Character-Ausgabe 7

Transcrição

Character-Ausgabe 7
echtes. private. banking.
ausgabe 7 — august 2015
Character im Porträt
Sol Gabetta
Die Star-Cellistin über Musik,
Familie und Leben
6 —19
Hatteste was, warste was!
Kommt Eigentum aus der Mode?
20 — 23
Klein-Tokio am Rhein
Japanische Kultur in Düsseldorf
40 — 45
Gegenwart
2
Editorial
Das gleiche
lässt uns in Ruhe, aber der
Widerspruch ist es,
der uns produktiv macht.
Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832,
deutscher Dichter
Character
3
August 2015
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Welt ist digital – so scheint es zumindest. Das Internet
und mobile Dienste prägen schon lange unseren Alltag:
die Art, wie wir kommunizieren, wie wir Geschäfte machen
und wie wir unsere Freizeit gestalten. Da drängt sich der
Eindruck auf, das Leben sei von einem digitalen Code durchdrungen, einem endlosen Strom von Einsen und Nullen.
Doch die Welt ist nicht so einfach, so schwarz-weiß.
aManDla beDeutet
unter anDereM „kraft“:
unD wer veränDern
will, Der braucht Diese
kraft.
Das Besondere liegt oft in vermeintlichen Widersprüchen. Zwischen zwei Polen
kann viel Energie entstehen – also irgendwo zwischen dem „Schwarz“ und dem „Weiß“
dieser Welt. Der „Character“ unserer aktuellen Ausgabe ist dafür das beste Beispiel:
Die Star-Cellistin Sol Gabetta lebt für die Musik, davon durften wir uns bei einem
ihrer Konzerte selbst ein Bild machen. Die Künstlerin mag zierlich wirken, doch zieht sie
die Menschen in ihren Bann. Ihr Spiel drückt Empfindsamkeit genauso aus wie
Kraft – „halb Mezzosopran, halb Panther“, wie sie es selbst beschreibt.
Gegensätze bringt auch Jakob Schlichtig zusammen. Er hat die Hilfsorganisation
AMANDLA EduFootball gegründet und gibt Kindern und Jugendlichen in Südafrika ein
sicheres Umfeld in eigenen Sportstätten. Um das Projekt erfolgreich zu starten, hat sich
Schlichtig aber nicht allein auf die beeindruckende soziale Strahlkraft von
AMANDLA verlassen. Schlichtig steht für eine klare Professionalisierung von Sozialunternehmern. Seine Organisation ist ein Start-up mit einer betriebswirtschaftlich
fundierten Grundlage – und vermittelt den Kindern vor Ort Rückhalt, Stärke und
ein wichtiges Wertesystem. AMANDLA bedeutet unter anderem „Kraft“: Und wer
verändern will, der braucht diese Kraft.
Von scheinbaren Widersprüchen handeln auch viele weitere Geschichten in diesem
Magazin. Kennen Sie das japanische Düsseldorf? Oder die alte Schuhfabrik
van Bommel, die heute mit ausgeflippt bunten Kreationen up to date ist? Lesen Sie
vom Fotografen Martin Schoeller, der mit seiner Kamera hinter die Fassaden
von Weltstars, Wirtschaftsgrößen und Politikern schaut. Oder von Austern made
in Germany, keinem Kunst-, sondern einem echten Luxusprodukt von der Insel Sylt.
Welches Verkehrsmittel ist das modernste der Welt? Ganz einfach: das Fahrrad.
Und welcher alte Wert erhält eine digitale Intelligenz? Das Haus.
Wo ist nun bei allen vermeintlichen Gegensätzen zwischen alt und neu, analog und digital
Echtes. Private. Banking. einzuordnen? Ist es eine traditionelle Dienstleistung oder
ein digitaler Service? Und ist dies überhaupt ein Widerspruch?
Bleiben wir im Dialog!
Aus dem Bethmannhof
grüßt Sie herzlich
horst schMiDt
Vorstandsvorsitzender
der Bethmann Bank
Gegenwart
traDition
gut zu fuss
Der nieDerlänDisChe traDitionsbetrieb
van boMMel unD seine MoDernen sChuhe
Inhalt
4
gegenwart
24
sol gabetta
Die star-Cellistin über Musik, FaMilie unD leben
Delikatessen aus sylt
Die einzige DeutsChe austernzuCht
56
www.bethmannbank.de
6
40
Japanisches
DüsselDorf
Mehr als
nur MoDe
unD altbier
Character
August 2015
5
zukunft
überblick
34
haus Mit hirn
Das sMart hoMe bietet
viele Funktionen – aber
sinD auCh alle sinnvoll?
fairness iM township
aManDla eDuFootball bietet benaChteiligten
kinDern neue PersPektiven
50
6
character iM porträt
sol gabetta
star-Cellistin
20
werte iM wanDel
hatteste was, warste was!
koMMt eigentuM aus Der MoDe?
24
unternehMen Mit traDition
cooles altes hanDwerk
Die sChuhFabrik van boMMel
32
perspektivenwechsel
Das fahrraD
WaruM in Die PeDale treten?
34
für Morgen
wenn Die glühbirne Das haus lahMlegt
ist Der trenD zuM sMart hoMe sinnvoll?
38
12 Dinge, Die Man tun sollte
von kleinen schritten unD grossen gefühlen
40
Mehrwerte
klein-tokio aM rhein
JaPanisChe kultur in DüsselDorF
46
zahlen, bitte!
pilze
WeDer tier noCh PFlanze
48
kleine schätze Des alltags
hatschi!
Das tasChentuCh
50
zwischen koMMerziell unD karitativ
Mit Der kraft Des fussballs
aManDla eDuFootball
54
hello / gooDbye
guckst Du noch oDer streaMst Du schon?
von Dia-abenDen unD streaMingDiensten
56
panoraMa
von wegen schlürfen. kauen!
DittMeyer´s austern-CoMPagnie
64
unternehMen Der zukunft
sauberMann Mit Öko-effekt
MyCleaner: autoWäsChe ohne Wasser
70
12 ausgewählte zitate
von sol gabetta
72
einplanen
Durch Das Jahr
Mit sol gabetta
74
panoraMa
Der echte augenblick
starFotograF Martin sChoeller
84
iMpressuM
Gegenwart
Porträt
6
Star-Cellistin
Sol Gabetta
interview: Dr. eva karcher
Fotos: oliver Mark
Das Konzert in der ehemaligen Scheune des Henslerhofs
am Titisee ist ausverkauft. Als die Star-Cellistin sol gabetta den
Raum betritt, empfängt sie ungestümer Applaus: Sie nimmt ihr
cello und entfaltet ein brillantes Spiel zwischen hauchzarter
Empfindsamkeit und raubtierhafter Kraft.
Am nächsten Tag bittet sie uns in ihr haus iM bauernDorf
olsberg bei Basel, das sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten
Christoph Müller bewohnt. Im Interview lacht sie viel, spricht
schnell mit charmant akzentuiertem R und schwungvollen Gesten.
www.bethmannbank.de
Character
Produktiv: Seit 2006 veröffentlicht Sol Gabetta mit
berühmten Musikern CDs wie zuletzt „The Chopin
Album“ mit dem Pianisten Bertrand Chamayou,
einem seit Jahren engen Freund.
7
August 2015
Gegenwart
Frau Gabetta, ist das Ihr Hometrainer
oder der Ihres Lebensgefährten?
Meiner. Ich sitze dort (tsch, tsch, tsch, sie macht
schnelle Tretbewegungen mit den Armen),
strample eine halbe Stunde und dazu höre ich
die Berliner Philharmoniker über Kopfhörer.
Oder ein anderes Orchester. Es klingt wie im
Konzertsaal.
Im Februar erschien Ihre CD „The Chopin
Album“, die Sie mit dem Pianisten
Bertrand Chamayou, einem langjährigen
Freund, aufgenommen haben. Soeben
kehren Sie von einer mehrwöchigen
Tournee zurück, und auch die zweite
Jahreshälfte ist bereits eng durchgetaktet.
Wie unerschöpflich ist Ihre Energie?
Es ist weniger eine Frage der Energie als der
Passion. Leidenschaft ist meine Motivation!
Karriere um der Karriere willen hat mich nie
interessiert. Ich gehe meinen Weg Schritt für
Schritt (mit den Händen zeigt sie eine kleine
Spanne). Viele Kollegen überfordern sich, weil
sie zu hohe Erwartungen an sich haben. Da
ist Frustration vorprogrammiert. Mein Leben
dagegen verlief immer sehr realistisch.
Auch dank Ihrer Eltern? Ihr argentinischer Vater Antoine ist Ökonom, Ihre
russisch-französische Mutter Irène
Pianistin.
Sie waren fantastisch darin, dass sie mich
immer wieder auf den Boden gezogen haben.
Wir sind vier Geschwister, ich bin die Jüngste.
Jacqueline ist 15 Jahre älter als ich, Christian,
der Zweitgeborene, Ingenieur und Andrés
Geiger. Seit 2010 leitet er das Barockorchester
„Capella Gabetta“, das wir zusammen gegründet haben.
Ein echter Clan. Auch Ihr Lebensgefährte
Christoph Müller, Cellist und Musikmanager, gehört dazu. Mit ihm haben
Sie 2006 das SOLsberg Festival im
Schweizer Dorf Olsberg initiiert. Und
gerade durften wir Ihre Matinee mit dem
Pianisten Sergio Ciomei und Stücken von
Beethoven, Schostakowitsch und AdrienFrançois Servais im Henslerhof am Titisee
erleben. Ist die Familie immer dabei?
8
So oft wie möglich. Mit meinen Eltern und
Geschwistern und meinem Partner zusammen
zu sein, empfinde ich als großes Glück. Meine
Mutter ist vielleicht meine engste Vertraute,
die mich auch liebevoll kritisiert; mein Freund
unterstützt mich sehr großzügig, mit ihm entwickle ich viele Ideen gemeinsam. Er kann sehr
gut damit umgehen, dass ich manchmal im
Mittelpunkt stehe. Umgekehrt begebe ich mich
gerne in die zweite Reihe, wenn es um ihn geht,
zum Beispiel als Intendanten des Menuhin
Festivals in Gstaad. Ich beobachte sooo gerne,
und das kann man nur im Hintergrund.
ich glaube,
Man braucht ein
starkes ego, uM ein
inDiviDualist zu sein.
inDiviDualisMus ist
für Mich Die
voraussetzung,
kreativ zu sein unD
etwas zu schaffen.
Aber Sie lieben auch die Bühne!
Sehr! Wenn ich spiele, bin ich von dem, was
um mich herum geschieht, zwar total abgetrennt. Die Musik absorbiert mich völlig. Aber
die Minuten, wenn ich einen Saal betrete, und
den Applaus danach genieße ich. Ich trage gerne Kleider und manchmal auch große Roben,
aber sie dürfen nicht zu kompliziert sein. Für
das Konzert im Henslerhof wollte ich mich frei
bewegen können. Das ist ja ein wunderschöner
renovierter Schwarzwaldhof aus Holz, der
unter Denkmalschutz steht, mit schrägen
Wänden, niedrigen Decken und krummen
Treppenstufen. Zu dieser Einfachheit fand ich
schwarze Hosen und ein gleichfarbiges Top
passender. Jeder muss seinen Stil finden. Stil ist
Persönlichkeit.
www.bethmannbank.de
Porträt
Also auch Charakter.
Welche Eigenschaften prägen Sie?
Ich bin neugierig und Menschen und dem
Leben gegenüber sehr positiv eingestellt.
Auch ein Energiebündel und oft etwas ungeduldig. Vor allem jedoch bin ich eine Perfektionistin der Emotionen, nicht nur der Technik!
Und dafür brauche ich viel Zeit und Kraft.
Ich darf mich also nicht zu sehr verausgaben.
Die Gefahr ist riesig, sich zu verlieren, gerade
wenn jemand extrem begabt ist. So viele
junge Supertalente sind zu früh an Drogen
und Süchten zugrunde gegangen.
Warum?
Zuerst erleben sie diesen Erfolg, Unmengen
von Adrenalin überfluten sie, dann kommen
sie total erschöpft und leer nach Hause und
werden von Melancholie überschwemmt.
Wie finden Sie Ihre Balance?
Die habe ich einfach. Ich war immer so.
Nach außen sehr aktiv und temperamentvoll,
nach innen ganz ruhig. Es ist ein Geschenk,
denn bei vielen ist es umgekehrt. Sie scheinen
gelassen und sind innerlich aufgeregt. Ich
bin jedoch kein Rebell, obwohl ich eigentlich
rebellisch veranlagt bin. Aber ich musste nie
gegen etwas sein, weil ich in meiner Erziehung nicht bevormundet wurde. Ich konnte
immer selbst entscheiden, was ich sagen und
tun will.
Auch als Kind?
Von Anfang an. Ich habe einen starken
Willen, den typischen Widder-Dickschädel.
Einmal, ich war sechs, hatte meine Mutter
mir für ein Konzert ein Kleid vorgeschlagen,
das sie für mich genäht hatte. Nein, sagte ich,
ich nehme dieses. Das war mit allem so. Ich
wusste immer genau, was ich wollte, auch
welche Musik ich spielen wollte, und duldete
keinen Widerspruch. In Córdoba, meiner
Heimatstadt, wo wir damals lebten, war es
schwer, Noten zu bekommen. Also schrieb
mir meine Mama die Noten, wenn ich eine
bestimmte Komposition spielen wollte, die ich
gehört hatte.
Character
Hingabe und Leidenschaft:
Witz, aristokratische Haltung und Eleganz
bescheinigen Kritiker den Auftritten der
Cellistin und schwärmen von ihrem
einzigartig intensiven und gleichzeitig
leichten Klang.
9
August 2015
Gegenwart
10
leiDenschaft ist
Meine Motivation!
karriere uM Der
karriere willen hat
Mich nie interessiert.
Porträt
Character
11
Matinee im Schwarzwaldhof: Wo immer Gabetta auftritt, und sei es im kleinen
Ort Hinterzarten am Titisee, reisen die Fans aus allen Winkeln des Globus an.
Kein Wunder, verbindet die Künstlerin doch Ausnahmetalent mit Aura.
August 2015
Gegenwart
12
Porträt
vorstellungskraft,
sensibilität,
vor alleMDas
JeDoch
eMpathie,
sinD
bin ich eine aus
eigenschaften,
perfektionistin
Der
Denen sich intuition
eMotionen,
nicht
nur
entwickelt.
Das,
technik!
was Der
einen
charakter
zuM charakter
Macht.
Arbeitsplatz: In ihrem Haus im schweizerischen
Olsberg studiert die Cellistin neue Stücke ein,
umgeben von Erinnerungsfotos ihrer Tourneen
und Souvenirs aus ihren Lieblingsländern.
www.bethmannbank.de
Character
Waren Sie ein Wunderkind?
Nein. Schon allein, weil mich meine Eltern
nie bevorzugt haben. Wenn Andrés, er ist fünf
Jahre älter als ich, Geige spielte, habe ich ihn
imitiert. Ich erinnere mich, dass ich schon mit
zweieinhalb Jahren viel gesungen habe. Und
mit meinen Porzellanpüppchen gründete ich
einen Chor und dirigierte sie. Aber es gab
keinen Druck von meinen Eltern. Früh war
ihnen jedoch klar, dass ich musizieren musste.
Es war meine Art, Gefühle und Stimmungen
auszudrücken. Mit viereinhalb Jahren bekam
ich mein erstes Cello; wissen Sie, was das Auswahlkriterium war? Ich wollte ein Instrument,
das größer sein sollte als das meines Bruders!
Spricht für ein ausgeprägtes Ego.
Eher für ausgeprägten Individualismus.
Ich glaube, man braucht ein starkes Ego, um
ein Individualist zu sein. Individualismus ist
für mich die Voraussetzung, kreativ zu sein
und etwas zu schaffen. Er ist eine Qualität.
Egomanie dagegen finde ich destruktiv, das ist
ein auswegloses Kreisen um sich selbst. Ein
Cellist muss oft stark sein und das Orchester
anführen. Gleichzeitig brauche ich Partner wie
meinen Bruder, bei denen ich mich geborgen
fühle. Es ist ein Geben und Nehmen, entscheidend ist die Sensibilität füreinander.
13
War das Cello an der Wand gegenüber
Ihr erstes?
Nein, das spielte ich mit zwölf, als ich an die
Musik-Akademie nach Basel kam. Zwei Jahre
zuvor war meine Mutter mit meinen Brüdern
und mir aus Argentinien nach Madrid
gegangen, weil Andrés und ich ein Stipendium
erhalten hatten. Wir folgten meinem Lehrer
Ivan Monighetti, er war ein Schüler von
Rostropowitsch, dann auch nach Basel. Mein
Vater blieb mit meiner autistischen Schwester
in Argentinien, bis wir in Frankreich eine
Schule für sie gefunden hatten. Dann verkaufte
er unser Haus und zog zu uns in die Schweiz.
Wie ist das Verhältnis zu Ihrer
Schwester Jacqueline?
Sehr innig. Früher habe ich oft auf sie aufgepasst, ich war wie ihre Mama. Heute sehen
wir uns am Wochenende, wenn ich da bin. Sie
liebt es, mich üben zu hören! Ich weiß, dass ich
mein Leben lang Verantwortung für sie trage,
und das ist mir eine große Freude. Was sind
Autisten? Menschen, die in ihrer komplett
eigenen Welt leben. Manchmal beneide ich
meine Schwester, denn sie existiert in gewisser
Weise außerhalb unserer gesellschaftlichen
Realität. Die empfinde ich hin und wieder als
kontraproduktiv, denn sie lässt so wenig Raum
August 2015
für Spontaneität, Idealismus und Freiheit.
Klar brauchen wir Rituale und Rhythmen des
Zusammenlebens. Aber der Anpassungsdruck
kann zu hoch werden. Genau wie der Zeitdruck. Wir sind keine Computer.
Wie gehen Sie mit solchen Zwängen um?
Ich versuche, sie in Stärken zu verwandeln.
Sagen wir, ich bin mit einem Programm auf
Tournee und spiele täglich die gleichen Stücke,
eingebunden in ein rigides Zeitraster. Das
klingt nach Routine und Übermüdung, aber
ich sehe darin eine zusätzliche Chance, noch
perfekter zu werden. Wenn Nuancen besser
waren als vorher, bin ich überglücklich und
erfüllt. Ich gehe ins Bett, und wenn ich am
Morgen aufwache …
Dann?
Kurz vor dem Wachsein gibt es eine winzige,
fast noch unbewusste Phase, in der Sie sich
manchmal erinnern, was Sie geträumt haben.
Und in diesen zwei Sekunden spüren Sie auch,
in welchem emotionalen Zustand Sie sind. Jedenfalls wache ich auf und empfinde in diesen
Augenblicken, mit welchen Gefühlen mich das
Konzert am Abend zuvor zurückgelassen hat.
Gegenwart
Porträt
14
Es ist der Moment, in dem ich mich mit mir
selbst treffe, in dem ich ganz und gar bei
mir bin.
Was machen Sie, wenn Sie sich
schlecht fühlen?
Ich beginne, zu analysieren. Um zu verarbeiten, was mich belastet. Wenn ich das nicht
tue, werde ich krank.
Ist Musik auch Therapie?
Definitiv. Obwohl es mein Beruf ist, kann ich
ihn unmöglich von meinem Leben trennen.
Ich bringe also meine Probleme mit, wenn ich
anfange zu üben. Wunderbarerweise beruhigen mich die Arpeggien, die Akkorde und
Tonleitern. Ich vergesse die Sorgen nicht, aber
das Cello hilft mir, ähnlich wie ein Work-out,
sie etwas weniger schwer zu nehmen.
Ist Üben Qual oder Freude oder beides?
Ich liebe Üben. Es ist das Gegenteil von
Zwang. Es bedeutet, meinen Gefühlen und
Gedanken Form zu geben. Wo will ich
ankommen, nicht nur technisch, warum
verstehe ich diesen Satz so und nicht anders?
Für mich ist es sehr wichtig, eine Struktur zu
finden. Manche Kollegen üben viel weniger,
sie setzen auf Spontaneität. Das kann ich
nicht. Wenn ich im Konzert 100 Prozent
geben will, muss ich zu Hause 200 Prozent
erreichen, wenigstens einmal. Nehmen wir
an, ich will einen Ton finden, eine Art von
Farbe, ich weiß genau, wie er klingen soll,
aber es funktioniert nicht. Glauben Sie,
im Konzert gelingt mir das? Mithilfe von
Magie? Nein. Üben ist für mich, wie eine
Pyramide aus Karten bauen, mühsam, mit
unzähligen Wiederholungen, immer wieder
fällt das Haus zusammen. Dann, im Konzert,
befreie ich das Kartenhaus und schenke es
dem Publikum.
