Fahrtraining auf eigene Gefahr

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Fahrtraining auf eigene Gefahr
Arbeitssicherheit und Gesundheit
Fahrtraining auf eigene Gefahr
Eine Motorradlenkerin aus Genf hat sich bei einem Fahrtraining auf einer französischen Rennstrecke schwer verletzt. In der
Folge kürzte die Suva als Unfallversicherer ihre Versicherungsleistungen um die Hälfte. Zu Recht?1
auf ein vernünftiges Mass beschränken.
Dabei wird im Rechtssinne zwischen absoluten und relativen Wagnissen unterschieden.5
Lic. iur. Michel Rohrer, leitet u. a. eine
Kontrollstelle im Baugewerbe, welche
auch Fälle im Bereich der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes
kontrolliert und sanktioniert.
Sachverhalt: Frau T. nahm im März
2009 mit ihrer Honda XR 650 R an einem Fahrtraining auf einer Rennstrecke
in Frankreich teil. Nach einer Einführungsrunde tasteten sich die Fahrtrainingsabsolventen an die Leistungsgrenze
ihrer Zweiräder und ihres Fahrkönnens
heran.
In der sechsten Runde geschah es. Frau
T. kam nach einer Kuppe in einer Kurve
zu Fall. Zwei direkt nachfolgende Motorradfahrer konnten der gestürzten Lenkerin gerade noch ausweichen, nicht so ein
Dritter. Dieser erfasste Frau T. mit voller
Wucht, sodass diese bei dem Unfall zahlreiche Knochenbrüche erlitt und den
rechten Arm verlor.
Die Suva kürzte in der Folge die Versicherungsleistungen gegenüber der Betroffenen um 50 Prozent, da sie mit dem
Renntraining ein «Wagnis» eingegangen
sei.2
Rechtliches: Gemäss Art. 39 UVG3
und Art. 50 UVV4 werden bei Nichtberufsunfällen, die auf ein Wagnis zurückgehen, die Geldleistungen um die Hälfte
gekürzt und in besonders schweren Fällen sogar ganz verweigert. Wagnisse sind
Handlungen, mit denen sich der Versicherte einer besonders grossen Gefahr
aussetzt, ohne die Vorkehren zu treffen
oder treffen zu können, die das Risiko
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Absolutes Wagnis: Von einem absoluten
Wagnis spricht man einerseits, wenn eine
Handlung mit Gefahren verbunden ist,
die unabhängig von den konkreten Verhältnissen nicht auf ein vernünftiges
Mass herabgesetzt werden können und
andererseits, wenn es am schützenswerten Charakter einer mit besonders grossen Gefahren verbundenen Handlung
mangelt resp. eine entsprechende Handlung unsinnig oder verwerflich erscheint.
Relatives Wagnis: Bei einem relativen Wagnis ist eine Handlung an sich schützenswert und die diesbezüglichen Gefahren
können durch die handelnde Person auf
ein vernünftiges Mass reduziert werden.
D.h. es wird jeweils geprüft, ob nach den
persönlichen Fähigkeiten der handelnden Person und der Art der Durchführung eine Gefahrenherabsetzung möglich gewesen wäre und diese (sträflicherweise) unterlassen wurde.
Diese Unterscheidung erfolgt vor dem
Hintergrund, dass eine Interessenabwägung vorgenommen werden soll zwischen dem Gesamtinteresse der Versicherten (der Prämienzahler) und dem
schützenswerten Mass einer Betätigung
durch den einzelnen Versicherungsnehmer, wie z. B. der Ausübung einer (risikoreichen) Sportart. Die Gesamtheit der
Prämienzahler soll grundsätzlich vor unzumutbaren Belastungen (des einzelnen
Versicherungsnehmers) geschützt werden.
Im vorliegenden Fall fand das Bundesgericht, dass solche Renntrainings zur
Hauptsache dazu dienten seine Grenzen
auszuloten. Indem jeweils mehrere Fahrerinnen und Fahrer gemeinsam unterwegs seien, entstehe eine gewisse Wettkampfsituation. Damit steigt das Risiko
eines Sturzes selbst für erfahrene Lenker
massiv an. Dies gilt umso mehr an Stellen, wo wie im konkreten Fall die Sicht
aufgrund einer Kuppe beschränkt sei.
