DENKmal Rede am 20.12.2015 Sie lebten in einer kleinen

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DENKmal Rede am 20.12.2015 Sie lebten in einer kleinen
 DENKmal Rede am 20.12.2015 Sie lebten in einer kleinen Stadt, waren angenehme Mitbürger und Nachbarn, übten den Beruf des Arztes, Kaufmanns, Lehrers oder Metzgers aus, waren in das gemeindliche Leben voll integriert ‐ die etwa 100 Bürgerinnen und Bürger in unserer Stadt, die sich in einer kleinen jüdischen Religions“gesellschaft“ zusammengefunden hatten. Die Ende 1888 eingeweihte Synagoge, die von den „Gebrüder Benkelberg“ gebaut wurde und rund 30.000 Mark gekostet hatte, war von da an der räumliche und geistige Mittelpunkt der Kirner jüdischen Kultusgemeinde, die zuvor in einer Halle nahe dem Hotel „Zur Krone“ angesiedelt war. Die Namen Allmeyer, Baum, Berg, Gottschalk, Levy, Haas oder Moritz, um nur einige zu nennen, stehen stellvertretend für eine aktive Gemeinschaft, die, in der auch durch die stark wachsende Lederindustrie ausgelöste Zuwanderung in die Stadt Kirn, ein starker Aktivposten war. Dennoch war die jüdische Gemeinschaft, so wird berichtet, in ihrer inneren Struktur keine homogene Gruppe, sondern unterteilte sich in eine Minderheit streng orthodoxer sowie mehrheitlich in eine liberal orientierte Gruppierung jüdischer Glaubensgesinnung. Gemeinsam war allen, dass sie als Deutsche und als Kirner fühlten. Kirner Juden waren Frontkämpfer im I. Weltkrieg, waren mit Orden und Ehrenzeichen ausgezeichnet, waren im zivilen Leben in Vereinen und Hilfsorganisationen tätig. Von Ausnahmen abgesehen, gab es ein gutes Verhältnis zwischen den Bürgern bzw. Einwohnern jüdischen und christlichen Glaubens. Gerade dieses gute Verhältnis wurde anlässlich der 40jährigen Wiederkehr der Einweihung der Synagoge 2 1928 öffentlich hervorgehoben: Die „Kirner Zeitung“ berichtet von der Jubiläumsfeier, dass „ viele Bürger christlichen Glaubens“ daran teilnahmen und sah darin „gewiss ein gutes Einvernehmen, das unter der hiesigen Bevölkerung, gleich welcher Konfession, waltet.“ Diese Feststellung wurde auch nach dem 2. Weltkrieg in Briefen und Gesprächen von Überlebenden und Emigranten bestätigt. Diese Aussagen galten für die vergangenen 80 Jahre, denn erst Mitte des 19.Jahrhunderts wurden in einer Liste 417 katholische, 1473 evangelische und – erstmals – fünf jüdische Einwohner der Stadt ausgewiesen. Wie gesagt, dies alles galt bis 1933, fünf Jahre erst waren seit der Feststellung der „Kirner Zeitung“ anlässlich der 40jährigen Einweihungsfeier der Synagoge vergangen. 3 Mit der Machtergreifung Hitlers wurde das Verhältnis Juden – Nichtjuden von Tag zu Tag größeren Belastungen ausgesetzt. Plötzlich waren die Juden zum „Weltfeind Nr. 1“ erklärt, den es auf allen Ebenen zu bekämpfen galt. Staatlich verordnet wurde die schrittweise Isolierung der jüdischen Bevölkerung bis hin zu der uns allen bekannten Konsequenz. Die erste reichseinheitlich verordnete Maßnahme war der Boykott jüdischer Geschäfte ab dem 1. April 1933. Auch in Kirn standen beispielsweise vor dem Lebensmittelgeschäft Fröhling, Ecke Nahegasse / Gerbergasse, Wachposten der SA, die Käufer am Betreten des Ladenlokals zu hindern versuchten. Das Schild „Deutsche! Kauft nicht bei Juden“ ist auf mehreren Fotos dokumentiert und wurde