Welcher Komponist ist für Sie die
größte Herausforderung?
Jeder auf seine Weise. Die meisten haben
sehr emotional komponiert, jeder in seiner
Zeit und Welt. Sie waren Schöpfer, wir sind
Interpreten. Wir versuchen, die Transzendenz
der Musik herzustellen. Nehmen wir Dmitri
Schostakowitsch. Bei ihm beeindruckt mich,
wie es ihm gelang, das stalinistische System
subversiv vorzuführen. Er schrieb dem Regime eine Hymne und ironisierte es in seinen
Sinfonien gleichzeitig. Aber er lebte in ständiger Gefahr und der Angst, jederzeit verhaftet
zu werden. Seine Partituren schrieb er mit dem
gepackten Koffer neben sich und am Schluss
schlief er kaum noch. Ich verehre ihn.
Ist er Ihr Lieblingskomponist?
Mit dem Wort „Liebling“ tue ich mich
schwer. Ich bin kein Fan von irgendjemand,
ich war es nie. Sicher, ich habe mit sehr
beeindruckenden Persönlichkeiten zu tun,
sie inspirieren mich, sie geben mir Impulse.
Aber ich hatte nie Idole. Weil ich sie nicht
brauche. Wenn man sich mit jemandem,
zu sehr identifiziert, gibt man der eigenen
Persönlichkeit keinen Raum mehr, sich zu
entwickeln.
Gibt es jemanden, den Sie bewundern?
Da ist dieser junge Hornist, Felix Klieser.
Er wurde ohne Hände geboren und spielt
nur mit den Füßen, es ist unbeschreiblich.
Wie er einen Mangel in Virtuosität transformiert, grenzt an Genie. Ich habe ihn vor
zwei Jahren bei der Echo-Verleihung gehört.
Ein sehr geerdeter Typ.
eine Der beDeutenDsten
zeitgenÖssischen cellistinnen
Sol Gabetta wird als jüngste von vier Geschwistern am 18. April 1981 im argentinischen
Córdoba geboren. Schon mit zwei Jahren fällt die Tochter der russisch-französischen Pianistin
Irène Timacheff und des argentinischen Ökonomen Antoine Gabetta durch ihre außergewöhnliche Musikbegabung auf. Mit viereinhalb Jahren erhält sie ihr erstes Cello und Unterricht,
als Zehnjährige gewinnt sie einen Wettbewerb in Argentinien und im
selben Jahr geht sie mit Mutter und Brüdern über Spanien in die Schweiz. Als Zwölfjährige
studiert sie an der Musik-Akademie in Basel bei Ivan Monighetti, einem Schüler von
Mstislaw Rostropowitsch, und nimmt noch während des Studiums das erste Album auf.
Die internationale Karriere startet Gabetta 2004 als Gewinnerin des „Crédit Suisse Young
Artist Award“. Sie tritt mit den Wiener Philharmonikern unter Valery Gergiev
auf und bald mit den namhaftesten Orchestern der Welt, gewinnt Preise wie 2007 und 2013 den
Echo Klassik, veröffentlicht zahlreiche CDs und absolviert mehr als 130 Konzerte pro Jahr.
Heute gilt Sol Gabetta, die zudem an der Basler Musik-Akademie lehrt,
mit ihrem vielfältigen Repertoire von Vivaldi über Mozart bis zu Dvorák, Schostakowitsch
und Bloch als bedeutendste zeitgenössische Cellistin.
www.bethmannbank.de
Character
Wahlheimat: Gabetta genießt die Ruhe
auf dem Land und die langen, ungestörten
Spaziergänge, die sie dort macht.
15
August 2015
Gegenwart
16
ich Musste nie
gegen etwas sein,
weil ich in Meiner
erziehung nicht
bevorMunDet
wurDe. ich konnte
iMMer selbst
entscheiDen, was
ich sagen unD
tun will.
www.bethmannbank.de
Porträt
Character
17
August 2015
Freiheit: Wenn die Künstlerin mit ihrer Silberklangstimme
und dem gurrenden R spricht, ist auch ihr Körper ständig
in Bewegung.
Gegenwart
Lebensfreude:
Tierfreundin: Mit
Wenn
Hündin
sie Froschi
in Olsberg
in der
ist, Diele
besucht
ihres
Gabetta
Hauses, regelmäßig
rechts Stillle
die
ben
Tiere
ausinWunderkammerder Nachbarschaft,
neben
objekten
Kühen
wie einer
und Schafen
Koralle und
auch
Eisenvotiven
Alpakas und
fürsogar
den
Tiger
Heiligen
undSt.
Löwen.
Leonhard
18
Porträt
Character
Haben Sie das absolute Gehör?
Nein. Es ist übrigens ein Vorteil. Wenn man
heute ein Klavier stimmt, dann immer in
der gleichen Frequenz, für den Kammerton
A sind das 440, 442 Hertz. Aber im Barock,
bei Vivaldi zum Beispiel, waren die Instrumente oft verstimmt. Man spielte mal eine
Frequenz von 415, mal eine von 430 Hertz,
und es störte niemanden. Je weniger Druck
ein Instrument hat, desto weicher ist sein
Klang.
Wie der Ihrer rund zwei Millionen
Euro kostbaren Guadagnini von 1759?
Nun, meine Guadagnini hat heute auch
Stahlsaiten, keine aus Darm wie früher. Ihr
Klang ist so … aaah, so rein … Sie ist so
eine „Purheit“! Ein Mezzosopran, eine hellere Stimme, aber mit großer Tiefe. Es gibt
andere Instrumente, die sind ein bisschen
wie ein Raubtier, chrrrrrrrh (sie faucht).
So einen Panther suche ich gerade, den ich
zähmen kann. Es würde mich interessieren,
wie weit ich mit so einem Animal komme.
Aber ich habe mich noch in keines verliebt.
19
Bei Ihrem Cello war es Liebe auf den
ersten Blick?
Oh ja! Bei einem Hauskonzert begegnete ich
einem Förderer, der mir vorschlug, ein bestimmtes Cello für mich zu kaufen. Ich lehnte
ab, nein, sagte ich, dieses Instrument wird
nicht meine große Liebe. Suchen wir Ihre große
Liebe, meinte er, und wir reisten durch Europa. Am Ende fand ich meine Guadagnini in
London, sie war das Cello, das am wenigsten
angepriesen wurde. Ich spielte drei Töne und
wusste, wir gehören zusammen – inzwischen
seit beinahe zehn Jahren. Man muss auf sich
selbst hören, das habe ich dabei gelernt.
Wie schwierig ist eine Karriere im
klassischen Musikgeschäft für Frauen?
Als ich vor zehn Jahren begann, CDs zu
produzieren, war es für Frauen leichter, international ins Geschäft zu kommen. Allerdings
auch schwerer, zu bleiben. Die meisten waren
nach zwei, drei Jahren wieder verschwunden.
Männer dagegen machten stabilere Karrieren.
Entscheidend ist die Konsequenz, die man hat,
um sich zu behaupten.
August 2015
Welche Rolle spielt Geld für Sie?
Meine Familie hat sich nie an Geld gemessen,
und ich tue das genauso wenig. Ich kann
Luxus genießen, elegante Kleider, Grandhotels, erlesene Getränke und Speisen. Aber
ebenso gerne esse ich ein Käsebrot. Luxus
ist auch, dass ich mir zusammen mit meinem
Freund das Haus in Olsberg gekauft habe,
in diesem Bauerndorf mit 200 Einwohnern.
Die Menschen hier sind so begeisterungsfähig! Es ist paradiesisch, nach all den Reisen
zurückzukehren, die Vögel zwitschern zu
hören, die Alpakas in ihrer Hütte oben am
Weg zu besuchen und den Dompteur, der
hier mit Löwen und Tigern wohnt.
Sind Sie gerade wunschlos glücklich?
Ziemlich. Noch hatte ich keine Krise und
dafür bin ich dankbar. Aber ich habe Angst
davor. Wenn sie kommt, hoffe ich, sie als
Herausforderung annehmen zu können, an
der ich wachse.
Gegenwart
Werte im Wandel
20
werte iM wanDel
hatteste was,
warste was!
koMMt eigentuM
aus Der MoDe?
Eigentum verpflichtet. Doch immer weniger Menschen scheinen sich
verpflichten zu wollen. Dinge zu besitzen wird unwichtiger – solange
man Zugang zu dem hat, was man möchte, wenn man es möchte.
Die sogenannte Shareconomy macht genau das immer einfacher.
„Mensch, der Schober!“, schallt es durchs
Café. Zwei Männer – offenbar alte Bekannte
aus Schulzeiten – laufen sich nach langer
Zeit zufällig wieder über den Weg. „Wie
geht’s?“, fragt der eine. „Blen-dend!“, kommt
die selbstbewusste Antwort. Gefolgt von auf
den Tisch geknallten Fotos: „Mein Haus, mein
Auto, mein Boot!“ Dieser legendäre Werbespot
aus den 1990ern dürfte den meisten noch gut
im Gedächtnis sein.
Überraschend ist jedoch, wie antiquiert das
aufgeplusterte Vorzeigen von Besitztümern
in der Rückschau wirkt. Denn selbst dem
Gegenüber fällt nicht mehr ein, als mit einem
größeren Haus, Auto und Boot sowie einem
Pool und einem Rennpferd zurückzuprahlen.
Sympathieträger sehen heute anders aus.
Wie die beiden wohl reagieren würden, wenn
man ihren Besitzerstolz beispielsweise mit
einem „Seht mal: Das sind meine 15.000
Autos“ kontern würde? So viele CarsharingFahrzeuge sind nämlich derzeit in Deutschland unterwegs.
Es verschiebt sich gerade etwas – nicht nur
hierzulande. Besitz wird unwichtiger.
Worauf es stattdessen ankommt, ist Zugriff
auf die Dinge zu haben, die man benötigt.
Shareconomy lautet der Begriff dafür. Oder
„Collaborative Consumption“, gemeinsamer
Konsum.
braucht Man Das wirklich?
Der Satz „Ich brauche keine Bohrmaschine,
ich brauche ein Loch in der Wand“ fasst den
Gedanken dahinter anschaulich zusammen.
Warum etwas anschaffen, was pro Jahr
maximal eine halbe Stunde genutzt wird,
den Rest der Zeit aber im Keller verstaubt?
Online-Plattformen wie leihdirwas.de oder
frents.com erlauben unkompliziertes Ausleihen
und Tauschen von Dingen, die man akut
benötigt, aber nicht dauerhaft besitzen muss.
Auch die großen Automobilkonzerne haben
inzwischen erkannt, dass ihr eigentliches
Geschäft womöglich weniger darin besteht,
Stahl zu verarbeiten, den die Menschen dann
in ihre Garagen stellen, sondern eben diese
Menschen von A nach B zu bringen. Ob
BMW und Sixt mit DriveNow oder Daimler
und Europcar mit car2go – selbst die Bahn
setzt mit Flinkster inzwischen auf ein eigenes
Carsharing-Angebot. Und der Erfolg gibt
ihnen Recht: Beträgt der Anteil von Carsharing heute rund ein Prozent am Nahverkehr,
gehen die Experten von Roland Berger davon
aus, dass dieser bis 2025 auf zehn Prozent
steigen wird.
auto Ja, tüv nein!
Gerade in Großstädten, wo Carsharing einfacher und populärer ist als auf dem flachen
Land, kann es nicht nur den Geldbeutel,
sondern auch die Straßen entlasten: Denn
laut Studien ersetzt ein Carsharing-Auto
zwischen fünf und acht Privat-PKW.
Character
21
August 2015
Gegenwart
22
Werte im Wandel
Ich brauche keine
Bohrmaschine.
Das Auto als Statussymbol büßt dabei
seinen Wert gar nicht unbedingt ein: Man
muss es nur nicht mehr zwangsläufig
besitzen. Gerade die jüngere Generation
findet es attraktiver, sich mal das PS-starke
Cabrio für den Sommerausflug und mal
den voluminösen Kombi oder Transporter
für den Möbelkauf auszuleihen – je nach
Bedarf und Laune, flexibel und preisgünstig. Auf alles, was den Besitz eines Autos
lästig macht – von der Instandhaltung über
die TÜV-Prüfung bis zum Vergleichen von
Versicherungen – verzichtet der Carsharer
nur zu gerne.
Manche Anbieter haben sogar eigene
Stellplätze, sodass die lästige Parkplatzsuche entfällt. Wer Carsharing nutzt, fährt
zudem fast immer die neuesten Modelle
mit modernster Navigationstechnik und
Bordelektronik. Und statt umständlicher
Reservierungsprozesse genügt inzwischen
ein Blick in die Smartphone-App, um den
nächsten freien Wagen zu orten.
Das enDe Der
plattensaMMlung
Überhaupt ist es die Digitalisierung, die die
Abkehr vom Besitz stark beschleunigt hat.
Früher gehörte eine Wand voller Bücherregale zur Ausstattung eines Intellektuellen,
ein Jazzfan musste meterweise Schallplatten
oder CDs besitzen und ein ernstzunehmender
Cineast zeigte stolz sein VHS-, dann sein
DVD- oder Blu-ray-Archiv mit filmischen
Meisterwerken vor. Heute kann selbst die
größte Filmsammlung nicht mit der Auswahl
mithalten, die Firmen wie Netflix (siehe
„Hello / Goodbye“ auf Seite 54), Amazon
Instant Video oder Apple iTunes Store bieten
können.
Für Musik und Bücher gilt Ähnliches: Auch
hier verzichten immer mehr Menschen
darauf, das physische Produkt besitzen zu
wollen. Wie viele Bücher werden nach dem
Lesen wirklich ein zweites Mal aus dem Regal geholt? Stattdessen genießen es viele, auf
ihrem E-Reader über Onlinebibliotheken wie
Amazon Prime oder auf ihrem Smartphone
durch Musikstreaming-Dienste wie Spotify
www.bethmannbank.de
permanent Zugriff auf Tausende von Titeln
zu haben. Oder den Film, den sie zu Hause
angefangen haben, am nächsten Tag auf der
Geschäftsreise im Hotel per Stream zu Ende
schauen zu können.
besitz besitzt!
Wenn die Zeiten etwas gut können, dann
bekanntlich sich ändern. Und das immer
schneller. Die Produktzyklen werden kürzer,
technische Innovationen folgen in immer rasanterer Folge aufeinander. Flexibilität wird
deshalb immer wichtiger, Besitz dagegen oft
als Stagnation begriffen, als der Flexibilität
diametral entgegengesetzt. „Besitz besitzt“,
wusste schon Friedrich Nietzsche. Und
schrieb weiter: „Nur bis zu einem gewissen
Grade macht der Besitz den Menschen
unabhängig, freier; eine Stufe weiter – und
der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum
Sklaven.“
Der amerikanische Soziologe und Ökonom
Jeremy Rifkin formulierte es etwas weniger
martialisch und rief bereits zur Jahrtausendwende die „Zugangsgesellschaft“ aus. Was
Character
23
August 2015
Ich brauche ein
Loch in der Wand.
damals noch visionär klang, ist inzwischen
Realität geworden: Landwirte kaufen häufig
kein Saatgut mehr, sondern erwerben die
Lizenz, es für eine Saison benutzen zu dürfen.
Milliarden von Venture-Capital-Dollar fließen
in US-Plattformen wie Uber, die jedem Autolosen einen Chauffeur auf Zeit vermieten.
Und für den Familien-Brockhaus, der einst
stolz von Generation zu Generation weitergegeben wurde, hat der Nachwuchs heute nur
noch ein Schulterzucken übrig.
kostenlos beigelegt. Und wer möchte, mietet
das teure Diamantencollier gleich zu einem
Bruchteil des Kaufpreises dazu.
Selbst Frauen, die sich den Kauf problemlos
leisten könnten, geraten da plötzlich ins
Nachdenken, ob sie für dasselbe Geld nicht
lieber ein Dutzend Bälle in einem Dutzend
verschiedener Kleider besuchen wollen,
anstatt immer dasselbe auszuführen. Oder
durch zwölf gekaufte den Kleiderschrank zu
verstopfen.
unbegrenzter kleiDerfunDus
Selbst im Bereich Mode ist der Paradigmenwechsel bereits angekommen: Auf Webseiten wie kleiderkreisel.de können Nutzer
Kleidungsstücke, die sie nicht mehr tragen,
gegen andere tauschen, die ihnen besser
gefallen. Ohne Flohmarktmuff, 24 Stunden
am Tag und selbst im entlegensten Weiler.
Kundinnen, die mit einer eleganten Abendrobe beeindrucken wollen, können bei der
amerikanischen Firma „Rent The Runway“
eine solche tageweise mieten. Professionell
gereinigt, wird das Abendkleid versichert
geliefert, eine Zweitgröße zur Sicherheit
Natürlich ist die Idee, dauerhaften Besitz
durch zeitlich begrenzte Nutzungsmöglichkeit zu ersetzen, nicht erst seit gestern in der
Welt. Öffentliche Bibliotheken gibt es seit
Jahrhunderten. Und einen Monatsbeitrag
im Fitnessstudio zu bezahlen, anstatt sich
den Keller mit Sportgeräten vollzustellen, ist
allgemein übliche Praxis.
Technische Neuerungen wie Smartphones
und GPS-Ortung, die permanente Vernetzung der Menschen durch das Internet
sowie die Digitalisierung von Kulturgütern
sorgen jedoch dafür, dass das Prinzip des
Besitzes in immer mehr Bereichen an Attraktivität verliert. Umwelt- und Ressourcenschonung tragen zusätzlich dazu bei, den
„Ko-Konsum“, also das Leihen, Mieten, Tauschen und Teilen, im momentan angesagten
Werte- und Weltbild attraktiver zu machen.
Die eigenen vier wänDe
Eine große Ausnahme gibt es jedoch: Auch
wenn die Deutschen im internationalen
Vergleich traditionell häufig zur Miete wohnen,
kehrt sich der Trend langsam um. So ist die
Wohneigentumsquote seit 1993 von rund 39
Prozent auf 46 Prozent gestiegen. Besitz ist
also durchaus noch erstrebenswert – wenn
es um die eigenen vier Wände geht.
Selbst wenn beim nächsten Klassentreffen
„mein Auto“ also das aktuelle CarsharingModell meint und „mein Boot“ über eine
Onlineplattform gemietet wurde – „mein
Haus“ soll für viele doch bitte schön immer
noch das eigene sein und bleiben.
Text: Christoph Koch
Tradition
24
UNTERNEHMEN MIT TRADITION
Cooles altes
Handwerk
Die Schuhfabrik
van Bommel
Traditionsbetrieb, Hoflieferant – und Hersteller ausgeflippt bunter Schuhe:
Van Bommel ist in den Niederlanden eine feste Größe. Das Unternehmen
blickt auf mehr als 280 Jahre Geschichte zurück und gibt sich heute umso
wilder. Mit der jungen Marke Floris van Bommel ist das Unternehmen
angesagter denn je.
www.bethmannbank.de
Unternehmen mit
Tradition
Character
25
August 2015
Umgeben von Leisten: Der 40-jährige Floris van
Bommel ist der Kreativchef des Schuhherstellers
van Bommel – und vertritt das Unternehmen auch
in Werbekampagnen.
Tradition
26
es gibt nicht viele
schuhMacher auf
Der welt, Die solche
Designs Mit Den
alten techniken
verbinDen.
Floris van Bommel
Idee und Umsetzung: Die neuen Schuhkollektionen werden erst im Designraum
entworfen, bevor sie in der Schuhfabrik
produziert werden.
www.bethmannbank.de
Unternehmen mit
Tradition
Character
August 2015
27
Kreativ mit Leder:
Das Design eines neuen Schuhs entsteht.
Schwer, schwarz und robust – so klassisch soll der
Stiefel nicht bleiben: Mit sicheren Handgriffen
schuhproDuktion in neunter
generation
befestigt der Mann an der Nähmaschine einen dicken
für Modemanagement steckte. „Das war einfach eine
Notwendigkeit“, erklärt Floris van Bommel. „Denn
andere Schuhmarken wurden trendiger. Und dank
Lederstreifen in einem auffälligen Grün unter dem
Die „Schoenfabriek van Bommel“ ist eine nieder-
Internet konnten die Kunden sehen, was sich die
Schuh. Dieser „Rahmen“ wird später die Sohle am
ländische Institution. Das Unternehmen mit Sitz in
Hersteller in anderen Ländern ausdachten.“
Stiefel halten – und aus dem konservativen Schuh-
Moergestel bei Tilburg fertigt seit 1734 Schuhe und
werk einen richtigen Hingucker machen. „Rahmen-
ist damit einer der ältesten Schuhhersteller Europas.
