Jürgen Spitzmüller Das Eigene, das Fremde und
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Jürgen Spitzmüller Das Eigene, das Fremde und
Jürgen Spitzmüller Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur. Überlegungen zur Dynamik sprachideologischer Diskurse 1 „Lass deine Sprache nicht allein“ Die Zeitschrift Aptum ist vor wenigen Monaten angetreten, eine „wissenschaftliche Diskussion über Sprachkritik und Sprachkultur zu führen, zugleich diese Diskussion in die an Sprachfragen interessierte Öffentlichkeit zu tragen und all jenen, die beruflich mit Sprache beschäftigt sind, ein Forum für Information und Austausch zu bieten“ (Schiewe/Wengeler 2005, 2). Den Initiatoren der Zeitschrift ist es ein besonderes Anliegen, wie sie schreiben, zugleich auf die Erwartungen der Öffentlichkeit – das Interesse an „Stellungnahmen und Bewertungen zu [der Öffentlichkeit] problematisch erscheinenden sprachlichen Erscheinungen und Tendenzen“ (ebd.) – einzugehen und damit den „allzu enge[n] deskriptiven und vom Prinzip der Wertfreiheit getragene[n] Wissenschaftsbegriff“ (ebd., 7) der strukturalistisch geprägten Linguistik zu überwinden, aber auch, sprachkritischen Einstellungen kritisch zu begegnen und auf den öffentlichen Diskurs aufklärend in dem Sinne zu wirken, dass man seine Teilnehmer in bestimmten Fragen dazu bewegen will, „Sprache eventuell anders, weil begründeter, zu bewerten, als es in der alltäglichen Wahrnehmung oftmals geschieht“ (ebd., 2). Nur wenige Wochen zuvor hat der Journalist Dieter E. Zimmer ein neues Buch mit dem Titel „Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit“ (Zimmer 2005) veröffentlicht. Das Ziel des Buchs ist es, die „Bewertungsscheu der Linguistik“ (ebd., 9) zu ergründen, auf die Zimmer, wie er im Vorwort schreibt, immer wieder gestoßen sei, seit er begonnen habe, sich „in den Sprachwissenschaften umzutun“, um „einige dringende aktuelle Fragen des Sprachgebrauchs – den Einstrom von Anglizismen, den Sexismusvorwurf, aber dann auch die Frage des Spracherwerbs – nicht nur impressionistisch zu kommentieren, wie es die Art der Feuilletonisten ist, sondern ihnen systematischer auf den Grund zu gehen“ (ebd., 7). Tatsächlich befasst sich Zimmer neben den üblichen Phänomenen (Schreib- und Sprachkompetenz, Entlehnungen, Rechtschreibreform, Sprache und Kognition) nicht nur ausführlich mit dem Verhältnis von Sprachwissenschaft und medialer Sprachkritik, dieses Thema bildet sowohl formal als auch inhaltlich den „Rahmen“ des Buches. Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur 249 Das ist eine interessante Parallele. Sollte es tatsächlich so sein, dass nach Jahrzehnte währendem gegenseitigen Misstrauen (Teile der) Sprachwissenschaft und (Teile der) mediale(n) Sprachkritik aufeinander zuzugehen bereit sind? Wenn ja, wäre dies nicht nur eine begrüßenswerte Entwicklung, sondern auch eine Situation, die beiderseits ein behutsames Vorgehen und die Bereitschaft, sich in die Perspektive der jeweils anderen Seite zu versetzen, erforderte. Denn wenn auch die Voraussetzungen sich insbesondere in der Sprachwissenschaft in den letzten Jahren deutlich gewandelt haben und damit die Chance besteht, wie Zimmer es ausdrückt, dass die Ampel von rot „nicht auf Grün, aber immerhin auf Gelb, für beide Seiten“ (ebd., 10) schalten könnte, so gibt es doch noch genug Vorbehalte, aber auch einfach unterschiedliche Einstellungen zu Sprache und zu bestimmten Sprachwandelphänomenen, auf beiden Seiten. Diese Unterschiede und die Gründe dafür gilt es zuallererst auszuloten, denn nur so können Missverständnisse vermieden werden. Dazu soll zunächst einmal ein Blick auf die augenscheinlichen Gemeinsamkeiten geworfen werden. Was die Ansätze von Zimmer und der wissenschaftlichen Sprachkritik, der Aptum ein Forum bieten will, auf den ersten Blick verbindet, ist die Ablehnung eines linguistischen Paradigmas, das durch Robert A. Halls viel zitierten Titel „Leave Your Language Alone!