfeld, die Grenzen dessen, was zur Entstehungszeit der Tragödie als schickliches Verhalten einer Dame von Stand galt. Zum einen singt sie in der höfischen Öffentlichkeit – ein Verhalten, das in zeitgenössischen Traktaten zum höfischen Verhaltenskodex, vor allem für Frauen, als inakzeptabel galt. Zum anderen können ihre Gesangsbeiträge nicht dem aristokratischen Liedrepertoire zugerechnet werden, sondern entstammen dem volkstümlichen Repertoire, das Damen des gehobenen Standes über ihre Ammen oder Dienerinnen vertraut gewesen sein durfte. Das öffentliche Singen populärer Lieder akzentuiert die zunehmende soziale Entfremdung Ophelias von ihrer Umwelt auf performative Weise und kennzeichnet ihr Verhalten als transgressiv. Doch Ophelia missachtet in ihrem musikalischen Handeln nicht nur die Regeln des Musizierens als social practice. Ihr spezifischer Umgang mit dem musikalischen Material ist nach Sternfeld auch zugleich Symptom eines desolaten Geisteszustands und ihre Lieder können somit dem in der frühen Neuzeit beliebten Genre der mad songs zugerechnet werden. Ophelias Lieder sind Collagen, in denen tradiertes Liedgut zerlegt und neu kombiniert wird (vgl. Sternfeld 1963, 57). Der fragmentarische Charakter der vorgetragenen Lieder, die Ambivalenz der Texte und der beständige Wechsel zwischen Prosa und Lied- 5. Musik in Hamlet vers tragen dazu bei, Ophelias mentale Verfassung und zunehmende Inkohärenz sinnfällig zu gestalten. Ophelias Kontrollverlust und langsames Entschwinden aus der Welt wurde von Shakespeare somit unter Einbeziehung des musikalischen Mediums sinnfällig zum Ausdruck gebracht. Sternfelds Befunde haben auch in der aktuellen einschlägigen Forschung nichts an Gültigkeit eingebüßt. Allerdings wurden sie in jüngerer Zeit von Leslie C. Dunn um eine dezidiert gender-kritische Perspektive ergänzt. Wie für Sternfeld steht auch für Dunn das Singen der Ophelia für deren soziale und mentale Entfremdung. Allerdings belässt es Dunn nicht bei dieser Beobachtung, sondern stellt Ophelias Verhalten in einen größeren kulturellen Zusammenhang. Der Gesang Ophelias repräsentiert für sie das »discursive other« des Dramas, das, was in der patriarchalisch organisierten Gesellschaft ausgeschlossen wird: Weiblichkeit und weibliches Begehren, Kritik an Logozentrik, Wahnsinn (Dunn 1994, 55). Die Musik – insbesondere der Gesang – eignet sich zur Repräsentation dieser Aspekte in besonderem Maße, da auch die Musik bis zu einem gewissen Grade dieser Form der Alterität verbunden ist. Der gemeinsame Nenner findet sich in den gender-Konstruktionen, welche sowohl Ophelias zunehmender Isolierung als auch dem musikalischen Diskurs zugrunde liegen. Der frühneuzeitliche musikalische Diskurs machte von hierarchisierten gender-Modellen, in denen Maskulinität der Vorzug gegeben wurde, extensiven Gebrauch. Der Musik konnten beide Seiten der gender-Opposition zugeordnet werden, sowohl die männliche als auch die weibliche. Einerseits galt Musik in ihrer berechenbaren Bezogenheit auf die harmonische Ordnung der gesamten Welt als rational und maskulin, andererseits verfügte sie aber auch über eine schwer kontrollierbare affektive Kraft, die negativ konnotiert war und als spezifisch weibliches Moment angesehen wurde. Der ambivalente Charakter der Musik wurde häufig in der Gegenüberstellung von der Musik der Engel und der der Sirenen gefasst, und der frühneuzeitliche Diskurs über die Musik war darum bemüht, Kontrolle über die affektive Macht der Musik zu erreichen. Im Hamlet wird von dieser Doppelrolle der Musik Gebrauch gemacht, um die Alterität der singenden Protagonistin herauszustellen. In ihrer Person werden Musik, Exzess und Weiblichkeit zusammengebracht und ihr Gesang steht nicht nur für soziale Grenzüberschreitung, sondern für die »discursive dissonance within the play« insgesamt (Dunn 1994, 58). 17 Ophelia entzieht sich durch den Gesang den Anforderungen der Kommunikation und der Rede – besonders deutlich wird dies, wenn sie auf Fragen der Umstehenden mit einem Lied antwortet –, und diese Weigerung, sich auf die Regeln der Kommunikation einzulassen, beschreibt Dunn als »inversion of patriarchal speech« (Dunn 1994, 62). Ophelias Gesang bricht alle Regeln der Kommunikation am Hofe: Sie singt nicht nur die falschen Lieder am falschen Ort, verstößt also gegen das soziale Protokoll, sondern sie entzieht sich darüber hinaus durch ihren Gesang und die Wiedergabe von bekannten Liedern der Zuschreibung einer klaren Subjektposition durch die patriarchalische Gesellschaft. Ophelia tritt hinter die gesungenen Texte zurück, verbirgt sich in den unterschiedlichen Sprecherrollen der Lieder und entzieht sich dadurch dem Zugriff durch ihre Umwelt. Wo die Person verschwindet, tritt das Medium des Gesangs, die Stimme, umso deutlicher in Erscheinung und in den Vordergrund der Wahrnehmung. Die im Gesang erklingende Stimme verfügt über ein »surplus of meaning«, das schwer kontrollierbar ist (Dunn 1994, 59). Im Falle der Ophelia repräsentiert der Gesang nicht nur deren mentale Verfassung und die zunehmende Schwierigkeit der höfischen Gesellschaft, sie einzuordnen und auf eine Rolle festzulegen, sondern auch »feminine excess«, der vor allem in den anzüglichen Liedern sein ganzes provozierendes Potential entfaltet. Neben den frivolen Liedern singt Ophelia jedoch auch Klagelieder (ein Umstand, der von Sternfeld nur ansatzweise gewürdigt wurde). Dunn hat darauf hingewiesen, dass dies keine Klagen im eigentlichen Sinne seien, sondern dass sie ihre Bedeutung erst auf einer Metaebene entfalten: Es sind Gesänge über das Klagen, »ghostly echoes of rituals that never took place, griefs that never were articulated« (Dunn 1994, 61). Damit wird Ophelias Trauer- und Klagegesang zu einem Vorwurf an die Gesellschaft, die ihr die Möglichkeit adäquater Artikulation und Trauerarbeit verweigert. Das Schicksal der Ophelia folgt hierin – so Dunn – dem Opernmuster (W Kap. 43), indem ihrem Moment des Selbstausdrucks (in der Oper sind dies regelhaft die Sterbe- oder Wahnsinnsszenen der Heldinnen) die Zerstörung auf den Fuß folgt. Im Unterschied zum öffentlichen Sterben der Opernheldinnen wird der Tod Ophelias jedoch nicht gezeigt. Es ist Gertrud, die »in one of the play ’ s most lyrical speeches« von Ophelias Tod und deren Sterbegesängen als »old lauds« berichtet (Dunn 1994, 62). Hatte sich Ophelia zuvor des weltlichen 18 Liedrepertoires bedient, so wird sie nun von Gertrud als Hymnen-singend erinnert, damit als keusche und delikate Jungfrau restituiert und ihre zuvor als schockierend erfahrene und empfundene Alterität nivelliert. Doch nicht nur Ophelias letzte Stunden sind von Liedern begleitet, sondern auch die Vorbereitungen ihrer Bestattung (ein Aspekt, der bei Dunn nicht berücksichtigt wird). Als der Totengräber das Grab für Ophelia aushebt, singt er – eine komische Figur – ein Lied über die Vergänglichkeit der Liebe und das Sterben, »In youth when I did love« (V.1.58–61, 67– 70, 87–90, 112 f.). Der hinzutretende Hamlet macht seinen Begleiter Horatio auf die Inkongruenz von Singen und der Tätigkeit des Totengräbers aufmerksam (V.1.62). Während sich für den Totengräber der tägliche Umgang mit dem Tod in einer Gelassenheit niederschlägt, die wiederum ihren Ausdruck im Singen von populären Liedern und damit einhergehend dem Einnehmen einer depersonalisierten und