reichseinheitlich vorgegeben. Der jüdische Arzt Dr. Asch, ein in weiten Kreisen der Kirner Bürgerschaft beliebter Mediziner, wurde an einem Abend im Juli 1933 in seiner Wohnung überfallen, beschimpft, misshandelt und durch die Stadt getrieben. Ein Schüler namens Hans Hoffmann hat seine Erinnerungen notiert: „Ich bin niedergeschlagen: In unserer Stadt ist etwas Schreckliches passiert. Unser Hausarzt, ein Jude, wurde durch die Stadt geführt. Trug ein Schild um den Hals. Der Arzt war überall beliebt und geschätzt. Er war der Arzt der Armen und Alten. Einige Kirner haben sich kopfschüttelnd abgewendet. Aber Mut, etwas zu unternehmen, hatte keiner.“ Dr. Asch wurde vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen, konnte danach mit seiner Frau über das Saarland ins Ausland emigrieren. Schließlich ist er mit Familie in Palästina angekommen. 4 In der Folgezeit wurde der staatlich verordnete Druck auf Juden immer stärker. Beispielsweise mussten jüdische Schüler die „Höhere Stadtschule“ verlassen. Die jüngeren entzogen sich diesen Verfolgungen durch Flucht und Emigration, verloren dabei größtenteils ihr Hab und Gut, retteten aber damit ihr Leben. Die „Emigrationswelle“ der Juden im Dritten Reich hatte Folgen: Sie wurden 1938/1939 aus dem Deutschen Reich ausgebürgert. In Kirn waren zu diesem Zeitpunkt 28 Mitbürger betroffen. Die Reichpogromnacht, auch “ Reichskristallnacht“ später genannt, begann am Morgen des 10.November 1938 in Kirn. Es gibt über den Grund der Verzögerung zwei Versionen: Die erste weist darauf hin, dass die NSDAP‐Ortsgruppe am Abend des 9. November nach einer Versammlung im Hotel „Goldenes Lamm“ stark gefeiert habe, die andere vermutet, dass der Ortsgruppenleiter die Aktionen zu verzögern bzw. zu verhindern suchte. Gesichert ist aber der Anruf des Kreisleiters Schmitt, der die Pogrome am Morgen des 10. November anfachte. Die historischen Quellen weisen darauf hin, dass die erste „Aktion“ dem Textilhaus und der Privatwohnung Moritz (später Matzenbach) im Teichweg galt. Das Haus wurde gestürmt. Möbel, Porzellan, Kristall‐Leuchter, ja selbst Spielzeuge der Kinder wurden zerstört. Danach zog der „Sturmtrupp“, dem sich inzwischen Mitläufer und Sensationsgierige angeschlossen hatten, zu anderen jüdischen Geschäften und Privathäusern in der Innenstadt. Auch die Synagoge in der Amthofstraße wurde geschändet. Fenster gingen zu Bruch, Bänke, Thorarolle und Mobiliar wurden zerstört. Von dem Vorhaben, die Synagoge in Brand zu setzen, sahen die Vandalen allerdings ab, um die anschließenden Gebäude „arischer“ Bürger, darunter eine Schreinerei, nicht zu gefährden. 5 Ein halbes Jahr später wurde das zerstörte Gebäude samt Hofraum „arisiert“. Die Synagoge wurde am 13. April 1939 zum Preis von 5.358 Reichsmark an einen Kirner Privatmann verkauft. Den Verkaufsakt mussten die verbliebenen Vorstandsmitglieder der jüdischen Religionsgesellschaft, Leo Haas, Siegmund Braun und Max Gottschalk unterschreiben. Eine unglaubliche Demütigung. Es soll aber auch darauf hingewiesen werden, dass die Untaten in der „Reichskristallnacht“ nach Aussage einiger Zeitzeugen bei vielen christlichen Mitbürgern auf mehr oder weniger unverhohlene Ablehnung stießen. Es gab „stille Solidaritätsbezeugungen“ in Form von nachbarlicher Hilfe bei den Aufräumungsarbeiten und der Beseitigung der Trümmer. Zumindest in einem Falle gab es am Morgen des 10. November aktiven Beistand für einen Betroffenen. So wird berichtet, dass der Bäckermeister und frühere Zentrums‐