Der Senior bewies das richtige Gespür: Die Marke
genähte Schuhe haben besondere Vorteile – aber auch
„Damals produzierte die Familie noch zu Hause
Floris van Bommel verlieh dem altehrwürdigen
Nachteile“, sagt Floris van Bommel. „Der Schuh ist
und war in einer Zunft“, erzählt van Bommel. „Das
Handwerk Schwung. Verkaufte van Bommel 1997
komfortabel und einfach zu reparieren. Aber der
Geschäft entwickelte sich von Vater zu Sohn weiter.“
noch 180.000 Paar Schuhe pro Jahr, waren es 2014
Style ist vorgegeben, und der Schuh sieht sehr
Heute wird die Schuhfabrik in neunter Generation
knapp eine halbe Million. Der Umsatz betrug in den
schwer aus.“
von einem Brüder-Trio geführt: Der 42-jährige
vergangenen beiden Jahren jeweils rund 41 Millionen
Reynier van Bommel ist Vorsitzender der Geschäfts-
Euro.
Der Niederländer mit den zerzausten Haaren, dem
führung, der 35-jährige Pepijn van Bommel leitet
Dreitagebart und dem Tattoo auf dem Unterarm
den Vertrieb. Der 40-jährige Floris van Bommel ist
geht durch die Produktionshalle und zieht einige
für Design und Marketing verantwortlich – und das
Schuhe von Regalen und Werkbänken – Schuhe
Gesicht des Unternehmens.
alte werte … bla, bla, bla …
Van Bommel verbindet Tradition und Moderne. „Wir
sind sehr alt, deshalb haben wir automatisch viele
mit leuchtend blauen Abnähern, rosa Sohlen oder
grünen Grashalmen, die per Laser in den Hacken
Das hat er seinem Vater Frans zu verdanken. Zwar
Werte. Der wichtigste davon ist Qualität“, sagt der
graviert sind. Beim Design scheint alles erlaubt,
arbeitete das Unternehmen seit dem Zweiten Welt-
Kreativchef. In den 1980er-Jahren verloren viele
auch wenn das Schuhwerk ganz traditionell in bis
krieg stets profitabel. Dennoch beschloss der damalige
niederländische Schuhhersteller gegen die günstigere
zu 280 Arbeitsschritten entsteht. „Es gibt nicht viele
Firmenchef im Jahr 1996, dass es Zeit wäre für eine
Konkurrenz aus Italien. „Man konnte den Wettbewerb
Schuhmacher auf der Welt, die solche Designs mit
Verjüngung. Also hob er eine trendige Zweitmarke
nicht über den Preis entscheiden.
den alten Techniken verbinden“, sagt van Bommel.
aus der Taufe und benannte sie nach seinem zweitältesten Sohn, der damals noch mitten im Studium
Tradition
28
www.bethmannbank.de
Unternehmen mit
Tradition
Character
August 2015
29
„wir haben keine anteilseigner, sonDern brüDer.“
Floris van boMMel über kurzFristige trenDs
unD langFristige Werte
Geben Sie uns als Kreativdirektor doch mal
einen Styling-Tipp. Was trägt Floris van
Bommel gerne selbst?
Schwarz! Schwarz ist gut, Schwarz ist cool. Aber
wenn man es genau nimmt, gibt es so viele verschiedene Trends und Styles. Deshalb ist es immer schwer
zu sagen, was genau gerade angesagt ist.
Was ist denn letztlich wichtiger – hip zu sein
oder vernünftiges Handwerk zu liefern?
Wir waren nie trendy. Wir machen einfach gute
Schuhe. Cool zu sein ist wichtig, aber die Qualität
ist wichtiger. Wir wollen langfristig wachsen, und
das geht nicht, wenn man jedem kurzfristigen Trend
hinterherläuft.
Wie bewahrt man solche grundsätzlichen
Werte auf neuen Märkten?
Qualität ist ein alter Wert. Aber nehmen wir die
Expansion in Deutschland: Wir verkaufen seit mehr
als 80 Jahren in Deutschland Schuhe, der Absatz
ging jedoch in den 1990ern zurück, weil alte Werte
immer unwichtiger wurden. Also haben wir mit der
Linie Floris van Bommel einen neuen Wert geschaffen – mit einem komplett neuen Design und komplett
neuer Kommunikation. Und es funktioniert.
Klassisch, aber neu: Paarweise reihen sich Schuhe
in der Fabrik auf – noch ohne Schnürsenkel.
Hilft es dabei, dass van Bommel ein
Familienunternehmen ist?
Es ist Spaß. Wir haben keine Anteilseigner, sondern
Brüder – und die sind gute Freunde. Nach der Arbeit
gehen wir zum Fußball oder zu Konzerten. Ähnlich
ist es bei der Arbeit: Wir sind uns einig, auf unserer
Marke aufzubauen und langfristig zu wachsen.
Natürlich gibt es Diskussionen, aber wir treffen die
wichtigen Entscheidungen gemeinsam – der Schritt
nach Deutschland war ein Teil davon.
Sie arbeiten auch mit Testimonials zusammen –
vom Schauspieler Rutger Hauer bis zum Fußballer Philipp Lahm. Wie begeistern Sie diese
Leute für Ihre Marke?
Wichtig ist, dass wir die Leute mögen. Sie müssen
seit vielen Jahren sehr gut sein in den Dingen, die sie
machen. Talentierte Leute sind wichtiger als angesagte
Leute. Und sie müssen „real“ sein – wir würden zum
Beispiel nicht mit einem Soap-Star arbeiten. Wir machen das nicht, um sofort mehr Schuhe zu verkaufen,
sondern um auf unserer Unternehmensgeschichte
aufzusetzen und sie weiterzuerzählen.
Tradition
30
Unternehmen mit
Tradition
Traditionell:
Die Sohle eines Schuhs wird genäht.
Also entschied sich die Familie für Qualität“, führt van
Rund 300 neue Modelle entwirft van Bommel mit
groß starten, und das geht nur mit Investoren“, sagt van
Bommel aus. Nicht umsonst erhielt das Unternehmen
seinem Team pro Saison. Die rahmengenähten Stücke
Bommel. Doch der Schuhhersteller ist ein Familienbe-
bereits zwei Mal den Titel als Lieferant des Königlichen
werden noch direkt vor Ort in Moergestel – in der
trieb, und das soll auch künftig so bleiben. „Wir wollen
Hofes in den Niederlanden. Der Auftritt van Bommels
einzigen verbliebenen Schuhfabrik der Niederlande –
ein solides Wachstum unter eigener Regie und nicht
ist jedoch alles andere als traditionell: „Wir machen die
gefertigt. Der Großteil der Produktion, darunter auch
abhängig sein von anderen Unternehmen.“
Dinge so, wie wir sie machen wollen.“ Soll heißen: Das
einfach genähte und geklebte Modelle, stammt inzwi-
Unternehmen traut sich heute nicht nur an ausgefallene
schen aus Spanien und Portugal. Zum Beispiel ein
Schuhdesigns, sondern gibt sich insgesamt direkt,
Paar Sneaker in greller Schlangenlederoptik. Ob es für
persönlich und zuweilen mit Augenzwinkern. So posiert
derlei Kreationen einen großen Markt gibt? „Nein“,
Spielzeugroboter schmücken das Büro von Floris van
Floris van Bommel, dessen schwarzer Dodge Challenger
sagt van Bommel und grinst. Deshalb bringt er die
Bommel, es finden sich Modellautos und Figuren aus
auf dem Firmenhof steht, auf Anzeigenmotiven als
auffälligen Stücke in limitierter Auflage unter dem
den „Zurück in die Zukunft“- und „Ghostbusters“-
Dressman mit reichlich Rock-Appeal. Er lässt sich mit
Label „Floris van Bommel Premium“ in die Läden.
Filmen. In einer Ecke stapeln sich einige Kisten mit
Prominenten wie Fußballnationalspieler Philipp Lahm
und Schauspieler Daniel Brühl ablichten oder wirbt
alten, ausgetretenen Schuhen. Ein „B“ schmückt die
Der schritt nach DeutschlanD
selbstironisch mit Slogans wie „Floris van Bommel,
since 1734 bla, bla, bla …“.
Die sohle Mit lanDkarte
alte schuhe iM MuseuM
Schuhe, noch ein sehr altes Logo für „van Bommel“.
„Leute schicken mir diese Sachen überall aus den
Wagemutig zeigt sich van Bommel nicht nur bei
Niederlanden“, erklärt der Kreativchef. Der Grund:
seinen Designs, sondern auch bei der Expansion ins
Die Sachen wandern in ein kleines Firmenmuseum,
Ausland. „Es ist notwendig zu wachsen“, sagt er. In
das in der Schuhfabrik untergebracht ist.
Belgien verfügt das Unternehmen bereits über eine
Im Designraum der Schuhfabrik wird diskutiert:
starke Präsenz. Nun folgt der Schritt nach Deutsch-
Alte Maschinen stehen dort, Schuhmacherwerkzeuge
Mitarbeiter brüten über den Entwürfen der kommenden
land. „Bevor wir in andere Länder gehen, wollen wir
wie Hammer oder Zangen, uralte löchrige Schuhe – all
Damenkollektion. Musterstücke stehen daneben. Die
erst in Deutschland erfolgreich sein.“ Dabei setzt van
das Stücke einer langen Geschichte. Floris van Bommel
Wände rundherum sind gesäumt von Schuhen in
Bommel zunehmend auch auf eigene Läden, um den
hat auch gerade eine „Arbeitslijst“ von 1963 bekom-
knalligen Farben und ungewöhnlichen Materialien.
Kunden das ganze Spektrum der Kollektion zu zeigen.
men, auf der die früheren Arbeitszeiten in der Fabrik
„Schuhe sind für mich vor allem Arbeit“, sagt Floris
Seit 2014 sind es in Deutschland mit Köln und Düssel-
eingetragen sind. Er nickt anerkennend und lacht: „Die
van Bommel. „Aber der eigentliche Spaß ist, eine Idee
dorf zwei Geschäfte, bis 2017 sollen weitere in Berlin,
hatten früher wirklich einen langen Tag. Heute haben
zu haben und einige Gags in den Schuh einzubauen.“
Hamburg, Frankfurt, München und Stuttgart folgen.
wir dagegen vier Mal am Tag Pause.“
Und so nimmt er einen Sneaker zur Hand und dreht
ihn um: Die Sohle zeigt eine Karte der Niederlande, und
Nach der Expansion in Deutschland stehen Skandina-
dort, wo sich der Firmensitz Moergestel befindet, ist ein
vien und Großbritannien auf der Liste. Asien dagegen
kleines „X“ eingearbeitet.
ist derzeit kein Thema: „In China müssten wir sehr
www.bethmannbank.de
Text: Frank Paschen
Character
31
August 2015
Roh-Stoff: Anhand von Lederproben, die neben
dem Designraum lagern, testen die Schuhmacher
ihre neuen Kreationen.
Gegenwart
32
Perspektivenwechsel
perspektivenwechsel
Das fahrraD –
WaruM in Die
PeDale treten?
Fahrradfahren ist angesagt. Wer auf zwei Rädern
daherkommt, liegt im Trend. Dabei kann es auch
ganz praktische Gründe geben, um in die Pedale
zu treten. Zum Beispiel, um im Gewimmel der
Großstadt zügig zur Arbeit zu kommen. Oder
um damit sein Geld zu verdienen und bis ins
hohe Alter fit zu bleiben.
für gesunDheit unD natur
Morgens ist es am schönsten. Zwischen
acht und neun Uhr in der Früh hole ich eines
meiner drei Rennräder aus der Garage.
Wenn die Straße feucht ist, nehme ich das
älteste mit den Schutzblechen – damit die
Nässe nicht hochspritzt. Und dann geht
es los. Die übliche Runde: von Krefeld aus
den Niederrhein hoch, über die Grenze
nach Holland und dann zurück nach Hause. Das sind meist zwischen 80 und 100
Kilometer, überwiegend auf verkehrsarmen
Wirtschaftswegen. Ich fahre fast jeden
Tag, manchmal mit einer Gruppe, oft aber
auch allein. Pro Woche kommen so gut 500
Kilometer auf den Tacho. Auch im Winter
steige ich aufs Rad. In Thermokleidung, die
hält prima warm. Nur wenn es sehr stark
regnet, setze ich aus. Das brauche ich nicht
mehr.
Früher als Amateur und später als Profi in
den 1950er- und 1960er-Jahren bin ich natürlich bei jedem Wetter gefahren. 200, 230
Kilometer am Tag. Oft im Bergischen Land
oder auch im Westerwald, gemeinsam mit
Rudi Altig. Das war ein gutes Training für
die Rennen in den Bergen. Zum Beispiel
für die Tour de France, den Giro d’Italia
oder die Tour de Suisse, die ich zweimal
gewonnen habe, 1959 und 1962 war
das. Die Tour de France bin ich acht Mal
mitgefahren. 1960 bin ich als Vierter in
Paris angekommen – das war meine beste
Platzierung.
nach dem Ende meiner aktiven Zeit hat
mich das Radfahren nicht losgelassen. Da
habe ich als Trainer gearbeitet. Viele Fahrer,
die in den 1990er-Jahren für Furore sorgten,
habe ich betreut. Erik Zabel zum Beispiel.
Oder Rolf Aldag und Udo Bölts. Wie viele
Kilometer ich in meinem Leben geradelt bin?
Mehr als 1,5 Millionen werden es schon
sein. Vielleicht auch zwei Millionen. Ich
habe sie nie gezählt.
Heute radele ich für die Gesundheit. Ich
genieße das, erfreue mich an der Natur.
Das ist Erholung, keine Quälerei. Mein
Tempo? Zügig, würde ich sagen. Rasen
muss ich nicht, das ist vorbei. Ich muss
niemandem mehr etwas beweisen. Aber
wenn andere, deutlich jüngere Mitfahrer
sagen: „Mensch, Hennes! Du bist aber
noch gut drauf“, dann freut mich das
natürlich schon.
Das Fahrrad ist mein Begleiter durchs Leben.
Mehr noch: Es ist mein Lebensinhalt. Als
Kind hatte ich auf dem Weg zum Fußballplatz ein Radrennen verfolgt und danach
bei meinen Eltern so lange gequengelt, bis
sie mir einen Renner gekauft haben. Auch
www.bethmannbank.de
hennes JunkerMann, 81
Ex-Radprofi, achtmaliger Teilnehmer
der Tour de France, fährt immer noch
500 Kilometer pro Woche
Character
Den kopf Durchpusten
Es ist schwarz, hat acht Gänge, einen Lastengepäckträger vorne und ist ein Holländer
aus dem Hause Gazelle: mein Fahrrad. Ich
nutze es vor allem als Verkehrsmittel. Weder
U-Bahn noch Auto bringen mich morgens
so flott von meiner Wohnung im Hamburger
Stadtteil Eimsbüttel in die Agentur am
Rödingsmarkt wie das Rad. Das Beste: Ich
fahre direkt bis vor die Tür. Und muss nicht
noch ewig um den Block kurven, um einen
Parkplatz zu ergattern. Mein Arbeitsweg ist
vier Kilometer lang. Die gehe ich gemütlich
an. Mit einem Hollandrad lässt sich ohnehin
kein Tempo machen. Dafür ist es viel zu
schwer. Meist nehme ich mir 20 bis 25
Minuten Zeit. Zugegeben, die Strecke ist
nicht sonderlich schön. Es geht meist entlang
verkehrsreicher Straßen. Immerhin ist keine
große Steigung dabei! Viele Radwege in
Hamburg sind in einem schlechten Zustand
oder sie sind mangelhaft gekennzeichnet.
Kein Wunder, dass die Stadt von der Fahrradlobby als nicht sonderlich zweiradfreundlich eingestuft wird.
33
In der Agentur angekommen, bin ich froh,
mich schon ein wenig bewegt zu haben. Und
auch der Kopf ist „durchgepustet“ – so lässt
es sich gleich konzentriert an die Arbeit gehen.
Am Abend ist es ähnlich: Beim Radeln nach
Hause sortiere ich meist noch ein paar Dinge,
die mich tagsüber im Büro beschäftigt haben.
Das hilft, Abstand zu gewinnen.
August 2015
Ein bisschen Angst, dass mir mein Radl
gestohlen wird, habe ich schon. In Hamburg
kommen viele Fahrräder weg. Zu Hause stelle
ich es – gut abgeschlossen – vor die Tür. Ich
könnte es auch in den Keller tragen. Aber
dafür ist es mir zu schwer.
Protokoll: Stefan Weber
Meine Kleidung? Ich steige in jedem Outfit
aufs Rad. Auch mit Rock oder Hosenanzug.
Das Hollandrad verfügt über einen Kettenkasten; da muss ich keine Angst haben, dass
Hose oder Strümpfe schmutzig werden. Vor
Kurzem habe ich mir einen Regenponcho
gekauft, um auch bei leichtem Regen trocken
anzukommen. Viele meiner Kollegen kommen
inzwischen auch mit dem Rad in die Agentur.
Manche im Sportdress, die ziehen sich dann
im Büro um.
Der eine oder andere schmunzelt über den
Lastengepäckträger an meinem Rad. Aber
der ist superpraktisch. Er bietet Halt für
einen großen Korb, in dem sich viele Sachen
verstauen lassen – und zwar so, dass man sie
im Blick hat.
anDrea bluM, 36
Teamleiterin bei der
Kommunikationsagentur
Raikeschwertner in Hamburg
Zukunft
34
Für morgen
Character
35
August 2015
für Morgen
wenn Die glühbirne
Das haus lahMlegt
ist Der trenD zuM sMart
hoMe sinnvoll?
Bis 2020 soll es in Deutschland eine Million Smart Homes geben. Doch was auf
den ersten Blick erstrebenswert erscheint, hat noch seine Tücken. Das Problem:
Es gibt derzeit keinen einheitlichen Standard. Für Verbraucher ist der Markt zu
unübersichtlich und zu kompliziert.
Rául Rojas ist von Natur aus ein neugieriger
Mensch. Und um seine Neugier zu befriedigen,
scheut der Informatikprofessor auch keine
Selbstversuche: Rojas konzipierte 2008 sein
damals im Bau befindliches Privathaus in
Berlin als intelligentes Heim, neudeutsch auch
„Smart Home“ genannt. Intelligent heißt, alle
elektronischen Geräte, vom Kühlschrank bis
zur Heizung, sind in seinem Haus vernetzt
und per Internet über Laptop oder Smartphone
steuerbar.
Er kann weltweit überprüfen, ob er alle Fenster
und Türen geschlossen hat. Egal, wo sich Rojas
auf der Erde befindet, er kann per Smartphone
seine Jalousien herauf- oder herunterlassen.
Auch sämtliche Lichtschalter kann der
Deutsche, geboren in Mexico City, von jedem
beliebigen Ort der Welt bedienen. Immer
vorausgesetzt, er hat Zugang zum Internet.
„Ich wollte wissen, wie ein Smart Home in der
Praxis funktioniert“, erklärt Rojas.
Nun ist Rojas spezialisiert auf künstliche
neuronale Netze an der Freien Universität
Berlin. Wenn nicht er sich für ein Smart Home
begeistert, wer dann? Er selbst beschreibt sich
als „Innovator“ und fügt scherzhaft hinzu:
„Das sind die Leute, die alles kaufen, nur weil
es neu ist.“
licht einschalten per
sMartphone?
Der normale Verbraucher ist jedoch mit den
Funktionen und Produkten eines Smart
Homes, insbesondere mit der Auswahl
verschiedener Systeme überfordert. Mangels
Wissen kann er nur schwer Qualität und
Funktionalität beurteilen. Für die sprichwörtlichen Lieschen Müller oder Otto Meier sind
Begriffe wie „Energy Harvesting“ oder „Interoperabilität“ böhmische Dörfer.
Armin Anders hat sich als Ingenieur und
Mitgründer der EnOcean GmbH bereits seit
Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt und
befindet, dass bislang jeder sein „eigenes Süppchen“ kochte (siehe Interview). In der Vergangenheit hatten Hersteller auf Messen häufig
Funktionen präsentiert, die niemand wirklich
benötigt. So würden laut Anders Hausbesitzer
auch künftig das Licht mit Wandschaltern einund ausschalten wollen – und nicht etwa per
Smartphone.