distanzierten Perspektive findet, ist der Tod für Hamlet in diesem Fall eine zutiefst individuelle und existenzielle Erfahrung. Der abgeklärte Umgang des Totengräbers mit dem Tod wird im Singen anschaulich umgesetzt und dient als dramatischer Kontrast zu Hamlets Reflexionen über den Tod, die sich im Verlauf der Szene steigern: Zunächst stimmt ihn der ausgegrabene Schädel des Yorick nachdenklich, und schließlich kulminiert die Szene darin, dass Hamlet von Ophelias Tod erfährt. Während das Singen des Totengräbers Sinnbild einer Alltäglichkeitserfahrung ist, sind Hamlets Monologe Reaktionen auf eine als existenziell erfahrene Verunsicherung. Betrachtet man die zentrale Funktion des Singens für die Figur der Ophelia, stellt sich die Frage, welche Bedeutung Musik und Gesang für Hamlet, der ja auch in zunehmendem Widerspruch zur Gesellschaft steht, haben. Eigentlich wäre bei Hamlets Symptomatik – der Melancholie (W Kap. 19) – weltvergessenes Musizieren zu erwarten, wie dies Shakespeare etwa in Twelfth Night einsetzte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Hamlet erweist sich als seltsam unmusikalisch. Sein Leiden an der Welt findet einen anderen Ausdruck: Es entlädt sich in einer beeindruckenden Sprachgewalt, die immer wieder die Grenzen des Sagbaren auslotet und damit auch die Geduld und das Verständnis seiner Gesprächspartner strapaziert. Hierin ähnelt Hamlets Verhalten dem der Ophelia: Beide überschreiten die Grenzen der Alltagssprache: Ophelia im Gesang, Hamlet im Zerdehnen der Sprache in delirierenden Monolo- I. Stoffgeschichte und Ausgaben gen, im Wortspiel oder in spitzfindigen Repliken. Sinnfällig wird der mit unterschiedlichen Mitteln erzielte vergleichbare Effekt, wenn man sich Hamlets Zitatpraxis vor Augen führt: Im 2. Akt zitiert er ein paar Verse aus einem bekannten Lied (II.2.409, Hamlet: »The first row of the pious chanson will show you more […]«) – er singt diese jedoch nicht, wie dies Ophelia wohl getan hätte, sondern spricht sie. Die Wirkung ist – so Sternfeld – dennoch durchaus vergleichbar, denn Hamlets Zitat wird dazu eingesetzt, den Eindruck von Wahnsinn zu vermitteln: »[…] he speaks rather than sings these lines […] the lyrics are as much a token of his assumed madness as are those of Ophelia in her famous scene« (Sternfeld 1963, 129). Musikalische Bilder: Das Flötenspiel Auf der Ebene der Bildersprache ist die Musik ein in der frühen Neuzeit beliebter und konventioneller Bildspender. Neben der einmaligen Erwähnung des Topos der musica humana (III.4.143) sind es vor allem die Blasinstrumente (die Begriffe »pipe«, »recorder«, »organ« werden häufig synonym verwendet), allen voran die Flöte, welche im Hamlet als Tropen benutzt werden. Das Bild vom Flötenspiel wird von Hamlet selbst eingeführt: In seinem Monolog in III.2.65 ff. benutzt er dieses Bild, um die Willkür des Schicksals zu versinnbildlichen: »[…] and blest are those / Whose blood and judgment are so well commeddled / That they are not a pipe for Fortune ’ s finger / To sound what stop she please«. Die Menschen sind das Medium des Schicksals, dessen Instrument, und können von sich aus keinen Klang erzeugen. Das Flötenspiel der Fortuna wird im Drama zum Inbegriff willkürlicher Machtausübung. Später in dieser Szene erfährt dieses Bild eine materielle Transposition, das heißt, die Flöten werden tatsächlich sichtbar auf der Bühne. Nach dem Eklat der Theateraufführung, welche von den Angehörigen des Hofes entrüstet verlassen wird, bleiben Horatio und Hamlet auf der Bühne zurück. Wenig später treten Rosencrantz und Guildenstern hinzu. Hamlet ruft nach Blockflöten: »Aha! Come, some music! Come, the recorders!« (III.2.281). Als die Musiker kommen, verlangt Hamlet, die Instrumente zu sehen: »O, the recorders. Let me see one« (III.2.332). Das von Hamlet zu Beginn der Szene aufgerufene Bild – das der flötespielenden Fortuna – wird im Folgenden zum Leitmotiv der Bühnenhandlung. Ham- 5. Musik in Hamlet let, der sich bewusst ist, dass Rosencrantz und Guildenstern den Auftrag haben, ihn zu kontrollieren, fordert Guildenstern dazu auf, die Flöte zu spielen: »Will you play upon this pipe?« Drei Mal beteuert der Gefragte, dass er dies nicht könne, worauf Hamlet anhebt, Ausführungen zum Flötenspiel zu machen. Er beschreibt dabei die Technik des Flötenspiels und stellt eine Analogie zum Lügen – dessen er die beiden bezichtigt – her: »It is as easy as lying« (III.2.343). Das Abdecken der Löcher wird mit dem Verdecken der Wahrheit verglichen. Alles, was die Gegner vermögen, ist, ihn – im übertragenen Sinne – zu benutzen, aber nicht zu beherrschen oder zu manipulieren (»… though you can fret me, you cannot play upon me«; III.2.357 f.). Shakespeare gelingt hier eine auf der motivischen Ebene besonders dicht gearbeitete Szene, indem er die Flöte zugleich symbolisch und real auf der Bühne präsent sein lässt. Ausblick Vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen zur Funktion der Musik im Hamlet stellt sich die Frage, wie diese Funktion zu bewerten ist und welche Konsequenzen sich für eine Inszenierung des Dramas daraus ergeben. Zunächst kann festgehalten werden, wie die Musik – sowohl die präsentierte als auch die repräsentierte – als symbolische Instanz jenseits des gesprochenen Wortes figuriert und von Shakespeare dazu genutzt wird, Räume, soziale Gruppen oder individuelle Figuren mit vergleichsweise ökonomischen Mitteln darzustellen und vertiefend auszugestalten. Darüber hinaus trägt die Musik dazu bei, zentrale Themen des Dramas – etwa das Thema der Inkongruenz von Gesellschaft und Individuum, oder die Grenzen der Sprache – zu markieren und die unterschiedlichen Kommunikationskanäle und Ausdrucksmittel des Theaters in die thematische Arbeit mit einzubeziehen. In der Forschung besteht Konsens darüber, dass die Musik im Hamlet aufgrund ihrer engen strukturellen und thematischen Verzahnung mit dem Drama über eine reine Unterhaltungsfunktion deutlich hinausgeht. Diese Position stützt sich im Wesentlichen auf werkimmanente Überlegungen, denn sie fragt vor allem nach der dramatischen Technik Shakespeares und dessen kunstvoller Integration von Musik in das Bühnengeschehen. Ein Versuch, die Rolle der Musik im Hamlet in einem breiteren kulturgeschichtlichen Kontext 19 zu diskutieren, wurde von Bruce Johnson (vgl. Johnson 2005) vorgelegt. Er argumentiert, dass in Hamlet die epistemologische Krise der frühen Neuzeit mit den Mitteln der dramatischen Kunst ausagiert wird. Im Drama wird – so Johnson – der Versuch unternommen, das Verhältnis von »sound« und »sight« als Instrumente des Erkenntnisprozesses auszuhandeln, wodurch es zur Chiffre eines frühneuzeitlichen Paradigmenwechsels, von der Oralität hin zur Visualität, wird. So attraktiv die These zunächst anmuten mag, so problematisch ist sie vor dem Hintergrund historischer epistemologischer Vielfalt. Ein ganzes Zeitalter unter einen ›Leitsinn‹ zu stellen und als primär ›akustisch‹ oder ›visuell‹ geprägt zu beschreiben, ist der vielschichtigen historischen Überlieferung und der unterschiedlichen Bewertung von Sinnesleistungen in veschiedenen Diskursen (wie zum Beispiel in der Kunst oder der Theologie) nicht angemessen. Hier ist historische Differenzierung vonnöten, bevor die Ergebnisse in einer Dramenanalyse fruchtbar gemacht werden können. Die Frage nach der historischen