Das Filmheft als pdf-download - Institut für Kino und Filmkultur

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Das Filmheft als pdf-download - Institut für Kino und Filmkultur
Willkommen im Tollhaus
Todd Solondz. USA 1996
Film-Heft von Claudia Brenneisen
MEDIENMÜNDIGKEIT
Nichts prägt unsere Zeit mehr als die Revolution der modernen Medien. Im Zentrum der modernen Mediengesellschaft steht der Kinofilm. Wie Lesen und
Schreiben zu den fundamentalen Kulturtechniken gehört, so gehört das Verstehen von Filmen und das Erkennen ihrer formalen Sprache zu den Kulturtechniken des neuen Jahrhunderts. Film bekommt mehr und mehr Bedeutung für die
Einschätzung und Beurteilung der sozialen Realität, für die lebensweltliche Orientierung und die Identitätsbildung. Das Geschichtsbewusstsein, das nationale
Selbstverständnis und das Verständnis fremder Kulturen werden in Zukunft
mehr und mehr vom Medium Film mitbestimmt.
Es ist ein großes Defizit, dass junge Menschen heute viel zu wenig vom Medium Film wissen. Die Fähigkeit, auch im Medium der faszinierenden Unterhaltung den kritischen Blick nicht zu verlieren, die Fähigkeit, die Qualität eines
Films beurteilen zu können, die Fähigkeit zur Differenzierung des Visuellen, des
Imaginären und des Dokumentierten wird in Zukunft mit entscheidend sein für
die Entwicklung unserer Medien-Gesellschaft.
Für den pädagogischen Bereich sind somit die Vermittlung von Medienkompetenz und Filmsprache von Bedeutung. Film ist Unterhaltung, Film ist aber auch
Fenster zur Welt, Erzieher, Vorbildlieferant und Maßgeber. Medienkompetenz
ist eine Notwendigkeit und gehört zu den modernen Kulturtechniken. Kino als
Lesesaal der Moderne ist Ort der Unterhaltung und der Filmbildung. Kino ist
Lernort.
Die Bundeszentrale für politische Bildung und das Institut für Kino und Filmkultur stellen sich die Aufgabe, diesen Lernort zu besetzen, die Medienmündigkeit
zu fördern und die Bemühungen um einen bewussten und engagierten Umgang
mit Film und Publikum zu unterstützen.
Thomas Krüger
Präsident der Bundeszentrale
für politische Bildung
Horst Walther
Leiter des Instituts für
Kino und Filmkultur
Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt in einer immer komplexer werdenden Welt moderne Wissensinhalte zur politischen Orientierung zur Verfügung. Mit ihren Bildungsangeboten fördert sie das Verständnis
politischer Sachverhalte, festigt das demokratische Bewusstsein und stärkt die Bereitschaft zur politischen
Mitarbeit. Sie veranstaltet Seminare, Kongresse und Studienreisen, gibt Bücher, Zeitschriften, Schriftenreihen
und multimediale Produkte heraus und fördert Träger der politischen Bildungsarbeit.
Das INSTITUT für KINO und FILMKULTUR wurde im Jahr 2000 als Verein mit Sitz in Köln gegründet. Es führt
Kino-Seminare durch, erstellt Film-Hefte, organisiert Veranstaltungen und erstellt Programme. Es erschließt
den Lernort Kino und bildet eine Schnittstelle zwischen Kinobranche und Bildungsbereich.
2 ... Film-Heft
Willkommen im Tollhaus
Welcome to the Dollhouse
USA 1996
Buch und Regie: Todd Solondz
Kamera: Randy Drummond
Darsteller: Heather Matarazzo (Dawn Wiener), Brendan Sexton jr. (Brandon McCarthy),
Matthew Faber (Mark Wiener), Daria Kalinina (Missy Wiener),
Eric Mabius (Steve Rodgers) u. a.
Länge: 87 Min.
FSK: ab 12 J.