Stadtrat Franz Ebertz sen. in der Übergasse seinem bedrängten Nachbarn Salomon Berg zu Hilfe kam, um diesen vor Misshandlungen durch das „Rollkommando“ zu schützen. Auch Adolf Lagrange wies seine Mitarbeiter an, den Abend und die Nacht auf den Baustellen zu verbringen. Sie sollten nicht in die Aktionen verwickelt werden. Ein zunächst an den Aktionen beteiligter SA‐Mann soll von dem Geschehen so angewidert gewesen sein, dass er „die Ehre seiner braunen Uniform beschmutzt“ sah. Es wird berichtet, dass derselbe anschließend „unehrenhaft“ aus der SA ausgeschlossen wurde. Der jüdische Lederwarenfabrikant Greve aus dem Mühlenweg wurde nach der Aktion verhaftet. Nach mehreren Wochen wurde er entlassen. Er zog 1940 mit seiner Frau nach Berlin, 1942 wurde er dort verhaftet und deportiert, das Ehepaar verlor sein Leben. 6 Im Juni 1941 mussten die verbliebenen Kirner Juden ihre Häuser und Wohnungen verlassen, ihr Besitz wurde enteignet. Die meisten Familien kamen in das sogenannte „Judenhaus“, An der Mühle 12, und warteten auf ihr weiteres Schicksal. Im Herbst 1941 wurde ein allgemeines Ausreiseverbot erlassen. Zugleich begannen auch die systematischen Deportationen in die von der Wehrmacht besetzten Ostgebiete. Ziel waren die Todesghettos in Riga und Minsk sowie die Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek und Treblinka. Am 30. April und 27. Juli erfolgten zwei große Deportationen aus den Landkreisen Kreuznach und Birkenfeld. Unter den Deportierten befanden sich fast alle verblieben Juden. Sie mussten sich am Bahnhof einfinden, wurden in Möbelwagen zur Sammelstelle in die „Concordia“ nach Bad Kreuznach verbracht. Über Koblenz und Köln vollendete sich ihr Schicksal im Regelfall im Vernichtungslager. Das alles können Sie noch detaillierter nachlesen bei Sachon, einer Zeitschrift für jüdische Geschichte, bei Nikolaus Furch und Hans Werner Ziemer. Nach dem 8. Mai 1945 begann auch in Kirn die Zeit des Verschweigens, Verdrängens und der Legendenbildung. Zwar waren die Einwohner der Stadt mit sich selbst beschäftigt, jede Familie war von den Kriegsereignissen in irgendeiner Form betroffen und somit auf sich selbst konzentriert. Auch die Angst vor Strafaktionen der Besatzung war nicht gering. Wie aus einem Jahresbericht der NSDAP hervorging, wurden in Kirn rund 850 Personen als Parteimitglied geführt. Daraus lässt sich ein hoher Organisationsgrad für die Stadt ableiten. Den Tätern wurde 1950 der Prozess gemacht. Der ehemalige Ortsgruppenleiter der NSDAP erhielt als Hauptbeschuldigter ein Jahr und zwei Monate Gefängnis unter 7 Anrechnung der sechsmonatigen Internierungshaft. Drei weitere Angeklagte erhielten je acht Monate und weitere fünf Angeklagte sieben Monate Gefängnis. Allerdings wurden diese Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Vier Verfahren wurden unter Hinweis auf das Amnestiegesetz eingestellt, ein Freispruch erfolgte wegen mangelnder Beweislage. Es sei auch darauf hingewiesen, dass belastende Akten verschwunden waren. Auch die Jahresausgaben der „ Kirner Zeitung“, von der Stadtverwaltung seit Jahrzehnten gesammelt und gebunden, sind für die Zeit des Dritten Reiches verschwunden. Paul Hornemann hat als Stadtarchivar noch heute Schwierigkeiten, manche Zusammenhänge aufzuarbeiten und zu belegen. 