Dimension spielt auch für eine Inszenierung von Hamlet eine wichtige Rolle, denn der/die Regisseur/in ist vor das Problem gestellt, die Musik praktisch umsetzen zu müssen. Musik gilt in der populären Vorstellung häufig als überzeitliche Weltsprache: Sie überschreitet demnach mühelos topographische und historische Grenzen. Aber tut sie dies wirklich? Musik – wie alle kulturellen Ausdrucksformen – altert, wird unverständlich und bedarf der Vermittlung durch einen historisierenden Zugang. Die in Hamlet erklingende und zitierte populäre Musik ist in besonders großem Maße unverständlich geworden. Die Zusammenhänge und Kontexte sind verloren gegangen, die zitierten Fragmente können von einem modernen Publikum nicht mehr als semantisch aufgeladene Zitate eingeordnet werden. Nimmt man Ophelias Singen ernst, müsste man den Versuch unternehmen, die Inkongruenz ihres Handelns und ihres Vortrags auch auf der musikalischen Ebene zu versinnbildlichen. Dazu muß man die Lieder zunächst einmal rekonstruieren (vgl. Duffin 2004), das semantische Potential der zitierten und montierten Lieder entbergen (vgl. Sternfeld 1963) und entweder historisierend kontextualisieren oder in die Musiksprache des 20. und 21. Jh.s und deren populäre Genres übersetzen (W Kap. 47). 20 Literatur Barry, Jackson G.: Shakespeare ’ s ›Deceptive Cadence‹: A Study in the Structure of Hamlet. In: Shakespeare Quarterly 24.2 (1973), 117–127. Clemen, Wolfgang: Shakespeare und die Musik. In: ShJb [West] (1966), 303–348. Duffin, Ross W.: Shakespeare ’ s Songbook. New York/ London 2004. Dunn, Leslie C.: »Ophelia ’ s songs in Hamlet: Music, Madness, and the Feminine«. In: Dunn, Leslie C./ Jones, Nancy A. (Hg.): Embodied Voices: Representing Female Vocality in Western Culture. Cambridge 1994, 50–64. Folkerth, Wes: The Sound of Shakespeare. London 2002. Gooch, Bryan N. S./Thatcher, David/Long, Odean (Hg.): A Shakespeare Music Catalogue. Oxford 1991. 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Der Bestrafte Brudermord; oder: Prinz Hamlet aus Dännemark wurde erstmals 1781 in der von H. A. O. Reichard herausgegebenen Zeitschrift Olla Potrida gedruckt. Dieser Text basiert wiederum auf einem nicht erhaltenen Manuskript aus dem Nachlass des 1778 gestorbenen Schauspielers Conrad Ekhof, das die Datierung »Pretz den 27. October 1710« trug (vgl. Creizenach 1889, 127 f.). Es handelt sich beim Bestraften Brudermord folglich um einen Spieltext der deutschen Wanderbühne des 18. Jh.s, der keinen unmittelbaren textlichen Bezug mehr zu Shakespeares Hamlet besitzt. Es ist davon auszugehen, dass das Stück von den Englischen Komödianten nach Deutschland importiert und daraufhin Teil des Repertoires der deutschen Wanderbühne wurde. Der einzige Beleg für die Aufführung eines deutschsprachigen Hamlet im 17. Jh. stammt aus Dresden. Am 24. Juni 1626 führte der Englische Komödiant John Green, der neben den Werken Shakespeares auch Stücke von Thomas Kyd und Christopher Marlowe im Repertoire hatte, die Tragoedia von Hamlet einem printzen in Dennemark am Dresdner Hof auf (vgl. Haekel 2004, 113). Es ist also wahrscheinlich, dass es sich um eine späte Fassung eines Spieltextes der Englischen Komödianten handelt, wie auch Harold Jenkins schlussfolgert: BB [Der Bestrafte Brudermord] turns out to be a version of Hamlet in a very degenerate form. It is assumed to descend from one taken to Germany, perhaps already much corrupted, by one of the bands of English actors who are known to have toured there from Elizabethan times. (Jenkins 1982, 112) Die sehr negative Bewertung, die Der Bestrafte Brudermord über die Jahre erfahren hat, geht auf eine Tradition zurück, in der die literarische Qualität des Hamlet gegen die Bühnenpraxis ausgespielt wird. Diese theaterfeindliche Position findet auch Ausdruck in der Beschreibung G. R. Hibbards, der in seiner Verurteilung des Dramas noch weiter geht als Jenkins: Der Bestrafte Brudermord or Fratricide Punished, as it came to be called in English, is a badly debased version of Shakespeare ’ s tragedy, bearing eloquent witness to the damage a dramatic text could suffer from accretion as well as degeneration during the course of a century or more of playing. (Hibbard 1987, 373) Tatsächlich ist der Hamlet Shakespeares nicht mit dem Bestraften Brudermord unmittelbar vergleichbar, da es sich bei Letzterem um eine Haupt- und Staatsaktion handelt und damit um ein Genre, das ganz eigenen und anderen Gesetzen folgt als die elisabethanische Tragödie (vgl. Niefanger 2009). Das große Interesse, das der Bestrafte Brudermord vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh.s hervorgerufen hat, geht auf die fälschliche Annahme zurück, es handle sich bei dem Stück um eine späte Fassung des Ur-Hamlet (W Kap. 3). Die These, das Wanderbühnendrama gehe auf eine Quelle Shakespeares zurück, wurde schon früh von Wilhelm Creizenach, endgültig von George Ian Duthie und in Deutschland von Reinhold Freudenstein widerlegt, hat sich aber dennoch lange und hartnäckig gehalten (vgl. Duthie 1941; Freudenstein 1958). Überschneidungen des deutschen Stücks mit der ersten, »schlechten« Quartausgabe Q1 des Hamlet aus dem Jahr 1603 haben zu der Interpretation geführt, dass beide auf das verlorene Drama zurückgehen. So etwa heißt Polonius in Q1 Corambis und im Bestraften Brudermord Corambus. Darüber hinaus gibt es weitere Parallelen zwischen Q1 und dem Wanderbühnenstück, die Reinhold Freudenstein minutiös untersucht und einander gegenübergestellt hat (vgl. Freudenstein 1958, 38–83). Gegen die Ur-HamletThese hingegen spricht, dass es auch Überschneidungen mit Q2 gibt, wenn auch deutlich wenigere. In seinem Fazit kommt Freudenstein zu dem Schluss, daß der Bestrafte Brudermord und die Hamlet-Tragödie Shakespeares inhaltlich übereinstimmen. Alle Abweichungen in einzelnen Zügen gegenüber dem englischen Text konnten als Veränderungen bestimmt werden, die charakteristische Merkmale der Wanderbühnenproduktion im 17. Jahrhundert tragen. Wörtliche Anklänge des deutschen Textes an den Quarto 1-Text des Shakespeareschen Hamlet finden sich in großer Zahl in allen fünf Akten […]. Darüberhinaus mußten an einigen wenigen Stellen Parallelen 22 II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen zum englischen Quarto 2-Text festgestellt werden, die nur von dort übernommen sein können […]. (Freudenstein 1958, 82) Irrig ist jedoch die Annahme Freudensteins und anderer, es handele sich beim Bestraften Brudermord um eine Übersetzung der ersten Quartausgabe, in die wiederum Elemente der zweiten eingeflochten wurden. Dies entspricht ganz und gar nicht der Praxis der englischen Komödianten, die das Stück nach Deutschland importierten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Schauspieler einen englischen Spieltext im Repertoire hatten, der recht bald in eine deutsche Prosaversion übertragen wurde. Beim Bestraften Brudermord handelt es sich folglich nicht um eine literarische Übersetzung, sondern um die Aufzeichnung eines durch die theatrale Praxis veränderten Spieltextes. Die Handlung des Bestraften Brudermords ist in den wesentlichen Elementen identisch mit Shakespeares Tragödie. Einzelne Unterschiede, die auf distinkte Merkmale der Bühnenpraxis der Wanderbühne zurückzuführen sind, sind dennoch gravierend. In der Haupt- und Staatsaktion sind nahezu alle Monologe Hamlets