Preise: Großer Preis der Jury 1996 beim renommierten Sundance Filmfestival
Film-Heft ... 3
WILLKOMMEN IM TOLLHAUS
Inhalt
Vorbemerkung
WILLKOMMEN IM TOLLHAUS ist ein
Film, in dem nicht die körperliche Gewalt, sondern Gewalt in Form von Demütigungen, Vernachlässigung und
Unaufmerksamkeit die Hauptrolle
spielt. Alltägliche Gewalt, wie sie auf
jedem Schulhof praktiziert wird und in
vielen Familien vorkommt: Ein Schüler/eine Schülerin fällt durch Aussehen, Kleidung oder Sprechweise aus
dem Raster der Norm und wird gehänselt. Ein Kind belegt in der Geschwister-Hierarchie einen schlechten Platz
und wird von den Eltern weniger be(ge-)achtet.
WILLKOMMEN IM TOLLHAUS ist ein
Höllentrip durch eine unglückliche Jugend und eine elende Schulzeit –
kommt aber nicht als Tragödie daher,
sondern beschreibt mit Mitteln der
Überzeichnung und Karikatur sarkastisch die Probleme der Adoleszenz.
Der Film meidet die Fehler anderer
Teenie-Filme, indem er bewusst nicht
das Schema und die Erwartungshaltung der Zuschauer bedient, wonach
das hässliche Entlein sich in einen
schönen Schwan verwandeln wird.
Ein Happy-End gibt es nicht, nur die
Wut, der Trotz und der Mut zum
Überleben!
4 ... Film-Heft
Dawn Wiener ist elf Jahre alt,
Schülerin der siebten Klasse der
Benjamin Franklin Junior Highschool und
ihre besonderen Kennzeichen sind: dicke
Brille, dicke Lippen, dicker Haarzopf und
stupider Blick, geschmacklos grelle Klamotten und watschelnder Gang. „I wish I
were beautiful“ haben die Mitschüler auf
ihren Spind geschmiert. Schon am ersten
Schultag wird sie von anderen Mädchen
gehänselt („Lesbe!“), von der Lehrerin
schikaniert und von den Jungs mit Verachtung und weiteren Demütigungen
(„Wiener Würstchen“) bestraft.
Auch zu Hause ist es nicht besser. Alle
Liebe und alles Interesse der Eltern konzentriert sich auf Dawns kleine Schwester
Missy, die im Tutu durch den Garten kreiselt und große Hoffnungen weckt auf
eine Karriere als Ballerina. Der ältere Bruder Mark sitzt entweder muffig vor dem
PC oder er dilettiert jämmerlich in der Garage mit einer Band, deren Existenz ihm
einen Bonus bei der Bewerbung um einen
Platz am College verschaffen soll. Dieser
Band schließt sich eines Tages der gut
aussehende Sänger Steve an. Dawn
himmelt ihn an, aber leider hat Steve nur
Augen für das, was Dawn ihm zum Essen
vorsetzt oder was er an herumliegenden
Geldscheinen abstauben kann.
Ihren einzigen Freund Ralph, einen kränklichen Jungen aus der Nachbarschaft, der
ähnlich kontaktarm ist wie sie, beleidigt
Dawn, indem sie die Häme, die sie selbst
tagtäglich erfährt, an ihn weitergibt. So
bleibt ihr nur noch Brandon, ein Junge
aus ihrer Klasse, der als Raufbold, Drogendealer und Schulversager in schlechtem Ruf steht, der Dawn beleidigt, sie um
drei Uhr zu ihrer Vergewaltigung einbestellt, aber dann doch Verletzlichkeit und
Zuneigung zeigt. Leider hat Brandon, der
vielleicht ein Verbündeter hätte werden
können, zu viele Probleme mit der Schule,
mit seinem Elternhaus und mit der Polizei.
Bevor ihn die in eine Besserungsanstalt
einliefern kann, taucht er unter. Zurück
bleibt Dawn, die große Gewissensbisse
hat, weil sie mit schuld ist an dem spurlosen Verschwinden ihrer kleinen Schwester. Als Akt der Wiedergutmachung und
weil sie hofft, dadurch endlich die Achtung und Anerkennung ihrer Familie zu
gewinnen, sucht Dawn sie eine Nacht
lang auf den Straßen von New York.
Ohne Erfolg. Inzwischen wird Missy unter
großem Medienaufgebot gefunden, während Dawns Abwesenheit kaum bemerkt
wurde.
Eine weitere Enttäuschung in der endlosen Kette von Beleidigungen und Demütigungen. Und doch erweist sich in all der
Einsamkeit und Verzweiflung, dass Dawn
eine wichtige Eigenschaft hat: sie ist das
perfekte Stehaufmädchen. Sie kann einstecken und sie rappelt sich immer wieder hoch.