1950 wurde die durch Bombenabwurf auch in ihrem Mauerwerk stark beschädigte Synagoge abgerissen. Zuvor gab es noch eine Klage der jüdischen Kultusgemeinde Bad Kreuznach, die die Rechtmäßigkeit des 1939 geschlossenen Kaufaktes anzweifelte. Dieser Prozess wurde allerdings mit einem Vergleich beendet. 1953/54 wurde das Grundstück dann mit einem Kino bebaut. Kommunalpolitisch hatte sich die Stadt Anfang der 50iger Jahre stabilisiert. 1953 wurde Heinrich Schneider als hauptamtlicher Bürgermeister mit einer breiten Mehrheit von 15 : 4 Stimmen durch den Stadtrat wiedergewählt und war bis 1969 im Amt. Er hatte dieses Amt bereits 1937 bis 1945 inne, wurde aber während des Krieges, etwa seit 1943, freiwillig Soldat. Als Mitglied der NSDAP, war er „Gauredner“ und damit auch Aktivist. Auch andere Aktive fanden relativ kurz nach dem Kriege wieder berufliche 8 Verwendung im öffentlichen Dienst, sprich bei der Kommune. Das war in Kirn nicht anders als in anderen Teilen der Republik. Die Wand des Schweigens, der Vertuschung und der Verharmlosung blieb ‐ selbst in der eigenen Familie – deutlich spürbar. „Wir hatten Juden als Nachbarn und immer ein gutes Verhältnis zu ihnen“, hörte ich von meiner Mutter. Und auf die Frage: „Was habt ihr getan?“ kamen Schweigen und Achselzucken. Höchstens: „ Wir haben den Juden nichts getan“ war die Feststellung. Und dass mein Vater in der SA war, war angeblich die Folge seiner Mitgliedschaft im Musikverein Kirn, der über die „Stahlhelm‐Organisation“ „zu einer SA‐Kapelle“ mutierte. Andererseits berichtete man stolz davon, dass die Kapelle so „perfekt war, dass sie auf einem der Reichsparteitage in Nürnberg auftreten durfte“. Als Heranwachsender fiel mir immer auf, wie leichtfertig sogenannte „Judenwitze“ auf Feiern, im Familienverband oder an Stammtischen erzählt wurden. Mit zunehmendem Alter wurde mir klar, dass der Antisemitismus bei vielen Zeitgenossen nicht ausgerottet war, trotz der gesammelten Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit. Dank des staatsbürgerlichen Unterrichts in den Schulen, den Seminarveranstaltungen des DGB oder der Heimvolkshochschule Schloss Dhaun, auf der beispielsweise der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer referierte, kam langsam Struktur in das Wissen der Jüngeren. Die im Fernsehen gezeigten Berichte über den Eichmannprozess in Israel und die begleitenden Programme erweiterten die Eindrücke und Fakten erheblich. Trotz alledem gab es in Kirn bis zum Jahre 1978 keine erfolgversprechenden Initiativen für eine Erinnerungstafel. Der 40. Jahrestag der Reichspogromnacht war 9 aber Anlass, solche Bemühungen im Vorfeld einzubringen. Und es kam, wie nicht anders zu erwarten, zu heftigen Reaktionen in der Stadt und auch im Rat. Teils verschlüsselt, teils offen, gingen Gegner und Befürworter an die Öffentlichkeit. Schließlich wurde der von Karlheinz Brust vorgelegte Entwurf, versteckt auf dem Ehrenfriedhof, wo Gefallene und Bombenopfer ihre letzte Ruhestätte fanden, angenommen. Zu einer eigenen Gedenkstätte reichte es nicht. War es Scham…? dass man in Kirn die Ereignisse