getilgt, und der Schwerpunkt liegt auf effektreichen Bühnenaktionen. Damit ist das gesamte Stück, das wie die Dramen der Wanderbühne in Prosa verfasst ist, weniger als halb so lang wie Q1. Ein Beispiel für die Prägung durch die Englischen Komödianten ist der Hofnarr Phantasmo, eine lustige Person, die dem Narren der englischen Wanderschauspieler entspricht und die weitaus mehr Raum einnimmt als Shakespeares Osric, aus dem sie sich entwickelt hat. Es finden sich im Wanderbühnendrama noch einzelne Versatzstücke des Shakespeareschen Hamlet, allerdings sind diese nur noch verbale Elemente, die ansonsten aus ihren Sinnzusammenhängen herausgelöst sind. Ein Beispiel hierfür ist die Eröffnungsszene. »For this relieve much thanks. ’ Tis bitter cold, / And I am sick at heart« (I.1.8 f.) lauten die Worte Franciscos, womit beiläufig und durch eine Nebenfigur die Melancholie als ein Hauptthema des Dramas eingeführt wird. Die Melancholie besitzt im Wanderbühnendrama allerdings eine nur noch nebensächliche Rolle, weswegen der Verweis Franciscos auf die Kälte – eine Eigenschaft der Melancholie – zwar immer noch vorkommt, im neuen Zusammenhang aber seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Im Bestraften Brudermord wird daraus folgender Dialog: 1. Schildwache. Oho, Camerad, kommst du, mich abzulösen, ich wünsche, daß dir die Stunde nicht möge so lange werden, als mir. 2. Schildwache. Ey, Camerad, es ist ja nun so kalt nicht. (BB, I.i, 150) Dementsprechend liegt ein Hauptunterschied zwischen Shakespeares Hamlet und dem Wanderbühnenstück auch in der Konzeption der Melancholie des Protagonisten. Während bei Shakespeare die Melancholie und die »antic disposition« Hamlets Hauptprobleme der Deutung des Charakters darstellen, sind Schwermut und Wahnsinn des Protagonisten im Bestraften Brudermord eindeutig zu bestimmen – ganz wie in den Quellen Saxo (W Kap. 1) und Belleforest (W Kap. 2) handelt es sich um eine Rolle, die es Hamlet ermöglicht, die Rache für den Tod seines Vaters ausüben zu können: von dieser Stunde an will ich anfangen eine simulierte Tollheit, und in derselben Simulation will ich meine Rolle so artig spielen, bis ich Gelegenheit finde, meines Herrn Vaters Tod zu rächen. (BB, I.vi, 157) Hamlet ist im Bestraften Brudermord ein unproblematischer Charakter, der seine Rache nicht hinauszögert, sondern nur durch widrige Umstände am Handeln gehindert wird. Der Tradition der Wanderbühne entsprechend, ist der Bestrafte Brudermord auch kein Drama der Innerlichkeit und auch keines, das die politische Umbruchs- und Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit thematisiert, sondern es ist ein moralisierendes Lehrstück. Ein zentrales Mittel der Didaktik der Wanderbühnendramen ist die Darstellung von Sünden und sündhaften Affekten zum Ziel der Warnung des Publikums. Deutlich wird die moralische und politische Funktionalisierung der Wanderbühne in Hamlets Beschreibung des Zwecks der Schauspielkunst: Diese Comödianten kommen mir itzo sehr wohl zu Passe. Horatio, gieb wohl acht auf den König: wo er sich verfärbt oder alterirt, so hat er gewiß die That verrichtet, denn die Comödianten treffen oft mit ihren erdichteten Dingen den Zweck der Wahrheit. Höre, ich will dir eine artige Historie erzählen: In Teutschland hat sich zu Straßburg ein artiger Casus zugetragen, indem ein Weib ihren Mann mit einem Schuhpfriemen durchs Herze ermordet. Hernach hat sie mit ihrem Hurenbuhler den Mann unter die Thürschwelle begraben, solches ist neun ganzer Jahr verborgen geblieben, bis endlich Comödianten allda zukamen und von dergleichen Dingen eine Tragödie agirten; das Weib, welches mit ihrem Mann auch in dem Spiel war, fängt überlaut (weil ihr das Gewissen gerühret wurde) an zu rufen, und schreyt: o weh, das trift mich, denn also hab ich auch meinen unschuldigen Ehemann ums Leben gebracht. Sie raufte 6. Der Bestrafte Brudermord ihre Haare, lief aus dem Schauspiel nach dem Richter, bekannte freywillig ihren Mord, und als solches wahrhaft befunden, wurde sie in großer Reue ihrer Sünden von denen Geistlichen getröstet, und in wahrer Buße übergab sie ihren Leib dem Scharfrichter, den [sic] Himmel aber befahl sie ihre Seele. (BB, II.vii, 164 f.) Im Mittelpunkt stehen daher die Todsünden Stolz und Wollust, und das Drama verwendet beide Sünden, um die moralische Verwerflichkeit des Königs plakativ auszustellen. Dem Stück vorangestellt ist ein Prolog, der im Gegensatz zum Rest des Dramas zum Teil in Versform und nicht in Prosa verfasst ist, was auf die Unabhängigkeit dieses Vorspiels von der Bühnenpraxis hinweist. Die Figuren des Prologs, die Allegorie der Nacht und die drei Furien Alecto, Mägera und Thisiphone, sind ein unmittelbarer Verweis auf die Eumeniden des Aischylos, und damit auf den dritten Teil der Orestie, die wiederum als ein Prätext zum Hamlet angesehen werden kann, da sie ebenfalls von Vatermord, Ehebruch und Rache handelt. Dass dabei die auch hier moralisch-didaktische Komponente im Vordergrund steht, macht der Text deutlich: Diese Nacht und künftigen Tag müßt ihr mir beystehn, denn es ist der König dieses Reichs in Liebe gegen seines Bruders Weib entbrannt, welchen er um ihrenthalben ermordet, um sie und das Königreich zu bekommen. (BB, Prologus, 150) Die Todsünden Stolz und Wollust betreffen das gesamte Staatsgebilde und jeden einzelnen Untertan. Durch den Ehebruch versündigt sich nicht allein der König, sondern der ganze Makrokosmos des Staates. Die Sünde ist gemäß der Gattung der Haupt- und Staatsaktion zugleich eine individuelle und gesellschaftliche Kategorie und dient demnach der moralischen Belehrung des Publikums. Der Unterschied zwischen dieser Dramengattung und Shakespeares Hamlet könnte größer nicht sein. Literatur Erstabdruck des Textes: Olla Potrida 4.2 (1781), 18– 68. Anon.: Der Bestrafte Brudermord oder Prinz Hamlet aus Dänemark. In: Creizenach, Wilhelm (Hg.), Die Schauspiele der englischen Komödianten. Berlin/ Stuttgart 1889, 147–186. Duthie, George Ian: The »Bad« Quarto of Hamlet. A Critical Study. Cambridge 1941, 238–270. Freudenstein, Reinhold: »Der bestrafte Brudermord«. Shakespeares »Hamlet« auf der Wanderbühne des 17. Jh.s. Hamburg 1958. 23 Haekel, Ralf: Die Englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung. Heidelberg 2004. Jenkins, Harold: »Introduction«. In: William Shakespeare: Hamlet, hg. v. 