Problemstellung
Die Frage, die Dawn heftig beschäftigt, ist die Frage, wie wird man eigentlich beliebt? Was muss sie dafür
tun und wie kann sie es schaffen, positive Aufmerksamkeit bei Gleichaltrigen, bei ihren Eltern und Geschwistern zu erreichen? Der Film entwikkelt keine Lösung für diese Frage, er
zeigt, welche Beschädigungen der
Mangel an Beliebtheit bei den Betroffenen anrichtet und wie Demütigungen eine Kette von „Weitergaben“
auslösen.
Film-Heft ... 5
WILLKOMMEN IM TOLLHAUS
Fragen
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In welchen Situationen spielt Gewalt eine Rolle?
Zähle möglichst viele Situationen auf und beschreibe, worum es geht
und welche Rolle die Gewalt spielt.
Welche verschiedenen Formen von Gewalt zeigt der Film?
Gibt es „harmlosere“ und „schlimmere“ Formen von Gewalt und wenn
ja, worin liegt der Unterschied?
Gleich am Anfang wird Dawn gehänselt. „Wiener Würstchen“ und
„Lesbe“ rufen die anderen Schüler. Welche Wirkung hat das auf
Dawn? Wie reagiert sie?
Wie soll man reagieren, wenn man gehänselt wird?
Wie wird Hilfsbereitschaft bzw. solidarisches Handeln belohnt? (Einmal
schreitet Dawn ein gegen eine Keilerei im Flur der Schule und das verteidigte Opfer hänselt sie mit den gleichen Worten wie zuvor die Angreifer. Diese Situation wiederholt sich, wenn Dawn ihren Freund Ralph
nach einem Streit mit Brandon mit „Du Schwuchtel“ beschimpft, exakt
die gleichen Worte, die Brandon benutzte, um Ralph zu beleidigen).
Wie kommt es, dass sich die Schwachen nicht zusammenschließen
und eine eigene „peer-group“ bilden, sondern die Anerkennung immer
bei den „Leitwölfen“ und „Platzhirschen“ gesucht wird?
Dawn muss in diesem Film nicht nur einstecken. Sie teilt auch aus.
Schildere die Situationen, in denen Dawn „zurückschlägt“.
Anscheinend reagieren auch die Erwachsenen nicht anders als die Mitschüler. Auch bei ihnen ist Dawn nicht beliebt. Siehe das von ihrer
Lehrerin verordnete Nachsitzen. Wie wird das eigentlich begründet?
Welche Rolle spielt Dawn in ihrer Familie? Warum lässt die Mutter sie
einmal ganz lange am Tisch sitzen? Hätte Dawn sich anders verhalten
sollen?
Warum wird Dawn auch von den Eltern ignoriert? Wie könnte sie das
ändern? Oder müssten sich die Eltern ändern?
In einer Szene schwingt Dawn einen Hammer über den Kopf der schlafenden Schwester. Bewusst gibt sie die Nachricht ihrer Mutter nicht an
Missy weiter und verursacht dadurch die Entführung. Worin liegt der
Hass auf Missy begründet? Wie könnte sie sich davon befreien?
Hat Dawn sich am Ende des Films befreit?
6 ... Film-Heft
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Ist Dawn schuld an der Entführung ihrer kleinen Schwester?
Wie verhält sich das am Anfang gezeigte Familienfoto zu der erzählten
Geschichte?
Welche Rolle spielt Brandon? Wie kann man ihn beschreiben?
Worin könnte die Anziehungskraft zwischen Brandon und Dawn liegen?
Am Anfang ist er in einigen Szenen ziemlich brutal. Dennoch scheinen
sie sich zu mögen. Wie ist ihr Verhältnis zueinander?
Was ist das für eine Geschichte mit der „Vergewaltigung“? Warum
geht sie überhaupt hin?
Dawn hat fast keine Freunde oder Freundinnen. Hätte sie etwas tun
können, um Freunde zu gewinnen?
Könntest du dir vorstellen, Dawns Freund/Freundin zu sein?
Dawn möchte unbedingt beliebt sein. Denkst du auch, dass es das
Wichtigste im Leben ist, beliebt zu sein?