Eines der Hauptprobleme ist, dass die verschiedenen Systeme nicht miteinander kompatibel
sind. Die Branche verfügt über keinen einheitlichen technischen Standard. Wer heute ein
Haus neu baut, muss sich aus einer Vielzahl
für ein System entscheiden – und ist diesem
dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Diese Abhängigkeit von einem System fällt
insbesondere bei Störungen ins Gewicht.
kleiner fehler,
grosse wirkung
Und die kennt Rojas aus eigener leidvoller
Erfahrung, denn vor genau einem Jahr
ging plötzlich nichts mehr: Sein Haus war
„eingefroren“, der Zustand ähnelte dem eines
abgestürzten Computers. „Die Lampen, die
angeschaltet waren, blieben an. Die Lampen,
die aus waren, blieben aus. Ich konnte
nichts verändern“, erinnert sich Rojas. Der
Informatiker machte sich selbst per Laptop
auf die Suche nach dem Fehler in seinem
Netzwerk und fand eine kaputte Glühbirne,
die aufgrund ihres Defekts pausenlos Fehlermeldungen sendete und damit die Leitungen
im gesamten Haus lahmlegte.
Die Vernetzung erwies sich als Nachteil.
Indem er die Glühbirne vom Netz nahm,
konnte Rojas den Fehler sehr einfach beheben.
Doch ein Normalsterblicher hätte das nicht
gekonnt.
Zukunft
Für morgen
36
Rojas: „Sie kaufen ein System und sind
dann dem einen speziellen Elektriker, der
den Kundendienst für genau diesen Anbieter
macht, ausgeliefert, denn kein anderer Elektriker kennt sich damit aus.“ Entscheidend
für die Nutzerakzeptanz wird seiner Ansicht
nach sein, dass sich die Industrie auf einen
einheitlichen Standard einigt, ähnlich den
Computern: Dort gibt es weltweit nur zwei
Systeme, zwischen denen sich der Verbraucher entscheiden kann. Rojas: „Derzeit gibt
es kein Plug-and-Play.“
einheitliche systeMe
Wesentlich optimistischer gibt sich Bitkom,
der Verband der digitalen Wirtschaft mit
Sitz in Berlin. Laut deren Marktprognose
von Oktober 2014 sei 49 Prozent aller
Deutschen, also fast jedem Zweiten, das
Wort „Smart Home“ ein Begriff. Das heißt
umgekehrt aber auch, dass 51 Prozent der
befragten Deutschen damit nichts anfangen
können. Weniger als die Hälfte, genau 44
Prozent, wissen, was mit „Smart Home“
überhaupt gemeint sein soll. Der Verband
Bitkom prognostiziert dennoch, dass bis
2020 mindestens eine Million deutscher
Haushalte nach dem Prinzip Smart Home
funktionieren.
„Wir sind mit solchen Prognosen vorsichtig,
da diese eine harte Definition des Begriffs
Smart Home voraussetzt. Diese existiert
so aber in der Branche noch nicht“, erklärt
Arnaud Hoffmann, Referent für das Thema
Gebäudeautomation im Zentralverband
Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V.
(ZVEI). Grundsätzlich geht es dem DiplomIngenieur weniger um Gimmicks wie sprechende Kühlschränke, sondern um sinnvolle
Ansätze wie Ambient Assisted Living (AAL),
welches es älteren Menschen ermöglicht,
länger zuhause zu wohnen.
Hoffmann: „Ein intelligentes Raumkonzept
berücksichtigt auch typische Verhaltensmuster
des Bewohners. Wenn beispielsweise morgens
um 10 Uhr noch kein Wasser verbraucht oder
kein Lichtschalter gedrückt wurde, kann das
darauf hindeuten, dass etwas nicht stimmt,
und jemand nachschaut, ob alles in Ordnung
ist.“ Im Zweckbau habe sich die Gebäudeautomation schon durchgesetzt, der Privatmarkt
stehe dagegen noch in den Anfängen.
Es gibt laut Hoffmann zwar schon ein paar
große Anbieter, derzeit drängen aber noch viele
weitere nach. „Für Privatkunden ist der Markt
derzeit noch unübersichtlich. Aber allein die
Tatsache, dass sich Konzerne wie Google, Amazon und Apple für den Markt interessieren,
zeigt schon, wie relevant das Thema für die
Zukunft ist. Und damit wird sich auch die
Anwenderfreundlichkeit verbessern.“
kleines sMart-hoMe-lexikon
Energy Harvesting und Interoperabilität – so smart die neuen
Häuser erscheinen, so umständlich klingen noch die Fachbegriffe.
Welches Vokabular begegnet Verbrauchern derzeit auf der Suche
nach dem intelligenten Heim?
Aktor
setzt Informationen wie die Daten eines Sensors in eine aktive
Funktion um, indem er Geräte steuert.
Beispiele: ein Aktor, der das Licht einschaltet oder die
Auf- / Abwärtsbewegung von Jalousien aktiviert oder das
Ventil am Heizkörper auf- bzw. zudreht.
BUS
ist ein Leitungssystem, das in einem neu zu bauenden Smart
Home installiert wird, um Daten und / oder Energie zwischen
verschiedenen elektronischen Geräten wie Sensoren und
Aktoren auszutauschen. Die Kommunikation läuft über das
installierte BUS-System.
Sensor
misst physikalische oder chemische Größen wie Temperatur,
Feuchtigkeit, Helligkeit und kommuniziert mit dem Aktor.
Energy Harvesting
bezeichnet das Ernten von Energie, die in der Umgebung sowieso vorhanden ist. Das können Temperaturunterschiede in
einem Raum sein, aber auch die Energie, die durch das Drücken einer Taste entsteht, oder Licht.
Es macht Batterien, z. B. in Sensoren oder Aktoren, überflüssig und damit auch den lästigen Batteriewechsel.
Funklösung
ersetzt Kabel und ist damit auch für bereits bestehende Häuser eine denkbare Lösung, ohne deren Wände aufreißen zu
müssen, um dort neue Kabel zu verlegen (siehe BUS).
Interoperabilität
Geräte eines Systems funktionieren miteinander, auch wenn
sie von verschiedenen Herstellern stammen.
www.bethmannbank.de
Character
August 2015
37
„nieManD will Mit seineM kühlschrank sprechen.“
DoCh Das sMart hoMe ist ein Muss:
intervieW Mit FaChMann arMin anDers
Armin Anders, 51, ist Vice President Business Development und Mitgründer der
EnOcean GmbH. Das Unternehmen mit 50 Mitarbeitern in Oberhaching bei
München wurde 2001 als Spin-off der Siemens AG gegründet.
EnOcean ist Entwickler und Hersteller von batterielosen Funksensoren.
Herr Anders, bei dem Thema „Smart Home“
taucht immer wieder der Begriff „sprechender
Kühlschrank“ auf. Wird es den bald geben?
Nein, ich glaube, niemand will mit seinem Kühlschrank sprechen. Aber dieses Bild hält sich so
hartnäckig, weil es griffig ist. Das „intelligente
Heim“ entwickelte sich nicht von Küchengeräten,
sondern sein Ursprung liegt in der Automation der
Klimatisierung, Beschattung und Beleuchtung von
Gebäuden.
Warum brauchen Menschen überhaupt
ein Smart Home?
Auf den ersten Blick klingt Smart Home vielleicht
nach Spielerei und Luxus. Vor 20 Jahren dachten aber
auch viele Autofahrer, dass elektronische Fensterheber unnötig seien. Smarte Lösungen im Haus sparen
Energie und bieten Sicherheit sowie Prestige. Die
intelligente, eben „smarte“ Regelung von Lüftung,
Klima, Beschattung und Beleuchtung wird in absehbarer Zeit fester Bestandteil von Wohnungen und
Privathäusern sein.
Wie lässt sich denn damit Energie sparen?
Ein entscheidendes Stichwort lautet hier „intelligente
Einzelraumregelung“: Dabei steuern Temperatursensoren, Bewegungsmelder, Heizkörperstellventile
und Schalter als kleine Helfer die Raumtemperatur
optimal entsprechend der Bedarfssituation und der
persönlichen Bedürfnisse. Damit lässt sich bis zu 30
Prozent Energie einsparen. Wenn Sie berücksichtigen,
dass 40 Prozent des Weltenergiebedarfs vor allem für
das Heizen oder Kühlen von Gebäuden verwendet
wird, ist das Smart Home keine Option mehr, sondern ein Muss.
Bislang hat sich das Smart Home nicht
durchgesetzt. Warum?
Zum einen waren die Systeme verschiedener Hersteller bislang nicht kompatibel, jeder kochte sein
eigenes Süppchen. Ingenieure neigen zudem dazu,
nach komplizierten Lösungen zu suchen: Auf Messen
wurde bislang immer vorgeführt, wie man mit dem
Smartphone das Licht an- und ausschalten kann,
doch das braucht kein Mensch wirklich. Ein praktischer Grund ist auch, dass viele Smart-Home-Installationen nur mit Kabellösungen machbar waren. Das
bedeutete, dass man in bereits gebaute Häuser nicht
mehr reinkommt, weil es teuer, aufwendig und nicht
schön ist.
Text: Geraldine Friedrich
Zukunft
38
12 Dinge,
die man tun sollte
12 Dinge, Die Man tun sollte
von Der intelligenz Der
kleinen schritte unD
DeM glück Der grossen
gefühle
Wie in ihrem Cellospiel, so findet Sol Gabetta auch im Leben immer wieder
Harmonie und Gleichgewicht, wohl wissend, dass Balance niemals statisch,
sondern ein ständiges Schwingen in feinsten Nuancen ist.
12 Dinge, die man tun sollte
1. Den eigenen gefühlen
unD überzeugungen
folgen.
2. Melancholie
zulassen.
3. Mehr geben als nehMen.
Das Macht glücklich.
4. singen – auch wenn Man
glaubt, Man sei nicht
Musikalisch. JeDer kann
singen.
5. iM augenblick sein.
6. wenigstens einMal iM
Jahr für zwei wochen
nichts tun. freunDe
sehen, sich verwÖhnen
lassen.
7. so oft wie MÖglich
Mit Der faMilie
zusaMMen sein.
8. lieber kleine schritte
gehen als grosse
sprünge Machen.
www.bethmannbank.de
9. üben, üben, üben!
Das leben ist ein
lernprozess.
10. zeit nicht nur verbrauchen, sonDern ihr
rauM geben. zeit Muss
klingen.
11. nach argentinien
reisen!
12. einen lÖwen
streicheln.
Character
39
August 2015
Gegenwart
40
Der Schein trügt:
Die Tempelarchitektur ist nicht in Japan, sondern in
Düsseldorf zu finden. Die Stadt ist einer der bedeutendsten
Lebens- und Wirtschaftsstandorte außerhalb Japans.
www.bethmannbank.de
MehrWerte
Character
41
August 2015
Mehrwerte
klein-tokio
aM rhein
JaPanisChe kultur
in DüsselDorF
Fremde Länder, fremde Sitten – stimmt das noch? Deutschland ist längst Heimat geworden für Menschen aus unzähligen Ländern auf der ganzen Welt. Mit ihrer Kultur und ihren
Werten prägen sie das Miteinander in zahlreichen Städten.
Grund genug für CHARACTER, diesen „MehrWerten“
nachzuspüren. Den Auftakt macht die nordrhein-westfälische
Landeshauptstadt, die nicht nur bekannt ist für Mode und
Altbier, sondern auch als Heimat für Tausende von Japanern.
Der Mann schlendert nicht, er geht zielstrebig
die Immermannstraße im Herzen Düsseldorfs
entlang. Im dunklen Anzug mit Krawatte,
die grauen Haare akkurat gescheitelt. Yasuo
Inadome (54) hat vieles der deutschen Kultur
angenommen, allerdings nicht das langsame
Spazieren.
Düsseldorf gilt in Europa als Zentrum der
japanischen Bewegung – „Klein-Tokio“
sozusagen. Und die Immermannstraße mit
ihrer Mischung aus japanischen Backwarengeschäften und Vertriebsniederlassungen
japanischer Maschinenbauer verrät ein Stück
der Geschichte, warum Inadome als 25-Jähriger seine Geburtsstadt Tokio verließ, um im
Rheinland zu leben.
„Der Reichtum an Natur und Kultur führte
mich nach Deutschland, um hier die Sprache
zu lernen – und schließlich bin ich für mein
Unternehmen im Rheinland geblieben“, er-
klärt Inadome, European Compliance Officer
beim Optikgerätehersteller Topcon Europe.
Inadome, der deutsche Geschichte studiert
hat, wählt seine Worte sehr überlegt. In
seiner Freizeit fungiert er als ehrenamtlicher
Vorstandssprecher des Japanischen Clubs –
dem zweiten Zuhause vieler Japaner in
Düsseldorf. 1964 gründeten Kaufleute und
Unternehmen besagten Club, der heute gleich
um die Ecke in der Oststraße liegt.
Mehr als 8.000 Japanische
einwohner
Mit japanischem Fernsehprogramm und
einer Bibliothek mit Originalliteratur und
Manga-Comics wirken die Räume auf den
ersten Blick wie ein Refugium für Exilanten,
die sich nach der Heimat sehnen. Doch der
Eindruck täuscht: „Ich kenne keinen Japaner,
der gerne aus Deutschland nach Japan zurückgekehrt ist“, meint Inadome.
Japaner wurden schon 1951 mit offenen
Armen am Rhein empfangen – als Einkäufer
für schwerindustrielle Waren, die das durch
den Krieg stark zerstörte Japan dringend
zum Wiederaufbau benötigte. Stahl und
Maschinenbauteile wurden gleich nebenan
im „Ruhrpott“ zwischen Essen und Bochum
hergestellt. In Düsseldorf, dem „Schreibtisch des Ruhrgebiets“, entstanden in der
Immermannstraße die ersten Büros für die
Geschäftsleute.
Heute leben mehr als 8.000 Landsleute in
und um Düsseldorf. Viele werden mit ihren
Familien bis zu fünf Jahre von japanischen
Unternehmen an den Rhein entsandt, was
einer Auszeichnung gleichkommt.
Gegenwart
42
MehrWerte
Willkommen im Club: Yasuo Inadome, Vorstandssprecher des Japanischen Clubs, hat mehr als
sein halbes Leben im Rheinland verbracht.
fleiss, orDentlichkeit unD
pünktlichkeit
Die Jahre in Deutschland sind für viele
Japaner verbunden mit der Aussicht auf
weniger Zwänge. „Das Leben in Japan
verläuft oftmals viel hektischer und bietet
wenige Möglichkeiten, Zeit mit der Familie zu
verbringen – das ist in Deutschland anders“,
berichtet Inadome.
Auf der anderen Seite fühlten sich die Volksseelen geradewegs zueinander hingezogen:
„Wir haben eine ähnliche Mentalität, wir
wissen Fleiß, Ordentlichkeit und Pünktlichkeit zu schätzen.“ Fremdenfeindlichkeit ist
Inadome im Rheinland noch nie entgegengeschlagen – genauso wenig wie der japanischen Gemeinschaft. „Ich kenne niemanden,
der hier Probleme hat.“
Viel eher ist der Vorstandssprecher des Japanischen Clubs so intensiv mit der deutschen
Lebensweise verbunden, dass er nicht nur
Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises
der CDU in seiner Heimatgemeinde Viersen
ist, sondern auch beim jährlichen Schützen-
umzug mitmarschiert. „Das ist jedes Jahr ein
ganz besonderes Erlebnis für mich, genauso
wie die Karnevalsumzüge, an denen sich der
Japanische Club beteiligt.“
Andererseits wächst das Interesse der Deutschen an der japanischen Kultur immer
mehr – schließlich präsentiert sich Japan jedes
Jahr direkt vor der Haustür: Das Japan-Fest,
das zuletzt im Mai am Düsseldorfer Rheinufer stattfand, zählt mit 650.000 Besuchern
aus ganz Deutschland zu den größten seiner
Art in Europa. Die Besucher wickelten Kimonos, falteten Origami, erlernten Kampfkunst –
und wollten vor allem den Manga- und
Anime-Figuren der japanischen Comic-Kunst
mit den schrillen Kostümen und Langhaarperücken nahe sein.
Deren meist deutsche Fans treffen sich seit
wenigen Jahren zu Tausenden auf der DoKomi,
einer japanischen Comic-Kulturveranstaltung
in der Düsseldorfer Messe. Der wachsende
„offene Charakter“ vieler Deutscher schafft so
gelungene Integration in beide Richtungen –
und das, obwohl die meisten Japaner nicht
dauerhaft nach Deutschland emigrieren.
www.bethmannbank.de
auf Japanischen spuren
Inmitten der hohen, zweckmäßigen Nachkriegsgeschäftshäuser in der Immermannstraße schlägt das japanische Herz der
nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt.
Wer traditionelle Gerichte wie Sushi und
Ramen, japanische Küchenkräuter in Pflanzkübeln oder Haushaltswaren wie die scharfen
Santoku-Kochmesser sucht, wird dort fündig.
„Die kaufen hier allerdings nur Deutsche und
Touristen“, meint Inadome im Vorbeigehen.
Düsseldorf ist mit seinen weitläufigen Promenaden, Grünflächen und gerade einmal
600.000 Einwohnern zwar kein Vergleich zu
Tokio, der größten Metropolregion der Welt mit
38 Millionen Menschen. Doch das DeutschJapanische Center, ein 70er-Jahre-Hochhaus
mit zahlreichen Büros japanischer Firmen, verschiedenen japanischen Restaurants, Friseuren,
Lebensmittelgeschäften und einem fernöstlichen Mobilfunkanbieter, ist der Ausdruck
des bedeutendsten japanischen Zentrums in
Europa nach London und Paris.
Character
43
wir haben eine
ähnliche Mentalität,
wir wissen fleiss,
orDentlichkeit
unD pünktlichkeit
zu schätzen.
Yasuo Inadome
Kommerz und Kultur: Die Immermannstraße
(oben) ist Mittelpunkt japanischen Lebens in
Düsseldorfs, der japanische Garten im Stadtteil
Oberkassel dient als Rückzugsort.
August 2015
Gegenwart
Im Nikko-Hotel steigen vorwiegend
japanische Geschäftsleute ab. Dort zieht
es Inadome in den Laden mit deutschen
Luxusartikeln. „Japaner bringen am liebsten
edle Geschenke mit nach Hause – zum
Beispiel Heinemann-Pralinen und FeilerHandtücher, damit macht man nie etwas
verkehrt“, sagt Inadome, der selbst einmal
im Jahr geschäftlich nach Japan reist.
44
Schriftzeichen prangen auf einer großen
Tafel die beliebtesten deutschen Reiseziele:
Schloss Neuschwanstein, Rothenburg ob
der Tauber, Münchner Hofbräuhaus. „Die
Touren mit Reiseführer werden speziell
für die japanische Gemeinschaft hier in
Düsseldorf angeboten“, erklärt er. „Ich reise
auch am liebsten durch Deutschland, aber
ohne Fremdenführer.“
wirtschaftsfaktor Japan
In der Region Düsseldorf sind rund 580
japanische Firmen tätig, davon rund 360
in der Landeshauptstadt selbst. In Nordrhein-Westfalen beschäftigen japanische
Unternehmen mehr als 35.000 Menschen,
die Tochtergesellschaften setzen jährlich
35 Milliarden Euro um. Das „Land der
aufgehenden Sonne“ ist längst zu einem
Wirtschaftsfaktor in der Metropolregion
geworden. Seit vergangenem Jahr gibt es
sogar Direktflüge von Düsseldorf nach Tokio. Vier japanische Kindergärten und eine
japanische Internationale Schule, die schon
1971 gegründet wurde, machen Düsseldorf
zum bevorzugten Wohnort für Mitarbeiter
mit Kindern.
Das leben in Japan
verläuft oftMals
viel hektischer
unD bietet wenige
MÖglichkeiten,
zeit Mit Der faMilie
zu verbringen –
Das ist in DeutschlanD anDers.
Yasuo Inadome
Inadome hält am Schaufenster des Reisebüros „Fuji Rhein“ inne. In japanischen
MehrWerte
ein teMpel aM rhein
In Düsseldorf haben sich außerdem zahlreiche
japanische Künstler niedergelassen. Japanische
Musiker interpretieren klassische europäische
Musik vorzugsweise im prächtigen RobertSchumann-Saal des Museums Kunstpalast.
Für japantypische Kultur müssen Besucher
indes auf die linke Rheinseite in den Stadtteil
Niederkassel fahren, empfiehlt Inadome: Im
japanischen Kulturzentrum EKO-Haus liegt
ein buddhistischer Tempel inmitten japanischer
Gärten.
Geschwungene Dächer, klassische Schiebetüren, ein Glockenturm – alle Details muten
fernöstlich an. Die Anlage, 1992 eröffnet, ist
das erste und einzige in Europa von Japanern
erbaute buddhistische Heiligtum. Wer statt
Altbier-Verkostung in der Düsseldorfer Altstadt lieber einer asiatischen Teezeremonie
beiwohnen möchte, hat dort die Gelegenheit.
Allerdings: Gläubige Japaner trifft man dort
nur wenige. „Viele meiner Landsleute sind
religionslos und sehr tolerant“, beobachtet
Inadome. Religiöse Traditionen nutzen sie je
nach Lebensereignis, zum Beispiel für Hochzeiten oder Taufen. Ein Modell, das auch viele
Deutsche so umsetzen.
Text: Petra Schäfer
Buddhistische Heiligtümer:
fester Bestandteil des japanischen
Alltags am Rhein.
www.bethmannbank.de
Character
45
August 2015
Sushi statt Sauerbraten: Yasuo Inadome
kehrt mit Geschäftspartnern gerne im
Sushi-Restaurant ein. Privat bevorzugt
er deutsche Küche.
Japan-tipps für DüsselDorf-besucher:
EssEn gEhEn
Kikaku, Klosterstraße 38 – ältestes und renommiertestes Sushi-Lokal in Düsseldorf
Nagaya, Klosterstraße 42 – japanisches Sterne-Restaurant für Feinschmecker
EinkaufEn
Dae-Yang Asiatische Lebensmittel, Immermannstraße 21 – breites Sortiment von japanischen
Limonaden bis hin zu frischen Kräutern der japanischen Küche
kultur ErlEbEn
EKO-Haus der Japanischen Kultur e. V., Brüggener Weg 6 –
buddhistischer Tempel, japanischer Garten, Teeraum, Seminarräume
DoKomi, Anime-, Manga- und Japan-Convention –
einmal jährlich im Mai stattfindende Kulturtagung in der Messe Düsseldorf
Gegenwart
46
Zahlen, Bitte!
Zahlen, bitte!
Seit 450
Millionen Jahren existieren Pilze auf der
Erde. Sie besiedelten damals zusammen mit
Urpflanzen wie Farnen die Landmasse.
› Austernseitlinge
pilze
Er gilt eigentlich weder als Tier noch als
Pflanze, er ist das größte Lebewesen der
Welt und er kann tödlich sein: der Pilz.
Pilze gehören zu den ältesten und häufigsten Lebewesen auf der Erde. Dennoch
sind sie bis heute kaum erforscht.
3
bekannte „Lebensreiche“ hat man bis ins 20.
Jahrhundert in der Biologie unterschieden:
Tiere, Pflanzen und Pilze, lateinisch Fauna,
Flora und Fungi. Im 19. Jahrhundert galten
Pilze dagegen noch als Pflanzen. Doch das
sind sie nicht, denn Pilze beherrschen keine
Fotosynthese. › Spitzmorcheln
14.400
Pilzarten wachsen laut Bundesamt für Naturschutz in Deutschland, 10.300 Pflanzenarten
und rund 48.000 Tierarten. Doch nach neuen
wissenschaftlichen Erkenntnissen beträgt das
Verhältnis von Pflanzen zu Pilzen eins zu
sechs. Konkret heißt das: Wenn in Deutschland
10.300 Pflanzenarten wachsen, müssten
schätzungsweise rund 60.000 verschiedene
Pilzarten vorhanden sein. › Krause Glucke
80 bis 90
Prozent aller Pflanzen, so nimmt man an, werden in ihrem Wachstum durch Pilze gefördert.
Das ist auch der Grund, warum bestimmte
Pilzarten gerne in der Nähe bestimmter
Baumarten wachsen. › Schwefelporling
Mehr als 300
Pilzvergiftungen meldete die Giftnotrufzentrale
für das erste Dreivierteljahr 2014 und damit
doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum.
› Spitzmorcheln
www.bethmannbank.de
Character
August 2015
47
100
Prozent unzuverlässig als Bestimmungsmerkmale sind Farbe und Größe
eines Pilzes, denn beides hängt stark von Boden und Witterung des Pilzstandorts ab. Wer Pilze sicher für den eigenen Verzehr sammeln möchte,
sollte sich die gesammelten Exemplare entweder von einem Pilzsachverständigen freigeben lassen oder wenigstens einen Anfängerkurs besuchen.
› Pfifferlinge
Etwa 150
Pilzarten gelten in Deutschland als giftig,
davon sind allerdings nur wenige tödlich.
Zu Letzteren zählen der bekannte Grüne
Knollenblätterpilz und der weniger bekannte
Orangefuchsige Raukopf sowie der Spitzgebuckelte Raukopf. Rauköpfe verursachen das
sogenannte Orellanus-Syndrom. Die LD50,
also die letale Dosis, bei der 50 Prozent der
Probanden sterben, liegt bei nur 50 bis 100
Gramm frischen Pilzen. › Eichhase
2
Pilzarten gelten roh verzehrt als unbedenklich.
Dabei handelt es sich um Champignons und
Steinpilze. Für alle anderen Arten gilt: nie roh
verzehren. Arten wie Morcheln oder Krause
Glucke, auch Fette Henne genannt, sind roh
sogar giftig für Magen und Darm.
› Lilastieliger Rötelritterling
409
Pilzsachverständige hat die Deutsche Gesellschaft für Mykologie (DGfM) in ihrer Liste
verzeichnet. Diese Pilzexperten verteilen sich
über die gesamte Bundesrepublik, haben sich
über Jahre fortgebildet, eine Prüfung abgelegt
und dürfen offiziell Pilze zum Verzehr freigeben.
› Flaschenstäublinge
1
Kilogramm pro Person und Tag gelten aus Naturschutzsicht als akzeptable
Sammelmenge. Wer mehr sammelt und beispielsweise in Südbaden vom
deutschen Zoll erwischt wird, bezahlt 100 Euro je zu viel gesammeltem
Kilo. Die Pilze werden konfisziert und einem sozialen Zweck gespendet.
› Shitake
9
Quadratkilometer misst das größte Lebewesen
der Erde. Der sogenannte Riesen-Hallimasch
wurde im Jahr 2000 entdeckt und wächst seit
2.400 Jahren in der Erde des Malheur National Forest in Oregon, USA. › Leberreischling
Text: Geraldine Friedrich
Gegenwart
48
Kleine Schätze
des Alltags
kleine schätze Des alltags
Der Alltag ist voll von kleinen Gegenständen:
Taschentücher, Messer, Streichhölzer, Kaffeemaschinen oder Kugelschreiber –
sie alle gelten heute als so selbstverständliche Accessoires
des täglichen Lebens, dass sie kaum noch eines Gedankens oder eines zweiten
Blicks würdig erscheinen. Dabei sind sie oft unentbehrlich und besitzen
eine lange Geschichte. Grund genug, die „kleinen Schätze des Alltags“ einer
genaueren Betrachtung zu unterziehen.
www.bethmannbank.de
Character
49
August 2015
„hatschi!“
kulturgesChiChte unD bakterien:
Das tasChentuCh
Nicht nur beim Naseputzen kommt das
Taschentuch zum Einsatz. Man muss mit ihm
auch winken können, den Schweiß abwischen,
es dekorativ in die Jackentasche stecken, Tränen
trocknen, Lippenstift entfernen, es unbemerkt
fallen lassen und in Notfällen vor Mund und
Nase halten können.
Der Weg, den das Taschentuch zur Nase
nimmt, ist zunächst ziemlich lang. Am Anfang
seiner Karriere diente das kleine textile Quadrat
als Sonnenschutz. Französische Fashionistas
nannten es im 16. Jahrhundert „couvrechef“,
Kopfbedeckung, woraus die Engländer
„kerchief“ machten. Und da man das Tuch,
wenn man es nicht benutzte, in der Hand trug,
gab man ihm den Namen „handkerchief“.
Dieses modische Accessoire feiner Damen war
aus besticktem Leinen, aus Spitze oder Seide.
Oft wurden Silber- oder Goldfäden eingewebt.
Kein Wunder, dass frühe Testamente Taschentücher häufig als Wertsachen aufführten. Im
täglichen Leben dienten die Tüchlein (ähnlich
dem Fächer) der kultivierten Annäherung
von Mann und Frau. Taschentücher ließ man
kokett zu Boden fallen, man fand sie klopfenden Herzens und sammelte sie als Trophäe
einer Liebe. Was waren das für Zeiten, als
verfeinerte Lebensart noch der Verführung
des anderen Geschlechts galt und nicht dem
profanen Naseputzen! Dafür war der Mensch
im 16. Jahrhundert noch nicht auf dem
Höhepunkt der Zivilisation: Man schnäuzte
kräftig auf den Boden und wischte sich danach
die Nase am Jacken- oder Hemdärmel ab,
weshalb Erasmus von Rotterdam im Jahr 1530
notierte: „Die Nase am Ärmel abzuwischen, ist
Bauernart. Richtig ist es, ein Taschentuch dafür
zu nehmen.“ Gut 200 Jahre später konnte das
auch tödlich sein: „Was, er schnäuzt sich nicht
durch die Finger?“, schreit ein französischer
Revolutionär in Georg Büchners Drama
„Dantons Tod“ und schließt: „Er hat ein Taschentuch – er muss ein Aristokrat sein. Hängt
ihn auf!“
stoff für hygiene unD MoDe
Dennoch muss der Gebrauch eines Taschentuchs nicht zum Tod führen. Im Gegenteil! Als
im 19. Jahrhundert entdeckt wurde, dass Keime
durch die Luft übertragen und Krankheiten
sowie Seuchen durch Tröpfcheninfektionen
ausgelöst werden, führte dies zur Verbreitung
des Nasenputzens mittels Taschentuch. Dass
heute nur noch wenige Männer ein Tuch aus
feinstem Leinen mit handgerollten Kanten aus
ihrer Hosentasche zu ziehen vermögen, mag
man beklagen. Immerhin lugt das textile Tuch
als Pochette – gefaltet oder blumig quellend –
aus der Brusttasche manch eleganten, doch
etwas zum Dandyismus neigenden Mannes
heraus. Zum Schnäuzen dient es dort natürlich
nicht. Die Zeiten sind schneller geworden.
Für Mann und Frau. Tempo also!
von Männernasen spät
entDeckt
Das Papiertaschentuch ist ein Kriegsgewinnler.
1914 wurde als Filter für die Gasmasken von
US-Soldaten im Ersten Weltkrieg Cellucotton,
ein neuer, baumwollähnlicher, wattiger Stoff
in so großen Mengen hergestellt, dass die
Kaufhäuser nach dem Krieg davon riesige
Restbestände übrig hatten. Diese bot man nun
Frauen unter der Markenbezeichnung „Kleenex
Kerchiefs“ zur Reinigung von Schminke, Puder
und Lippenstift an. Kleenex-Tücher boomten
und bald klagten die Damen, ihre Männer
würden sich mit diesen Schönheitspflegetüchern die Nase putzen.
Sofort pries der Hersteller Kimberley-Clark
seine Kleenex-Tücher auch als Taschentücher
an. Und so wurden sie 1924 in den USA zum
Inbegriff der Papiertaschentücher. Nur fünf
Jahre später brachten die Vereinigten Papierwerke Nürnberg erstmals in Deutschland ein
saugfähiges, weiches, reißfestes Papiertaschentuch auf den Markt. Sein Name: Tempo! Jetzt
hatte das Textiltaschentuch als Brutstätte für
Bakterien ausgedient.
Das Tempo-Taschentuch setzte sich sofort als
ein großer Fortschritt auf dem Gebiet banaler,
doch hygienesicherer Lebensgewohnheiten
durch. Einmal benutzt und schon weggeworfen,
verhindert es Re-Infektionen. Tempo-Taschentücher sind aus reinem Zellstoff, sauerstoffgebleicht und nach der Entsorgung umweltfreundlich abbaubar. Hierzulande ist Tempo
Synonym für das Papiertaschentuch an sich.
Sein Hersteller preist es nach eingehender
Produktverbesserung als „durchschnupfsicher“.
Na dann: Hatschi ... Gesundheit!
Text: Pascal Morché
Zukunft
50
Zwischen kommerziell
und karitativ
Sicher dank Sport: Der Safe-Hub-Fußballplatz
in Khayelitsha bei Nacht – ein sicherer
Zufluchtsort für Kinder und Jugendliche im
sozialen Brennpunkt.
zwischen koMMerziell unD karitativ
Mit Der kraft Des
fussballs
aManDla eDuFootball
Die junge Hilfsorganisation AMANDLA EduFootball bietet Kindern und Jugendlichen
in sozialen Brennpunkten Südafrikas Lebensperspektiven. Das Konzept könnte bald
weltweit soziale Gerechtigkeit fördern – und zwar über den Sport.
www.bethmannbank.de
Character
51
August 2015
„aManDla“
koMMt aus Den
sprachen xhosa
unD zulu, beDeutet
„stärke“ unD wurDe
als freiheitsruf
Der anti-apartheiDbewegung bekannt.
Wie eine saubere, strahlende zweite Welt
liegt der Fußballplatz inmitten eines Meeres
graubrauner, ärmlicher Hütten. Ein hoher
Zaun trennt Wellblech von makellosem
Kunstrasen, Flutlicht von spärlichen Lampen.
Der Anblick des „Safe-Hubs“ könnte nicht
extremer und gleichzeitig nicht hoffnungsvoller
sein. Denn der Zaun soll nicht ausgrenzen,
er soll die, die am meisten leiden, fördern
und schützen: Kinder und Jugendliche in der
Township Kayelitsha am Rande von Kapstadt.
Auf dem Gelände des gemeinnützigen Vereins
AMANDLA EduFootball können sie für ein
paar Stunden am Tag Zuflucht finden vor
ihrem harten Alltag – und letztlich ihre eigene
Lebensperspektive nachhaltig verbessern.
sport statt gewalt
Kayelitsha ist eine der größten Townships in
Südafrika: Mehr als 400.000 Einwohner leben
in meist ärmlichen Verhältnissen, in der Kriminalitätsstatistik für das Western Cape rangiert
die Township unter den gefährlichsten Orten.
Kinder lernen dort in der Regel zuzuschlagen,
nicht zuzuhören. Mit dem Fußballplatz, den
die amerikanische CTC Ten Stiftung 2008 auf
Vermittlung von AMANDLA-Gründer Florian
Zech (28) auf dem verwahrlosten Gelände
einer Schule in Kayelitsha errichtete, entstand
schnell die Keimzelle der Hilfsorganisation.
Zech und sein Freund Jakob Schlichtig (29)
entwickelten das sogenannte „Safe-HubModell“: Auf dem umzäunten Platz mit
angrenzendem Seminargebäude und zentraler
Zugangskontrolle erleben die Kinder aus dem
sozialen Brennpunkt emotionale und physische
Sicherheit. Sie werden von geschulten Mitarbeitern – meistens junge Erwachsene aus der
unmittelbaren Nachbarschaft – betreut, können
an Fußball-Bildungsprogrammen teilnehmen
und sich weiterbilden. Die „Youth Leaders“
sind dabei in der Regel selbst ehemalige Bandenmitglieder, die von AMANDLA aufgeklärt
und gefördert worden sind.
Die Wirkung ist verblüffend: Mithilfe von
Partner-Universitäten kann die Organisation
anhand offizieller Daten nachweisen, dass
Gewalt und Kriminalität im Einzugsgebiet des
Safe-Hubs messbar zurückgehen und dass sich
die Schulleistungen der teilnehmenden Mädchen und Jungen signifikant verbessern.
voM proJekt zur bewegung
So entsteht aus dem ersten Projekt allmählich
eine Bewegung: Zwar ist Südafrika als
Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft
2010 mit enthusiastischen Fußballfans und
beeindruckenden Stadien gesegnet, aber für die
Jugendarbeit fehlen vor allem in der mehrheitlich schwarzen, armen Bevölkerung die Mittel
und Konzepte. Seit 2014 trägt die südafrikanische Regierung deshalb einen Großteil der
laufenden Kosten des Safe-Hubs in Kayelitsha.
Mit Beteiligung der Oliver Kahn Stiftung und
weiteren Partnern ist gerade ein zweiter SafeHub-Fußballplatz zwischen den verfeindeten
Townships Gugulethu und Manenberg bei
Kapstadt entstanden. Der Ex-Nationaltorhüter
engagiert sich auch für weitere Projekte in
Johannesburg und erstmals in Berlin. Bis 2020
wollen die Partner zehn Safe-Hubs weltweit
realisieren. Sie glauben daran, dass die Kraft
des Fußballs überall auf der Welt junge Menschen stärken und mit ganzheitlicher Bildung
ihr Leben verändern kann.
Zukunft
52
Zwischen kommerziell
und karitativ
gutes tun – aber Mit kühleM kopf
intervieW Mit Jakob sChliChtig,
gesChäFtsFührer von aManDla eDuFootball e.v.
Er ist der Start-up-Unternehmer unter den Helfern: Jakob Schlichtig (29), Co-Gründer und
Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins AMANDLA EduFootball, hat in kurzer Zeit
gemeinsam mit Florian Zech ein erfolgreiches deutsch-südafrikanisches Entwicklungsprojekt
auf die Beine gestellt. Dabei ist er vorgegangen wie bei der Gründung eines normalen Unternehmens. Zu seiner Arbeitsweise passt auch das Gespräch, das CHARACTER mit ihm
geführt hat: zeitgemäß und effizient per Internetdienst Skype.
für dringend notwendig. Vielleicht fühle
ich mich auch deshalb nicht allzu wohl im
oftmals sehr emotional getriebenen Sozialunternehmerumfeld.
Herr Schlichtig, warum haben Sie sich
dazu entschlossen, Ihr Wissen als studierter Betriebswirt ausgerechnet in den
Aufbau einer gemeinnützigen Organisation zu investieren?
Als ich meinen langjährigen Freund
Florian 2009 in Kapstadt besucht habe
und miterleben konnte, wie er mit einer
selbst aufgebauten Fußballliga und eigens
entwickelten Bildungsprogrammen für die
Betreuungseinrichtungen und Waisenhäuser
in den Townships die Kinder begeisterte, da
hat es mich gepackt. Viele Kinder haben gar
kein richtiges Zuhause, sie kommen aus zerrütteten Familien. Wir – beide aus behüteten
Verhältnissen im Chiemgau – haben das
Feuer gespürt, Dinge zu bewegen. Ich musste
nicht lange überlegen, was ich mit meinem
Bachelor in BWL anfangen soll.
Passen die Wirtschaftsdenke und die
Gemeinnützigkeit zusammen?
Wer Gutes tun will, sollte das mit kühlem
Kopf angehen – so wie man es bei der
Gründung eines normalen Unternehmens
auch macht. Unser Ansatz ist wirtschaftlich
fundiert mit dem Zweck, sozialen Wandel
voranzutreiben. Ich halte die Professionalisierung unserer sozialen Sparte in Deutschland
Wie haben Sie das konkret gemacht –
ohne großes Netzwerk im Non-ProfitSektor den Verein AMANDLA in
Deutschland und Südafrika zu gründen?
Florian hatte über seine Arbeit in einem
Waisenkinderheim in Kayelitsha einen
ausgebildeten Streetworker kennengelernt,
der unsere Idee sofort unterstützte und die
sozialpädagogischen Konzepte mit uns und
den jungen Menschen vor Ort ausgearbeitet
hat. Schließlich waren wir inhaltlich-pädagogisch komplette Anfänger! Außerdem hat
uns ein Anwalt geholfen, eine Non-ProfitOrganisation nach südafrikanischem Recht
aufzusetzen. Als wir 2010 starteten, haben
wir die ersten Spenden in den Aufbau unserer Website und in gute Fotos investiert, also
in den Auftritt des Projekts nach außen. Nur
so konnten wir die Akquise weiterer Spenden
vernünftig betreiben. Parallel haben wir von
Anfang an in ein schlagkräftiges Team und
die stetige Weiterentwicklung der Bildungsprogramme investiert, um gemeinsam unsere
Vision verwirklichen zu können.
Und Sie hatten das Glück, im Jahr der
Fußballweltmeisterschaft in Südafrika
zu starten. Wie haben Sie diesen Aufmerksamkeitsschub für sich genutzt?
Die ersten Unternehmen sind im Vorfeld
der WM auf uns aufmerksam geworden.
Außerdem habe ich eine Tournee durch
www.bethmannbank.de
deutsche Rotary Clubs gemacht und unsere
Idee präsentiert – das war sehr lehrreich für
mich, denn viele gestandene Geschäftsleute
haben unser Projekt sehr kritisch hinterfragt.
Viele der ersten Spenden kamen über unsere
persönlichen Kontakte von Privatpersonen,
die bis heute mit viel Engagement AMANDLA
unterstützen.
Den entscheidenden Durchbruch für
AMANDLA haben Sie aber anders erreicht. Zum Beispiel mit der Beteiligung
der Oliver Kahn Stiftung.
Oliver Kahn hat uns 2013 das erste Mal in
Südafrika besucht, um sich persönlich einen
Eindruck von den gemeinsamen Projekten zu
verschaffen und den direkten Kontakt zu den
Kindern und Coaches aufzubauen. Auf Basis
der erfolgreichen Zusammenarbeit in Kapstadt
und Johannesburg planen wir nun ein gemeinsames Projekt in Berlin. Uns war von Anfang
an klar, dass wir die Expertise um uns herum
zu verschiedenen Themen vernetzen müssen,
um mit unserer Idee erfolgreich zu sein.
Worauf stützen Sie Ihre Arbeit und Ihre
Erkenntnisse?
Wir haben früh mit der University of Cape
Town und der University of the Western
Cape zusammengearbeitet – beide haben
großes wissenschaftliches Interesse an sozialen
Bewegungen und sogenannten „Grassroots“Organisationen, die direkt an der Basis
arbeiten. Die University of Cape Town beteiligt
sich auch aktuell noch an der Forschung und
Entwicklung unseres Modells: Wir wollen dem
enormen Maß an sozialen Konflikten auf der
Character
53
August 2015
Fußball und Bildung: AMANDLA vermittelt
den Kindern Fair Play und damit spielerisch
ein positives Wertesystem.
Welt entgegentreten, weil wir davon ausgehen,
dass soziale Grundkonflikte wie Jugendarbeitslosigkeit und -gewalt weltweit ähnlich
strukturiert und unsere Lösungen universal
anwendbar sind.
Hätten nicht andere Hilfsorganisationen
etwas dagegen, wenn sie auf ihren
Gebieten durch AMANDLA Konkurrenz
bekommen?
Ich bin für Wettbewerb, denn er spornt an,
sich zu verbessern. Abgesehen davon sehe
ich in der Vernetzung der Stärken einzelner
Organisationen die einzige Chance, wirklich
global und nachhaltig etwas zu bewegen.
In Südafrika arbeiten wir zum Beispiel
gerade mit einer Unternehmensberatung an
einem Social-Franchising-Konzept für unser
soziales Modell. Denn der südafrikanische
Fußballverband möchte Talentförderung in
Verbindung mit unseren Bildungs- und Sozial-
wer gutes tun will,
sollte Das Mit
kühleM kopf angehen – so wie Man es
bei Der grünDung
eines unternehMens
Macht.
programmen in Safe-Hubs, also geschützten
Fußballplätzen mit Bildungseinrichtung,
landesweit in 300 Bezirken einführen. Diese
strategische Allianz von einer NGO [Anm.
d. Red.: non-governmental organization –
Nichtregierungsorganisation] mit einem
nationalen Fußballverband ist für uns ein
großer Schritt und weltweit einzigartig.
Text: Petra Schäfer
Unterstützung für AMANDLA EduFootball
in Form einer Spende ist möglich unter:
AMANDLA EduFootball e. V.
IBAN DE05 5012 0383 0002 5059 72
BIC DELBDE33
Bethmann Bank AG
Gegenwart
54
Hello / Goodbye
hello / gooDbye
guckst Du noch oDer
streaMst Du schon?
von Dia-abenDen unD
streaMingDiensten
Nur noch schauen, was man will und wann man es will – das ist die schöne neue
Medienwelt. Streamingdienste wie Netflix machen es möglich. Allerdings gibt der
Zuschauer damit sein Nutzungsverhalten über das Internet preis und erhält individuell zugeschnittene Werbung. Die Zuschauer von Dia-Abenden dagegen waren
früher an feste Termine gebunden und mussten die oft langweilige Bilderschau
tapfer über sich ergehen lassen – schneller Vorlauf oder Stopp-Taste ausgeschlossen.
www.bethmannbank.de
Character
August 2015
55
- HELLO -
INDIVIDUELLE WERBETRAILER
Wer heutzutage Filme oder Serien auf dem heimischen
Sofa schauen will, tut das immer seltener via klassischer
Fernsehausstrahlung, DVD oder Blu-ray – sondern per
Streaming. Als der Weltmarktführer Netflix (seit 2014
auch in Deutschland verfügbar) die zweite Staffel seiner
erfolgreichen Polit-Serie „House of Cards“ bewarb, tat die
Firma das, wie im Fernsehen üblich, mit kurzen Vorschautrailern. Der Unterschied: Netflix hatte zehn verschiedene
Versionen dieser Trailer angefertigt – und je nach seinen
Sehgewohnheiten bekam der Zuschauer eine andere Version
gezeigt.
Wer zuvor auf Netflix Filme mit Hauptdarsteller Kevin
Spacey angesehen hatte, sah einen Trailer, in dem dieser
besonders oft vorkam. Bei einem Faible für starke Frauenrollen wurde die Version gezeigt, in der die weibliche
Hauptfigur eine prominentere Rolle spielte. Und Fans des
Genres „politisches Drama“ bekamen einen Trailer zu sehen,
der die Intrigen und Machtkämpfe ums Weiße Haus in
den Mittelpunkt rückte.
All das ist möglich, weil der Streaminganbieter auf Big
Data setzt: Netflix ist nicht auf unpräzise Einschaltquoten
angewiesen, die basierend auf einer Reihe Testhaushalte
auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden. Stattdessen weiß die Firma von jedem einzelnen Zuschauer
genau, was er wann gesehen hat, an welcher Stelle er einen
Film abgebrochen oder wie schnell er eine Serienstaffel
verschlungen hat. Und folglich auch, was man ihm zeigen
muss, um ihn bei der Stange zu halten. Denn nur wer regelmäßig streamt, kündigt nicht irgendwann sein Netflix-Abo –
das erschließt sich auch ohne Big Data.
Text: Christoph Koch
- GOODBYE -
DIA-ABEND
Die Jacke war neongelb und trug den Schriftzug Elho. Die
Marke kennt keiner unter 35, war in den 1980er-Jahren aber
hip. Nun, genau diese Jacke war auf jedem zweiten Dia von
insgesamt gefühlt 5.000 zu sehen. Christian war mit seinen
Eltern nach Zermatt gefahren, zeigte Bilder von sich, wie er
auf der Piste steht: auf, unter, daneben. Die Atmosphäre im
Wohnzimmer glich den Unterrichtsstunden im Technikraum:
dunkel, das leise Vibrieren des Projektors und das Klicken,
sobald ein neues Dia gezeigt wird. Man hört nur das tiefe
Ein- und Ausatmen des Sitznachbarn – und das Brechen der
Salzstängel.
Heute gibt es Beamer. Aber kein Mensch – außer den Volkshochschulen – lädt zu Beamer-Abenden ein. Warum eigentlich?
Seit alle digital fotografieren, leidet die Menschheit an
Überdosen von Bildern. Vor 20 Jahren musste der Fotograf
noch von Hand rahmen, spätestens nach 200 Dias hörte
der Spaß auf. Dem Bilderrausch war eine natürliche Grenze
gesetzt. Das Reisen in ferne Länder samt einer guten Kamera
war wenigen Gutverdienern vorbehalten. Mittlerweile verfügt
jeder Student über eine vernünftige Kamera. Fotos von Neuseeland oder Namibia sind nichts Besonderes mehr. 1.000
digitale Fotos von einer Woche Südafrika, die man an die
Geschäftsreise angehängt hat? Kein Problem. Die exorbitante
Zunahme von Reiseblogs und Netzwerken machen DiaAbende zudem überflüssig,
Die Wahrheit ist auch: Nicht nur die Technik hat sich von
analog auf digital verändert, sondern auch das Sozialverhalten. Für einen Dia-Abend müssen sich die Teilnehmer auf
einen Termin einigen und mehrere Stunden Zeit erübrigen
(bestenfalls machen sie das per Doodle!). Für das Anschauen
von Fotos bleiben heute drei Minuten zwischen E-Mail-Check
und Facebook-Kommentar: Dia-on-Demand. Für kollektives
Langweilen hat dagegen niemand mehr Zeit oder Lust. Die
Salzstängel vor dem Laptop knirpselt künftig jeder für sich.
Eigentlich schade.
Text: Geraldine Friedrich
Tradition
56
Panorama
panoraMa
von wegen schlürfen.
kauen!
Die einzige DeutsChe
austernzuCht
Zu Gast bei Dittmeyer´s Austern-Compagnie in List auf Sylt,
wo die edlen Schalentiere im Wattenmeer ungestört wachsen
und zum Luxusprodukt „Sylter Royal“ reifen. Aber wie isst
man sie eigentlich richtig?
www.bethmannbank.de
Character
Daheim im Watt: Die Austernbänke von Dittmeyer´s AusternCompagnie in der Sylter Blidselbucht. Bine Pöhner wendet
Säcke mit Austern, damit diese nicht festwachsen.
57
August 2015
Tradition
58
Panorama
Austernstube:
In der Lister Hafenstraße befindet
sich das Büro der Austernzucht.
Sie sind in grobmaschige Säcke verpackt,
die auf etwa 60 Zentimeter hohen Metalltischen im Wattboden festgezurrt sind. Dort,
in der Blidselbucht südlich von List, können
die Austern atmen und „stoffwechseln“ –
gewissermaßen ein Luxusleben für die Schalentiere. Die benötigten Nährstoffe bringt die
Nordsee bei Flut automatisch. Rund 20 Liter
dieses Meerwassers filtert so eine Auster
stündlich und gedeiht dabei prächtig.
„Wir müssen sie alle paar Wochen mal
kurz stören“, sagt einer der Männer in
Gummistiefeln. Er gehört zu Dittmeyer’s
Austern-Compagnie, der einzigen Austernzucht-Adresse in Deutschland. Dann
nimmt er einen der rund 15 Kilogramm
schweren Säcke in die Hand, schüttelt ihn
und legt ihn wieder hin. „Sonst wachsen sie
zusammen.“ Seetang und Algen, die das
Atmen und die Nahrungsaufnahme behindern
könnten, entfernt er bei der Gelegenheit
auch gleich.
iDeale beDingungen
voM saft zur auster
Zwar hat Dittmeyer’s Austern-Compagnie
rund 30 Hektar Watt vom Land SchleswigHolstein gepachtet, aber bei Ebbe darf sich
ein Ranger mit Gästen des Erlebniszentrums
Naturgewalten Sylt in List nähern.
„Austern auf Sylt“ heißt der dreistündige
Ausflug, den heute Ranger Mike Kuschereitz
leitet. Gummistiefel oder wasserfeste Sandalen
sind Pflicht. „Die Muschelschalen sind zu
scharfkantig“, warnt der Ranger.
Eigentlich war die Auster längst ausgestorben
auf Sylt. Erst in den 1980er-Jahren konnte
sie wieder angesiedelt werden. Als dann die
Inselverwaltung 1986 einen Investor für die
Austernzucht suchte und die örtlichen Fischer
abwinkten, griff die Firma Dittmeyer zu.
Doch die war bis dahin eher bekannt für
ihre Orangensaftmarke. Also gründete
das Unternehmen „Dittmeyer’s AusternCompagnie“ in List und versah das
neue Luxusprodukt mit dem klangvollen
Namen „Sylter Royal“.
Die Austern dagegen sind an diesem Ort
bestens aufgehoben. „Das ist einer der
wenigen Orte in Europa mit Güteklasse A,
so sauber ist die Nordsee hier“, sagt Kuschereitz. „Trinkwasserqualität mit vielen
Mineralien lässt die Auster gut wachsen.“
Außer in List, dem nördlichsten Dorf
Deutschlands, gibt es nur noch zwei Orte in
Europa mit vergleichbarer Wasserqualität,
wo Austern gut gedeihen: einer in Irland,
einer in Schottland.
www.bethmannbank.de
„Der Name gefällt mir super“, freut sich
Bine Pöhner, seit 2007 Chefin der Austernfarm auf Sylt. Die Diplom-Kauffrau aus
Hamburg hatte schon während ihres Studiums
zweimal in List in dem Austernbüro gejobbt,
das zu dem Unternehmen gehört.
Character
59
August 2015
Austernproduktion: In der Produktionshalle wachsen die
Austern in der kalten Jahreszeit. Verpackt werden sie in
Körbchen à 25 Stück.
Das ist einer
Der wenigen orte
in europa Mit
güteklasse a,
so sauber ist Die
norDsee hier.
Mike Kuschereitz,
Ranger
Tradition
60
Stechschutz: Die Austern werden mit
dem Austernmesser und speziellen
Handschuhen als Schutz geöffnet.
www.bethmannbank.de
Panorama
Character
61
August 2015
Austernfischer:
Das alte Logo von Dittmeyer´s Austern-Compagnie.
Tradition
Panorama
62
Richtige Kleidung: Zur Austernbank geht es mit
Watthose, Jacke und Gummihandschuhen.
Die auster auf sylt
„Die Europäische Auster ist Anfang des 20. Jahrhunderts
Sylt wiesen jüngst nach: Die Miesmuscheln siedeln sich
auf Sylt ausgestorben – wegen Überfischung und zweier
sogar unter den viel größeren Austern an und schützen
Parasiten, die sie an Wachstum und Fortpflanzung
sich somit besser vor Fressfeinden. Seesterne wiederum
hinderten“, erläutert Ranger Mike Kuschereitz auf seiner
haben bald gelernt, junge Pazifische Austern zu knacken.
Führung durch das Watt. Doch wie kam die Auster wieder
Also haben sich offenbar alle, nicht nur der Mensch, mit
nach Sylt? Die Bundesforschungsanstalt für Fischerei
dem Exoten auf Sylt arrangiert.
züchtete dort von 1974 bis 1984 Austern, weil es ein
Standort mit optimalen Bedingungen war und den Tieren
Ranger Mike spricht bei der Gelegenheit auch gleich eine
in Deutschland wieder eine Chance gegeben werden sollte.
besondere Eigenschaft an, die Austern immer wieder nach-
Allerdings testeten die Biologen zu diesem Zweck gleich
gesagt wird: „Manche essen sie wegen der Libido. Doch
die Pazifische Felsenauster, die robuster und größer ist.
bewiesen ist die Wirkung nicht.“ Sicher ist nur:
Naturschützer waren zunächst skeptisch, so einen Exoten
Die Auster hat kaum Fett und Kohlehydrate, aber ist prall
in die Nordsee zu lassen. Sie sahen die Miesmuschel
gefüllt mit Mineralstoffen und Vitaminen aller Art.
bedroht. Doch Biologen des Alfred-Wegener-Instituts auf
info / kontakt
Bistro und Verkauf · Dittmeyer’s Austern-Compagnie
Hafenstraße 10–12 · 25992 List auf Sylt · Tel. 04651 87 08 60 · www.sylter-royal.de
Führungen „Austern auf Sylt“ mit dem Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt
Hafenstraße 37 · 25992 List auf Sylt · Tel. 04651 83 61 90 · www.naturgewalten-sylt.de
www.bethmannbank.de
Character
63
Heute werden in und vor dem roten Backsteinhaus mit dem blauen Holzgiebel Austern in allen möglichen Varianten serviert
und auch außer Haus verkauft.
„Es schmeckt erst salzig, danach gemüsig
oder nussig, vielleicht sogar etwas süß“, sagt
die Fachfrau. Wer die Auster dagegen gleich
wegschlürft, übergeht diesen genüsslichen
Part ganz. Viele ließen dieses besondere Geschmacksgefühl einfach aus, wundert sich
die Geschäftsführerin. „Sie schmecken dann
nur Salz, Pfeffer oder Zitrone, je nachdem,
was sie in die offenen Schalenhälften getan
haben.“
Pöhner brachte das Kunststück fertig, nicht
nur ganz Sylt mit dem begehrten Lebensmittel
zu versorgen, sondern auch die großen
Kreuzfahrtschiffe zu bestücken. „Gerade hat
die MS Europa II in Hamburg wieder eine
große Lieferung bekommen“, liest sie aus
ihren Bestelllisten vor. Von der „Aida“ bis
zur „Sea Cloud“ werden alle beliefert, wenn
sie in norddeutschen Häfen anlegen. Auch
das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) in
Berlin ist Großkunde. „Die haben immer sechs
bis zehn Austernsorten zum Essen, und die
Austernbar ist immer brechend voll“, betont
die Herrin über eine Million Austern –
das ist die Anzahl, die sie jährlich in den
Handel gibt.
reif nach vier Jahren
Drei bis vier Jahre sind sie dann alt. Die
kleinen Setzlinge von ca. 30 Gramm kommen mit etwa einem Jahr von der irischen
Zucht. Dann reifen die harten Geschöpfe
mit dem weichen Innenleben auf den
Metalltischen im Sylter Watt noch zwei bis
drei Jahre. Sie wiegen 70 bis 90 Gramm
und sind wie lang? Bine Pöhner weiß das
nicht auswendig, sondern hält ein Lineal
an ein paar leere Schalen. „Zehn bis zwölf
Zentimeter“, liest sie ab. Dann holt sie ihr
Messer aus der Tasche. „Ich zeige Ihnen
mal etwas“, sagt sie und schlüpft mit der
anderen Hand in einen silbrig glänzenden
Metallhandschuh.
„Wir öffnen sie am Schloss.“ Pöhner setzt
das Austernmesser dort an, wo die Schalenhälften verbunden sind. Das Messer wird
zum Hebel, es knackt. Das weiche Austernfleisch ist im Wasser in der Schale zu sehen.
„So, jetzt bloß nicht schlürfen“, mahnt Pöhner
und zeigt, wie es der Kenner genießt: Das
Wasser abgießen, das Fleisch mit Reethalm
oder Gabel in den Mund nehmen, dann
vier- bis fünfmal durchkauen.
August 2015
austern Mit schnupfen?
Zurück zu Ranger Mike, der mit seiner Gruppe
inzwischen auf dem Wattweg entlang der
Blidselbucht Richtung Norden zum Lister
Hafen unterwegs ist. „Da, Seekühe“, sagt er
und zeigt in die Bucht. Und mit einem Lächeln
erklärt er, was er mit den Seekühen meint:
„So heißen die Betongerüste, die früher der
Luftwaffe als Zielscheiben dienten. Das ist
lange her.“ Ob sich die Austern im Winter
auch erkälten können, will einer von Mikes
Gästen wissen. „Draußen würden sie erfrieren
oder durch Eisgang wegdriften“, erläutert
der Ranger. Darum müssen die zwei bis drei
Millionen Austern, die dort wachsen, dann zu
Dittmeyer getragen werden.
Bine Pöhner erklärt: „Wir halten sie in 16
großen Becken so lange, bis es draußen wieder
mild genug ist, und geben ihnen frisches
Meerwasser.“ Nachhaltig sei alles, was
Dittmeyer auf Sylt produziert. „Hundert
Prozent Natur, denn wir füttern sie nicht
künstlich und geben auch keine Medikamente“,
beschreibt sie die aufwendige Zucht. Auch
beim Versand wird auf Naturprodukte
gesetzt: Vorsichtig legen die Mitarbeiter die
Austern mit der gewölbten Schalenhälfte
nach unten auf das Reet, mit dem die Holzkisten ausgekleidet werden.
probieren vor ort
„Moin, Moin“, ruft Pöhner, denn es sind
wieder neue Gäste in der Lister Probierstube
eingetroffen. Im Bistro werden Austerngerichte angeboten, viele kaufen auch direkt
dort oder über das Internet ein. Ein Span-
so,
Jetzt bloss
nicht
schlürfen.
Bine Pöhner,
Geschäftsführerin
Dittmeyer's Austern-Compagnie
korb mit 50 „Sylter Royal“ ist schon für
70 Euro zu haben. Das Genießer-Set mit
25 Austern, Austernmesser und einer Flasche
Prosecco kostet 54,50 Euro. Bei maximal
zehn Grad hält so eine geschlossene Auster
mehrere Tage, ohne an Geschmack zu
verlieren. Doch wer kann schon so lange
widerstehen?
Text: Knut Diers
Zukunft
64
Unternehmen der
Zukunft
unternehMen Der zukunft
sauberMann
Mit Öko-effekt
MyCleaner: autoWäsChe
ohne Wasser
www.bethmannbank.de
Character
65
Vom Tellerwäscher zum Millionär – so geht die sprichwörtliche Karriere normalerweise. myCleaner dagegen setzt nicht
auf die Teller-, sondern auf die Autowäsche. Und macht dabei
einiges anders: Das junge Unternehmen bietet eine mobile
und besonders umweltfreundliche Reinigung.
Vor der Haustür, auf dem Parkplatz, in der Tiefgarage oder im Parkhaus reinigen die mobilen Saubermänner
von myCleaner ohne Wasser und Stromanschluss Autos von Hand. Der Schmutz wird per Öko-Spezialflüssigkeit
gelöst und am Ende mit Mikrofasertüchern weggewischt.
August 2015
Zukunft
66
Unternehmen der
Zukunft
moderne waschanlage
mindestens 15 liter Frischwasser
pro Fahrzeug
mycleaner
1/4 liter biologisch abbaubarer
spezialreiniger pro Fahrzeug
Es ist 16 Uhr und der erste heiße Tag des
Jahres. „Gut, dass Ihr Auto im Schatten steht“,
sagt die junge Frau im ärmellosen T-Shirt mit
dem mittlerweile doch leicht geröteten Kopf.
Ihre Haut glänzt vor Schweiß. Das Thermometer zeigt immer noch knapp unter 30 Grad,
da schützt Schatten nur bedingt. Seit einer
Stunde putzt und saugt Juliane Pauer (Name
von der Redaktion geändert) einen 1er-BMW,
der schon länger nicht mehr gereinigt wurde.
Im Holm der Fahrertür kleben alte Schlammspritzer. Der Kofferraum ist übersät mit
Holz- und Rindenresten, die Front mit toten
Insekten überzogen. Auf dem Dach prangt
angetrockneter Vogelkot.
beiM greentec
awarD, eineM Der
beDeutenDsten
uMwelt- unD wirtschaftspreise weltweit, ist Mycleaner
2014 unter Die top 3
gekoMMen.
„Kein Problem“, meint die 24-Jährige lächelnd.
Ein Geländewagen neulich habe noch ganz anders ausgesehen. Am Gürtel ihrer halblangen
Arbeitshose hängen Sprühflaschen.
www.bethmannbank.de
„Für Glas, zum Vorbehandeln und zum
Abwischen“, erklärt Pauer die Inhalte.
Die Schlammspritzer leisten keinen großen
Widerstand. Bei Vogelkot und Insekten muss
die Flüssigkeit erst einwirken. Dann ist aber
auch dieser Schmutz mit wenigen Wischern
des Mikrofasertuchs entfernt.
ein viertelliter spezialflüssigkeit reicht
Das alles geschieht direkt vor der Haustür des
Eigentümers. Ohne Wasser oder Stromanschluss. Mobil per Anruf oder per Onlinebuchung. Pauer ist ein Cleaner, wie das
im Firmenjargon des Stuttgarter Start-upUnternehmens myCleaner heißt.
Character
67
wir verkaufen
zeit unD ein gutes
Öko-gewissen.
Abdula Hamed
Firmenkunden bietet myCleaner auch eine Bagatellwartung wie z. B. das
Nachfüllen von Flüssigkeiten oder den Wechsel von Scheibenwischern an.
August 2015
Zukunft
Unternehmen der
Zukunft
68
Die vier Gründer und Eigner von myCleaner haben es mit ihrer Firma beim
GreenTech Award in der Kategorie Wasser & Abwasser unter die Top 3 geschafft.
Von links: Mohamed Hamed, Abdula Hamed, Natalia Kister, Slawa Kister.
Sie putzt wie ihre bundesweit 15 Firmenkollegen mit einer biologisch abbaubaren
Spezialflüssigkeit aus der Sprühflasche.
Ein Viertelliter davon reicht für eine komplette
Autoreinigung. Diese Art der Reinigung
hinterlässt keine Wasserpfützen, und das ist
entscheidend. Denn Autowaschen mit Wasser
auf der Straße ist in Deutschland verboten,
weil dadurch Schadstoffe ins Grundwasser
gelangen könnten.
Geboren wurde die Idee zu myCleaner sozusagen standesgemäß auf der Straße, erinnert
sich Mitgründer Abdula Hamed. Das war vor
etwa vier Jahren. „Ich habe an der FH Aachen
Medizintechnik studiert und eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Stuttgart gesucht“,
sagt der heute 28-Jährige mit jordanischen
Wurzeln. Die bot ihm der Unternehmensberater Slawa Kister. Während der Fahrt
haben sich beide dann über potenzielle
Geschäftsideen unterhalten und sind dabei
auf die mobile Autoreinigung gekommen.
„wir verkaufen zeit
unD ein gutes Öko-gewissen“
Glänzender Lack und saubere Polster allein
sind es aber nicht, die das Jungunternehmen
ausmachen. „Wir verkaufen Zeit und ein gutes
Öko-Gewissen“, bringt der „Medizintechniker
auf Abwegen“ die Firmenphilosophie auf
den Punkt. Stundenlang stünden Autos jeden
Tag ungenutzt herum. Genug Zeit, damit die
Autowäsche in Person eines kompetenten
„Saubermanns“ zum Auto kommt – und nicht
wie üblich das Auto zur Waschstraße.
Juliane Pauer hat auch ohne Wasser alles, was
sie braucht. Aus ihrem schwarzen Firmenkombi holt sie einen Staubsauger und einen
Kompressor, um diesen auch unter freiem
Himmel ohne Steckdose betreiben zu können.
Deshalb putzt myCleaner nicht an Sonn- und
Feiertagen. An allen anderen Tagen jedoch
ist der Service von 9 bis 17 Uhr verfügbar.
Buchen kann man ihn rund um die Uhr im
Internet. „Ich putze auch in der Tiefgarage, da
ist man wetterunabhängig“, erklärt Pauer.
Mycleaner – Die Daten
Der mobile Kfz-Putzdienst kann entweder online unter der Internetadresse
myCleaner.com gebucht werden oder telefonisch unter einer Hotline-Nummer.
Er ist in bundesweit 13 Regionen verfügbar und kostet Privatkunden
zwischen 30 und 120 Euro, abhängig von der Fahrzeuggröße und ob nur außen
oder auch der Innenraum geputzt werden soll. Zudem wird zwischen
Basis- und Intensivreinigung unterschieden.
Eine Fahrzeugreinigung dauert zwischen 35 Minuten (Basisreinigung außen)
und zwei Stunden (Intensivreinigung außen und innen). Sie ist in der Regel
noch am selben Tag kurzfristig buchbar. Unter minus 15 Grad Umgebungstemperatur wird nicht geputzt. Nach oben gibt es keine Temperaturgrenze.
myCleaner betreibt auch einen Online-Shop, über den man die ökologisch
abbaubare Spezialflüssigkeit kaufen und selbst putzen kann.
Konkurrenten von myCleaner sind auf lokale Einzelanbieter
wie 1a mobile Autoreinigung in Hamburg beschränkt.
Das Stuttgarter Start-up-Unternehmen ist das einzige, das derzeit
unter einer Marke einen bundesweiten Auftritt hat.
www.bethmannbank.de
Character
Vor myCleaner gab es bereits Mittel, die ohne
Wasser reinigen konnten. Die waren aber
für die Putzkraft gesundheitlich bedenklich,
sagt Hamed und grenzt sich damit von
früheren Lösungen ab. Als Student sei er mit
Nanotechnologie in Berührung gekommen
und habe es geschafft, die heutige myCleanerSpezialflüssigkeit, die biologisch abbaubar ist,
in Kooperation mit einem Unternehmen aus
der Reinigungsmittelbranche zu entwickeln.
Beim GreenTec Award, einem der bedeutendsten Umwelt- und Wirtschaftspreise weltweit,
ist myCleaner 2014 unter die Top 3 gekommen.
Das liegt auch daran, dass in Waschstraßen
pro Reinigung mehrere Hundert Liter Wasser
verbraucht werden. Selbst in den modernsten
Anlagen mit Wasserrückgewinnung müssen
pro Auto 15 Liter Frischwasser zugeführt
werden. Die wasserlose Mobilwäsche von
myCleaner ist in jedem Fall sparsamer.
69
kam dann noch Computerexperte Dmitry
Klimensky als fünfter Geschäftspartner dazu,
der die Firmen-IT steuert.
Die Idee kommt zunehmend an. Vier Fünftel
der Privatkunden sind Menschen, die einen
guten Job, aber wenig Zeit haben, erzählt
Cleanerin Pauer. Auch wer sein Auto verkaufen will oder einen Leasingwagen hat
und ihn zurückgibt, ordere häufig den mobilen
Nachdem das Geschäftsmodell feststand
und die Firma 2011 gegründet war, mussten
Kunden und Personal her. Das war – und ist –
die Aufgabe von Wirtschaftsinformatiker
Mohamed Hamed, dem 29-jährigen Bruder
Abdulas. Der geht nach einer festen Strategie
vor: Erst wird in einer Stadt ein gewerblicher
Großkunde gesucht, etwa ein Autovermieter
oder eine Firmenwagenflotte. Ist auf diese
Weise eine Grundauslastung gesichert, wird
die Dienstleistung auch Privatkunden
angeboten. Die Vierte im Bunde der Firmengründer ist Kisters Ehefrau Natalia. Die
36-jährige Designerin ist im Unternehmen
für den Werbeauftritt zuständig. Später
auch Köln dazukommen. myCleaner könnte
schneller expandieren, wenn sich ein passender
Geldgeber fände. Wachstum kostet. Firmenanteile würde man dafür aus der Hand geben,
aber die Mehrheit auf alle Fälle behalten, sagt
Hamed. Andernfalls nähmen die Gründer
lieber eine langsamere Expansion in Kauf. An
Nachfrage und weiterem Potenzial mangelt es
jedenfalls nicht.
JeDer zweite Deutsche putzt
nicht selbst
wir haben auch
stuDenten, Die ihr
auto ein Jahr lang
nicht pflegen unD es
Dann einMal
grünDlich reinigen
lassen.
relativ teuer, aber
unvergleichlich sauber
Getestet wurden die Saubermänner bereits
vom ADAC, der sie mit herkömmlichen
Waschstraßen verglichen hat. Das Fazit
der Tester: myCleaner ist gut doppelt so
teuer. Das Fahrzeug wird aber teils deutlich
sauberer, und der Halter kann während der
Reinigung im Büro oder zu Hause bleiben
und seine Zeit wichtigeren Dingen widmen.
Dazu kommt der Öko-Effekt.
August 2015
Abdula Hamed
Putzdienst, um die Gefährte optisch auf
Vordermann zu bringen. „Wir haben auch
Studenten, die ihr Auto ein Jahr lang nicht
pflegen und es dann einmal gründlich reinigen lassen“, ergänzt Hamed. Begonnen habe
alles mit dem ersten Großkunden Quicar in
Hannover, dem Carsharing-Unternehmen
von VW.
voM start weg gute uMsätze
„Wir sind sofort mit guten Umsätzen gestartet“,
betont Hamed. Für eine Start-up-Firma ist
das wahrlich keine Selbstverständlichkeit.
Anfangs parallel zum Studium expandierte
das Unternehmen dann in eine Stadt nach
der anderen. Heute gibt es myCleaner an
bundesweit 13 Standorten nebst umliegenden
Regionen von Bremen bis München und
von Stuttgart bis Leipzig. Dieses Jahr sollen
Berlin, Hamburg und Düsseldorf, vielleicht
Fast 44 Millionen Pkw sind in Deutschland
laut Kraftfahrtbundesamt zugelassen. Jeder
zweite Deutsche putzt sein Auto nicht selbst,
wissen Statistiker. Das beschert Waschstraßen
jedes Jahr einen Milliardenumsatz. myCleaner
will sich von diesem Kuchen ein zunehmend
größeres Stück abschneiden und brachte es
2014 auf gut 10.000 Reinigungen, verrät Hamed. Der Umsatz hat sich dabei im Vergleich
zu 2013 auf gut 600.000 Euro verdoppelt.
Auch das Angebotsspektrum wächst. Mittlerweile säubert myCleaner nicht nur Autos,
sondern auch Lastwagen, Wohnmobile und
Motorräder. Firmenkunden werden Bagatellwartungen wie die Wischwasserkontrolle
oder Kleinreparaturen wie das Auswechseln
von Wischerblättern angeboten. „Außerdem
experimentieren wir mit professionellen Autoaufbereitern als neuen Geschäftspartnern“,
sagt Hamed. Dann könnten Autos nicht nur
auf Hochglanz gebracht, sondern auch kleinere
Kratzer aus dem Lack poliert werden.
Der ursprünglich dreckstarrende 1er-BMW
jedenfalls ist nach einer Stunde Intensivpflege
sowohl innen wie außen blitzblank. Für
Juliane Pauer scheint das selbstverständlich:
„Wir bekommen vieles sauber, aber zaubern
können natürlich auch wir nicht“, sagt sie.
„Bei besonderem Schmutz muss ich es nur
vorab wissen. Hundehaare oder überhaupt
Tierhaare sind richtig lästig.“
Text: Thomas Magenheim
Gegenwart
70
sol gabetta
pablo casals,
spanischer Cellist, Komponist, Dirigent,
1876 – 1973
sir yehuDi Menuhin,
schweizerisch-britischer Geiger, Bratschist und Dirigent,
1916 – 1999
www.bethmannbank.de
Character
August 2015
71
Mstislaw rostropowitsch,
russischer Cellist, Dirigent, Pianist, Komponist, Humanist, 1927 – 2007
leonarD bernstein,
amerikanischer Dirigent, Komponist und Pianist,
1918 – 1990
Maurice ravel,
französischer Komponist, 1875 – 1937
charlie chaplin,
amerikanischer Komiker, Regisseur, Filmproduzent, 1889 – 1977,
an seinem 70. Geburtstag am 16. April 1959
* von Sol Gabetta
John cage,
amerikanischer Komponist
und Künstler, 1912 – 1992
Johannes brahMs,
deutscher Komponist, Pianist
und Dirigent, 1833 – 1897
Zukunft
72
Einplanen
einplanen
Durch Das Jahr Mit
sol gabetta
Ein Leben für die Musik – so lässt sich der Alltag von Sol Gabetta zusammenfassen. Rund 130 Auftritte absolviert die Cellistin pro Jahr und zählt damit
zu den produktivsten Stars der Klassik. Bei einem so dicht getakteten Konzertkalender bleibt nur wenig Zeit für andere Aktivitäten. Immerhin gönnt sich die
Ausnahme-Cellistin kurze Pausen über die Weihnachtstage und im Sommer.
Hier Auszüge aus ihrem Termintagebuch.
septeMber 2015
DresDner philharMonie
Die Dresdner Philharmoniker und ihr spannender Dirigent Michael
Sanderling haben mich als „artist in residence“ eingeladen. Wir spielen
Cellokonzerte von Elgar, Martinu und Saint-Saëns sowie Kammermusik
von Chopin. Anschließend gehen wir auf Tournee nach Großbritannien.
5. / 6. septeMber, Albertinum
philharMonie essen
Mit dem Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam unter Daniele
Gatti trete ich in der Philharmonie Essen auf. Es gilt als das wohl
berühmteste Sinfonieorchester der Welt neben den Berliner Philharmonikern. Eine umso größere Ehre ist es, dass ich mit ihm auch meine
Salzburg-Premiere während der Festspiele 2016 habe.
12. septeMber, Philharmonie Essen
30. august 2016, Salzburger Festspiele
verÖffentlichung
Ebenfalls in diesem Monat erscheint meine neue CD
mit dem Kammerorchester Basel.
Konzertsaal Philharmonie Essen, © Frank Vinken
www.bethmannbank.de
Character
73
August 2015
oktober/noveMber 2015
tourneestart
mit dem Orchestre de Paris und Paavo Järvi in der grandiosen neuen
Philharmonie de Paris von Jean Nouvel. Danach gehen wir auf
Europatournee:
29. oktober, Philharmonie Paris
6. noveMber, Budapest
7. noveMber, Wiener Konzerthaus
10. noveMber, Philharmonie Berlin
11. noveMber, Philharmonie am Gasteig München
13. noveMber, Alte Oper Frankfurt
14. noveMber, Palais des Beaux Arts Brüssel
Philharmonie de Paris
© Beaucardet
John Storgards,
© Marco Borggreve
and Heikki Tuuli
australien
ab DeM 20. noveMber bin ich mit dem Kammerorchester Basel in
Australien; wir spielen in Melbourne, Brisbane und Sydney – ein Debüt,
auf das ich mich sehr freue.
februar 2016
usa
Das Jahr beginnt mit einer Reise in die USA, die ich von Mal zu Mal
mehr schätze. Mit dem Houston Symphony Orchestra und seinem
Dirigenten John Storgards trete ich am 12., 13. unD 14. februar
auf. Storgards ist auch ein Geiger höchster Klasse, wir haben schon
Kammermusik zusammen gespielt – auf das Wiedersehen freue ich
mich sehr.
Die Auferstehungskirche, Sankt Petersburg,
© Shutterstock
März 2016
sankt petersburg
Sankt Petersburg ist eine meiner Lieblingsstädte; umso mehr
genieße ich es, dort in der Philharmonie mit dem Orchester unter
Nikolai Alexeev aufzutreten.
17. März, St. Petersburger Philharmonie
Mai 2016
Debüt
Mein Debüt mit The Los Angeles Philharmonic, dem philharmonischen
Orchester Los Angeles unter Leonard Slatkin. Diese Einladung ist mir
sehr wichtig, das Orchester ist grandios und ich liebe die Westküste.
15. Mai
Gegenwart
74
panoraMa
Martin Schoeller ist einer der bedeutendsten Porträtfotografen seiner Zeit und bekannt für seine schonungslos
ehrlichen Bilder. Im Interview spricht er über seinen
Werdegang zum Starfotografen, die Wahrheit
hinter so manchem Promi-Lächeln und seine
Begeisterung für die Fotografie.
www.bethmannbank.de
Panorama
Character
75
Innehalten: Martin Schoeller mit seinen Fotos in der Galerie Camera Work
in Berlin-Mitte. Seine Werke wurden in viel beachteten Ausstellungen in
New York, Paris und Berlin gezeigt.
August 2015
Gegenwart
76
Close-up: So nahe, zuweilen nur wenige Zentimeter,
kommt Martin Schoeller in seinem mobilen Studio
Weltstars, Wirtschaftsmagnaten und Politikern.
Panorama
Character
August 2015
77
Herzlich lächelnd und Schulter klopfend begrüßt der Starfotograf mit blonden Rastalocken den
Besucher. Obwohl er schon lange New Yorker ist und nur noch selten Deutsch spricht, möchte er
das Gespräch auf jeden Fall in seiner Muttersprache führen, sagt er. Dann setzt er sich wieder
vor den Computerbildschirm in seinem Büro in der Hudson Street in Manhattans Szenebezirk
Tribeca. Hier, zwischen Broadway und Hudson River, lebt und arbeitet der deutsche Fotokünstler
Martin Schoeller (47) in einem ehemaligen Speicherhaus.
Im dritten Stock befindet sich sein Studio, das 250 Quadratmeter
große Loft, das er mit Sohn und Ehefrau bewohnt, ein Stockwerk
darunter. Auf dem Schreibtisch liegen neben Notizzetteln, Restaurantquittungen und Taxibelegen ein paar Abzüge vom letzten Shooting
mit Sängerinund Schauspielerin Taylor Swift. „Zum Glück sind sie
gut geworden, denn auch ich bin immer nur so gut wie meine letzten
Arbeiten“, sagt Schoeller. An den Wänden hängen Prints von
George Clooney, Clint Eastwood und Obdachlosen in Los Angeles.
Büromanagerin Lisa serviert dem Besucher Cappuccino und frisches
Obst, Schoeller stellt Handy und Computer aus, nimmt seinen
Gegenüber neugierig ins Visier, und das Gespräch beginnt.
Herr Schoeller, als Sie 1993 mit Mitte 20 nach New York
kamen, konnten Sie sich vorstellen, einmal so vielen
Wichtigen so nahe zu kommen?
Ich hatte nicht mal davon geträumt. Nach meiner Fotografenausbildung beim Berliner Lette-Verein kam ich mit 7.000 Dollar Stipendium und schlechtem Schulenglisch nach New York. Ich wollte
einfach von den Besten der Branche lernen.
Warum wollten Sie überhaupt Fotograf werden? Ging es
um die Menschen oder um die Ästhetik? Was wollten Sie
zeigen?
Eigentlich wurde ich nur durch Zufall Fotograf. Ein Freund bewarb
sich für den Studiengang, ich tat es ihm einfach nach. Und fand
dann aber schnell Gefallen dran. Im Grunde ist mein oberstes Ansinnen als Fotograf, die Menschen ehrlich darzustellen.
Wen sprachen Sie in New York zuerst an?
Zuerst Irving Penn. Ich bekam ihn auch ans Telefon. Doch er
machte es kurz: kein Job, kein Interesse. Bei Annie Leibovitz hatte
ich nach vielen frustrierenden Versuchen mehr Glück. Hätte es bei
Annie nicht mit der Stelle des dritten Assistenten geklappt, wäre
ich wohl zurück nach Frankfurt gegangen und hätte mir einen Job
in der Behindertenhilfe gesucht. Da hatte ich schon als Schüler
gearbeitet. Das war gut und sinnvoll. Vielleicht hätte ich aber auch
versucht, mich als klassischer Fotoreporter durchzuschlagen. Oder
als Werbefotograf. Der Typ, der schnell aufgibt, bin ich nicht.
Wie erlebten Sie die Promi-Welt bei der gut vernetzten
Leibovitz? Welche Spielregeln lernten Sie?
Ich suchte die Locations, beschäftigte mich mit organisatorischen
Dingen und hatte mit all den berühmten Menschen, die Annie
fotografierte, eigentlich wenig zu tun. Teilweise kannte ich sie auch
gar nicht, weil mich das Show-business nur wenig interessierte.
Wie gestaltete sich dann Ihr Start in die selbstständige
Fotografenkarriere?
Ich hatte während meiner gut drei Jahre bei Annie 15.000 Dollar
gespart und dachte, ich wäre reich. Doch die Jobs blieben aus,
das Geld zerrann. Ich kam bei einer Freundin unter, lebte in ihrer
feuchten Wohnung vor allem von Fertigpizza und Dosenbier. Ich
war ein erfolgloser Fotograf in New York und lief bei Agenten und
Magazinen gegen Wände.
Kam der Gedanke auf, nach Deutschland zurückzugehen?
Nein, ich war gewillt zu kämpfen, arbeitete 14 bis 16 Stunden,
sieben Tage die Woche. Weil ich damals nur eine Kamera besaß
und keine Lichtanlage, jedoch an meiner Mappe arbeiten musste,
baute ich mir eine eigene Fotobox. Das Close-up-Studio, das ich
überall aufstellen konnte. Damit zog ich durch New York, machte
Porträts von Junkies, Obdachlosen, Freunden. Und ich begleitete
über Wochen die Nachtschicht eines Polizeireviers in New Jersey.
Gegenwart
Maskenmann: Weil George Clooney das Posen nicht
lassen mochte, hatte der Fotograf ihn einfach maskiert.
© Portraits by Martin Schoeller, published by TeNeues, www.teneues.com.
Photos © 2014 Martin Schoeller. All rights reserved. (ISBN 978-3-8327-9729-4)
78
Panorama
Character
Kreativ: Comedian Steve Carell fand Martin Schoellers
Idee mit dem Klebeband zwar gewagt – aber gut.
79
August 2015
Gegenwart
80
Panorama
Vaterfreuden:
Der Fotograf geht gerne
mit seinem Sohn einkaufen.
Felix liebt es, sich zu
verkleiden.
1999 dann plötzlich die Wende ...
Richtig! Das Magazin „Time Out“ beauftragte mich, Schauspielerin
Vanessa Redgrave zu fotografieren. Damals waren distanzierte
Schüsse bei perfektem Licht in Mode. Ich machte bei Vanessa Redgrave
genau das Gegenteil, das supernahe Porträt. Gerade als Fotograf ist
es wichtig, sich von der Masse abzuheben. Das Foto erschien – und
plötzlich war ich der Shootingstar. Mir standen alle Türen offen.
Sogar beim elitären „The New Yorker“ ...
Das Magazin schickte mich zu Skateboard-Weltmeister Tony Hawk.
Ich ließ ihn vor den Augen seiner verdutzten Familie über das heimische Küchenbüffet brettern. Diesem Foto habe ich meinen Exklusivvertrag beim New Yorker, der bis 2012 lief, zu verdanken. Mann, ich
trat in die Fußstapfen von Richard Avedon. Was für eine Ehre! Was
für eine verantwortungsvolle Aufgabe!
Heute kennen Sie sich mit der Welt der Reichen und Mächtigen aus. Welchen Blick haben Sie darauf?
Ich fotografiere zwar oft Reiche und Mächtige, kenne mich aber deshalb in deren Welt noch lange nicht aus. Man trifft sich am Set, macht
seinen Job und geht dann wieder auseinander. Für mich ist es wichtig,
meinen Protagonisten immer gleich gegenüberzutreten. Respektvoll,
freundlich und professionell. Egal ob er Jugendidol oder Junkie ist.
Was ist Ihnen bei den Close-ups wichtig?
Ich bin immer auf der Suche nach der ehrlichen Sekunde. Nach
dem echten Gesicht. Es ist nicht mein Hauptanliegen, die Leute gut
aussehen zu lassen. Ich möchte möglichst objektive Bilder machen, zumindest welche, die weniger lügen als andere. Dafür arbeite ich genau
auf den Moment hin, in dem die Leute hellwach sind, etwas Offenes,
Intimes von sich preisgeben. Wie heißt es noch? Die Wahrheit steht
den Leuten ins Gesicht geschrieben.
Und was ist die Wahrheit?
Was kommt da für Sie zum Vorschein?
Ein Bild, das sich für den Betrachter ungestellt anfühlt. Wenn man
einen solchen Moment festhält, der den Protagonisten stolz, selbstbewusst, schüchtern, ängstlich oder zerbrechlich wirken lässt, werden
wir uns alle ähnlich. Es ist einfach der Blick hinter die Maske, der
mich reizt. Jedoch die Seele eines Menschen einzufangen, das ist meiner Meinung nach durch ein Foto nicht möglich.
Haben Sie eine Strategie, wie Sie das typische HollywoodStrahlegrinsen und politische Steifheit umschiffen?
Ich studiere meine Protagonisten und weiß, welche Musik sie hören,
welche Fragen ihnen am Herzen liegen, was sie aktuell bewegt. Und
natürlich läuft ihre Musik während des Shoots, bei dem ich immer
sehr viel spreche. So versuche ich, eine gewisse Energie aufzubauen.
Alles muss bis ins kleinste Detail stimmen. Das macht geschmeidiger.
Wenn sie dann für einen Moment vergessen, dass sie vor der Kamera
sitzen, mache ich einen guten Job. Und es entsteht ein Foto, das sie
zeigt, wie sie wirklich sind, das in Erinnerung bleibt.
Wie viele von diesen Bildern gelingen Ihnen im Jahr?
Wenn es zehn sind – bei durchschnittlich 60 bis 80 Aufträgen im
Jahr – bin ich zufrieden. Dann war es ein gutes Jahr.
Wer hat es Ihnen besonders schwer gemacht?
George Clooney ist zwar einer meiner Lieblingsprotagonisten, er
macht alles mit, aber albert leider auch immer herum. Der echte
Clooney ist schwer zu erwischen. Uma Thurman hatte viel zu viel
Make-up drauf, fast wie eine Maske. Und Catherine Zeta-Jones
war einfach ein bisschen langweilig. Bei Schauspielern ist es generell
schwer, einen ungestellten Moment einzufangen.
Der Grund dafür?
Die meisten sind eitel, möchten toll aussehen. Sie wollen sich immer
von ihrer besten Seite zeigen.
Wackeln Ihnen bei Begegnungen mit Megastars
manchmal die Knie?
Nein, nie! Jedenfalls nicht vor Ehrfurcht. Ich bin kein Fan von
Schauspielern, Sportlern oder Showmastern. Ich habe keine Helden,
schaue kein TV und gehe auch nicht so oft ins Kino. Ich bin immer
nur daran interessiert, eine angenehme, lockere Atmosphäre zu
schaffen, ich selbst zu sein und ein Bild zu schaffen, das etwas von
Wahrheit hat. Egal ob ich einen Politiker, Schauspieler, Obdachlosen
oder Stammesmitglied eines Urvolks im Amazonas-Dschungel vor
der Kamera habe.
Character
Skaterlegende: Durch dieses Foto von Tony Hawk aus dem
Jahr 1999 wurde Martin Schoeller Vertragsfotograf beim
legendären Magazin „The New Yorker“. Fortan standen ihm
bei den Stars Türen und Tore offen.
81
August 2015
Gegenwart
82
Panorama
Vor wichtigen Fototerminen bin ich allerdings sehr nervös und
schlafe schlecht. Denn auch ich bin immer nur so gut wie mein letztes
Bild. Und ein gutes Foto ist von so vielen Faktoren abhängig, die man
nicht kontrollieren kann.
Gab es deshalb mal Probleme?
Tom Cruise und Mariah Carey wollten mich als Fotografen nicht.
Kommt vor. Ich glaube, manchem Promi gefallen meine Close-ups
einfach nicht.
Wollen Sie genau das Bild, das Sie vom Star im Kopf haben,
machen?
Ja, bei meinen konzeptionellen Bildern versuche ich das. Sprint-Weltrekordler Usain Bolt nimmt nach seinen Siegen immer diese skulptureske Bogenschützen-Stellung ein. Also habe ich ihn im Metropolitan
Museum zwischen riesige Skulpturen gestellt. Oder Rapper Sean
Combs, früher Pi Diddy. Der ist ziemlich selbstverliebt. Den habe ich
mit Champagnerglas in der Hand zwischen zwei nackten Schönheiten
vor einem Selbstbildnis in Öl platziert. Ich bin sicher – das ist der
echte Sean Combs, den ich da abgelichtet habe.
Neben den Close-ups sind Sie auch für Ihre fantasievoll
inszenierten Fotos berühmt. Sie ließen Bill Clinton im
Weißen Haus Golf spielen, steckten Quentin Tarantino in eine
Zwangsjacke und verklebten Komiker Steve Carells Gesicht
mit Tesafilm. Warum?
Tarantino hat ja schon den einen oder anderen verrückten und vor
allem brutalen Film gemacht. Von daher ist er in Verbindung mit
Zwangsjacke und flatternden Friedenstauben doch ein gutes, treffendes
Bild. Bei Clinton, der damals nur noch drei Monate als US-Präsident
im Amt war, habe ich den Golfschläger in der Stativtasche ins Weiße
Haus geschmuggelt. Er ist leidenschaftlicher Golfer und machte den
Spaß trotz Bedenken seines Pressemanns mit.
Haben die Stars bei den Motiven ein Mitspracherecht?
Nur insofern, als dass sie sagen können, da und da mache ich
nicht mit.
Kommt öfter vor, oder?
Vor allem den PR-Leuten sind meine Ideen manchmal zu gewagt.
Die Prominenten selbst sind oft viel lockerer. Deshalb mag ich Leute
wie Schauspieler Christian Bale. Er hat gar keinen Pressemenschen.
Als ich ihn fotografierte, kam er lässig mit Motorrad zum Set. Ich habe
echt gute Erinnerungen an dieses Shooting. Und das Ergebnis? Der da
auf dem Foto ist Christian Bale, wie er leibt und lebt.
Ergibt sich auch mal so etwas wie Freundschaft zwischen
Fotograf und Fotografiertem?
Ist bis jetzt noch nicht vorgekommen. Und ich leide nicht darunter.
Viele von denen, die ich vor der Linse habe, sind Weltstars und führen
ein ziemlich abgehobenes Leben. Ich lege Wert darauf, bodenständig zu
bleiben. Meine Bilder sind zwar dem einen oder anderen bekannt, aber
ich bin kein Star. Mein Sohn Felix besucht eine ganz normale Schule,
und ich bringe ihn, so oft ich kann, morgens mit dem Roller hin.
Mein Auto ist ein 15 Jahre alter VW-Bus. Ich laufe gern in Jeans
und T-Shirt herum, unsere Einkäufe und den Haushalt erledigen
wir selbst.
In Sachen Bildbearbeitung sind Sie zurückhaltend.
Was ist der Grund?
Weil ich am Set um ehrliche Bilder kämpfe und sie dann nicht im
Nachhinein verfälschen möchte. Klar, viele wollen zehn Jahre jünger
und 15 Kilo leichter aussehen. Doch ich bin kein Schönheitschirurg.
Verraten Sie den Protagonisten vorher, was Sie vorhaben?
Natürlich nicht. Meistens habe ich zehn Ideen im Kopf und fange mit
der harmlosesten an. Die Ideen haben immer etwas mit der Person
zu tun und müssen ihrem Charakter entsprechen. Ich versuche am
Set eine Vertrauensbasis zu schaffen, taste mich vor, und je länger ein
Shooting dauert, desto mutiger werde ich.
Welches ist Ihr meist gedrucktes Bild?
Angelina Jolie mit Blut im Mundwinkel. Eigentlich wollte ich ihr das
Blut aus der Nase sickern lassen. Aber sie hatte Bedenken. Die Leute
könnten denken, dass sie Kokain konsumiert, meinte sie. Den Gedankengang konnte ich gut nachvollziehen.
Wen hätten Sie gerne noch vor der Kamera?
Fidel Castro, Wladimir Putin, den Papst. Ein paar habe ich verpasst,
weil sie verstorben sind: Nelson Mandela, Gabriel García Márquez,
Günter Grass. Ich hab’s auf mehreren Wegen versucht, aber kam
einfach nicht an sie heran. Ganz ehrlich, das frustriert mich.
Sind Sie auf einer Mission?
Ich möchte Chronist sein, Fotodokumente für die Nachwelt schaffen.
Deshalb fotografiere ich die Close-ups nicht digital, sondern auf Film.
Niemand weiß, wie digitale Fotos in 100 Jahren aussehen. Filme
hingegen sind so gut wie unverwüstlich. Wenn das Kind des Kindes
meines Sohnes irgendwann mal wissen will, wie Jack Nicholson, Mark
Zuckerberg, Barack Obama oder Angela Merkel aussahen, meine
Close-ups werden es ihm zeigen.
Text: Jörg Heuer
Character
83
August 2015
Zelluloid: Die Liste der Porträtierten ist lang und exklusiv.
Seine Close-ups fotografiert Schoeller bis heute auf Film.
Markenzeichen: nahaufnahMe
Martin Schoeller wurde 1968 in München geboren. Er ist in Frankfurt aufgewachsen und 1993,
also mit gerade einmal 24 Jahren, nach New York gezogen. Dort erkämpfte er sich eine Assistentenstelle
bei Annie Leibovitz, der Großmeisterin der Glamourfotografie. 1999 wurde er Vertragsfotograf
beim elitären Magazin „The New Yorker“. Anfang des neuen Jahrtausends startete die Weltkarriere des
Fotografen, dessen besondere Markenzeichen Close-ups, extreme Nahaufnahmen, sind,
die er stets im selbst entworfenen, transportablen Ministudio schießt: einfache Neonröhren, links und
rechts schwarze Stoffbezüge, Hocker, hellgrauer Hintergrund. Und die Kamera stets nur eine gute
Armlänge vom Gesicht seiner Protagonisten entfernt: von Clint Eastwood und George Clooney,
Angelina Jolie und Jane Fonda, Quentin Tarantino und Martin Scorcese, Johnny Cash und Jay-Z,
Mark Zuckerberg und Donald Trump – und auch von den Clintons, Barack Obama und Angela Merkel.
„Die Bilder in Close Up – der dämonisch blickende Jack Nicholson, der jesusmäßige Prince,
die ausdruckslose Britney Spears, der zerknitterte Brian Wilson – sind auf gespenstische
Weise wahrhaftig, hyperreal“, schrieb David Remnick, Pulitzer-Preisträger und Chefredakteur des
„New Yorker“ im Vorwort zu Schoellers 2005 bei teNeues erschienenem Buch „Close Up“. „Sie streifen
alles ab, was zum Schutz der Berühmtheit geschaffen worden ist, was die Berühmtheit überhaupt
erst erschaffen hat.“
Jeff Koons, der teuerste lebende Künstler der Welt, schwärmt im Vorwort von Martin Schoellers
2014 ebenfalls bei teNeues erschienenen Fotoband „Portraits“: „Martins Porträts erfassen
den Charakter des Menschen und die Reinheit des Augenblicks.“
Gegenwart
herausgeber
fotos
Bethmann Bank AG
Bethmannstraße 7 – 9
60311 Frankfurt am Main
www.bethmannbank.de
S. 6 – 19
Feedback zum Heft:
[email protected]
reDaktion
Frank Elsner Kommunikation
für Unternehmen GmbH
Kirchstraße 15a
49492 Westerkappeln
[email protected]
S. 20 – 23
S. 21
S. 24 – 31
S. 32 – 33
S. 32
S. 33
S. 34 – 37
S. 34
S. 37
S. 38 – 39
S. 40 – 45
S. 46 – 47
presserechtlich
verantwortlich
S. 48 – 49
S. 50 – 53
Jens Heinen
Bethmann Bank AG
Bethmannstraße 7 – 9
60311 Frankfurt am Main
www.bethmannbank.de
Impressum
84
S. 54 – 55
S. 56 – 63
S. 64 – 69
Design
S. 72 – 73
Biedermann und Brandstift
Creative Services GmbH
Dreieichstraße 59
60594 Frankfurt am Main
www.biedermannundbrandstift.com
S. 74 – 83
S. 74
S. 76
S. 78 – 79
S. 80
S. 81
S. 83
autoren
Dieser ausgabe
Character im Porträt
Oliver Mark
Werte im Wandel
Freepik.com
Unternehmen mit Tradition
Joost van der Neut
Perspektivenwechsel
Porträt Junkermann:
picture-alliance / dpa
Gero Breloer
Porträt Blum: Inga Sommer
Für morgen
StockSnap
iStock
12 Dinge
Oliver Mark
MehrWerte
Felix Gemein
Zahlen, bitte!
Getty Images
Kleine Schätze des Alltags
Getty Images
Zwischen kommerziell
und karitativ
Georg Höfer
Hello / Goodbye
Getty Images
Panorama, Dittmeyer´s
Marc Krause
Unternehmen der Zukunft
Pressematerial © myCleaner
Einplanen
Nachweise auf der Seite
Panorama, Martin Schoeller
Mike Meyer
Lauren Juratovac
Martin Schoeller, Close Up,
© Portraits by Martin Schoeller,
(ISBN 978-3-8327-9729-4)
Lauren Juratovac
Martin Schoeller
Jörg Heuer
Rechtliche Hinweise
Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Inhalte, Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Sämtliche
Urheberrechte für Beiträge, Fotos sowie die grafische Gestaltung liegen beim Herausgeber. Eine Verwertung der Zeitschrift oder
der in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen, besonders durch Vervielfältigung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Herausgebers unzulässig, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt. Insbesondere ist die
Speicherung oder Verbreitung der Inhalte in Datenbanksystemen, zum Beispiel als elektronischer Pressespiegel oder Archiv, ohne
Zustimmung des Herausgebers unzulässig. Alle Rechte vorbehalten.
Eine Haftung für die Inhalte ist ausgeschlossen, es sei denn, dass solche Schäden vom Herausgeber oder seinen Mitarbeitern
vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden sind.
www.bethmannbank.de
Knut Diers, Geraldine Friedrich,
Jörg Heuer, Christoph Koch, Dr. Eva Karcher,
Thomas Magenheim, Pascal Morché,
Frank Paschen, Petra Schäfer, Stefan Weber
Druck
Hinckel-Druck GmbH
Obere Grüben 14
97877 Wertheim am Main
www.hinckel.de
papier
Der Umschlag des Magazins Character
besteht aus dem ökologischen Feinstpapier
Bagasse. Das Papier wird zu 95 % aus dem
natürlichen Rohstoff Bagasse (Zuckerrohrabfälle, die bei der Zuckerherstellung anfallen)
sowie aus Flachs (5 %) und Hanf (5 %)
hergestellt.
Die Inhaltsseiten sind auf Munken Print
White, einem FSC-zertifizierten Papier,
gedruckt – das sich neben seiner natürlichen
Haptik dadurch auszeichnet, dass das
verwendete Holz aus verantwortungsvoller
Waldwirtschaft stammt.
Character
85
August 2015
Das Glück besteht
darin, zu leben wie alle
Welt und doch
wie kein anDerer
zu sein.
Simone de Beauvoir, 1908 – 1986,
französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin
bleiben wir
iM Dialog!
Telefon: 069 2177 1712
www.bethmannbank.de

Documentos relacionados