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Jh.s ein für Theatertexte atypischer Rezeptionsprozess beobachten: Nicht Aufführungen geben Impulse für die weitere literarische und wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern die theoretischen ShakespeareDiskussionen, die ab den 1770er Jahren einen ersten Höhepunkt im Sturm und Drang erleben (vgl. Häublein 2005; Paulin 2007), regen die Aufnahme der Stücke ins Repertoire an. Die Grundlage dafür liefert Wielands Übersetzung von 22 ShakespeareDramen (1762–1766; Hamlet erscheint 1766), die überdies eine wesentliche Voraussetzung für den allmählichen Beginn einer Bühnenrezeption darstellt. Die Urteile der Zeitgenossen über seine Prosaübersetzung fallen zum Teil sehr harsch aus. Am nachhaltigsten prägt Gerstenbergs negatives Urteil die Einschätzung von Wielands Übersetzungstätigkeit, auch wenn sich Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (15. Stück) durchaus wertschätzend über diese äußert. Selbst die Forschung fokussiert lange Zeit vornehmlich die Fehler, Missverständnisse und Eingriffe Wielands (vgl. Stadler 1910; Gundolf 1959). In neuerer Literatur werden dagegen der Eigenwert der übersetzerischen Pionierleistung und deren weitreichende Folgen für die deutsche Sprach- und Literaturgeschichte sowie die Umstände, unter denen die Shakespeare-Übersetzung verfertigt worden ist, hervorgehoben (vgl. Kob 2000). Auch wenn Wieland kein Theater-, sondern ein Lesepublikum vor Augen hat, bieten seine Übertragungen bis ins 19. Jh. die bevorzugten Grundlagen für Bühnenadaptionen, so auch für die beiden frühesten Hamlet-Bearbeitungen. Franz von Heufeld Der Wiener Hamlet-Bearbeitung des Dramatikers Franz von Heufeld kommt insofern Bedeutung zu, als es sich bei dieser erstmals nicht um eine Nachdichtung, sondern nach Kriterien der ›Werktreue‹ um eine als »Shakespeare-nah« (Guthke 1967, 49) eingeschätzte Bühnenadaption handelt. Die Premiere von Heufelds Fassung findet am 16. Januar 1773 mit Joseph Lange in der Titelrolle am Wiener Kärntnerthortheater statt, wird als Novität in der Folge auf zahlreichen Bühnen nachgespielt und dient somit der Verbreitung des ersten deutschen Bühnen-Hamlets (vgl. Genée 1870; Weilen 1908; Widmann 1931). Der Hamburger Schauspieler, Theaterleiter und Dramatiker Friedrich Ludwig Schröder lernt die Wiener Fassung anlässlich einer Aufführung in Prag 1776 kennen und entschließt sich daraufhin zu einer eigenen Hamlet-Bearbeitung (vgl. Schröder 1778, Bd. 3, IVf.). Insofern wird die Wiener Version »indirekt zum Auslöser der gewaltigen Hamlet-Rezeption in Deutschland« (Häublein 2005, 70). Dass Shakespeares Dramen auf deutschsprachigen Bühnen nur in bearbeiteter Form aufgeführt werden könnten, darüber herrscht im 18. Jh. allgemeiner Konsens. Von Heufelds Adaption Hamlet. Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen nach dem Schakespear existieren im Druck zwei Versionen aus den Jahren 1772 und 1773 (vgl. anonym 1773; Weilen 1908). Die textlichen Kürzungen der Zweitfassung, die nach der Wiener Aufführung erschienen ist, werden teils als weitere Herausarbeitung der aktiven Komponenten in Hamlets Charakter, teils als Zensureingriffe interpretiert. Einige szenische Zusätze, wie z. B. die Beschreibung des Kabinetts der Königin, liest Weilen als Hinweise auf die Bühnenrealisation (vgl. Weilen 1914, XIIff.). Im Vorwort zur zweiten Fassung wird Heufeld dafür gedankt, dass er »sich die Mühe [habe] geben wollen, ein für England gutes Stück in ein brauchbares für Deutschland zu verwandeln« (anonym 1773, Bd. 7, 2). Ein zentrales Problem der Bühnenbearbeitungen von Shakespeares Dramen betrifft im 18. Jh. die »Umsetzung der für das elisabethanische Theater geschriebenen Stücke auf der Kulissenbühne, welche anstelle der Wortkulisse über die Dekoration eine konkrete visuelle Illusion herzustellen anstrebte« (Häublein 2005, 8), also die Realisierung der Spieltexte auf einer Bühnenform, für die sie nicht geschrieben sind. Aus Heufelds Fassung gehen sowohl das Bemühen um die Anpassung an die konkreten theaterpraktischen Gegebenheiten (Reduktion der Figurenanzahl, der Schauplatzwechsel und der Aufführungsdauer) als auch die formale Orientierung am geschlossenen französisch-klassizistischen Dra- 7. Die deutschsprachigen Hamlet-Bearbeitungen Heufelds und Schröders menideal hervor, wodurch sich zwangsläufig massive inhaltliche Veränderungen ergeben. Shakespeares Drama wird den Prinzipien der drei Einheiten so weit als möglich angenähert. Heufeld konkretisiert dafür die Ortsangabe und lässt das Stück ausschließlich auf einer »Terasse vor dem Pallaste« (Weilen 1914, 3) bzw. in den Räumlichkeiten desselben spielen. Die Dauer der Handlung wird auf knapp zwei Tage verkürzt. Voraussetzung dafür ist die Reduktion auf eine einzige Haupthandlung. Durch den weitgehenden Fortfall der politischen Dimension – Fortinbras, Voltemand, Cornelius sind gestrichen, Rosencrantz und Guildenstern zu einer Figur zusammengefasst – wird Hamlets Rache zu einer ›Familienangelegenheit‹. Alle Handlungskomponenten, die nach den klassizistischen Regeln als episodisch oder als unzulässige Vermischung von Tragischem und Komischem einzustufen sind, wie z. B. die Begebenheiten um Laertes, Ophelias Wahnsinnsszenen, ihr Begräbnis, die Totengräber-Szene, die Figur des Narren, fehlen in Heufelds Bearbeitung. Dadurch sind grundlegende dramatische Verfahrensweisen Shakespeares, wie die Kontrastierung der Hauptfigur durch Laertes und Fortinbras, die enge Verwobenheit von Politischem und ›Privatem‹ oder die ›Vermischung‹ der Stilebenen, getilgt. Die Figurennamen werden von Heufeld ›danisiert‹ – aus Horatio wird Gustav, aus Polonius Oldenholm – oder fallen bei Königin und König ganz weg. Polonius/Oldenholm wird in der ersten Fassung vom Ober-Kämmerer zu einem Vertrauten, in der 2. Fassung zu einem Minister des Königs. Heufeld folgt, abgesehen von Kürzungen und Bearbeitungen zur Verbesserung der Sprechbarkeit, Wielands Übersetzung. Nur den Text des Schauspiels, dessen Reime im Original laut Wieland »von unübersezlicher Schlechtigkeit abgefaßt« (Shakespeare/Wieland 1993–1995, Bd. 20, 108) seien, gibt Heufeld in Alexandrinern wieder. Die gänzliche Abänderung des Dramenschlusses ist durch den Wegfall der Figuren Laertes und Fortinbras bedingt und darüber hinaus einer an Gottsched geschulten Tragödiendefinition verpflichtet, wonach diese eine lehrreiche Moral mit daraus resultierendem pädagogischen Nutzen vorzustellen habe. Der letzte Auftritt des 5. Aktes setzt ein mit der Verabschiedung Hamlets kurz vor seiner Englandreise. Die Königin trinkt aus dem für Hamlet bestimmten vergifteten Becher, der den ihm geltenden Mordanschlag bemerkt und daraufhin den König ersticht. Den Angriff der Hofbediensteten auf Hamlet kann die sterbende Mutter 25 abwehren, indem sie den Mord an Hamlets Vater und ihre Mitschuld gesteht. Die Ermordung ist gesühnt, Hamlet bleibt im Sinne der ›poetischen Gerechtigkeit‹ am Leben. Heufelds Hamlet-Bearbeitung wird in der Forschung hauptsächlich als »Familientragödie, in der ein reiner Jüngling über Tücke und Hinterlist seiner Umgebung glorreich siegt« (Weilen 1914, VII), interpretiert, Hamlet erscheint, u. a. durch die Kürzung der reflexiven Passagen, als »an uncomplicated young man of action« (Williams 1990, 72). Im geänderten Schluss manifestiere sich der »Sieg des Guten«, wodurch gemäß aufklärerischer »Nutzanwendung« ein »Ansporn zur Tugend gegeben« (Schweinshaupt 1938, 53) werde. Häublein weist darauf hin, dass Heufelds Fassung »innerhalb des historischen Kontexts eine Pionierleistung im bearbeitungstechnischen Umgang mit Shakespeares Werken« darstelle, da er anders als viele seiner Vorgänger »aus dem Stoff seiner Quelle kein neues deutsches Stück« macht, sondern das Stück durch »Isolierung der Haupthandlung« (Häublein 2005, 71) dramaturgisch umformt. Friedrich Ludwig Schröder Schröder hat die Hamlet-Tragödie basierend auf der Heufeldschen Fassung und in Kenntnis des englischen Originals mehrfach für die Bühne bearbeitet. Das fünfaktige Bühnenmanuskript der Hamburger Erstaufführung von 1776 ist verschollen, die erste gedruckte Fassung erscheint 1777 ohne Autorenoder Bearbeiternamen unter dem Titel Hamlet, Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel in 6 Aufzügen. Zum Behuf des Hamburgischen Theaters, die unter Hinzufügung der Totengräber-Szene ab November 1776 in Hamburg gespielt worden ist (vgl. Weilen 1914). 