Welche Rolle spielt die Hässlichkeit in Dawns Leben? Eine Mitschülerin
antwortet einmal auf die Frage Dawns „warum hasst du mich?“ mit
den Worten „weil du so hässlich bist!“ Ist sie hässlich? Oder ist ihr
Problem nur ein Problem der falschen Garderobe? Was ist das eigentlich: „hässlich“ oder „schön“?
Haben es nicht so schöne Menschen grundsätzlich im Leben schwerer
als schöne?
Hätte die Geschichte genauso auch über einen Jungen erzählt werden
können? Oder was wäre anders?
Wie wird die Geschichte weitergehen? Was wird aus Dawn?
Wie wird die Filmhandlung empfunden? Als realistische Darstellung?
Als Karikatur? Welche Figuren sind „überzeichnet“? Welches sind die
Mittel der Überzeichnung? Was ist Sarkasmus? (Beispiel: Als Dawn
ihren kranken Vater über den Verlust von Missy mit den Worten, es
blieben ihm ja noch die Kinder Dawn und Mark, zu trösten versucht,
bricht der Vater in Stöhnen aus!)
Wie wird Dawns innere Wut im Film deutlich? (Musik)
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Film-Heft ... 7
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Der englische Titel WELCOME TO THE DOLLHOUSE spielt mit der
Doppeldeutigkeit von Puppenhaus und Irrenhaus. Bezogen auf den Film
heißt das was?
Gibt es ein Märchenschema, an das die Filmerzählung erinnert?
Warum hat der Autor sich gegen ein Happy End entschieden? Warum
gibt er Dawn kein Talent an die Hand, mit dem sie ihre Unansehnlichkeit ausbügeln könnte? (Beispiele: ihr dilettantisches Klavierspiel, ihr
verpatzter Auftritt vor dem Schulauditorium nach der beendigten Entführung). Macht sie alles falsch? Wollen wir eine solche Geschichte sehen oder ist etwas Zuckerguss und Hoffnungsschimmer unverzichtbar?
Enttäuscht uns der Drehbuchautor, indem er ein Mädchen erfindet, das
am Ende des Films genauso unglücklich dasteht wie zu Beginn? Oder
beschreibt der Film die Realität, wonach in Wirklichkeit ein Aschenbrödel ewig Erbsen zählen und hinterm Ofen schlafen wird?
Anregungen für eine Arbeit in Gruppen
Streit gibt es in jeder Familie. So verschieden wie Anlass und Grund für einen Krach sein können, so verschieden von Familie zu Familie ist auch die
Art und Weise wie ein Krach ausgetragen wird. Das reicht von bösen Worten über hartnäckiges Schweigen bis hin zu Handgreiflichkeiten.
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Welche Konflikte in der Familie empfindet ihr selbst als Gewalt?
Jedes Gruppenmitglied überlegt sich eine entsprechende Situation und
spielt sie der Gruppe vor. Die Gruppe darf raten, wer sich streitet und
worüber gestritten wird.
Diskutiert zu jeder Situation gemeinsam, was euch an der Gewalt besonders betrifft und warum ihr darunter leidet, wie sie entsteht, von
wem die Gewalt ausgeht und welche Gründe die jeweilige Person
für ihr Verhalten hat, wie man sich auch anders verhalten könnte.
Was empfindet ihr am Verhalten eurer Eltern euch gegenüber als
Gewalt? Erzählt euch in Gruppen, welche Schwierigkeiten mit euren
Eltern besonders häufig auftreten. Entwickelt zu diesen Situationen
kurze Sketche, die ihr euch gegenseitig vorführt.
In welchen Situationen fühlt ihr euch gegenüber Geschwistern benachteiligt? Warum seid ihr manchmal richtig eifersüchtig? Schreibt die Antworten auf Zettel und pinnt sie alle an die Wand. Jede Gruppe sucht
sich eine Szene aus und entwickelt einen Sketch, der etwas darüber
erzählen soll, wie sich ein Gefühl des Neids, der Eifersucht, der Wut,
der Ohnmacht u. a. in Beziehung zu einem Geschwister entwickelt hat.
