Drei späte Werke Strawinskys Canticum Sacrum Als
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Drei späte Werke Strawinskys Canticum Sacrum Als
Drei späte Werke Strawinskys Canticum Sacrum Als 70-jähriger vollzog Igor Strawinsky seine letzte, verblüffendste Wandlung, schockierte Anhänger und Nachahmer: er betrat das Territorium Arnold Schönbergs – der als sein Antipode galt und mit dem zusammenzutreffen er trotz HollywoodNachbarschaft vermied – und näherte sich der Zwölfton-Technik. Für Strawinsky bedeutete die Dodekaphonie allerdings lediglich einen konsequenten Schritt auf sein Ideal musikalischer „Ordnung“ hin, sie bot ihm die Möglichkeit, sich selbst „zu größerer Disziplin“ zu zwingen und seinen Kompositionen einen höheren Konzentrationsgrad zu sichern. Im gleichen Maße, wie seine Musik sich mit Hilfe dieser Satztechnik zu Klang-Komprimaten verdichtete (auf „Sehnen und Knochen“ reduzierte, wie er selbst formulierte), wurde sie unsinnlicher und abstrakter. Canticum Sacrum ist eine Äußerung von Strawinskys bereits in den 20er Jahren einsetzender Rückwendung zum russisch-orthodoxen Glauben seiner Väter, uraufgeführt am 13. September 1956 unter der Leitung des Komponisten. Das Werk ist in Teilen zwölftönig und von durchweg asketischer Klanglichkeit (die von so ausgesuchter Abseitigkeit sein kann wie im Tenor-Solo „Surge, aquilo“, das von Flöte, Englischhorn, Harfe und den Flageoletts dreier Kontrabässe begleitet wird). Strawinsky widmete die Kantate dem Auftraggeber, der Stadt Venedig bzw. dem Stadt- und Dom-Patron, Apostel und Evangelisten Markus. Bei aller beabsichtigten Strenge und Ent-Individualisierung sollte doch in der Komposition Geschichte, Tradition und Aura von „Serenissima Venezia“ und des Ehrfurcht gebietenden Aufführungsorts, San Marco, mitklingen, dieser eigenartigen byzantinischen Prunkbasilika mit ihren Goldmosaiken, Kuppelbaldachinen und gewaltigen Dimensionen. Strawinsky studierte die Baupläne, machte sich mit den komplizierten akustischen Gegebenheiten des Kirchenraums und mit Renaissancemusik vertraut, etwa den Motetten des San Marco-Kapellmeisters Giovanni Croce. Die Texte entnahm Strawinsky, wie schon im Falle der Psalmensinfonie, der Vulgata, also der lateinischen Bibelübersetzung des Kirchenlehrers Hieronymus. (Das Lateinische hatte, nach Strawinsky, „den Vorzug, ein Material zu sein, das nicht tot ist, aber versteinert monumental geworden und aller Trivialität entzogen“.) Den Text brachte er in eine Ordnung, die seinem Gesamtplan dienlich war, nämlich die Form der Kantate mit der Architektur des Markusdoms korrespondieren zu lassen. Den fünf Kuppeln von San Marco entsprechen die fünf Teile der symmetrisch gebauten Komposition. Die einleitende „Dedicatio“ entspricht dabei dem Porticus. Die Sätze I und V sind Chöre auf Texte des Markus- Evangeliums, die vom apostolischen Verkündigungsauftrag handeln, wobei Satz V die rückwärts gespielte Version (der Krebs) von Satz I ist. Die Sätze II (zwölftönig) und IV sind Sologesänge; der zentrale Teil III (ebenfalls zwölftönig) korrespondiert mit der größten Kuppel und preist die im Kuppelmosaik dargestellten christlichen Tugenden Caritas, Spes, Fides – Liebe, Hoffnung, Glaube mit Texten vornehmlich aus dem Alten Testament. Zum ersten (und letzten) Mal in Strawinskys Oeuvre trifft man im Canticum Sacrum – neben Flöte, dreifachen Oboen und Fagotten, vierfachen Trompeten und Posaunen, Harfe, Bratschen, Kontrabässen – auf die Orgel. Agon Die Partitur des Balletts Agon, 1957 beendet und im gleichen Jahr in Los Angeles konzertant, in New York szenisch uraufgeführt, ist ebenfalls eine Synthese aus Noch-Tonalität und Zwölftönigkeit. Darüber hinaus ist das Stück in der Geschichte der Strawinsky-Ballette der endgültige Schritt zu völliger Abstraktion: Es verzichtet auf vorgegebene dramatische oder literarische Ideen, folglich auch auf Kostüm- und Dekorationshinweise. Die Musik liefert Anlässe für tänzerische