Generationalität und Gewalt
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Generationalität und Gewalt
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ISBN 978-3-8471-0466-7 ISBN 978-3-8470-0466-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0466-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich 05 Gesellschaftswissenschaften, Verfasser : Sascha Reif, Datum der Disputation: 15. 10. 2014 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Anstürmende »Wagaia« in der Nähe von Utegi am Vikt.-Nyanza. (Sammlung Schott von Lieselotte Gräfin Bülow von Dennewitz). Koloniales Bildarchiv, Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, Bildnr. 084-1710-311. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Danksagung Anküpfend an eine erhaltenswerte Tradition möchte ich meinen Dank an eine Reihe von Personen richten, die mich bei der Arbeit am vorliegenden Buch unterstützt haben. Die Gespräche mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DFG-Forschergruppe »Gewaltgemeinschaen« waren stets geprägt von einem fruchtbaren Austausch von Ideen, von der Diskussion übergreifender Fragestellungen sowie der Arbeit an definitorischen, empirischen und phänomenologischen Problemen. Auch die gegenseitige Präsentation einer großen Bandbreite von Projektentwürfen, spezifischen Perspektiven, Konzepten und Ideen sorgte für eine letztlich produktive Art der Ablenkung vom eigenen Fokus, deren Wert besonders in Zeiten überbetonter Quantifizierung, Bilanzierung und Reduktion auf Zählbares sowohl mit dem gebotenen Nachdruck betont als auch im Interesse nachfolgender Forschung verteidigt werden muss. Die Veranstaltungen der Forschergruppe waren eine gelungene Kombination von eigenen Impulsen und externer Forschung, die durch reichhaltige Diskussionsbeiträge und weiterführende Kommentare der Teilnehmenden ergänzt wurden. Von diesem Forschungsumfeld konnte ich profitieren, wofür ich sehr dankbar bin. Ferner gilt mein Dank den einzelnen Projektleiterinnen und Projektleitern für zahlreiche Anregungen, Klärungen und konstruktive Kritik. Im Rahmen der Oberseminare an der Universität Kassel gab es eine große Zahl konzeptioneller wie inhaltlicher Impulse, die im Austausch mit Studierenden und Mitarbeitern des Fachbereichs Neuere und Neueste Geschichte entstanden. Für die ebenso angenehmen wie motivierenden Gespräche vor, während und nach den Veranstaltungen bedanke ich mich ebenfalls herzlich. Der Deutschen Forschungsgemeinscha verdanke ich die Förderung des Projekts und insbesondere die Möglichkeit, eine große Zahl ausländischer Archive aufzusuchen und die dort vorhandenen Bestände ausgiebig studieren zu können. Bei der Arbeit in Archiven und Bibiotheken wurde ich von einer Reihe von Personen unterstützt, die ich ebenfalls dankend erwähnen möchte. Hartmut Bergenthum eröffnete mir zahlreiche Recherchemöglichkeiten und gab mir hilfreiche Hinweise während der Arbeit im DFG-Sondersammelgebiet Afrika südlich der Sahara an der Universität Frankfurt. Ihm und seinen Mitarbeiterinnen dan- 6 Danksagung ke ich sehr. An der University of Nairobi verdanke ich Mary Mwiandi wertvolle Einsichten in den reichhaltigen Quellenkorpus der Departmental Archives und ertragreiche Gespräche über die zentralen emen meiner Forschung. Die Hilfe von Milcah Amolo Achola, Charles E. Sikulu und besonders die Unterstützung durch Tilo Weber ermöglichten mir eine ebenso arbeitsintensive wie ergebnisreiche Zeit in Kenia. An der School of Oriental and African Studies in London verbrachte ich weitere Wochen ausgedehnter Recherchen und habe bei Richard Reid für eine ausgiebige Diskussion zu danken, die Bestätigung und weitere Fokussierung brachte und ein motivierender Auakt dieses Forschungsaufenthaltes war. Bei weiteren Recherchen in der Cadbury Research Library der Universität Birmingham, der Rhodes House Library in Oxford sowie im Archiv der Herrnhuter Brüdergemeinde half mir das jeweilige Personal dabei, die Studie weiterzuführen und in einzelnen Punkten durch archivalische Quellen zu bereichern. Bei der Arbeit im Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission in WuppertalBarmen unterstützte mich Wolfgang Apelt, von dessen breiter Sachkenntnis ich ebenso nachhaltig beeindruckt bin wie von seiner schnellen und zuverlässigen Art der Bereitstellung relevanter Quellen. Während der gesamten Projektphase hat mich Christine Momberg als Hilfskra zuverlässig unterstützt und war bei Anfragen stets schnell zur Stelle, wofür ich mich ebenso bedanke wie bei Maria Kiefer für die Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts. In administrativen Fragen konnte ich stets auf die Sachkenntnis von Susanne Weber zählen und bedanke mich herzlich für die Unterstützung. Alexander Eilers verdanke ich ausgiebige Diskussionen und ausgedehnte Gespräche, die mir neue Perspektiven eröffneten und zur gedanklichen Präzisierung beitrugen. Durch Winfried Speitkamp wurde mir eine vorbildliche Betreuung zuteil und ich bedanke mich für klärende Gespräche, inspirierende Vorträge und Seminare, Hilfe bei der Weiterentwicklung zentraler Gedanken meiner Arbeit, ausgiebige fachliche Diskurse sowie ungezählte weitere zusätzliche Impulse und Anregungen. Leider wird dieses Buch einen Leser nicht mehr erreichen, dessen Studien wertvolle Anregungen für meine Arbeit beinhalten und dessen Urteilskra mir ebenso in Erinnerung bleiben wird wie eine beeindruckende intellektuelle Flexibilität, deren Zeuge ich während der Arbeit der Forschergruppe »Gewaltgemeinschaen« sein dure. Trutz von Trotha verstarb während meiner Arbeit an diesem Buch, das seinem Gedenken gewidmet sein soll. Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Ostafrikanische Gruppen und politische Strukturen im 19. Jahrhundert 2.1 Gesellschaen im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Europäische Blicke, ostafrikanische Gruppen . . . . . . . . . . . . 2.3 Grundzüge nichtstaatlicher Gesellschaen im 19. Jahrhundert . . . . . . . 37 37 44 52 3 Alter und Generation in Ostafrika . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Seniorität als gesellschaliches Strukturprinzip . . . . . 3.2 Altersgruppe und Altersklassensystem . . . . . . . . . . 3.3 Altersklassenordnung oder »Altersklassenunordnung«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 63 71 82 4 Gewalt in ostafrikanischen Gesellschaen des 19. Jahrhunderts . . . . 4.1 »Kriegergeist« und junge Krieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Kriegermythen und Kriegertraditionen . . . . . . . . . . . 