8 ... Film-Heft
Film-Heft ... 9
WILLKOMMEN IM TOLLHAUS
Materialien
Filmzitate
Auf der Toilette der Schule
Dawn:
Mitschülerin:
„Warum hasst du mich?“
„Weil du hässlich bist!“
Beim Abendessen
Mark:
„Ich habe heute einen guten Deal gemacht. Steve Rodgers wird in
unserer Band mitspielen. Er ist der beliebteste Junge in meiner
Klasse. Das wird uns viele Auftritte verschaffen. Doch das ist nicht
das Wichtigste. Das Wichtigste ist: das ist genau das, was ich für
meine College-Bewerbung brauche. Mit solchen außerschulischen
Aktivitäten werde ich es auf eine Elite-Hochschule schaffen.
Zu Hause – Thema: Party zum 20. Hochzeitstag
Mutter:
Dawn:
Mizzy:
Dawn:
Mutter:
Dawn, wir brauchen deine Hilfe. Was hältst du davon, wenn wir
alle unseren Beitrag leisten?
Ja, o.k. Was soll ich tun?
Mama will, dass ihr euer Clubhaus abreißt.
Aber das ist unser special-people-club!
Schätzchen, das weiß ich. Aber wir brauchen den Platz. Und im
Übrigen: So besonders schön ist es ja nicht und du bist auch
allmählich ein bisschen zu groß für Clubhäuser.
Kurze Zeit später – beim Abendessen
Mutter:
Mark, Mizzy – ich brauche eure Hilfe. Wir werden diese Bruchbude
im Garten abreißen!
Brandon und Dawn. Die „Verabredung“ zur Vergewaltigung
Brandon:
Dawn:
Brandon:
Dawn:
Brandon:
10 ... Film-Heft
Willst du rauchen?
Nein, danke!
Angst?
Nein, ich habe nur keine Lust drauf.
– Pause –
Aber ich finde, man sollte Marihuana legalisieren.
Warum musst du bloß immer so ein Arschloch sein?
Auszüge aus einem Interview mit dem Regisseur Todd Solondz
„Mit elf war ich auf dem Höhepunkt meiner kreativen Kräfte.
Ich schrieb Geschichten und kleine Stükke und experimentierte mit poetischen
Versatzstücken. Ich war absorbiert von
meiner Arbeit. Mit zwölf gab es dann
plötzlich kein Lesen und kein Schreiben
mehr für mich. Ich zählte bloß noch die
Tage und hakte sie ab. Ich war interessiert am Überleben.“
Todd Solondz
„Der Film ist eine Komödie, weil das die
einzige mir bekannte Form ist, mit entsetzlichen Qualen umzugehen.“
„Kaum ein Film oder eine Fernsehserie in
den USA beschäftigt sich ernsthaft mit
der Pubertät und dem Erwachsenwerden.
Was in diesen Filmen gezeigt wird, steht
absolut im Gegensatz zu meinen Erinnerungen ... Es ist ein täglicher Kampf. Kinder sind nicht nur Opfer, sondern auch
Täter. Wenn ihnen Ungerechtigkeit widerfährt, reagieren sie natürlich auch mit der
gleichen Häme gegenüber anderen ... Ich
habe diesen Film gemacht, weil amerikanisches Kino und Fernsehen die Kindheit
entweder sentimentalisieren oder die Kids
in Monster verwandeln.“
„Wir haben in Einkaufszentren von New
Jersey schlechtgelaunte 11-jährige Mädchen angesprochen, die so aussahen, als
ob sie sich selbst nicht ausstehen konnten. Leider fanden wir freilich meistens,
dass die Kids genauso so waren wie sie
aussahen. Deshalb mussten wir auch die
Rolle des brutalen Brandon umschreiben:
weil die blöden hässlichen Typen, die ich
ursprünglich suchte, sich als zu blöd und
hässlich herausstellten.“
Film-Heft ... 11
Mythos Schönheit?
Der Sozialwissenschaftler Bernd
Guggenberger untermauert in seinem Buch „Einfach schön“ die landläufige
Vermutung, dass es schöne Menschen in
jedem Lebensalter leichter haben als vergleichsweise weniger schöne. Das unablässige Taxieren unserer Mitmenschen sei
ein automatischer Vorgang, den wir nicht
wahrhaben wollen und der oft sogar abgestritten wird. Und das hat Gründe. Erstens verstehen wir uns als Geisteswesen, deren Denken und Urteilen den Niederungen der Körperlichkeit entrückt ist.