1778 veranlasst Schröder selbst die Publikation einer dritten Version Hamlet, Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Nach Shakespear (vgl. Schröder 1778, Bd. 3; Weilen 1914), für die er auch die in der Zwischenzeit erschienene Übersetzung Eschenburgs herangezogen hat (vgl. dazu die Fassungsvergleiche in Winds 1909, 145 ff.). Bereits in Schützes Hamburgischer Theater-Geschichte wird Schröders Verdienst um die Etablierung von Shakespeares Dramen auf den deutschen Bühnen hervorgehoben, die mit der erfolgreichen Hamlet-Aufführung am 20. September 1776 im Comödienhaus einsetzt und Johann Franz Brockmann als Darsteller der Titelrolle berühmt macht (vgl. 26 II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen Schütze 1794, 451 ff.; Marx 2011). Der außergewöhnliche Erfolg der Hamlet-Aufführungen wird auf den als ›realistisch-psychologisch‹ etikettierten Schauspielstil des Hamburger Ensembles zurückgeführt, da sich dieser in besonderer Weise für die Darstellung von Shakespeare-Stücken geeignet habe. Die weitreichende Durchsetzung dieses seit der Jahrhundertmitte präferierten Spielstils ist in der Folge eng mit der Durchsetzung der Shakespeareschen Dramatik im deutschsprachigen Raum verbunden (vgl. Hoffmeier 1964; Guthke 1967; Häublein 2005; Birkner 2007). Im Gegensatz zur Wiener Fassung, von der Schröder sowohl die Namensänderungen, die teilweise Reduktion der dramatis personae, den Fortfall der politischen Komponente als auch in allen Versionen den positiven Schluss übernimmt, nähern sich seine Bearbeitungen der Mehrsträngigkeit des Originals an, vornehmlich um »Kausalzusammenhänge sichtbar zu machen und das Handeln der einzelnen Figuren klar zu motivieren« (Häublein 2005, 75): z. B. durch die Wiedereinführung der Laertes-Figur und die Ausgestaltung der Ophelia-Handlung mit den bei Heufeld gestrichenen Wahnsinns-Szenen oder durch die in der zweiten Version hinzugefügte Totengräber-Szene. Obwohl sich Schröder nicht der strikten Einhaltung der drei Einheiten verpflichtet fühlt, werden auch bei ihm aus aufführungspraktischen und illusionssteigernden Gründen die im Original zahlreichen Szenenwechsel reduziert, wodurch sich wie schon bei Heufeld abweichende Akt- und Szeneneinteilungen ergeben. Die Dauer der Handlung ist auf wenige Tage beschränkt, so wird z. B. Laertes ’ neuerliche Ankunft bei Hof durch die ungünstige Witterung, die ihn an der Abreise nach Frankreich gehindert habe, erklärt. Trotz des komprimierten und simplifizierten Handlungsverlaufs sind Schröders temporeiche Bearbeitungen Shakespeares Vorlage vor allem in der Gestaltung der Charaktere grundsätzlich verpflichtet, da er viele der bei Heufeld gestrichenen reflexiven und satirisch-zynischen Passagen wieder einfügt, alle derben oder anzüglichen Stellen bleiben jedoch gestrichen. Wie bei Heufeld erscheint die Hamlet-Figur auch in Schröders differenzierteren Bearbeitungen als zielgerichteter jugendlicher Rächer. Dazu tragen u. a. die Kürzung der selbstkritischen, melancholischen Passagen im Hekuba-Monolog sowie die markante Umstellung der Gebetsszene des Königs wesentlich bei, die bei Schröder vor dem entlarvenden Schauspiel, für das er wieder Wielands Prosafassung wählt, gesetzt ist. Während in älteren Forschungen darin vor allem ein unverständlicher Fehler gesehen wurde, weist Häublein in ihrer Studie den dramaturgischen Zweck dieses Eingriffs nach: »Schröders Hamlet zaudert an dieser Stelle nicht allein aus moralischreligiösen Bedenken, sondern auch aus dem konkreten Grund, daß Claudius ’ Schuld für ihn hier noch nicht bewiesen ist«, Hamlets Zögern wird dadurch »rational erklärlich« (Häublein 2005, 75) gemacht. Schröder wählt in allen Fassungen den positiven Wiener Schluss von 1773. Obwohl Laertes im letzten Akt des Dramas anwesend ist, kommt es nicht zum entscheidenden Fechtkampf, sondern zur Versöhnung. Das Beibehalten des glücklichen Ausgangs wird in der Forschung seit jeher als eindeutige Publikumskonzession interpretiert. So sei die »Umstilisierung Shakespeares zum Familienstück-Autor im Sinne der Zeit eine der am häufigsten zu beobachtenden Eigenarten der deutschen Inszenierungen« (Guthke 1967, 51). Häublein differenziert dahingehend, dass im 18. Jh. »der auf einer Reihe von Verhängnissen basierende Tod Hamlets von vielen Kritikern als ein dramaturgischer Fehler Shakespeares gewertet wurde« (Häublein 2005, 76; Hervorh. im Orig.). Schröder habe in seinen Adaptionen vor allem die »polymorphen Charaktere und die emotive Wirkung des Geschehens auf den Rezipienten« (ebd., 77) herausgearbeitet, also diejenigen Aspekte, die von den Zeitgenossen an Shakespeares Dramen besonders geschätzt wurden. Die deutschsprachigen Shakespeare-Aufführungen ab den 1770er Jahren sind im Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen des Theaterbetriebs zu sehen. Gefordert sind Novitäten, welche sowohl den Bedürfnissen der Bühnen als auch denen des Publikums nach Unterhaltung entsprechen müssen, um dieses langfristig an die stehenden Theater zu binden. Die Bewertungen der vorromantischen Bearbeitungen sind lange Zeit durch Gundolfs 1911 erstmals erschienene und mehrfach wieder aufgelegte Arbeit Shakespeare und der deutsche Geist nachhaltig negativ geprägt, da diesen als Einlösung von niveaulosen Publikumserwartungen und aus rein erwerbsmäßigem Interesse »Shakespeares Entmannung« (Gundolf 1959, 248) vorgeworfen wird. Erst Stahls umfangreiche Studie Shakespeare und das deutsche Theater betont den »Einsatz der deutschen Bühne für Shakespeare« und zählt diesen zu den »großen Leistungen der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte« (Stahl 1947, 8). In den jüngeren Forschungen, die zu einer – weniger 7. Die deutschsprachigen Hamlet-Bearbeitungen Heufelds und Schröders ›national‹ geprägten – Neubewertung der Anfänge von Shakespeares deutschsprachiger Bühnenrezeption beitragen wollen, wird das Augenmerk verstärkt auf die dramaturgischen, bühnentechnischen und theatergeschichtlichen Kontexte gelegt, da die Bearbeitungen vornehmlich als »Produkte der Theaterpraxis« (Häublein 2005, 7) zu verstehen seien. Schröders Hamlet-Bearbeitungen werden keineswegs mehr als ›typische Sturm- und Drang-Fassungen‹ interpretiert, die den ›regellosen‹ Stücken der Genieästhetik vergleichbar seien, sondern analog zur Wiener Fassung »als Tragödie der Aufklärung« (Birkner 2007, 20). Schröders bühnenwirksame Fassungen, die in der Folge von zahlreichen Theatern und Truppen nachgespielt wurden, und seine erfolgreichen Hamburger Inszenierungen haben maßgeblichen Anteil an der Einführung des Dramas auf den Bühnen, initiieren die weitere Shakespeare-Rezeption und ermöglichen damit einem deutschsprachigen Theaterpublikum Zugang zum Werk des elisabethanischen Dramatikers. Literatur Quellen Anon.: Neue Schauspiele. Aufgeführt in den kais. königl. Theatern zu Wien. Preßburg/Leipzig 1773. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1985 ff. Schröder, Friedrich Ludwig (Hg.): Hamburgisches Theater. Bd. 3. Hamburg 1778. Shakespeare, William: Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Übers. v. Christoph Martin Wieland. Neu hg. nach der ersten Zürcher Ausgabe von 1762–1766 von Hans und Johanna Radspieler. Zürich 1993– 1995. Weilen, Alexander von (Hg.): Der erste deutsche Bühnen-Hamlet. Die Bearbeitungen Heufelds und Schröders. 