4.1.2 Gewalt und Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Hierarchien, Entstehung und Tätigkeitsfelder von Kriegergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Aggressive Jugend? Kriegertum als Lebensabschnitt . . . . 4.2 Die soziale und politische Einbettung kollektiver Gewalt . . . . . 4.2.1 Eine Ökonomie des Raid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Zyklen der Gewalt. Träger und Routinen saisonaler Raids . 4.2.3 Kooperationsformen, Netzwerke und Streitkulturen . . . . 4.3 Regeln, Grenzen und Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Gewalt und Verhandlung. Rolle und Aufgabenbereiche der Elders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Jugendliches Gewaltpotenzial und Konflikte zwischen den Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Ehre als Regulativ. Gewalt und sozialer Status. . . . . . . . . . . . . . . . 89 89 89 97 . . . . . . . . . . . . . . 116 125 133 133 141 152 160 . . 160 . . 170 . . 184 8 Danksagung 5 Gewalt und gesellschaliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . 5.1 Eine gewaltsame Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Neue Gewalteliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Transformationen der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Festigung veränderter Gewaltnutzung . . . . . . . . 5.2.3 Persönliche Einflussgebiete und charismatische Anführer 5.3 Gesellschaliche Umgestaltung durch Gewalt? . . . . . . . . . 5.3.1 Neue Gewalteliten und koloniale Kräe . . . . . . . . . . 5.3.2 Desintegration bestehender Altersordnungen? . . . . . . 5.3.3 Fortbestehende Ungleichzeitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 195 207 207 226 236 259 259 267 285 6 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.1 Church Missionary Society Archives, Cadbury Research Library Birmingham . . . . . . . . . . . . 7.1.1.2 School of Oriental and African Studies Archives London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.3 Bestände der London Missionary Society, School of Oriental and African Studies London . . . . . . . . 7.1.1.4 Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission Wuppertal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.5 Bundesarchiv Lichterfelde . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.6 Department of History and Archaeology Archives, University of Nairobi . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.7 Jomo Kenyatta Memorial Library Archives, University of Nairobi . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1.8 British National Archives London . . . . . . . . . . 7.1.1.9 Archiv der Herrnhuter Brüdergemeinde Herrnhut . 7.1.1.10 Rhodes House Library Oxford . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 . 301 . 301 . 301 . 302 . 302 . 302 . 302 . 303 . . . . . . . 304 304 304 304 305 311 328 Abkürzungen CMS - Church Missionary Society Archives, Cadbury Research Library, Birmingham SOAS - School of Oriental and African Studies Archives, London LMS - London Missionary Society Archives, School of Oriental and African Studies, London VEM - Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission, Wuppertal BArch - Bundesarchiv Lichterfelde, Berlin UoN - Department of History and Archaeology Archives, University of Nairobi, Nairobi UoNLib - Jomo Kenyatta Memorial Library Archives, University of Nairobi, Nairobi BNA - British National Archives, London HrArch - Archiv der Herrnhuter Brüdergemeinde, Herrnhut RhArch - Rhodes House Library, Oxford 1 Einleitung Ostafrikanische Krieger sind immer noch eine Projektionsfläche für westliche Imaginationen und prägen Tourismusbroschüren ebenso wie Internetseiten und Werbekampagnen. Sie sind Teil von Phantasien über Ursprünglichkeit und ein naturnahes Leben in Afrika¹. Die vorliegende Arbeit untersucht Kriegergruppen im 19. Jahrhundert, die aus Männern unterschiedlichen Alters bestanden und in einer Umgebung agierten, die von der Abwesenheit von Staaten geprägt war. Generell ist über die Gesellschaen der Vorkolonialzeit nur wenig bekannt, obwohl die Figur des afrikanischen Kriegers bereits die ersten europäischen Besucher so stark fasziniert hat, dass sie regelrecht zur Projektionsfläche für Phantasien über eigene archaische Eigenschaen wurde. Die aktuelle Forschung zu Krieg und Gewalt verstärkt das Interesse an Untersuchungen zu nichtstaatlichen Gesellschaen zusätzlich, indem Konflikte abseits staatlicher Strukturen als die maßgeblichen Formen aktueller und zuküniger Konflikte identifiziert werden². Zunächst stellt sich dabei die grundsätzliche Frage, wie dezentral organisierte Gesellschaen mit Gewalt umgingen: Jede Form menschlicher Gesellscha kennt Eingrenzungsregelungen, welche die Gewalt dauerha tragbar machen³. Die Frage nach der Gewalt steht mithin in engem Zusammenhang mit der Analyse der Organisationsstrukturen ostafrikanischer Gesellschaen und deren Interaktion mit historischen Prozessen und externen Einflüssen. Dabei tritt die grundlegende menschliche Erfahrung von Generationalität als »[...] Dreh- und Angelpunkt gesellschalicher Analyse [...]«⁴ in den Vordergrund. Sie bildet einen Referenzpunkt für die Untersuchung des Gewalthandelns dezentraler Gesellschaen. Zunächst 1 2 3 4 Aus der Masse des Verfügbaren seien hier nur Filme wie »Die weiße Massai« sowie Zeitungsberichte genannt, in denen moderne Elemente als kurioser Gegensatz zu einer monolithischen Form traditionellen Lebens dargestellt werden. Siehe z.B. Jason Patinkin/Carola Frentzen: Junge Massai in Kenia: Stammesgewand am Leib, iPhone in der Hand, in: Spiegel Online Schulspiegel. 2012, URL:http://www.spiegel.de/schulspiegel/ausland/junge-massai-inkenia-stammesgewand-und-iphone-a-917524.html, Letzter Zugriff: 17.12.2013. Vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Bonn 2002. Vgl. Dierk Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion, in: Mittelweg 3 (2012), S. 3–18, hier S. 11. Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschasund Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2008, S. 14. 