Zweitens widerspricht es unserem egalitär-demokratischen Selbstverständnis,
dass manche Menschen unverdient und
von vornherein attraktiver wirken als andere. „Schönheit ist ein unaufhörliches
Ärgernis, denn sie lässt sich nicht umverteilen.“ Andererseits beobachten die Sozialwissenschaftler, dass sich durch den
Glauben an die „Machbarkeit“ die Verantwortung für das eigene Aussehen zur
Schönheitspflicht erweitert.
nen Elaine Hatfield und Susan Sprecher
bringen diesen Umstand auf die griffige
Formel: „Das Schöne ist gut, das Hässliche ist böse.“
(Guggenberger)
Doch sind nicht alle Schönheitsvorstellungen kulturell determiniert? In aller Radikalität vertritt diese Ansicht zum Beispiel die
amerikanische Feministin Naomi Wolf in
ihrem Buch mit dem Titel „Der Mythos
Schönheit“.
„Es gibt keine stichhaltige historische
oder biologische Begründung für den
Schönheitsmythos. Er ist nichts als ein
Manöver des politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Machtestablishments –
eine Gegenoffensive gegen die aufbegehrenden Frauen.“
Schönheit ist ungerecht. Schöne Mensch
genießen nach Forschungsergebnissen
der amerikanischen Attraktivitätsforschung nicht nur die unmittelbare Anziehungskraft auf die Mitmenschen. Die
Schönheit scheint sie darüber hinaus mit
einem Nimbus fast aller erdenklichen guten Eigenschaften zu umgeben: Warmherzigkeit, Stärke, Ausgeglichenheit, Umgänglichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Erfolg, Glück wird ihnen zugesprochen. Die
amerikanischen Attraktivitätsforscherin-
Eine im Jahr 2001 veröffentlichte, von
der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung in Auftrag gegebene Studie
über „Selbstwahrnehmung, Sexualwissen
und Körpergefühl“ stellt fest, dass 80 %
der befragten Acht- bis Neunjährigen die
Auskunft geben, sie seinen mit ihrem Körper nicht zufrieden. Auffallend ist außerdem, dass der Anteil der mit sich selbst
unzufriedenen Jungen im Vergleich zu
früheren Befragungen deutlich gestiegen
ist.
„Der Körperkult Kaliforniens adelt die
Pflicht zum schönen Körper geradezu zum
Dienst an der Gesellschaft. Wer joggt,
formt mit an der sozialen Plastik“.
12 ... Film-Heft
Adoleszenz und Pubertät
Über die Entwicklung von Mädchen in der
Adoleszenz ist aufschlussreich das Buch
der Psychologinnen und Erziehungswissenschaftlerinnen Lynn M. Brown und
Carol Gilligan. Die Autorinnen beschreiben, wie Mädchen auf dem Weg zum Erwachsenwerden einen schmerzhaften
Anpassungsprozess durchlaufen, wie sie
ihre Stimme, die Verbindung zu ihrem
Selbst verlieren. Vormals selbstbewusste,
energische und meinungsstarke Mädchen
werden im Alter von elf, zwölf Jahren unsicher, stiller und ihre Antworten werden
unbestimmt und vage. Aus Angst vor sozialer Ausgrenzung – so die Psychologinnen – halten die Mädchen sich lieber bedeckt, orientieren sich an dem, was dem
allgemeinen Konsens ihrer Gruppe entspricht und verwenden in fast jedem Satz
das Wort „vielleicht“.
Spieglein, Spieglein
an der Wand ...
Film-Heft ... 13
WILLKOMMEN IM TOLLHAUS
Literaturhinweise
Brown, Lynn M. und Gilligan, Carol: Die
verlorene Stimme. Wendepunkte in der
Entwicklung von Mädchen und Frauen.
1994
Zu diesem Film siehe auch:
www.kinofenster.de
Freedman, Rita: Die Opfer der Venus.
Vom Zwang schön zu sein. Stuttgart
1989
Guggenberger, Bernd: Einfach schön.
Hamburg 1995
Institut Jugend Film Fernsehen (Hg.):
Baukasten Gewalt. Gewalt im Alltag.
München 1995
Wolf, Naomi: Der Mythos Schönheit.
Reinbeck 1993
Wer wird der/die
Nächste sein?
14 ... Film-Heft
Was ist ein Kino-Seminar?