Konstellationen, Bewegungsordnungen und Tanzgeometrien in nicht-konkreten Ausdrucksbereichen. Einzige Anweisung ist, dass die vier männlichen Tänzer zu Anfang und Schluss die gleiche Position – Rücken zum Auditorium – einzunehmen haben. Jedoch gibt die instrumentale Disposition und die jeweilige Angabe zur Anzahl der Tänzer bzw. Tänzerinnen dem Choreographen genügend Anhaltspunkte. Nicht unerheblich für den Abstraktionsgrad dieses Balletts war vermutlich die Tatsache, dass in der amerikanischen Tanzkunst das moderne „Ballet blanc et abstrait“ eine große Rolle spielte und in dem mit Strawinsky befreundeten Choreographen George Balanchine einen international berühmten Repräsentanten hatte. Ihm hat Strawinsky auch die Partitur gewidmet und Balanchine hat das Stück mit seinem New York City Ballet uraufgeführt. Zunächst auffallendes Charakteristikum von Agon ist der große Instrumentalapparat (dreifaches Holz, je vier Hörner, Trompeten und drei Posaunen, Harfe, Mandoline, Klavier, Schlagzeug und Streicher), der jedoch Tuttiwirkungen vermeidet und stattdessen in immer neuen instrumentalen Kombinationen Klangraffinement und sprödigkeit auf eigentümliche Weise mischt. In reizvollem anachronistischem Gegensatz zu Abstraktion, großer Besetzung und satztechnischen Verfahren steht Strawinskys Bemühen um Stilisierung aus dem Geiste altfranzösischer Tänze. Als Grundlage dazu diente ihm ein französisches Tanzlehrbuch aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Requiem Canticles Die Requiem Canticles sind die letzte größere Komposition, zu der sich der 84jährige Komponist noch aufraffen konnte. Seine Gedanken kreisten zunehmend um den Tod und er beobachtete und kommentierte seinen physischen Verfall aufmerksam, nicht selten selbstironisch. Sein „Taschenrequiem“ nannte er das knapp viertelstündige Stück, zum einen „weil ich nur Teile des Textes verwende, die ich mit Instrumentalpartien spicke (obwohl es hübsch wenig Speck darin gibt), andererseits, weil das Meiste in Notizbüchern komponiert wurde, die ich in der Tasche trage“. Strawinsky entnahm der Totenmesse (deren Ordinariumsteile Kyrie, Sanctus, Agnus Dei er außer Acht ließ) sechs Fragmente, durchsetzte und umrahmte sie instrumental mit Präludium, Interludium und Postludium. Jeder der neun knappen Sätze hat ein eigenes, unverwechselbares Gesicht durch Kolorit und Textauslegung. Vier Mal lösen sich im Vorspiel Klagegesten der Soli aus Sechzehntel-Repetitionen der Streichergruppen. Mit „Höre mein Gebet“ wendet der Chor sich in gelassener Zuversicht an Gott, umschließt mit dem „Dies irae“-Entsetzensschrei die geflüsterten Visionen vom Jüngsten Gericht. Das „Tuba mirum“ des Solo-Basses verwendet Signal-Topoi der Trompeten, die die Verstorbenen vor Gottes Thron rufen. Das Interludium (laut Strawinsky ein „formales Lamento“) greift den Rhythmus des „Dies irae“- Rufes wieder auf und konzentriert sich auf den Klang von vier Flöten, die ebenso an die Psalmensinfonie erinnern wie „zitternde“ Flöte-Streicher- Motiv in „Rex tremendae“ an das „Laudate Dominum“ der Psalmensinfonie. Das „Lacrimosa“Lamento ist Melismen des Solo-Alts anvertraut. Mit den letzten beiden Sätzen dann tritt Strawinsky auf anrührende Weise zurück in die „Anonymität kultischer WortTon-Bilder“ (Lindlar), erinnert sich der russisch-liturgischen Rituale und eines nationalreligiösen Klangsymbols: im „Libera me“ mit seinem gleichzeitig gesungenen und gesprochenen Text beschwört er einen orthodoxen Gottesdienst, im Postludium das Glockengeläut, das die gesamte russische Musik durchzieht. Sechs mystische Akkorde von Flöten, Klavier, Harfe durchsetzen 33 Glockenschläge aus Celesta, Glocken und – zum ersten und letzten Mal in Strawinskys Werk – Vibraphon. Die Requiem Canticles wurden auch zu Strawinskys eigener RequiemMusik: sie erklangen am 15. April 1971 bei der Totenmesse in San Giovanni e Paolo in Venedig, vor der Beisetzung auf dem Inselfriedhof San Michele. Rainer Peters