12 Einleitung gilt es, die Phase der Jugend als sowohl physischen wie auch sozialen Transitionsprozess zu begreifen, in dem Jugendliche eigenes Handeln entdecken und in gesellschaliche Strukturen integriert werden oder gegen sie rebellieren⁵. Studien zur deutschen Geschichte wiesen dabei auf eine Rolle der Lebensphase der Jugend hin, die zwar einerseits die lediglich biologisch determinierte Sicht auf ein »[...] Durchgangsstadium von der Kindheit zum Erwachsenenalter«⁶ betont, andererseits jedoch auch auf das Konfliktpotenzial vor dem Hintergrund gesellschalicher Veränderungen hinweist⁷. Ethnologen wie Georg Elwert wiesen ferner auf die besondere Rolle junger Männer als gesellschaliche Akteure, denen gezielt Freiräume und Möglichkeiten eingeräumt werden, Prestige und Anerkennung zu gewinnen⁸. So kann der Blick auf Generationenverhältnisse zur Analyse gesellschalicher Probleme ebenso beitragen wie zur Betrachtung tradierter Autoritätsverhältnisse und Konventionen. Wenn man den Generationenprozess einer Gesellscha näher betrachtet, finden sich zudem Anknüpfungspunkte für die Analyse der Gewaltpraxis: Es ergeben sich Fragen nach tradierten Konzepten legitimer und illegitimer Gewalt sowie danach, wie Gewaltnutzung erlernt wurde, welche gesellschalichen Gruppen am Umgang mit und in der Eingrenzung von Gewalt beteiligt waren und welchen Veränderungsprozessen die Gewaltnutzung unterworfen war. Letzteres verweist auf die Rolle externer Enflüsse, deren hohes Auommen als zentrales Charakteristikum der Geschichte Ostafrikas im 19. Jahrhundert angesehen wurde. Somit stellt sich die Frage nach Aneignungen, Amalgamierungen und Abgrenzungen zwischen externen Einflüssen und dezentralen Gesellschaen. In diesem Zusammenhang tritt die Frage nach der Gewalthaigkeit dieser Prozesse in den Vordergrund: Welche inneren Konflikte und Transformationen spiegelten sich in der Gewaltpraxis und wie stark war der Austausch zwischen ostafrikanischer Bevölkerung und externen Gruppen von Gewalt geprägt? Allen diesen Aspekten unterliegt die grundsätzliche, in zwei Richtungen gestellte Frage nach dem Stabilisierungspotenzial von Gewalt einerseits und nach dem Veränderungspotenzial von Gewalt andererseits: Wie stabilisierten sich soziale Strukturen durch Gewalt, wie veränderten sie sich durch Gewalt und wie weit konnte das Stabilisierungs- und Veränderungspotenzial der Gewalt reichen? Dabei wird jeweils sowohl das Gewalthandeln selbst als auch dessen Androhung betrachtet. 5 6 7 8 Vgl. Sabine Kurtenbach: Youth as a Seismograph for Societal Problems, in: GiGa Focus international 1 (2013), S. 1–8, hier S. 1. Diethardt Kerbs/Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 18801933, Wuppertal 1998, S. 181. Vgl. ebd., S. 182. Vgl. Georg Elwert: Kein Platz für junge Wilde, in: Die Zeit 14 (1998). Einleitung 13 Abbildung 1.1: Ostafrika im 19. Jahrhundert Gewalt Gewalt verweist auf Sozialität und konstruiert sie gleichzeitig⁹. Physische Übergriffe¹⁰ finden nicht im luleeren Raum statt, sie sind in ein Handeln eingebettet, welches erlernt werden muss, imitiert, reguliert, sanktioniert und eingegrenzt wird und dem Wandel unterliegt. Die gezielte Verletzung des Körpers eines Anderen ohne dessen Einwilligung hat mithin ihren Platz in der Gesellscha, die Orte und Regeln der Gewalt sowie Mechanismen zur Einhegung und gezielten Gewaltnutzung kennt und Trägergruppen benennt, die legitim Gewalt ausüben dürfen¹¹. In der vorliegenden Studie wird Gewalt als gezielte Nutzung physischer Übergriffe verstanden, die sich gegen Personen, Tiere oder Sachen richten oder eingesetzt 9 10 11 Vgl. orsten Bonacker: Zuschreibungen der Gewalt. Zur Sinnförmigkeit interaktiver, organisierter und gesellschalicher Gewalt, in: Soziale Welt 53 (2002), S. 31–48, hier S. 38. Siehe auch: Anthony Giddens: e Nation-state and violence, London 1992. Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Brachiale soziale Gestaltung, in: Mittelweg 36. Zeitschri des Hamburger Instituts für Sozialforschung 5 (2013), S. 79–95, hier S. 79. Vgl. ebd., S. 82, Jörg Baberowski: Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2008, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/ 16126041Baberowski-1-2008, Letzter Zugriff: 09.05.2011. 14 Einleitung werden, um physische Übergriffe abzuwehren¹². Jenseits staatlicher Strukturen ist einerseits von einer Vielfalt der Gewaltnutzung auszugehen¹³, andererseits kennen nichtstaatlich organisierte Gesellschaen auch festgelegte Formen der Streitaustragung »mit bestimmten zulässigen Mitteln, [...] eingebettet [...] in eine Kultur der Ehre«¹⁴. Androhung von Gewalt verweist zusätzlich auf die Offenheit einer Situation für Gewalthandeln und umfasst die gezielte Erzeugung von Angst und Terror. Die kulturellen Normalisierungen von Gewalt¹⁵ umfassen Ehrenzeichen, Symboliken und Praktiken der Gewaltnutzung, die wiederum in Sinnzusammenhänge eingeordnet werden¹⁶. Kollektive Gewaltnutzung kann zweckrational erfolgen¹⁷ und ebenso zur punktuellen gewaltsamen Selbsthilfe werden wie auch dauerha die Lebensweise der Akteure bestimmen¹⁸. In der kolonialen Konstellation manifestiert sich zum Einen eine enge Verflechtung kolonialer Herrscha mit Gewalt¹⁹, zum Anderen ergibt sich aus der interkulturellen Begegnung auch eine »[...] Begegnung meist sehr unterschiedlicher Gewaltkulturen«²⁰, was Amalgamierungen und gegenseitige Anpassungs- und Lernprozesse impliziert²¹. Gewalt trägt also sowohl destruktives wie konstruktives und transformatorisches Potenzial in sich. 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Siehe auch: Klaus Schubert/Martina Klein: Gewalt, in: Das Politiklexikon, Bonn 2011. Vgl. Heidrun Zinecker: Editorial, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2009), S. 1–3, hier S. 1. Joachim Eibach: Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalgeschichte, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Gibt es eine Geschichte der Gewalt? Zur Praxis des Konflikts heute, in der Vormoderne und im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2009, S. 182– 216, hier S. 187. Grundlegend: Rainer Walz: Agonale Kommunikation im Dorf der frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 215–251. Zum Zusammenhang von Ehre und Gewalt siehe auch: Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. Vgl. Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: Soziologie der Gewalt. Sonderhe der Kölner Zeitschri für Soziologie und Sozialpsychologie, 1997, S. 9–56, hier S. 34. Vgl. Baberowski: Gewalt verstehen. Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München, Zürich 2005, S. 52. Grundlegend: Gerd Spittler: Konfliktaustragung in akephalen Gesellschaen: Selbsthilfe und Verhandlung, in: Erhard Blankenburg et.al. (Hrsg.): Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Opladen 1980, S. 142–164 sowie Georg Elwert: Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997. Siehe auch: Trutz von Trotha: Koloniale Herrscha. Zur soziologischen eorie der Staatsentstehung am Beispiel des Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994, S. 296 und Reemtsma: ” Brachiale soziale Gestaltung, S. 87. Vgl. Wolfgang Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, in: Mittelweg 36. Zeitschri des Hamburger Instituts für Sozialforschung 3 (2012), S. 19–44, hier S. 35. Siehe auch: Susanne Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 14ff. Grundlegend: Trutz von Trotha: Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904-1907, in: Zeitschri für Genozidforschung 2 (2003), S. 28–57. Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion, S. 10. Siehe auch: Zinecker: Editorial, S. 1f. Einleitung 15 Generationalität Generationalität ist ein Grundphänomen menschlichen Lebens. Das Handeln eines Menschen ist immer auch in generationelle Zusammenhänge eingebettet. Damit verknüp sind die Erfahrung des Aufwachsens und der Sozialisation, des Wissenserwerbs, der Identifikation mit den Älteren, die Weitergabe von Informationen und Erfahrung von Generation zu Generation sowie die Einbettung in familiäre Strukturen²². Daher ist die Frage, »[...] wie Jugendliche in existierende Muster sozialer Kohäsion integriert werden, eine Entscheidende«²³. Im deutschsprachigen Kontext wurde der Generationsbegriff sowohl zum »[...] Modewort der Feuilletons [...]«²⁴ als auch zum Gegenstand wissenschalicher Analysen. Seit Karl Mannheim als soziologisches Konzept etabliert, wurde das Erneuerungspotenzial von Gesellschaen in einem » [...] steten Neuensetzen neuer Kulturträger [...]«²⁵ ebenso diskutiert wie das Verhältnis von Alterskohorten und Generationen²⁶. Weitere Ansätze betonen zusätzlich die Möglichkeit zur Untersuchung kultureller Orientierungen und politischer Eliten, die einen Anspruch auf die Ablösung des Alten formulieren und sich dadurch als Träger eines verändernden Wechsels konstituieren²⁷. In der Geschichtswissenscha fanden solche Konzepte zur Untersuchung von Generationenkonflikten als »[...] Indikator für vollzogene geschichtliche Brüche sowohl in politisch-sozialer wie kultureller Hinsicht«²⁸ Anwendung. Dabei tritt besonders die Herausbildung eigener kollektiver Überzeugungen innerhalb einer Altersgruppe hervor, die zur Entstehung von Konflikten beitragen²⁹. Im Kontext von Konfliktsituationen wurde insbesondere auf erlern22 23 24 25 26 27 28 29 Vgl. Susan Reynolds Whyte/Erdmute Alber/Sjaak van der Geest: Generational connections and conflicts in Africa: An Introduction, in: Erdmute Alber et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, Münster 2008, S. 1–26, hier S. 4ff. sowie Parnes/Vedder/Willer: Das Konzept der Generation, S. 14. »e question [...] how young people are integrated into the existing patterns of social cohesion is a decisive one«, Kurtenbach: Youth as a Seismograph for Societal Problems, S. 6, meine Übersetzung. Dagmar Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, in: Geschichte im Westen 26 (2011), S. 7–34, hier S. 7. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.): Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S. 509–565, hier S. 530. Vgl. Ulrike Jureit/Michael Wildt: Generationen, zur Relevanz eines wissenschalichen Grundbegriffs, 2005. Siehe hierzu auch: Helmut Schelsky: Die skeptische Generation : eine Soziologie der deutschen Jugend, Frankfurt (M.) [u.a.] 1975 sowie Heinz Bude: Das Altern einer Generation : die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt am Main 1997. Vgl. insbes. Rainer Lepsius: Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, in: Ulrike Jureid/Michael Wildt (Hrsg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschalichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 45–52. Hans Mommsen: Generationenkonflikt und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 115–126, hier S. 115. Vgl. ebd. Siehe hierzu auch: Jürgen Reulecke: Zornige junge Männer. Jugendprotest als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.): Ich möchte einer werden so wie die.“ Männer” 16 Einleitung te und eingeübte Männlichkeitskonzepte hingewiesen, die »Spiele der Männlichkeit«³⁰ hervorbringen und eine enge kulturelle Verknüpfung zwischen Konzepten von Jugend, Männlichkeit und Gewalt suggerieren³¹. Solche konstruktivistischen Komponenten ergeben sich auch aus Studien, die sich mit afrikanischen Altersund Generationenordnungen befassten und deren Schwerpunkte vorwiegend im Bereich kultureller Konzepte von Lebensphasen mit zugeordneten gesellschalichen Aufgabenfeldern und Rollenmustern gesetzt wurden. Solche Phänomene gehören ebenso zu Generationserfahrungen wie die Orientierung an bzw. Abgrenzung von Vorbildern vergangener Zeit. Eine gemeinsame Zeiterfahrung kann das kollektive Denken und Handeln prägen³². Daraus ergibt sich eine passive Sichtweise, welche die Einbettung in bestehende soziale Ordnungen, Traditionen und Kulturen umfasst, sowie eine aktive Sichtweise, die das Handeln, die gemeinsame Zeiterfahrung und den potenziellen Handlungsspielraum der Beteiligten in den Blick nimmt³³. Im Verhältnis zwischen den Generationen kristallisieren sich Beharrungs- und Veränderungskräe dynamischer Gesellschaen³⁴. Forschungsstand Die Debatte um Gewalt in nichtstaatlich organisierten Gesellschaen ist bisweilen stark politisch aufgeladen³⁵ und von einer starken Uneinheitlichkeit der verfügbaren Daten geprägt³⁶. Zudem ist die Evidenz rar³⁷, weswegen sich viele Studien auf die Gegenwart konzentrieren³⁸. Ältere ethnologische und völkerkundliche Wer- 30 31 32 33 34 35 36 37 38 bünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2001, 22ff. sowie Parnes/Vedder/Willer: Das Konzept der Generation, S. 280ff. Ellerbrock: Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, S. 17. Siehe auch ebd. Siehe hierzu auch: Ute Luig; Jochen Seebode (Hrsg.): Ethnologie der Jugend. soziale Praxis, moralische Diskurse und inszenierte Körperlichkeit, Münster 2003, S. 9–40, hier S. 9ff. sowie Reulecke: Zornige junge Männer. Jugendprotest als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts. Vgl. Whyte/Alber/Geest: Generational connections and conflicts in Africa: An Introduction, S. 2f. Siehe auch: Magdaline Wafula: ’Tradition’ versus ’Modernity’: Generational Conflict in Vuta N’Kuvute, Kufa Kuzikana, Msimu Wa Vipepeo and Tumaini, in: Swahili Forum 18 (2011), S. 135–162, hier S. 135. Vgl. Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt 2011, S. 83ff. sowie Bernd Hüppauf: Was ist Krieg? zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs, Bielefeld 2013, S. 357. Siehe Benjamin Ziemann: Eine »neue Geschichte der Menschheit«? Anmerkungen zu Stephen Pinkers evolutiver Deutung der Gewalt, in: Mittelweg 36. Zeitschri des Hamburger Instituts für Sozialforschung 3 (2012), S. 45–56, hier S. 51. Vgl. Hüppauf: Was ist Krieg?, S. 357. Siehe z.B. Morten Boas; Kevin Dunn (Hrsg.): African Guerillas. Raging against the Machine, Boulder, London 2007. Einleitung 17 ke portraitierten einige Gesellschaen als besonders kriegerisch³⁹, ohne die Entstehungsbedingungen ihrer Studien in ausreichender Weise in die Überlegungen einzubeziehen. So wurden Konflikte um westliche Handelsgüter rückprojizierend als gewalthaes Dispositiv gedeutet⁴⁰. Den aktuellen Wissenschasdiskurs prägte einerseits der Versuch Lawrence Keeleys, einen »Myth of the peaceful savage«⁴¹ zu dekonstruieren, während ihm wiederum andererseits vorgeworfen wurde, Vorstellungen eines »kriegerischen Wilden«⁴² an die Stelle jenes Mythos gesetzt zu haben⁴³. Neuere Studien betonen, dass »[...] die An- oder Abwesenheit einer nach westlichen Prinzipien strukturierten Staatlichkeit noch nicht sehr viel über die Gewalttätigkeit in einer Gesellscha besagt«⁴⁴. Mit Blick auf die Gewalt im Ostafrika des 19. Jahrhunderts analysierte die ältere Forschung bereits die Einbettung von Gewaltakteuren in soziale Strukturen und politische Ordnungen⁴⁵. Die Forschungen stützten sich o auf die verfügbare englischsprachige Reiseliteratur sowie mündliche Traditionen, wobei der kulturelle Aspekt gezielt zugunsten einer »[...] strukturell-funktionalen Analyse [...]«⁴⁶ ausgeblendet wurde. Darauf folgten in den letzten Jahren einige umfangreiche Studien, die das u.a. nachholten⁴⁷. Ferner werden Arten der Bewaffnung, die Rolle von Schusswaffen, militärische Hierarchien und die ökonomische Dimension der Gewalt ebenso in den Blick genommen wie die Einbettung der Gewalt in gesellschaliche Zusammenhänge sowie Konfliktvermeidungs- und Konfliktlösungsstrategien⁴⁸. Diese Arbeiten sind räumlich meist groß angelegt und 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 Als idealtypisches Beispiel siehe R. Brian Ferguson: Yanomami warfare. a political history, Santa Fe, NM 1995. Vgl. Heidi Peter-Röcher: Gewalt und Krieg im prähistorischen Europa. Beiträge zur Konfliktforschung auf der Grundlage archäologischer, anthropologischer und ethnologischer Quellen, Bonn 2007, S. 88. Lawrence H. Keeley: War before civilization: e Myth of the peaceful Savage, New York [u.a.] 1996. Peter-Röcher: Gewalt und Krieg im prähistorischen Europa, S. 10. Siehe hierzu auch: Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion, S. 11. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 44. Siehe insbes. G. N. Uzoigwe: e Warrior and the State in Precolonial Africa, in: Journal of Asian and African Studies 12 (1977), S. 20–47 sowie ders.: Pre-Colonial Military Studies in Africa, in: e Journal of Modern African Studies 13,3 (1975), S. 469–481. »Structural-functional analysis«, ders.: e Warrior and the State in Precolonial Africa, S. 22, meine Übersetzung. Siehe Richard J. Reid: Mutesa and Mirambo: oughts on East African Warfare and Diplomacy in the Nineteenth Century, in: e International Journal of African Historical Studies 31.1 (1998), S. 73–89, ders.: War and Militarism in Pre-Colonial Buganda, in: John Lamphear (Hrsg.): African Military History, Hampshire et.al. 2007, S. 426–440, ders.: Human booty in Buganda. some observations on the seizure of people in war c.1700-1890, 2007, ders.: Frontiers of violence in North-East Africa. genealogies of conflict since c. 1800, Oxford 2011, ders.: Warfare in African history, Cambridge [u.a.] 2012, ders.: War in pre-colonial eastern Africa, the patterns & meanings of state-level conflict in the nineteenth century, 2007 sowie ders.: A history of modern Africa, 1800 to the present, 2009. Siehe insbes. ders.: War in pre-colonial eastern Africa. 18 Einleitung umfassen verschiedene politische und soziale Organisationsformen. Ihre Quellenbasis speist sich im Wesentlichen aus Materialien, die in Großbritannien vorhanden sind, und beinhaltet keine deutschsprachigen Texte. Zudem nehmen sie zwar die transformatorischen Aspekte der Gewalt in den Blick, nutzen jedoch ein begriffliches Instrumentarium, welches sich stark am Konzept von Staatlichkeit und Staatenbildungsprozessen orientiert⁴⁹. Die Rolle von Schusswaffen im vorkolonialen Ostafrika und ihrer Wirkung auf soziale und kulturelle Kontexte wurde bereits untersucht⁵⁰, auf der Grundlage der bisher verfügbaren einführenden Studie kann deren Perspektive erweitert werden, indem die Ergebnisse mit dem Hintergrund der Gewaltnutzung im Ostafrika des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Die Forschung zu Generationalität und Generationenbeziehungen in Afrika hat eine lange Tradition außerhalb der Geschichtswissenschaen⁵¹. Sie betont den formalisierten Charakter der Generationenbeziehungen und beschäigt sich mit der Rekonstruktion von Altersklassensystemen und Generationeneinheiten. Wir werden an anderer Stelle genauer auf die verschiedenen Studien zu diesem ema eingehen. Vorerst bleibt lediglich festzuhalten, dass die Ergebnisse völkerkundlicher, soziologischer, ethnologischer und anthropologischer Forschungen eine weite Verbreitung von Altersklassensystemen im ostafrikanischen Raum der Vorkolonialzeit annehmen lassen⁵². Während bereits einige ältere Studien die Handelsstrukturen Ostafrikas im 19. Jahrhundert behandelten⁵³, brachten neuere globalgeschichtliche und transna49 50 51 52 53 Siehe insbes. Reid: Warfare in African history, S. 107, ebd., S. 109 sowie ders.: A history of modern Africa, S. 20. Siehe Reinhard Klein-Arendt: Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Kommunikationsräume - Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, München 2005, S. 37–64. Grundlegend: Heinrich Schurtz: Altersklassen und Männerbünde, Berlin 1902. Siehe auch: S.N. Eisenstadt: African Age Groups: A Comparative Study, in: Africa: Journal of the International African Institute 24.2 (1954), S. 100–113, Paul T. W. Baxter/Uri Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, New York 1978, Harald K. Müller: Changing Generations: Dynamics of Generation and Age-Sets in Southeastern Sudan (Toposa) and Northwestern Kenya (Turkana), hrsg. v. Volker Löhr/Manfred Schulz/Georg Elwert, Saarbrücken, Fort Lauderdale 1989, Bernardo Bernardi: Age class systems: social institutions and politics based on age, Cambridge 1985, Erdmute Alber/et.al. (Hrsg.): Generations in Africa. Connections and Conflicts, Berlin 2008. Siehe Baxter/Almagor (Hrsg.): Age, Generation and Time: some features of East African age organisations, S. 2 sowie Hermann Amborn: e Contemporary Significance of what has been. ree Approaches to Remembering