Ein Kino-Seminar kann Möglichkeiten eröffnen, Filme zu verstehen.
Es liefert außerdem die Chance zu fächerübergreifendem Unterricht für Schüler
schon ab der Grundschule ebenso wie für
Gespräche und Auseinandersetzungen im
außerschulischen Bereich. Das Medium
Film und die Fächer Deutsch, Gemeinschafts- und Sachkunde, Ethik und Religion können je nach Thema und Film kombiniert und verknüpft werden.
Umfassende Information und die Einbeziehung der jungen Leute durch Diskussionen machen das Kino zu einem lebendigen Lernort. Die begleitenden Film-Hefte
sind Grundlage für die Vor- und Nachbereitung.
Filme spiegeln die Gesellschaft und die
Zeit wider, in der sie entstanden sind. Basis und Ausgangspunkt für ein Kino-Seminar sind aktuelle oder themenbezogene
Filme, z. B. zu den Themen: Natur, Gewalt, Drogen oder Rechtsextremismus.
Das Kino eignet sich als positiv besetzter
Ort besonders zur medienpädagogischen
Arbeit. Diese Arbeit hat innerhalb eines
Kino-Seminars zwei Schwerpunkte.
1. Filmsprache
Es besteht ein großer Nachholbedarf für
junge Menschen im Bereich des Mediums
Film. Filme sind schon für Kinder ein faszinierendes Mittel zur Unterhaltung und
Lernorganisation.
Es besteht aber ein enormes Defizit hinsichtlich des Wissens, mit dem man Filme
beurteilen kann.
Was unterscheidet einen guten von einem
schlechten Film?
Welche formale Sprache verwendet der
Film?
Wie ist die Bildqualität zu beurteilen?
Welche Inhalte werden über die Bildersprache transportiert?
2. Film als Fenster zur Welt
Über Filme werden viele Inhalte vermittelt:
Soziale Probleme einer multikulturellen
Gesellschaft, zwischenmenschliche Beziehungs- und Verhaltensmuster, Geschlechterrollen, der Stellenwert von Familie und Peergroup, Identitätsmuster,
Liebe, Glück und Unglück, Lebensziele,
Traumklischees usw.
Die in einem Kino-Seminar offerierte Diskussion bietet Kindern und Jugendlichen
die Möglichkeit, gesellschaftliche Problembereiche und die im Film angebotenen Lösungsmöglichkeiten zu erkennen
und zu hinterfragen. Sie können sich also
bewusst zu den Inhalten, die die Filme
vermitteln, in Beziehung setzen und ihren
kritischen Verstand in Bezug auf Filmsprache und Filminhalt schärfen.
Das ist eine wichtige Lernchance, wenn
man bedenkt, dass Filme immer stärker
unsere soziale Realität beeinflussen und
unsere Lebenswelt prägen.
Film-Heft ... 15
KINO GEGEN GEWALT
Filmgeschichten von Toleranz und Intoleranz,
Mitläufern und Standhaften,
Wegsehen und Handeln,
Angst und Zivilcourage
Filme zum Diskutieren
I Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus
II Von Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz
III Jugend und Gewalt – Gewaltbereitschaft heute
KINO GEGEN GEWALT ist ein Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung und des Instituts für
Kino und Filmkultur. Es ist Teil des Aktionsprogramms der Bundesregierung „Jugend für Toleranz
und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ und wird
mit Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie der Filmverleiher und in Kooperation mit der AG KINO durchgeführt.
IMPRESSUM:
Herausgeber: INSTITUT für KINO und FILMKULTUR (IKF) im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB).
Redaktion: Horst Walther (IKF), Verena Sauvage (BpB). Redaktionelle Mitarbeit: Ute Stauer, Holger Twele (auch Satz und
Layout). Titel und Grafikentwurf: Mark Schmid (des.infekt. büro für Gestaltung. Friedenstr. 6. 89073 Ulm).
Druck: Dinodruck + medien GmbH (Schroeckstr. 8. 86152 Augsburg). © Juni 2001
Bildnachweis: Kinowelt
Anschrift der Redaktion:
Institut für Kino und Filmkultur. Mauritiussteinweg 86-88. 50676 Köln
Tel.: 0221 - 530 1418 Fax: 0221 - 953 5975 eMail: www.film-kultur.de

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