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Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen Die großen Übersetzungen (Schlegel, Bodenstedt, Hauptmann, Rothe, Fried) Bereits in den ersten Teilübersetzungen, die Voltaire vom Hamlet anfertigte, sowie in den sich daran anschließenden poetologischen Debatten bildete sich der Bezugsrahmen für die Shakespeare-Übersetzungen des 18. Jh.s heraus. Die Bewunderung für ein aus einem Naturgenie heraus geschaffenes neues dramatisches Modell wurde eingeschränkt durch die Bemängelung jener sprachlichen und dramaturgischen Züge des Werkes, die dem Zeitgeschmack allzu sehr widersprachen. So mäkelte auch Christoph Martin Wieland, der sich als 29-Jähriger an eine Gesamtübersetzung Shakespeares machte und zwischen 1762 und 1766 immerhin 22 Dramen in acht Bänden als Prosafassung veröffentlichte, in Anmerkungen an manch einer Textstelle herum oder ließ sie gar unübersetzt. Gleichwohl ermöglichte seine Übersetzung des Hamlet einer ganzen Generation ein Lektüreerlebnis, das gemessen an seinen Folgen für das deutsche Theater beispiellos blieb. Sie wurde zur Grundlage der ersten deutschen Bühnenbearbeitungen des Hamlet (vgl. Helmendsdorfer 1965, 63–66; Greiner 1993; vgl. W Kap. 7). Johann Joachim Eschenburg legte 1775–77 eine weitere Prosaübersetzung vor, die auch die von Wieland unübersetzten Dramen beinhaltete und insgesamt unvoreingenommener arbeitete. Eschenburgs Übersetzung darf, gemessen an den Möglichkeiten ihrer Zeit, als philologisch korrekt bezeichnet werden. Es gilt als sicher, dass Schlegels Übersetzung ohne die Vorarbeit Eschenburgs kaum möglich gewesen wäre (vgl. Greiner 2001; Suerbaum 1969). A. W. Schlegel und Dorothea Tieck Als August Wilhelm Schlegel im Jahr 1797 sein großes Übersetzungswerk in Angriff nahm, das später von Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin unter der redaktionellen Leitung von Ludwig Tieck ergänzt wurde (er selbst übersetzte zwischen 1797 und 1801 16 Dramen, darunter 1789 den Hamlet, 1810 folgte noch Richard III; die Gesamtausgabe erschien 1825–1833 in Berlin), war Shakespeare also längst zum neuen Bezugspunkt der deutschen Dramatik geworden (vgl. Paulin 2003, 146 ff.). In den Zentren des deutschsprachigen Theaters waren Inszenierun- gen von Shakespeares Dramen längst keine Seltenheit mehr (vgl. Häublein 2005). Dennoch fiel der Beginn von Schlegels Übersetzungsabenteuer in eine ungünstige Zeit. Die deutsche Bühne war seit Jahren beherrscht gewesen von den populären Rührstücken Kotzebues. Erst jetzt ließ sich Goethe von Schiller zur Wiederaufnahme der Arbeit am Faust drängen; zeitgleich begann Schiller, ebenfalls nach fast zehnjähriger Pause und seinerseits ermuntert durch Goethe, die Arbeit am Wallenstein; und Schlegel beginnt die Übersetzung von Romeo und Julia – ein annus mirabilis für die deutsche Bühne. Schlegels Übersetzungsinteressen reichen zurück in die Göttinger Studienzeit, wo sich unter dem Einfluss Gottfried August Bürgers das Interesse für Theorie und Praxis des Übersetzens herausbildete. Statt als Nachahmer wird der Übersetzer als Schöpfer eines Kunstwerkes verstanden, das die Illusion eines Originalwerks vermittelt. Damit rücken die formalen Aspekte, insbesondere die Notwendigkeit und ästhetische Problematik der Versübersetzung, in den Blick. Schlegel beginnt damit die Arbeit an einer »deutschen poetischen Grammatik« (Gebhardt 1970, 25). Neben Detailüberlegungen zur Poetik des Verses entwickelt sich unter dem Eindruck der Lektüre Herders die Überzeugung von der Individualität und Originalität eines als organische Struktur begriffenen Werkes, dessen formale Elemente als Ausdrucksträger semantische Funktionen erfüllen. Diese Überzeugung verbietet einen Eingriff in die Faktur des Originals und gebietet die möglichst detailtreue formale Übertragung des Originals. In mehreren Beiträgen zu Schillers Zeitschrift Die Horen in den 1790er Jahren sowie später in den Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst und den Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur entwickelte Schlegel sowohl sein Shakespeare-Bild als auch seine theoretischen Vorstellungen vom Übersetzen. Entscheidend wurde die Frage, was es heißt, ›formal treu‹, ›poetisch‹ bzw. ›treu und poetisch‹ zugleich zu sein. Formale Nachbildung hieß zuallererst: genaue metrische Nachbildung. Eine wesentliche Aufgabe bestand darin, die unterschiedlichen materialen Qualitäten der englischen und deutschen Sprache zu berücksichtigen und den englischen Blankvers in die Strukturen der deutschen Sprache zu übertragen, deren formale Eigenschaften in manchem zwar durchaus ähnlich, in Vielem aber ganz anders ausfallen. Lexikalische Vielfalt und Wortlän- 8. Die großen Übersetzungen (Schlegel, Bodenstedt, Hauptmann, Rothe, Fried) gen, Wortakzente und Kadenzen, syntaktische Strukturen und Rhythmen, Nominalstile und Verbalstile galt es zu beachten. Als besonderes Problem erwies sich auch das doppelte Lexikon des Englischen, das sich aus den germanisch-angelsächsischen Dialekten und dem Französisch-Normannischen des 11. Jh.s, mit entsprechend erweiterten prosodischen Möglichkeiten, zusammensetzte. In der praktischen Auseinandersetzung mit diesen Fragen wurden erstmals die Elisionen, Ellipsen, die vielfältigen Formen der Verkürzung als poetische Übersetzungsmittel durchdekliniert, die Enjambements als Mittel der rhythmischen Glättung ausprobiert, die Partizipialkonstruktionen syntaktisch neubewertet, vor allem aber im Wortbildungsbereich, in gewagten Wortzusammensetzungen, immer wieder Neues ausprobiert, verfeinert, der deutschen Sprache hinzugefügt. Neben metrischen Fragen erkannte Schlegel die Bedeutung von Tonfall und Klangfarbe, die sinnlich-konkrete Bildlichkeit der Sprache Shakespeares und vor allem – in deutlichem Gegensatz zur Bewertung des 18. Jh.s – die Wortspiele als Sinnkonstituenten. Die kongeniale schöpferische Leistung setzt aber auch eine kongeniale hermeneutische Auseinandersetzung mit dem zu übersetzenden Text voraus. Dieses Doppelspiel von Auslegung und Neuschöpfung macht aus der Übersetzung immer etwas anderes und schon deshalb ein Kunstwerk eigenen Rechts. Das wiederum verleiht einem übersetzten sprachlichen Kunstwerk sein eigenes, zeitbedingtes Gepräge, das gerade wegen dieser seiner Qualität, nicht wegen seiner Unzulänglichkeit, eine jede Zeit zu einer neuen Übersetzung herausfordert. Insofern trägt Schlegels Hamlet-Übersetzung den Stempel ihrer Zeit und ihres Übersetzers und macht sie zum Beleg eines deutsch-romantischen Kunstbegriffs, vielleicht sogar zu einem seiner Paradebeispiele. Schlegel rechtfertigt die notwendigen Änderungen als »höhere Erfordernisse einer poetischen Nachbildung« (Schlegel 1800, 111); zugleich schafft er sich damit aber den benötigten Freiraum. Denn so sehr ihn Shakespeares dramatische Sprache zu großen und folgenreichen Experimenten mit der deutschen Sprache veranlasste, so wenig ließ er sich von Änderungen abhalten, wenn der Text seinen Vorstellungen nicht entsprach. Das Weglassen von unverständlichen Ausdrücken oder als anstößig empfundenen Äußerungen erschien ihm selbstverständlich und wurde systematisch betrieben. Wo ein Wortspiel nicht zu übersetzen ist, darf ein anderes 29 gewählt werden. Gleiches