von 1933 – 1945 verschwieg und verdrängte. Ich sage deutlich NEIN. Man wollte nicht darauf angesprochen werden, weil möglicherweise die notwendigen weiteren Fragen unangenehm werden konnten. Es war auch die Angst, eine Diskussion führen zu müssen, die das eigene Ich plötzlich zum Inhalt haben konnte. Das ging so weit, dass ein Mitarbeiter der Verwaltung die Existenz und die Biografie seines Onkels verheimlichte, zumindest fand derselbe keine Erwähnung. Julius Zerfaß, in Kirn geboren, Schriftsteller, Redakteur und überzeugter Sozialdemokrat, wurde bereits 1933 in Dachau in Schutzhaft genommen, schrieb 1936 bereits ein Buch über Dachau und berichtete ausführlich unter dem Pseudonym Walter Hornung über das Erlebte. Hajo Knebel (Simmern), Wilhelm Dröscher, Gerd Danco und der Stadt Kirn ist es zu verdanken, dass Julius Zerfaß uns erhalten blieb und wir fünf Bücher von ihm neu auflegen konnten. Thomas Mann, Ossip Kalenter und Otto Hürlimann haben öffentlich bezeugt, dass Zerfaß, schon in den 40iger Jahren im Schweizer Exil, … „das andere, bessere, junge und hochbegabte Deutschland verkörpert“. 10 Zum 50. Jahrestag der Pogromnacht, also 1988, wurde eine weitere Gedenktafel im Steinweg angebracht. Der Standort hatte schon einen Bezug auf Leben und Arbeiten der jüdischen Mitbürger. Die weitaus größte Zahl wohnte in der Kernstadt. Die Diskussionen wurden wesentlich „disziplinierter“ geführt, auch wenn Karlheinz Brust anonyme Drohbriefe erhielt und Anfeindungen ertragen musste. Zum zweiten Male, wie 1978, hatten sich die christlichen Konfessionen kraftvoll eingebracht. Der ehemalige geschäftsleitende Beamte der Stadt, Fritz Stephan, hatte als Berichterstatter für den Oeffentlichen Anzeiger und die Kirner Zeitung im Laufe der Jahre tiefere Einblicke in die örtliche Geschichte des Dritten Reiches vermittelt. Er, Jahrgang 1920, war Zeitzeuge und kannte die handelnden Personen. 1980 verfasste Peter Dietz als Schüler des Idar‐Obersteiner Gymnasiums eine Jahresarbeit über die Vorkommnisse im November 1938. Und Gudrun Lahm, junge Redakteurin der Kirner Zeitung, veröffentlichte 1987 ein Interview mit der 90jährigen Anni Hartmann, die als Zeitzeugin Tagebuch geführt hatte. Es waren aufrüttelnde Feststellungen, von jungen Menschen erarbeitet und gewertet. Im gleichen Jahr – 1987 – begannen Schüler des Staatlichen Gymnasiums Kirn, Fakten über das Schicksal der jüdischen Mitbürger zu sammeln und zu dokumentieren. Die Pädagogen Kurt Boch, Nikolaus Furch und später Manfred Frenger begleiteten die Jugendlichen bei dieser schwierigen Arbeit. Auch die Schüler der Hauptschule auf der Kyrau setzten sich filmisch mit dem Dritten Reich und der Judenverfolgung in Kirn unter Leitung von Fritz Bischof auseinander. Nikolaus Furch, Hans Werner Ziemer und Paul Hornemann ist es auch zu verdanken, dass die Öffentlichkeit über Einzelschicksale der Juden des Kirner Landes kontinuierlich informiert wird. 11 Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie spüren, dass in den 80iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr und mehr Offenheit und Bewegung in die Diskussionen kam. Es waren neue Generationen herangewachsen, die unbeschwert Fragen stellten und sich mit Umschreibungen nicht zufrieden gaben, sondern klare Antworten forderten. Einer, der auf