“ (Hall 1950) symbolisiert wird.1 Das überrascht natürlich nicht, denn diese Aufforderung stellt ja geradezu das Gegenprogramm zu einer jeden Form von Sprachkritik dar; konsequenterweise schließt Zimmer sein Buch daher auch mit der Negation des Hall’schen Imperativs: „Lass deine Sprache nicht allein“ (Zimmer 2005, 348). Ist also die Ablehnung gegenüber einer radikal deskriptivistischen Linguistik das verbindende Element zwischen wissenschaftlicher und medialer Sprachkritik? Ja und nein. Zwar wird die „Bewertungsscheu“ der Linguistik auf beiden Seiten immer wieder beklagt (vgl. bspw. Schrammen 2003; Ortner/Sitta 2003), doch macht Zimmer in seinem Buch etwas deutlich, was implizit vielen medial-sprachkritischen Bringschuld-Forderungen gegenüber der Linguistik zugrunde liegt: dass es nämlich nicht die Weigerung der Linguistik zu be wer te n ist, die die Vertreter der medialen Sprachkritik so sehr gegen das Fach aufbringt, sondern ihre Weigerung, bestimmte Sprachwandelphänomene i n der Ar t u nd W eis e zu bewerten, wie sie die mediale Sprachkritik selbst bewertet. Denn selbst wenn linguistische Stellungnahmen häufig genug nicht als Bewertungen expliziert (und von ihren Urhebern wahrscheinlich nicht einmal als solche betrachtet) werden – ein Vorgehen, das sich zurecht der Kritik aus- 1 Vgl. dazu die Pressemeldung zum Erscheinen von Aptum (http://idw-online.de/pages/ de/news115365) sowie ausführlich Zimmer (2005, 30ff.). 250 Jürgen Spitzmüller setzt –, so sind sie doch (notwendigerweise) in der Regel durchaus wertend. Zimmer also stellt fest: Es ist weniger die Indifferenz als die unterschwellige apologetische Tendenz der Linguistik, die die öffentliche Sprachkritik gegen sie aufgebracht hat. (Zimmer 2005, 34) Ganz ähnlich hatte dies ein vor ein paar Jahren bereits (aus linguistischer Sicht) Hans-Martin Gauger formuliert: die Linguisten geben vielfach vor, sie würden n i c h t bewerten, tatsächlich bewerten sie aber doch (…) die Linguisten finden nämlich immer alles prima, was sich in der Sprache ergeben hat. (Gauger 1999, 99; Herv. i. Orig.). Das ist – so sehr man im Detail über diese Aussagen streiten kann – ein zentraler Punkt, der in der Diskussion um Sprachkritik und Sprachwissenschaft häufig nicht hinreichend beachtet wird: Es geht nicht primär um die Frage „Werten oder nicht Werten? “, sondern um die A r t u nd We ise der vollzogenen Wertung. Denn natürlich sind es beispielsweise in der aktuellen Diskussion um englische Entlehnungen we r te n de Aussagen wie „überflüssige Wörter gibt es nicht“2, an denen sich die Anglizismenkritiker stören. Paradoxerweise jedoch werden diese Stellungnahmen, obwohl gerade die darin enthaltene Wertung für Konflikte sorgt, im sprachkritischen Diskurs nicht als Wertungen betrachtet, sondern als ein Ausdruck linguistischer „Bewertungsallergie“ – wie selbst Zimmer, ungeachtet seiner Feststellung, weiterhin insistiert (Zimmer 2005, 34). Das hat verschiedene Ursachen, unter anderem diese: (1.) dass die Werturteile den Interessen der Kritiker nicht dienlich sind, (2.) dass der Begriff ‚Kritik‘ häufig auf solche Aussagen verkürzt wird, in denen Unbehagen an einem Phänomen zum Ausdruck gebracht wird (so bspw. auch von Glück 2000), und (3.), wie bereits erwähnt, dass die Linguisten, die sie äußern, sie oftmals selbst nicht als wertende (und schon gar nicht als sprachkritische) Aussagen verstanden wissen wollen. Letzteres kann man mit den Herausgebern von Aptum auf den deskriptiven Wissenschaftsbegriff zurückführen. Dieser ist allerdings nur ein Teil einer viel weiter reichenden „diskurssemantischen Grundfigur“3, die nicht nur die Argumentation sich ‚deskriptiv‘ verstehender Linguisten bestimmt, wie vonseiten sowohl einer medialen als auch einer wissenschaftlichen Sprachkritik häufig argumentiert wird, sondern zu großen Teilen auch die Argumentation der linguistischen und medialen 2 3 „Überflüssige Wörter gibt es nicht, und zwar zum einen weil Sprachen so gut wie keine völlig synonymen Wörter enthalten, und zum anderen weil für Sprecher und Schreiber kein von ihnen benutztes Wort überflüssig ist, da sie es andernfalls nicht verwenden würden.“ (Hoberg 2002, 172) Vgl. zum Konzept „diskurssemantische Grundfigur“ Busse (1997). Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur 251 Sprachkritik selbst. Die Rede ist vom „Deskriptions-Präskriptions-Antagonismus“. Wie Deborah Cameron in ihrem bemerkenswerten Buch „Verbal Hygiene“ (Cameron 1995) gezeigt hat, kommt diesem Antagonismus im linguistischen Diskurs eine zentrale Rolle zu – er konstituiert die Identität des Fachs: Prescriptivism (…) is the disfavoured half of a binary opposition, ‚descriptive/prescriptive‘; and this binarism sets the parameters of linguistics as a discipline. The very first thing any student of linguistics learns is that ‚linguistics is descriptive not prescriptive‘ – concerned, in the way of all science, with objective facts and not subjective value judgements. Prescriptivism thus represents the threatening Other, the forbidden; it is a spectre that haunts linguistics and a difference that defines linguistics. (Cameron 1995, 5) Dass sich letztlich auch die linguistische Sprachkritik großteils mithilfe dieses Antagonismus definiert, zeigt zum einen der Versuch, sich in Relation zur „deskriptiven Linguistik als Kern des Faches“ (Lanthaler u.a. 2003, 3) – und damit in Relation zum „Deskriptions-Präskriptions-Antagonismus“ – zu positionieren, zum andern die anhaltende Diskussion darüber, ob eine linguistisch fundierte Sprachkritik „deskriptiv“ sein müsse oder „präskriptiv“ sein dürfe.4 Bezeichnenderweise scheidet die Möglichkeit einer „präskriptiven“ Sprachkritik in der Regel als „unwissenschaftlich“ aus, nicht nur für Linguisten, die sich höchstens eine „deskriptive Sprachkritik“ vorstellen können (so etwa Habscheid 2003), sondern auch für jene, die sich explizit für linguistische Werturteile aussprechen. Die „wissenschaftliche“ oder „wissenschaftlich begründete“ Sprachkritik wird daher immer sorgfältig von der „nichtwissenschaftlichen“ getrennt, die eben die „präskriptive“ (mit Cameron: „the threatening Other, the forbidden“) ist.5 Pointiert ausgedrückt: Linguistische Sprachkritik darf alles sein: „normreflektierend“, „wertend“, „Alternativen aufzeigend“ – nur eben nicht „präskriptiv“. So sichert sich das Fach, ganz im Sinne Camerons, seine Identität. Dass schließlich selbst die mediale Sprachkritik von diesem Argumentationsmuster nicht unberührt bleibt, zeigt sich daran, dass dort – in umgekehrter Gewichtung – häufig ebenfalls Deskription und Präskription gegeneinander ausgespielt werden. 4 5 Vgl. dazu Roth (2004, 1–15), wo „das Scheitern der nicht-normativen Sprachkritik“ aufgrund ihrer Befangenheit im Deskriptions-Präskriptions-Antagonismus sehr schön aufgezeigt wird; vgl. für neuere Diskussionen bspw. Kilian (2001), Bär (2002), Klein (2002), Lanthaler u. a. (2003), Habscheid (2003), Ortner/Sitta (2003), Schwinn (2005). Vgl. als jüngstes Beispiel Schwinn (2005, 40): „Das normative Element möge populäroder pseudowissenschaftlichen Bereichen der Sprachkritik überlassen bleiben, hat allerdings innerhalb einer linguistisch begründeten bzw. fundierten Sprachkritik keinen Platz“. Jürgen Spitzmüller 252 Man möge diese Ausführungen nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, die Linguistik für eine Sprachkritik zu gewinnen, wie sie im medialen Diskurs vorherrscht (dies würde natürlich ebenso dem beschriebenen diskursiven Muster folgen). Es geht vielmehr darum, die Grundlagen des linguistischen Diskurses freizulegen, denn natürlich ist auch die Sprachwissenschaft eingebunden in einen historisch gewachsenen Diskurs, was ihr als „selbstverständliche Grundannahmen“ gelten, ist das Resultat historischer Entwicklungen6 und der Positionierung der Disziplin innerhalb der Gesellschaft, deren Bestandteil sie nun einmal ist. Das heißt nicht, dass man diese „Grundannahmen“ nicht mit guten Gründen verteidigen kann (vgl. Klein 2002, 396–397), ganz im Gegenteil: Die Entwicklungen sind ja durchaus auch mit Entscheidungen verbunden, die man für richtig halten kann (oder auch nicht), und ein selbstreflektierter Standpunkt ist auch nicht die schlechteste Voraussetzung zur Sicherung der eigenen Position. Spätestens jedoch dann, wenn die Linguistik sich kritisch mit anderen Gruppierungen (wie etwa der medialen Sprachkritik) auseinander setzt oder vielleicht sogar den Dialog sucht, ist die Reflexion der eigenen Episteme unvermeidlich. Konkret heißt dies: Über die Diskussion hinaus, ob die Linguistik nun ‚deskriptiv‘ sein müsse oder