the Past: Lineage, Gada, and Oral Tradition, in: History in Africa 33 (2006), S. 53–84, hier S. 64. z.B. Iris Hahner-Herzog: Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, 1990, G. N. Uzoigwe: Precolonial Markets in Bunyoro-Kitara, in: Comparative Studies in Society and History 14.4 (1972), S. 422–455, R. W. Beachey: e Arms Trade in East Africa in the Late Nineteenth Century, in: e Journal of African History 3.3 (1962), S. 451– 467, ders.: e East African Ivory Trade in the Nineteenth Century, in: e Journal of African Einleitung 19 tional angelegte Studien einige neue Einblicke in die Rolle von Missionaren⁵⁴, die Ausweitung von Handelsnetzwerken⁵⁵ und die einzelnen Aspekte kultureller Begegnungen im ostafrikanischen Raum⁵⁶. Auch zum Sklavenhandel existieren neuere Studien, die einen Einblick in Ausmaß und Bedeutung dieses Phänomens für Ostafrika im 19. Jahrhundert erlauben⁵⁷. Schließlich wird die Bedeutung der Gewalthaigkeit der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in der Forschung bereits betont und es werden die Verflechtungen zwischen exzessiver Gewalt und auommendem Kolonialismus analysiert⁵⁸. Die Beziehung von Gewalt und Sozialität steht im Mittelpunkt der Studie, die nach neuen Perspektiven sucht, jenseits des »[...] entweder ›durchökonomisierten‹ oder ›durchkulturalisierten‹ (Mainstreams) der Gewaltforschung, demzufolge Gewalt jenseits des Staates vollkommen depolitisiert ist und ihren Bezug zum Staat höchstens mit Verweis auf dessen Absenz ›nachweisen‹ darf«⁵⁹. Die ökonomischen und kulturellen Aspekte der Gewaltnutzung treten damit nicht in den Hintergrund, werden aber analytisch mit sozialen und politischen Phänomenen in Verbindung gesetzt. Dabei werden keine ethnischen Kategorien oder Vorstellungen interethnischer Konflikte genutzt, wie in zahlreichen bisherigen Studien üblich, sondern es wird von einer Vielfalt der Konfliktpotenziale ausgegangen, angesichts derer solche Erklärungsversuche scheitern müssen. Analysen gegenwärtiger Konflikte setzen auf eine »[...] diachrone akteur-orientierte Perspekti- 54 55 56 57 58 59 History 8.2 (1967), S. 269–290, Edward A. Alpers: Trade, State, and Society among the Yao in the Nineteenth Century, in: e Journal of African History 10.3 (1969), S. 405–420 und Richard Gray/David Birmingham (Hrsg.): Pre-colonial African trade. essays on trade in Central and Eastern Africa before 1900, London [u.a.] 1970. Siehe z.B. Rebekka Habermas: Mission im 19. Jahrhundert - Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschri 3 (2008), S. 629–679. Siehe z.B. Stephen J. Rockel: Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, Portsmouth 2006. Siehe Michael Pesek: Die Kunst des Reisens. Die Begegnung von europäischen Forschungsreisenden und Ostafrikanern in den Kontaktzonen des 19. Jahrhunderts, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, 2005, S. 65–99. Siehe Michael Mann: Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean, Darmstadt 2012 sowie Jan-Georg Deutsch: Emancipation without Abolition in German East Africa c. 1884-1914, Oxfrord et.al. 2006. Siehe Erick J. Mann: Mikono ya damu. African mercenaries and the politics of conflict in German East Africa, 1888-1904, Frankfurt am Main [u.a.] 2002, Trotha: Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904-1907, Michael Pesek: Koloniale Herrscha in Deutsch-Ostafrika, Frankfurt/Main 2005, omas Morlang: Askari und Fitafita. ’farbige’ Söldner in den deutschen Kolonien, Berlin 2008, Stefanie Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, Bielefeld 2009, Kuß: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen und Walter: Gewalt, Gewaltentgrenzung und die europäische Expansion. Zinecker: Editorial, S. 1, Hervorhebung im Original. 20 Einleitung ve[...]«⁶⁰, die für die vorliegende Studie ebenfalls genutzt werden kann. Weiterhin stellen einige Studien die Rolle einzelner Personen als charismatische Anführer und bekannte Kriegerfiguren in den Vordergrund, ohne deren Einbindung in sozio-politische und kulturelle Kontexte näher zu beleuchten. Basierend auf einem »[...] Denken in Netzwerken [...], das mit Mehrstimmigkeit rechnet und mit komplexen Wirkungszusammenhängen«⁶¹, werden hier gezielt Überlagerungen, Unklarheiten und Amalgamierungen betrachtet, nicht um sie in klare - oder klar erscheinende - Vorher/Nachher - bzw. europäisch/afrikanisch - Dichotomien zerlegen zu wollen, sondern um sie als zentrale Merkmale dynamischer Gesellschaften zu verstehen. Quellen und Quellenkritik Die Quellenlage hinsichtlich einer Untersuchung des Handelns der Bevölkerung Ostafrikas im 19. Jahrhundert ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Durch externe Betrachter wurden Zeugnisse meist mit Hilfe von Übersetzern aufgeschrieben, somit als (Pseudo-) Tradition festgeschrieben und in der Folge als soziale Realität fortgeschrieben. Die Quellensituation ist mithin von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt: Einerseits kann auf eine breite Materialbasis zugegriffen werden, andererseits ist die Auseinandersetzung mit den verfügbaren Quellen zum 19. Jahrhundert stark von Begrenzungen des Blickes geprägt. Es handelt sich beim größten Teil der Überlieferungen um Repräsentationen einer eurozentristischen Sichtweise, die von Superioritätsgefühlen ebenso beeinflusst war wie von Konzepten wie Rassismus, afrikanischer Rückständigkeit und »Wildheit«. Afrika wird als als metaphysischer Ort der Begegnung mit dem Archaischen, Vormodernen, »Natürlichen« dargestellt; Afrikaner erscheinen meist als passive Objekte, bisweilen gar als Teil einer malerischen Kulisse, die es zu erforschen, für den Handel zu erschließen oder mit missionarischen bzw. kolonialstaatlichen Strukturen zu überziehen gelte. Die Bewohner Ostafrikas wurden meist gemäß europäischen Vorstellungen vom »[...] primitiven Menschen als gewalttätig, unkontrolliert und nur an der Befriedigung der eigenen egoistischen Bedürfnisse interessiert«⁶² geschildert. Daraus ergibt sich eine Verzerrung, die o durch sprachliche Barrieren, Verständigungsprobleme, gezielte Falschinformation oder Zurückhaltung von Informationen verstärkt wurde. Meist waren westliche Beobachter auf lokale Führer oder Übersetzer angewiesen, die das Weitergegebene gezielt manipulierten oder vor60 61 62 »[...] diachronical actor-oriented perspective [...]