der Kreisebene sich hohe Verdienst um Aufklärung und Versöhnung erwarb, ist ohne jeden Zweifel Landrat Hans Schumm, Er, Jahrgang 1927, hatte den Krieg bewusst erlebt, war als Flakhelfer noch eingesetzt, ging dem Schicksal seiner jüdischen Mitbürger und damit auch dem seiner Klassenkameraden nach. Er suchte und fand viele Juden aus der Stadt und dem Landkreis in Israel. Er begründete eine Partnerschaft mit der Stadt Kiryat Motzkin im Norden Israels, organisierte jährliche Besucherreisen ins Land an Jordan und Totem Meer und besuchte alle, ich betone alle, ihm bekannten Kreuznacher Emigranten bzw. deren Kinder, die jetzt als Erwachsene ihm gegenüber saßen. Er hielt den Kontakt bis zu seinem Tode. Pfarrer Dietrich Humrich, Otmar Steeg und ich durften ihn bei seiner Abschiedsreise begleiten. Wir haben bewegende Momente des Abschieds erlebt, viel mehr aber Momente der inneren Einkehr und der Dankbarkeit. Da war die Versöhnung vollendet. Und dass die über 90jährige Lotte Steinhardt nun schon mehrmals wieder in ihrer Heimat Breitenheim, wo sie geboren wurde, und Bad Münster am Stein, wo sie einen Teil ihrer Kindheit erlebt hat, besuchte, ist der Glaubwürdigkeit, der Verlässlichkeit und der Vertrauenswürdigkeit von Hans Schumm sicherlich zu verdanken. Hans Schumm war Ehrenbürger von Kiryat Motzkin, der dortige Kindergarten trägt seinen Namen. Mehr als bemerkenswert. Anerkannt wurden von 12 Lotte Steinhardt ausdrücklich die intensive Aufklärungsarbeit in Bad Sobernheim und Meisenheim. Noch eine oft gestellte Frage will ich beantworten: Warum wird erst 2015 dieses DENKmal aufgestellt. Sie ist so banal wie einfach zu beantworten. Weil dort bis vor wenigen Monaten ein Kino war, in dem alle Genres der filmischen Weltbühne gezeigt wurden. Das war nicht das Umfeld, in das wir ein Denkmal einbringen wollten. Ich denke, das war gut so… Ich danke meinem Nachfolger, dass er die langjährige Absicht umgesetzt hat. Ich danke dem Stadtrat für den einmütigen Beschluss. Es war eine gute, verantwortungsbewusste Entscheidung. Und ich danke Karlheinz Brust, der unsere monatelangen Diskussionen und Intentionen eindrucksvoll umgesetzt hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, 46 Namen stehen auf der Tafel des Denkmals in der Amthofstraße. Es sind die Namen derer, von denen wir wissen, was ihr Schicksal war. Es gibt aber auch etwa 10 Namen, deren Schicksal wir nicht kennen. Sie sind trotzdem nicht vergessen, sondern sind in einer gesonderten Liste aufgeführt, die nachfolgende Forscher vielleicht zu neuen Erkenntnissen führen. Die Namen von über 70 Mitbürgern, die durch Emigration, Flucht, Ausreise, aus welchen Gründen auch immer, einen Weg fanden, dem Todesbefehl zu entgehen, sind ebenfalls bekannt. Fluchtwege nach Palästina, Frankreich, Holland, Südafrika, USA und anderen Staaten ließen sie überleben und wir sind dankbar dafür, dass sie als Flüchtlinge aufgenommen wurden und Schutz fanden. Drei Juden kamen zurück nach Kirn: Max Sender, Sohn eines Opfers und das Ehepaar Benjamin und Elfriede. Das Ehepaar kam aus Paris zurück 13 und wohnte in der Josef‐Görres‐Straße 63 in einem Sechsfamilienhaus. Meine Frau und ich hatten das Glück, in diesem Haus Ende 1974 unsere erste Wohnung anmieten zu können. So lernten wir auch die Nachkommen und Verwandten