nicht, wäre es sinnvoll zu fragen, ob die binäre Gegenüberstellung von Deskription und Präskription überhaupt und insbesondere in Bezug auf eine Wissenschaft wie die Linguistik sinnvoll ist bzw. wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Diese Frage wird in der germanistischen Linguistik leider viel zu selten gestellt. Zwar wird gelegentlich darauf verwiesen, dass Linguistik „natürlich ohnehin permanent wertet“ (Lanthaler u.a. 2003, 3) bzw. „nie (…) ohne subjektive Setzung und Entscheidung“ (Gardt 2002, 39) auskommt, welche Konsequenzen dieser wissenschaftstheoretische Befund jedoch für die Rolle der Linguistik insbesondere in ‚der‘ Öffentlichkeit hat, wird kaum erörtert.7 Genau das ist jedoch, wenn der Dialog mit der Öffentlichkeit gesucht wird, der zentrale Punkt. 2 Language ideological debates In der angloamerikanischen Soziolinguistik wird diese Frage seit einigen Jahren – Camerons Buch ist nicht ganz unschuldig daran – etwas intensiver 6 7 Vgl. zur Genese des Deskriptions-Präskriptions-Antagonismus Schiewe (2003). Vgl. dazu auch kritisch Kilian (2003). Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur 253 diskutiert.8 Cameron selbst lehnt, wie bereits angedeutet, den Präskriptions-Deskriptions-Antagonismus ab (und schlägt statt dessen die etwas unglückliche Metapher der „verbal hygiene“ vor). Als Gründe dafür führt sie erstens an, dass die Bedeutungen von Präskription und Deskription in der Linguistik derart expressiv aufgeladen seien, dass eine ausgewogene Diskussion linguistischer Werthaltungen, sobald sie sich auf diese Ausdrücke – die in der Tat als Schlagwörter im Sinne Fritz Hermanns’ (1994) klassifiziert werden können – bezieht, gar nicht möglich sei, und zweitens, dass die Linguistik bei aller Berufung auf die Deskription (und nicht zuletzt g era de be i dieser Berufung) de facto stets präskriptiv verfährt, wenn sie ihre Positionen zu Sprache und Sprachwandel zum Ausdruck bringt, denn, so ihre These: All attitudes to language and linguistic change are fundamentally ideological, and the relationship between popular and expert ideologies, though it is complex and conflictual, is closer than one might think. (Cameron 1995, 4) Diese These trifft das linguistische Selbstverständnis einer ‚ideologiefreien‘ Reflexion über Sprache sozusagen mitten ins Herz. Man sollte sie aber nicht missverstehen: Es geht Cameron nicht darum, der Linguistik die versteckte Parteinahme für irgendwelche bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Ideologien nachzuweisen, wie dies etwa Zimmer versucht, wenn er als Grundthese seines Buchs „hinter“ einer vorgeschobenen „Ideologieabstinenz“ ideologische „Kontaminierungen“ u. a. in Form einer „vorgefassten Parteinahme gegen den elaborierten Code des Bürgertums, den sie [die Linguistik] für ein Repressionsmittel hält“, ausmacht (Zimmer 2005, 347), der Linguistik also Bürgertumsfeindlichkeit und eine „politische Wertentscheidung“ infolge des „Zeitgeist[s] der siebziger und achtziger Jahre“ unterstellt (Zimmer 2005, 26–27), womit er nicht nur die mentalitätsgeschichtlichen Argumentationen etwa zur Sozialsymbolik der Standardsprache missinterpretiert,9 sondern auch selbst in die Deskriptions- 8 9 Vgl. neben dem bereits erwähnten Buch von Cameron (1995) bspw. die Diskussionsbeiträge im Journal of Sociolinguistics 5 (2001) [bspw. Milroy 2001a,b, Johnson 2001], Gal/Woolard (2001) und Johnson (2005). Ähnliches ist für die zweite „Kontamination“ anzumerken, die Zimmer nennt, die „pseudobiologische Theorie, deren Effekt, wenn nicht Absicht es ist, kulturelle Differenzen für unerheblich und oberflächlich zu erklären, für folkloristische Kostümierungen, die Sprache als unversehrbar durch irgendeinen Sprachgebrauch hinzustellen und die tiefe sprachliche (und damit kognitive) Gleichheit aller Menschen zu behaupten“ (Zimmer 2005, 347), womit er die Rolle des Generativismus innerhalb der Stellungnahmen zu den von ihm angeführten Themen stark überschätzt, da dort vorrangig strukturalistische und soziolinguistische Theorien herangezogen werden (vgl. etwa zum Anglizismendiskurs Spitzmüller 2005, 311–361), die universalistischen kognitiven Theorien oftmals gerade dezidiert entgegentreten. 