gilt für die (im Hamlet eher seltenen) Reime. Grundsätzlich neigt er dazu, die Mischung verschiedener Stile anzugleichen und die Stillage anzuheben (vgl. Daly 1965, 90 f.). Hamlet spricht durchgängig höfischer als im Original. Schlegels eigenes Stilideal der Erlesenheit und Varietät des Ausdruck genießt höchste Priorität: Gemeinsprache wird nicht selten durch Erlesenes ersetzt, Wortwiederholungen, damit auch die dramaturgisch so wichtigen Wortechos, werden bei ihm gern durch Synonyme oder ähnliche Bedeutungen variiert (vgl. Stamm 1964a, 70). In besonderem Maße wirken sich diese ›poetisierenden‹ Eingriffe in der Totengräberszene aus, die zwar ungekürzt übersetzt wird, deren derb-witzige Dimension aber abgeschwächt wurde. Leichtigkeit, Mäßigkeit und Geschmeidigkeit sind die Stilmerkmale der Schlegelschen Hamlet-Übersetzung (vgl. Gebhardt 1970, 233). Poetizität und Mäßigkeit aber machen aus seinem Hamlet einen ›romantischen‹ Hamlet. Seine übersetzungs- und literaturtheoretischen Überlegungen revidieren das damalige ShakespeareBild: Schlegel denkt und analysiert das Kunstwerk nicht mehr vom Schaffensprozess, sondern von dessen Totalität her, die nur durch intellektuelles Kalkül und Kunstwollen in jedem Detail zu erreichen ist. Der Vorstellung vom Naturgenie setzt er, mit nachdrücklicher Unterstützung durch den Bruder Friedrich, seine Auffassung vom Kunstgenie entgegen. Die organische Naturform wird zur organischen Kunstform; das intuitiv-unbewusste Schaffen wird zum reflektierenden Schöpfungsprozess; die Regellosigkeit der ungebändigten Dramenform weicht der Einsicht in die poetisch kalkulierte Funktion des formalen Details. Nicht weniger folgenreich erwies sich die Übersetzung für das Hamlet-Bild ihrer Zeit, indem sie die Hamlet-Schwärmerei Wilhelm Meisters (W Kap. 67) nicht nur stärker akzentuierte, sondern ihr in der Schlegelschen Textfassung auch ein objektives Korrelat bot. Der aus der Schlegelschen Übersetzung geborene deutsche Hamlet ist ein edler Jüngling, der sich durch sittliche Maximen leiten lässt, auf die er wiederholt reflektiert (vgl. Gebhardt 1970, 239). Edelmut des Prinzen und hohe moralisch-ethische Prinzipien sind die ihn leitenden Grundsätze. Kleine und kleinste Übersetzerentscheidungen gestalten dieses Gemälde des sensiblen, zur politischen Tat unbefähigten Herzens aus. Während Shakespeare auf der Bühne mit dem sich zu seiner Zeit abzeichnenden neuen Menschen experimentierte, der kon- 30 II. Deutschsprachige Übersetzungen und Bearbeitungen templative Weltbetrachtung und aktive Selbstverantwortung in eine neue Vorstellung von Souveränität zu überführen versuchte, hat Schlegel seinen Hamlet für seine Zeit, die des deutschen Idealismus, verfasst. So wird Shakespeares Hamlet in der Fassung Schlegels zu einer Tragödie der Reflexion (vgl. Gebhardt 1970, 247), in der sich ganze Generationen wiederfanden, hin und wieder aber auch einzelne Stimmen zum Widerspruch herausgefordert fühlten. Denen, die sich mit dem Rückzug aus der öffentlich-politischen Verantwortung nicht abfinden wollten, wurde gerade diese ›deutsche‹ Identifikation mit einem in die Innerlichkeit drängenden Hamlet zuwider. In seinem Gedicht »Hamlet« wird für Freiligrath die Feststellung »Deutschland ist Hamlet!« zum Kampf- und Schmähruf gerade gegen diese vereinnahmende (Um-)Deutung. Die Gegenstimmen waren nicht zahlreich, aber hörbar, und sie fanden im Text nicht nur einen anderen Hamlet, sondern gerade auch eine über das bürgerliche Theater hinausweisende Dramaturgie des Volkstheaters (vgl. Greiner 2005). Friedrich von Bodenstedt Die ambitionierteste und in mancherlei Hinsicht gelungenste Gesamtübersetzung Shakespeares, die auf Schlegel folgte und gegen Schlegel gerichtet war, geht auf Friedrich von Bodenstedt (1819–1892) als Gesamtredakteur zurück (Bodenstedt 1867–72). Bodenstedt war eine facettenreiche, weltläufige Persönlichkeit und mit vielen Talenten begabt. Nach einem Studium der Philosophie und Philologie bereiste und durchwanderte er große Teile Europas und Kleinasiens und erlernte die slawischen und orientalischen Sprachen. Neben zahlreichen Redakteursposten betätigte er sich erfolgreich als Übersetzer von Puschkin, Lermontov und ukrainischen Volksliedern. 1854 folgte er einem Ruf auf eine Professur für slawische Sprachen nach München, vier Jahre später übernahm er dort die Professur für altenglische Literatur. In diese Zeit fallen eine dreibändige Studie über Shakespeares Zeitgenossen und ihre Werke (Berlin 1858–60) und die viel beachtete Übersetzung der Sonette Shakespeares (Berlin 1862). Seit 1866 leitete er das Meininger Hoftheater und gab 1866–67 die beiden ersten Bände des ShakespeareJahrbuchs heraus. Seit dieser Zeit verfolgte er den Plan einer neuen Shakespeare-Übersetzung unter der Mithilfe von Nicolaus Delius. In diesem Projekt übernahm er selbst die Übersetzung des Hamlet, freilich dabei nur der Not nachgebend. Vergeblich hatte er sich um den im Londoner Exil lebenden Jungdeutschen Ferdinand Freiligrath als Übersetzer bemüht. Allein dieses Bemühen um jenen deutschen Freiheitsdichter, der seine am Hamlet festgemachte politische Botschaft für die damaligen deutschen Verhältnisse laut genug verkündet hatte, lässt einen anderen Hamlet, einen ›politischen‹ Hamlet erwarten. Die Übersetzung erschien 1870 als 25. Band. Der neue Blick wird bereits in der Einleitung dargelegt, wenn Bodenstedt König Claudius nicht mehr nur nach moralischen, sondern auch nach politischen Kriterien beurteilt, ein »schlechter Mensch« zwar, »aber ein Monarch, der das Regiment versteht, und an praktischer Klugheit, That- und Willenskraft Hamlet weit überlegen« ist (Bodenstedt 1867–72, Bd. 25, viii). Der Übersetzer beweist ein Gespür für die Doppelnatur des Machiavellisten, der die bei Shakespeare zeittypischen Züge des Schurken hinter sich gelassen hat. Auch die Hofleute werden als soziales Umfeld der Tragödie in ihrer zwangsläufig parasitären Rolle nachsichtig-kritisch gewürdigt. Ausgiebig widmet sich Bodenstedt der Totengräberszene, deren Notwendigkeit er betont. Die Tragödie wird unter diesen Gesichtspunkten nicht mehr nur zu einer Tragödie des idealisierten, zur Tat unfähigen Intellektuellen, sondern zu einer Tragödie, die die Facetten von Tat, Abwägung, Aufschub und jähzornigem Affekt durchspielt und die vielen wehrlosen Opfer der Schuldbilanz Hamlets zurechnet. Wenngleich Bodenstedt Schlegels Übersetzung in vielem verpflichtet bleibt, lassen zahlreiche Änderungen die Konturen eines eigenen Profils erkennen, die die angestrebte Umdeutung in Figurenrede umsetzen. Ein Vergleich des Reflexionsmonologs allein zeigt, dass Bodenstedt um stärkere Klarheit von dunklen oder mehrdeutigen Stellen bemüht ist, den Text damit verständlicher und glatter, im Idiom zeitgemäßer, aber auch eindeutiger macht als das Original (vgl. Reichert 1965, 100–101). Hamlet wird zum Zeitgenossen Bodenstedts und zum Zeitzeugen Freiligraths, wenn Bodenstedt Schlegels »wütende[s] Geschick« (outrageous fortune) in ein »schmähliches Geschick« wandelt und auf ein menschliches – und damit machbares – Maß beschränkt, wenn er den »Übermuth der Ämter« zu einem preußischen »Beamtenübermuth« präzisiert, die »Lebensmüh« mit dem »harten Joch des Lebens« von der existentiellen zur sozialen Lebenserfahrung umdeutet. Während Schlegels Hamlet dem Schicksal »Widerstand«