Hier besteht eine besonders grosse Gefahr, sowohl für das Sturzopfer als auch
für die hinterherfahrenden Motorradlenker. Einem solchen Risiko, fand das Bundesgericht, könne auch durch das Strekkenpersonal kaum wirksam begegnet
werden.
Somit zählt diese Form des Fahrtrainings
für das Bundesgericht zu einer Handlung, welche als absolutes Wagnis angesehen werden muss, da sich die versicherte
Person einer besonders grossen Gefahr
aussetzt, ohne dass das Risiko dabei auf
ein vernünftiges Mass beschränkt werden kann. Damit wurde die 50%-ige Kürzung der Versicherungsleistungen seitens
der Suva durch das Bundesgericht bestätigt.
Fazit: Sie springen von Brücken, Türmen, Kränen, Flugzeugen, Hubschraubern und Klippen. Sie durchqueren unwegsame Gebiete, Täler, Berge und
Canyons. Sie besteigen Hochhäuser, tauchen in tiefste Seegräben und radeln oder
laufen um die ganze Welt.
Manche machen es zum Freizeitvergnügen, Sport oder um sich oder anderen etwas zu beweisen. «Extremsportarten»
haben in den vergangenen Jahren stetig
zugenommen und zwar in dem Masse als
unsere Gesellschaft – zumindest in den
so genannten Industrieländern – immer
sicherer und stabiler geworden ist. Das
Phänomen ist somit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft.
Nachstehend noch eine Liste, welche
von der Suva als absolute Wagnisse eingestuft werden: «Bei folgenden Sportarten/Tätigkeiten werden bei Unfällen die
Geldleistungen gemäss Art. 50 UVV um
50% gekürzt. Zu beachten ist, dass diese
Auflistung nicht abschliessend ist. Als
absolute Wagnisse gelten auch andere
Aktivitäten mit vergleichbarem Risiko.
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Arbeitssicherheit und Gesundheit
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Autocross-, Berg-, Rundstrecken-,
Stockcarrennen inkl. Training; AutoRally-Geschwindigkeitsprüfungen;
Auto-, Motocross-, Motorboot- und
Motorradrennen (ausgenommen tatsächliche Fahrsicherheitskurse);
Abfahrtsrennen mit Mountain-Bikes
inkl. Training auf der Rennstrecke (sogenanntes Downhill-Biking), Quadrennen inkl. Training, Schneemotorrad-Rennen (Snow-Cross) inkl. Training;
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Rollbrettabfahrten, sofern wettkampfmässig oder auf Geschwindigkeit betrieben, Base-Jumping, Speedflying;
Fullcontact-Wettkämpfe (bspw. Boxwettkämpfe), bewusstes Zertrümmern
von Glas, Zertrümmern von Backoder Ziegelsteinen oder dicken Brettern mit Handkante, Kopf oder Fuss;
Ski-Geschwindigkeits-Rekordfahrten;
Tauchen in einer Tiefe von mehr als 40
Metern, Hydrospeed / Riverboogie
(Wildwasserfahrt bäuchlings auf
Schwimmbob liegend)»
In diesem Sinne stellt sich die Frage:
«Lässt sich das Extreme noch steigern
und was kommt als nächstes auf uns zu?»
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BGE 8C_472/2011 vom 27. Januar 2012, vgl.
auch: Jurius, Versicherungskürzung für Motorradlenkerin, in: Jusletter 27. Februar 2012.
Bundesgericht bewertet Motorrad-Fahrtraining
als «Wagnis», swissinfo.ch, Artikel vom 20.
Februar 2012, sda.
UVG, Bundesgesetz vom 20. März 1981 über
die Unfallversicherung, SR 832.20.
UVV, Verordnung vom 20. Dezember 1982
über die Unfallversicherung, SR 832.202.
Quelle: www.suva.ch, Wagnisse – Gefährliche
Sportarten unter www.suva.ch/startseitesuva/praevention-suva/sichere-freizeitsuva/wagnisse-suva.htm.
www.iza.ch

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