« (Elke Grawert: Cross-border Dynamics of Violent Conflict. e Case of Sudan and Chad, in: Journal of Asian and African Studies 43.6 (2008), S. 595–614, hier S. 595), meine Übersetzung. Albert Wirz: Migrationen. Das Problem der Bantu-Expansion, in: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 35–52, hier S. 49. Sven Lindquist: Terra Nullius. A Journey rough No One’s Land, New York 2007, S. 47. Einleitung 21 sätzlich Dinge ausließen⁶³. Auch in den schrilichen Zeugnissen selbst schlug sich die ostafrikanische Wirklichkeit lediglich vermittelt durch Begriffe nieder, die vor einem europäischen Denkhorizont ausgeprägt wurden und denen entsprechende Verzerrungen inhärent sind⁶⁴. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts häuen sich Berichte europäischer Reisender und Forscher, die einen Teil des verfügbaren Quellenkorpus ausmachen. Reiseberichte unterliegen einer Reihe von Gattungskonventionen. So zeichnet die Reiseliteratur ein Bild des Fremden, Dunklen, gepaart mit Naturromantik, rassistischen Superioritätsgefühlen und europäisch-christlichem Sendungsbewusstsein, wie es den zeitgenössischen Vorstellungen der Autoren sowie des Leserkreises entsprach. Reisende hatten bereits implizite Vorstellungen über Ostafrika und waren sukzessive zusätzlich von bereits publizierten Werken anderer Reisender beeinflusst. Bei der Darstellung ihrer eigenen Afrikaerfahrung orientierten sie sich an gängigen literarischen Konventionen und schrieben ihre Texte als Schilderungen abenteuerlicher Erlebnisse. Die Literaturwissenschalerin Vera Nünning beschreibt den kulturellen Entstehungskontext dieser Veröffentlichungen als geprägt von Werten der Empfindsamkeit, welche die Kultur Großbritanniens seit dem 18. Jahrhundert immer stärker geprägt hatten. Man orientierte sich weniger an Werten der Vernun und Rationalität, sondern sah die Fähigkeit der verfeinerten Wahrnehmung und des Empfindens von Gefühlen als zentrales Merkmal der Menschlichkeit an⁶⁵. In der Reiseliteratur wurde über diese Werte reflektiert. Dabei trat die Empfindung des Mitleids in den Vordergrund. Gewalt wurde, insbesondere in humanitären Reformschrien, detailiert geschildert, »[...] um die Emotionen ihrer Leser aufzuwühlen«⁶⁶. Entsprechend drastisch erscheinen Schilderungen von Gewalt in Afrika im Allgemeinen, und im Zusammenhang mit dem Sklavenhandel im Besonderen. Die Schrien der Antisklavereibewegung in Großbritannien stützten sich auf solche drastisch geschilderten Beobachtungen, die wiederum bereits vor dem Hintergrund der Kultur der Empfindsamkeit zu sehen sind. Emotionalität war also bereits beim Verfassen der Texte von zentraler Bedeutung und bestimmte die Rezeptionsästhetik: Eine Kultur der Empfindsamkeit prägte die Art, wie über Afrika geschrieben wurde⁶⁷. 63 64 65 66 67 Bspw. schilderten sowohl Johann Ludwig Krapf als auch Max Weiß Schwierigkeiten bei der Weitergabe von Informationen durch indigene Informanten (siehe Johann L. Krapf: Kurze Beschreibung der Massai, in: Ausland 30 (1857), S. 437–443, 461–466, hier S. 79 sowie Max Weiss: Die Völkerstämme im Norden Deutsch-Ostafrikas, Berlin 1910, S. 68. Vgl. Leonhard Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 129. Vera Nünning: Die Kultur der Empfindsamkeit. Eine mentalitätsgeschichtliche Skizze, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Eine andere Geschichte der englischen Literatur. Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick, Trier 2004, S. 107–126, hier S. 104. ebd., S. 114. Dass solche Konventionen auch im deutschsprachigen Raum von Bedeutung waren, illustrieren die Berichte des Arzts und Afrikaforschers Richard Kandt, der seinem Buch den Untertitel Einleitung 23 einen ein«⁷². Ähnliche Einblicke ergeben sich aus den Tagebüchern von Missionaren und Missionsstationen, die für einen dauerhaen Kontakt mit der Bevölkerung stehen können. Missionare schrieben die Lebensgeschichte einzelner Ostafrikaner auf, sammelten Lieder, Geschichten und Aphorismen oder dokumentierten die Lokalgeschichte aus der Erinnerung der ansässigen Ältesten⁷³. Frühe Fotographien, Illustrationen und Skizzen sind ebenso Bestandteil publizierter Reiseberichte wie privater Unterlagen oder archivierter Bestände missionarischer Sammlungen. Obwohl sich dort selten genaue Orts-, Zeit- oder Personenangaben finden lassen und die Art der Darstellung bisweilen als stark inszeniert angesehen werden muss, können solche Bildmaterialien einzelne Aspekte beleuchten und als Ergänzung herangezogen werden. Publizierte Reiseberichte unterliefen o zahlreiche Änderungen und unterscheiden sich bisweilen stark von Briefen, Notizen und privaten Tagebüchern, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Daraus ergeben sich Unterschiede in der Charakterisierung der Afrikaner sowie in der Schilderung des Erlebten. Im Fall des britischen Reisenden Richard Francis Burton verglich man Veröffentlichtes und Privates und konnte starke Unterschiede feststellen⁷⁴. Auch der im Jahr 2010 entzifferte Brief des Missionars David Livingstone an Richard Waller, seinen Freund und Herausgeber seiner Schrien, ist ein Beleg für dieses Phänomen. Auf den vermutlich in mehreren Sitzungen zwischen Februar und März 1871 niedergeschriebenen vier Seiten notierte der schwer kranke Livingstone, von ema zu ema springend, zur Veröffentlichung Intendiertes und Privates. Letzteres kennzeichnete der Missionar deutlich und wies beim Hinweis auf seinen körperlichen und seelischen Zustand nochmals auf die strenge Geheimhaltung dieser Information hin⁷⁵. Der Missionar und Völkerkundler Wilhelm Blohm stellte fest:»[...] was man in Büchern liest, ist mehr oder minder idealisiert [...]«⁷⁶. Private Tagebücher und Briefe an Freunde und Bekannte, die nicht zur Publikation bestimmt waren, stellen die Erlebnisse weniger gefiltert dar. Ein Beispiel für diese Quellengattung sind die Aufzeichnungen des Missionars August Schynse, die er seinem Freund 72 73 74 75 76 Clifford Geertz: Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten, München 1997, S. 56. Siehe z.B. Elise Kootz: Sichyajunga, Ein Leben in Unruhe, Herrnhut 1938, ders.: Tatu, das geraubte Muvembakind, Herrnhut 1927, ders.: Die alte Zauberin, in: Braunschweigischer VolksKalender 1932, S. 54–55, Joseph Busse: Aus dem Leben von Asyukile Malango. (NyakyusaTexte). In: Zeitschri für Eingeborenen-Sprachen 35.3/4 (1950), S. 191–227. Siehe Greg Garrett: Relocating Burton: Public and Private Writings on Africa, in: e Journal of African Travel-Writing 2 (1997), S. 70–79. David Livingstone: Livingstone an Waller, 5. Februar 1871. URL:http://livingstone.library.ucla.edu/bambarre/1rtext_notes.htm, letzter Zugriff: 10.06.2014. Wilhelm Blohm: Blohm an Missionsdirektur Br. Baudert, Baziya via Umtata, Transkei, South Africa, 30. Juni 1927, HrArch, Signatur: MD 691. 