der Senders kennen, die in England bzw. in Israel leben. Kennengelernt habe ich auch Wilhelm Vogel, der den Holocaust überlebt hatte und 1987 auf dem jüdischen Friedhof eine Grabtafel zur Erinnerung an seine im Dritten Reich ermordeten Familienangehörigen anbringen ließ. 14 Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist eine lange, quälende Liste der Namen von Mitbürgern, die ihr Leben durch Verfolgung, Deportation und Ermordung verloren. Wir wollen uns in dieser Stunde ihrer erinnern. Ich bitte Sie, jetzt von ihren Plätzen aufzustehen. Ich verlese jetzt die Namen: Julius Allmeyer 1884 geboren Johanna Allmeyer 1880 geboren Siegmund Baum 1883 geboren Johanna Baum 1878 geboren Erwin Baum 1918 geboren Julius Berg 1899 geboren vermutlich wurde auch seine Ehefrau in Ausschwitz umgebracht Martha Blasius 1892 geboren, Ehefrau des „arischen“ Kaufmanns August Blasius. Sie suchte am Tag ihres vorgesehenen Abtransportes den Freitod Otto Brück 1873 geboren Otto Dornhard 1886 geboren Selma Dornhard 1891 geboren Ernst Dornhard 1917 geboren 15 Else Weiss geb. Dornhard 1914 geboren Johanna Gottschalk 1881 geboren Theo Gottschalk 1915 geboren Maurice Gottschalk 1896 geboren Max Gottschalk 1878 geboren Paul Gottfried Gottschalk 1909 geboren Moritz Gottschalk 1893 geboren Julius Greve 1881 geboren Herta Greve 1897 geboren Leo Haas 1878 geboren Helene Haas 1879 geboren Erich Haas 1914 geboren Gustav Joseph 1866 geboren Rosina Joseph 1867 geboren Felix Joseph Anni Kahn 1921 geboren 16 Leopold Leib 1875 geboren Elise Leib 1874 geboren Amalie Leib 1872 geboren Bertha Levy 1870 geboren Max Ernst Levy 1908 geboren Leopold Levy 1895 geboren Erna Levy 1899 geboren Erna Löb 1919 geboren Henriette Moritz 1859 geboren Frieda Paula Moritz 1890 geboren Henriette Römer 1902 geboren Siegfried Römer 1924 geboren Bertha Rothschild 1856 geboren Albert Schmelzer 1903 geboren Fritz Sigismund Schmelzer 1904 geboren Max Sender 17 Rosa Vogel 1879 geboren Wilhelm Vogel I 1872 geboren Bernhard Weil 1868 geboren 18 Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch sind Antisemitismus und rechter Radikalismus nicht überwunden. Die Ereignisse der letzten Monate zeigen, wie fremdenfeindlich Teile unserer Gesellschaft eingestellt sind. Auch in Kirn stelle ich solche Tendenzen fest. Gerade bei Facebook lassen einige Mitbürger ihrem Hass freien Lauf. „Gebt mir ein Schnellfeuergewehr, 1000 Schuss Munition und einen Schießbefehl und ich bin dabei“, hieß es in einem „Kommentar“ eines hiesigen Mitbürgers zu einem Hetzpost auf Facebook gegen Flüchtlinge. Um so wichtiger erscheint mir, dass wir im das Fach Staatsbürgerkunde stärker auf die Zusammenhänge Antisemitismus und rechter Gewalt verdeutlichen, ohne dabei auf dem „linken Auge blind zu sein“. Es ist unsere Aufgabe, die Jugend unter uns darauf aufmerksam zu machen und ihr die Gefahren zu verdeutlichen. Es gilt auch weiterhin, dass Demokratie die schwierigste Staatsform aber auch die humanste und erfolgsreichste. Es verblassen die Erinnerungen. Frischen wir sie immer wieder auf. Bert Brecht brachte es auf den Punkt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch“. Das gilt auch heute. Wehret den Anfängen, denn die Freiheit ist arg verletzlich. SCHALOM 

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