254 Jürgen Spitzmüller Präskriptions-Falle tappt, die er den Lesern seines Buchs zuvor so nah vor Augen geführt hat.10 Es geht Cameron vielmehr darum zu betonen, dass die Berufung auf die Deskription selbst Teil ei ner Ideologie ist, mit der sich die Linguistik in der Gesellschaft positioniert und als Kollektiv konstituiert und die sie nicht zuletzt nach außen, gegenüber anderen Kollektiven, auch wie eine Ideologie, im Sinne einer Norm, propagiert. Denn „if ‚leave your language alone‘ is not a prescription, what is it? “ (Cameron 1995, 7). Der zugrunde liegende Ideologiebegriff ist natürlich nicht pejorativ zu verstehen,11 gleichzeitig ist er nicht auf politische Wertesysteme beschränkt. Er umfasst vielmehr die Summe der Annahmen, mit deren Hilfe die Mitglieder eines Kollektivs soziale Wirklichkeit konstruieren.12 Sprachideologien (language ideologies) sind demgemäß, nach der klassischen Definition von Silverstein (1979, 193), „sets of beliefs about language articulated by users as a rationalisation or justification of perceived language structure and use“. Als rationalisierte und diskursiv entextualisierte (vgl. Blommaert 1999b, 9) Werthaltungen verstanden, gewinnen Ideologien vor allem in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ideologien Gestalt (vgl. dazu auch Stukenbrock 2005, 35–37), in Auseinandersetzungen zumal, in denen Deutungsinhalte und Deutungshoheiten verhandelt werden. Da es in vielen metasprachlichen Auseinandersetzungen genau darum geht, liegt es nahe, die Sprachhandlungen sowohl der nichtlinguistischen als auch der linguistischen Diskursteilnehmer als ideologisch fundierte Akte im oben definierten Sinn zu verstehen, wie dies beispielsweise James Milroy sehr explizit tut: (…) let us notice that judgements about language that are believed to be justified on purely linguistic grounds are never purely about language. Ponder this carefully: it implies that public attitudes are not really purely about language (even though people may insist that they are purely about language), but it also implies that, amongst other things, the public pronouncements of linguists about language are never purely about language either. For example, when we say that all languages are equal, this is not merely an innocent statement about language. It is, arguably, not scientific 10 11 12 Auch Gauger bleibt trotz der Erkenntnis impliziter linguistischer Wertungen innerhalb der diskurssemantischen Grundfigur: „Die Linguistik sollte weiterhin auf Wertung verzichten. Mehr noch: sie sollte die implizit positive Wertung, die sie oft vornimmt, aufdecken und meiden“ (Gauger 1999, 100). Vgl. zu einem wertneutralen Ideologiebegriff auch Stukenbrock in diesem Heft. Zu den Ideologien werden dabei vor allem die explizit geäußerten und rational reflektierten bzw. reflektierbaren Wirklichkeitsannahmen gerechnet, weniger die assoziativen, unreflektierten bzw. nicht reflektierbaren Wirklichkeitsannahmen (Mentalitäten; vgl. hierzu Spitzmüller 2005, 58–62). Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur 255 either, as it cannot be empirically demonstrated. But it is unquestionably ideological and will be understood (correctly) as representing an ideological position. (Milroy 2001b, 612; Hervorh. i. Orig.) Konkret heißt dies: Wenn sich die Linguistik in metasprachlichen Fragen zu Wort meldet, sind damit bestimmte Interessen verbunden, die sich aus dem Selbstverständnis des Fachs (als Wissenschaft) und aus dem Selbstverständnis der handelnden Personen ableiten. Eines davon ist sicher, die Öffentlichkeit „aufzuklären“ und Einstellungen, die die Sprachwissenschaft aus ihrer Perspektive für falsch hält (und falsch halten muss13), verändern zu wollen. Doch es stehen natürlich auch andere Interessen dahinter: der Kampf um die Definitionsmacht in sprachlichen Fragen, die Sicherung des Expertenstatus, die Selbstversicherung bezüglich der Rolle der Linguistik in der Gesellschaft (in Abgrenzung zu anderen Kollektiven, die sich zu metasprachlichen Fragen äußern), die Erlangung bzw. Sicherung von Status innerhalb des Fachs usw. Dass sich die Linguistik so schwer tut, sich diese (ja durchaus legitimen) Interessen einzugestehen, liegt unter anderem daran, dass sie sich damit selbst um das Ideal der „Wertneutralität“ und damit um das ‚Gütekriterium‘, mit dem sie sich gegenüber anderen Diskursgesellschaften abgrenzt, brächte. Umgekehrt werden von Vertretern der medialen Sprachkritik jedoch auch die wertenden linguistischen Stellungnahmen zu metasprachlichen Fragen zwar vielleicht als ideologisch, wie Milroy postuliert, eingestuft (als „bürgertumsfeindlich“, wie Zimmer meint, als vom Nationalsozialismus traumatisiert, wie andere behaupten14), jedoch nicht als „kritisch“ und schon gar nicht als „sprachkritisch“, da dieses ‚Gütekriterium‘ wiederum von diesen Diskursgesellschaften für sich beansprucht wird. Bei aller Gemeinsamkeit dürfen die Unterschiede und Spezifika natürlich nicht übersehen werden. Die Linguistik betrachtet Sprache und Sprachwandel grundsätzlich aus einer anderen Perspektive als die mediale Sprachkritik. Vor allem die weitaus geringere persönliche Verflochtenheit in die zu bewertenden Phänomene und Prozesse, die ‚handlungsentlastete‘ Perspektive (vgl. Paul 1999), lässt sie sehr häufig zu ganz anderen Werturteilen kommen als die mediale Sprachkritik; insbesondere Urteile, die eine (zumeist: die ‚eigene‘) Sprachgebrauchsform deutlich gegenüber anderen (den ‚fremden‘) favorisieren, jene Urteile, die im linguistischen Diskurs als prototypisch „präskriptiv“ gelten, werden in der Linguistik schon perspektivenbedingt sehr viel seltener gefällt.15 Diese Perspektive jedoch ist eine professionsgebundene: Auch Linguisten können Sprache nicht immer 13 14 15 Vgl. dazu Spitzmüller (im Druck a und b). Vgl. etwa, als Beispiel unter vielen, Pogarell (1998). Vgl. dazu grundsätzlich Spitzmüller (2005 im Druck a und b). 256 Jürgen Spitzmüller handlungsentlastet betrachten, denn sie sind nun mal in ihrem Privatleben auch Mitglieder einer Sprachgemeinschaft. Damit ist auch die in den Auseinandersetzungen mit der medialen Sprachkritik vertretene Ideologie professionsgebunden, im Gegensatz zur Ideologie der medialen Sprachkritik selbst, die weitgehend sozial fundiert ist. Dies ist der Grund für die paradoxe Situation, in der sich Sprachwissenschaftler bisweilen wiederfinden: Dass ihnen ein Phänomen, dessen kommunikative Funktion sie in wissenschaftlichen Vorträgen detailliert begründen können, als „Privatfrau“ oder „Privatmann“, aus der handlungseingebundenen Perspektive – vielleicht schon in der Kaffeepause nach dem Vortrag16 – sauer aufstößt.17 Was hier passiert, könnte man als „identity switching“ bezeichnen.18 Es ist eine Herausforderung (aber auch eine Notwendigkeit) für Linguisten, diesen Wechsel hin zur selbstverständlich auch für sie legitimen Perspektive des handlungseingebundenen Sprechers zu erkennen, denn durch ihn positionieren sie sich auch anders im Diskurs. Der PräskriptionsDeskriptions-Antagonismus bietet hier natürlich eine scheinbar klare Orientierungshilfe. Ungeachtet der jeweiligen Perspektive stehen sich in den metasprachlichen Debatten jedoch immer auch, wie oben beschrieben, gesellschaftliche Interessen entgegen, es geht in ihnen also tatsächlich, wie Milroy bemerkt hat, niemals nur um Sprache allein (zumindest nicht, wenn man Sprache im engeren linguistischen Sinn definiert19). Metasprachliche Diskurse sind daher in aller Regel sprachideologische Diskurse (language ideological debates20), in denen sich verschiedene „ideology brokers“21 gegenüberstehen, um Definitionsmacht streitende Gruppen, von denen sich eine (oder auch mehrere) nicht selten aus der Linguistik konstituiert. Das lässt sich an den beiden dominierenden metasprachlichen Diskursen der letzten Jahre sehr schön zeigen: (1.) am Diskurs um die Rechtschreibreform, den Sally John16 17 18 19 20 21 Den Hinweis auf dieses Szenarium verdanke ich, wie auch viele andere Impulse, Kersten Sven Roth. Vgl. auch Milroy (2001b, 623–624): „These claims are not valid in the professional opinion of linguists, but when we wear our non-specialist hats, I suspect we understand them perfectly“. Vgl. zum Konzept dynamischer und multipler Identitäten den Überblick bei Döring (2003, 326–337). Vgl. dazu Spitzmüller (im Druck a). Vgl. zum Konzept Blommaert (1999a). Der Ausdruck stammt von Blommaert (1999b, 9): „The struggle for authoritative entextualization involves ideology brokers: categories of actors who, for reasons we set out to investigate, can claim authority in the field of the debate (politicians and policy makers, interest groups, academicians, policy implementers, the organized polity, individual citizens). The struggle develops usually over definitions of social realities: various representations of reality which are pitted against each other – discursively – with the aim of gaining authority for one particular representation.“ Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur 257 son (2005) unter Rückgriff auf das Modell der language ideological debates analysiert hat – Johnson hat dabei „three main groups of ideological brokers“ ausgemacht: „the complainants, the judges of the Constitutional Court, and the linguists“ (vgl. Johnson 2005, 16); und (2.) am Anglizismendiskurs, in dem man vor allem die Gruppen der Anglizismenkritiker (innerhalb derer der Verein Deutsche Sprache die Meinungsführerschaft beansprucht und damit eine herausragende Rolle spielt22), der Politiker und wiederum der Linguisten als ideology brokers identifizieren kann (vgl. Spitzmüller 2005). 3 Der Sack und der Esel Nimmt man die grundsätzliche ideologische Dimension von Spracheinstellungen ernst, so hat dies auch Konsequenzen für einen weiteren linguistischen Topos, der die Rezeption der und den Dialog mit der medialen Sprachkritik (sowie auch die theoretische Diskussion einer linguistischen Sprachkritik) in der Vergangenheit sehr stark geprägt hat: die Trennung von Sprache und außersprachlichen Werthaltungen. Der medialen Sprachkritik wurde und wird ja immer wieder vorgehalten, dass sie die Bewertung des Sprachgebrauchs nicht sauber genug von der Bewertung außersprachlicher Phänomene trenne, dass sie also „den Sack ‚Sprache‘ (…) schlage(n) und als Esel etwa die ‚Geisteshaltung der Zeit‘ oder ähnliche übergeordnete Gesichtspunkte (…) meine(n)“ (Sanders 1998, 14).23 Versteht man nun jedoch Sprache nicht nur als Teil, sondern auch als Ausdruck von Ideologien, Mentalitäten bzw. Identitäten, so wird diese Trennung schnell fragwürdig. Fragwürdig ist zumindest der Versuch, diese analytische Trennung, deren heuristischer Wert für linguistische Analysen hier nicht diskutiert werden soll, auf die Sprecherwirklichkeit übertragen und der medialen Sprachkritik vorhalten zu wollen. Wenn man Sprache und Spracheinstellungen als Ausdruck und Konstituens kollektiver Wirklichkeitskonstruktionen ernst nimmt, dann sind die Werthaltungen, die von bestimmten Sprechergruppen mit bestimmten Sprachgebräuchen verbunden werden, als Teil des sozialen Symbolsystems Sprache zu verstehen. Noch einmal mit Deborah Cameron: Verbal hygiene and social or moral hygiene are interconnected; to argue about language is indirectly to argue about extra-linguistic values. (…) it is (…) mystificatory to suppose that issues of language can be stripped of any evaluative dimension. Where linguistic science insists on trying to do 22 23 Vgl. den Beitrag von Anja Stukenbrock in diesem Heft. Dass der „Sack (...) geschlagen [wird], wo der Esel gemeint ist“, hat schon Adorno in seinem berühmten Essay zur Fremdwortkritik moniert (Adorno 1979, 198). Jürgen Spitzmüller 258 this, it diverges from the concerns of most language users. To be sure, in many areas of linguistic scholarship this will be a matter of indifference: that the ordinary speaker has no interest in complex phonological processes should not preclude scholarly investigation of them, for example. But in socially oriented linguistics – and in the making of public policy about language – it cannot be a matter of indifference. (Cameron 1995, 114) Die Konsequenzen, die diese Überlegungen für die linguistische Theorie und den Sprachbegriff mit sich bringen, können hier nicht weiter diskutiert werden (vgl. dazu Spitzmüller im Druck a und b). Zum Schluss sollen statt dessen noch einmal einige der wichtigsten Konsequenzen genannt werden, die sich für die Rolle der Linguistik in sprachideologischen Diskursen ergeben. 4 Konsequenzen Wenn die Linguistik metasprachliche Diskurse tatsächlich als sprachideologische Diskurse begreift, so sollte sie sich konsequenterweise, wenn sie an den entsprechenden Debatten teilnimmt, in ihrer Argumentation nicht nur auf sprachliche Phänomene im engeren Sinn beziehen, denn damit verfehlt sie zumeist schlicht das Thema. Die semantisch-pragmatische Differenzierung zwischen Kindern und Kids beispielsweise ist den meisten Teilnehmern am Anglizismendiskurs herzlich egal, da es ihnen nicht um den Wert eines Zeichens in einem Wortfeld geht, sondern um den sozialsymbolischen Wert von Anglizismen (in Relation zur eigenen Werteordnung) und damit um genuin ideologische Fragen (vgl. Spitzmüller im Druck a und b). Eine Linguistik, die Spracheinstellungen und die soziale Symbolik von Sprache zu ihrem Gegenstandsbereich rechnet, kann sich auch nicht (mehr) damit herausreden, dass sie für diese Bereiche nicht zuständig wäre, zumal ihr mittlerweile ja durchaus auch das notwendige Instrumentarium (bspw. in Form soziolinguistischer, diskurstheoretischer oder linguistisch-anthropologischer Methoden24) zur Verfügung steht. Zweitens sollte es die Linguistik als ihre Aufgabe verstehen, den Diskurs auf einer metadiskursiven Ebene (z. B. mithilfe der genannten Methoden) zu entflechten und damit die Motivationen und Interessen der Diskursteilnehmer und insbesondere der ideology brokers in ihrem historischen und sozialen Kontext freizulegen. Dies nicht nur, um etwas über die Dynamik sprachideologischer Diskurse und damit die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit mittels Sprache zu erfahren, sondern auch, um diese Motivationen und Interessen im Diskurs zum Thema zu machen, denn das ist 24 Vgl. bspw. Wengeler 2003, Stukenbrock 2005, Spitzmüller 2005. Das Eigene, das Fremde und das Unbehagen an der Sprachkultur 259 leider viel zu selten der Fall. Dazu gehört selbstverständlich auch die Offenlegung eigener Motivationen und Interessen. Damit ist auch bereits der dritte Punkt angesprochen: Die Linguistik sollte nicht davon zurückstehen, den Diskurs kritisch zu kommentieren, denn sie ist, wie die Ausführungen gezeigt haben, darin selbst Akteurin mit eigenen (berechtigten) Interessen. Sie sollte das insbesondere dann tun, wenn der Diskurs von bestimmten ideology brokers dominiert zu werden droht, wenn sie mit den dominierenden Ideologien nicht einverstanden ist und erst recht wenn das Fach selbst frontal angegriffen und in seiner gesellschaftlichen Rolle infrage gestellt wird, wie es beispielsweise im Anglizismendiskurs der Fall ist.25 Durch einen Rückzug auf „linguistische Fragestellungen“ im traditionellen Sinn, das zeigt die Analyse vergangener Debatten deutlich, zielt die Sprachwissenschaft nicht nur zumeist am Diskurs vorbei, sie schwächt damit auch ihre Position. All dies macht die Auseinandersetzung selbst nicht einfacher und den Weg, den Dieter E. Zimmer, Aptum und andere eingeschlagen haben, nicht komfortabler. Es macht die Debatten aber sicher transparenter und nachvollziehbarer für alle Seiten – schließlich ist es gut zu wissen, worum es eigentlich geht. Literatur Adorno, Theodor W. (1979): Wörter aus der Fremde. In: Fremdwort-Diskussion, hg. v. 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Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl. Göttingen u. a. (Internet und Psychologie/Neue Medien in der Psychologie; 2). Gal, Susan/Woolard, Kathryn (Hgg.) (2001): Languages and publics. The making of authority. Manchester (Encounters; 2). 25 Vgl. die Ausführungen zur „Wissenschaftsschelte“ des VDS im Beitrag von Stukenbrock (in diesem Heft). 260 Jürgen Spitzmüller Gardt, Andreas (2002): Sprachkritik und Sprachwissenschaft. Zur Geschichte und Unumgänglichkeit einer Einflussnahme. In: Streitfall Sprache. Sprachkritik als angewandte Linguistik?, hg. von Jürgen Spitzmüller, Kersten Sven Roth, Beate Leweling u. Dagmar Frohning. Bremen, S. 39–58 (Freiburger Beiträge zur Linguistik; 3). Gauger, Hans-Martin (1999): Die Hilflosigkeit der Sprachwissenschaft. In: Sprache in Not? Zur Lage des heutigen Deutsch, hg. von Christian Meier. Göttingen, S. 85–101. 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