24 Einleitung Karl Hespers schickte⁷⁷. Solche Berichte stehen für ein schreibendes Erleben mit geringem zeitlichen Abstand und wenig Reflexion über das Erlebte. Ein weiterer Teil des Quellenkorpus machen frühe ethnographische Werke, zeitgenössische Wörterbücher und Verschrilichungen mündlicher Traditionen aus. Hier treten besonders die Schrien des deutschen Missionars Johann Ludwig Krapf hervor. Er verfasste Reiseberichte, ethnographische Studien und mehrere Wörterbücher⁷⁸. In den 1840er Jahren nahm er sich einen Swahili-Lehrer, lernte die ostafrikanische Verkehrssprache und brach 1845 ins Landesinnere auf, um dort später die Missionsstation Neurabbai zu gründen, von der aus er, allein oder zusammen mit Johannes Rebmann, weitere Reisen ins Landesinnere unternahm⁷⁹. Durch seine Sprachkenntnis sind seine Schrien charakterisiert von detailierten Einblicken in gesellschaliche Strukturen und kulturelle Phänomene, die durch neuere Forschungen ergänzt und kommentiert wurden⁸⁰. Vor dem Hintergrund des auommenden Kolonialismus muss auch hier die Situation in den Blick genommen werden, in der ethnographische Studien zustande kamen. Das illustriert beispielsweise ein Bericht des Missionars Ernst Johanssen über den Besuch von Dr. Richard Kandt, der im Januar 1908 mit 50 Soldaten der deutschen Kolonialarmee in Usambara ankam, um dort seine Studien zu betreiben⁸¹. In der kolonialen Situation wurde die Beschaffung von Informationen zu einem Sammeln von Herrschaswissen: Es mussten »[...] Strukturen geschaffen werden, auf die sich Herrscha auauen ließ, dann mussten »Stämme« erfunden und die Bevölkerung gewissermaßen entindividualisiert werden, dann mussten chiefs ernannt, Mitglieder der Bevölkerung also gleichzeitig auch wieder individualisiert werden«⁸². Neben solchen Problemen wurde der meist kurze Kontakt von Völkerkundlern und Ethnologen zur Bevölkerung kritisiert, der in den meisten Fällen unter der Mithilfe von Dolmetschern zustande kam. In der ethnologischen Forschung des 20. Jahrhunderts wurde eine bessere Sprachkompetenz der Forscher zwar angestrebt, für den afrikanischen Kontext schätzte man jedoch für die zu Beginn der 1950er Jahren verfügbaren ethnographischen Werke den Anteil von 77 78 79 80 81 82 August Wilhelm Schynse: Pater Schynse’s letzte Reisen, hrsg. v. Karl Hespers, Köln 1892 sowie ders.: Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, hrsg. v. Karl Hespers, Köln 1890. Siehe Johann L. Krapf: Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837-1855, hrsg. v. Werner Raupp, Münster, Hamburg 1994[1858], ders.: A dictionary of the Suahili language. with introduction containing an outline of a Suahili grammar, London 1882, ders.: Kurze Beschreibung der Massai. Siehe Clemens Gütl: Johann Ludwig Krapf. do’ Missionar vo’ Deradenga. Zwischen pietistischem Ideal und afrikanischer Realität, Münster [u.a.] 2001, S. 68f. Siehe Gudrun Miehe; Henrike Firsching: Exploring Krapf ’s Dictionary, in: Swahili Forum 16 (2009) sowie Gütl: Johann Ludwig Krapf und M. Louise Pirouet: e Legacy of Johann Ludwig Krapf, in: International Bulletin of Missionary Research 4 (1999), S. 69–74. Siehe Ernst Johanssen: Tagebücher 1890-1914, VEM, Signatur: M212.MII 1.5 Bd.1 1890-1914. Knöbl: Imperiale Herrscha und Gewalt, S. 43. Hervorhebung und Anführungszeichen im Original. Siehe auch: Harding: Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, S. 113. Einleitung 25 Werken, die maßgeblich mit der Hilfe von Dolmetschern entstanden waren, auf ca. 95 Prozent⁸³. Den Erkenntniswert früher ethnographischer Werke charakterisieren die Einschätzungen Wilhelm Blohms, selbst Verfasser eines mehrbändigen ethnographischen Werks über die Bevölkerung Unyamwesis⁸⁴, der seinen Besuch auf einer Tagung zur Missionstätigkeit und der Tätigkeit von Völkerkundlern im Jahr 1927 mit folgender Bemerkung zusammenfasste: »Ich bezweifle, dass wir haben ›a clearer understanding and appreciation of African capacity and customs.‹ Kein Mensch weiss etwas mit der Beschneidung anzufangen; kein Mensch weiss, was ›lobola‹ ist, dh. der Brautkaufpreis; kein Mensch weiss, was eine Heirat ist; kein Mensch kennt die religiösen Übungen, ihre Handhabung und ihren Sinn. Was man als clearer understanding ansieht, bleibt durchaus an der Oberfläche der Dinge haen.«⁸⁵. In seiner Einschätzung der Werke Bruno Gutmanns zum Rechtssystem der Bevölkerung im Dschagga-Gebiet Kenias⁸⁶ zeigt sich die Idealisierung afrikanischer Verhältnisse im Gegensatz zur industrialisierten Moderne Europas als weiteres Problem früher ethnographischer und völkerkundlicher Werke: »Gutmann ist, so wie ich ihn kennengelernt habe, ein Verächter europäischer Zivilisation. Bei den Dschagga ist alles gut, in Europa ist alles schlecht. [...] ich fürchte, diese Art der Forschung und Betrachtung menschlicher gesellschalicher Verhältnisse wird zu neuen Irrtümern führen. Immerhin kommt neue Erkenntnis wohl nie zu spät und wir wollen versuchen zu lernen. Wir hier können doch immer nur das tun, was innerhalb unsers Erkenntniskreises liegt. Und damit dass, was wir tun wollen nach unserer Erkenntnis gut ist, mögen wir uns trösten, wenn andere Menschen und andere Zeiten es tadeln müssen«⁸⁷. Der Erkenntniswert früher ethnographischer Werke ist somit bisweilen stark eingeschränkt; dennoch bietet die Untersuchung der dort enthaltenen Hinweise auf soziale Strukturen, Hierarchien, Bezeichnungen und Praktiken eine Basis für weitere Überlegungen⁸⁸. Schrilich festgehaltene Formen mündlicher Tradition wurden als willkommener Kontrapunkt zu Zeugnissen aus westlicher Feder angesehen⁸⁹. Sie finden sich in den Publikationen afrikanischer Verlage und gingen ferner in die Arbeiten afrikanischer Historikerinnen und Historiker ein⁹⁰, wurden jedoch auch bereits von 83 84 85 86 87 88 89 90 Siehe Hugo Adolf Bernatzik (Hrsg.): Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde, München 1951, S. 22. Siehe Wilhelm Blohm: Die Nyamwezi, Bd. I-III, Hamburg 1931. ders.: Blohm an Br. Henning, Baziya, den 3. März 1926. HrArch, Signatur: MD 691, Hervorhebungen im Original. Siehe Bruno Gutmann: Das Recht der Dschagga, 1926. Wilhelm Blohm: Blohm an Br. Henning, Baziya, den 3. März 1926, HrArch, Signatur: MD 691. Siehe hierzu auch: Albert Wirtz; Jan-Georg Deutsch (Hrsg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 13f. Vgl. Toyin Falola/Christian Jennings (Hrsg.): Sources and Methods in African history: spoken, written, unearthed, Rochester, NY 2004, S. xiii. Siehe z.B. Daniel Nyaga: Customs and Traditions of e Meru, Nairobi et.al. 1997, Esther Njiro: