Räume und Lebensstile im 18. Jahrhundert
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Räume und Lebensstile im 18. Jahrhundert
Introduction Räume und Lebensstile im 18. Jahrhundert 1 2 Introduction Aufklärung und Moderne Herausgegeben von Günther Lottes und Brunhilde Wehinger Band 30 Introduction Räume und Lebensstile im 18. Jahrhundert Kunst-, Literatur-, Kulturgeschichte Herausgegeben von Gertrud Lehnert und Brunhilde Wehinger Wehrhahn Verlag 3 4 Introduction Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Potsdam Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. 1. Auflage 2014 Wehrhahn Verlag www.wehrhahn-verlag.de Satz und Gestaltung: Wehrhahn Verlag Umschlagabbildung: Drawings Faithfully Copied from Nature at Naples: And with Permission Dedicated to the Right Honourable Sir William Hamilton ... by Friedrich Rehberg, Engraver Tommaso Piroli, Illustrator, 1794. Druck und Bindung: Aalexx Buchproduktion, Großburgwedel Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany © by Wehrhahn Verlag, Hannover ISSN 1864-1601 ISBN 978–3–86525–297–5 Introduction 5 Inhaltsverzeichnis Gertrud Lehnert, Brunhilde Wehinger Raumkonstitution und Lebensstile im 18. Jahrhundert: Boudoir, bürgerliches Interieur, Kaffeehaus, Salon. Einleitung ............. 7 Gertrud Lehnert Räume und Affekte Boudoir und bürgerlicher Innenraum ................................................ 13 Matthias Hahn Ein Bild- und Bildungsprogramm Sophie von La Roches Antworten auf Fragen nach meinem Zimmer ..... 33 Bettina Brandl-Risi Modische Posen. Die Attitüden der Emma Hamilton und die Präsentifikation der Antike im bürgerlichen Interieur ............ 65 Elfi Bettinger »Places Devoted to Scandal« Zur Kultur englischer Kaffeehäuser im 18. Jahrhundert ..................... 83 Brunhilde Wehinger »Im Salon der Frau von Carayon«. Fontanes Blick zurück: Eine historische Fiktion der Salongeselligkeit um 1800 .................... 101 6 Introduction Raumkonstitution und Lebensstile im 18. Jahrhundert Gertrud Lehnert, Brunhilde Wehinger Raumkonstitution und Lebensstile im 18. Jahrhundert: Boudoir, bürgerliches Interieur, Kaffeehaus, Salon. Einleitung Die Beiträge dieses Bandes beleuchten die Verschränkung spezifischer Räume, Raumgestaltungen und Raumvorstellungen mit Lebensstilen und Wissensformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und gehen der Frage nach: Welche Räume bringen welche Stile hervor und welche Stile bringen umgekehrt welche Räume hervor? Gemeint sind zunächst konkrete materielle (architektonisch gestaltete) Räume und historische Lebensstile, sodann insbesondere literarisch und künstlerisch hervorgebrachte und reflektierte Räume und Lebensstile. Die materiellen und die künstlerisch konstituierten Räume und zur Anschauung gebrachten Lebensstile (oder: Moden) sind insofern untrennbar miteinander verbunden, als historische Raumauffassungen und Lebensstile durch schriftliche und bildliche Quellen und mithin durch Artefakte überliefert sind (Bildende Kunst, Literatur, Theater etc., oder dokumentarische Archivquellen, Gerichtsakten, Egodokumente wie Briefe, autobiographische Texte, Reisebeschreibungen etc.). Diese Differenzierungen sind aus heuristischen Gründen eine notwendige Voraussetzung, um die Kunst als Ort der »Verhandlung« (im Sinne des New Historicism) von Lebensstilen oder als spezifischen Zeichengebrauch erkennen und ihre ästhetischen Qualitäten erfassen zu können. Entsprechend moderner Raumauffassungen, die seit dem sogenannten »spatial turn« in den Kulturwissenschaften selbstverständlich geworden sind1, lautet unsere Prämisse, dass Raum weder absolut gegeben noch bloßes Wahrnehmungsphänomen ist, sondern von Menschen hervorgebracht wird und auf die menschliche Wahrnehmung zurückwirkt. Materielle Räume sind nicht von Raumvorstellungen zu trennen, 1 Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001. 7 8 Gertrud Lehnert, Brunhilde Wehinger sei es, dass diese der alltäglichen Orientierung in der Welt dienen oder ästhetischer oder wissenschaftlicher Art sind. Kultureller Raum unterliegt der historischen Veränderung, und damit, so unsere Ausgangsthese, partizipiert er an den wechselnden Moden der Lebensstile. Dennoch kann die Aussage Geltung beanspruchen, dass Sein in der Welt eine räumliche Beziehung impliziert, auch wenn sich das Subjekt (als Leibsubjekt) ihrer nicht bewusst ist.2 Es ist daher davon auszugehen, dass sich Raum, Dinge und menschliche Praktiken, kulturelle Mentalitäten und Emotionskulturen gegenseitig bedingen und aufeinander einwirken.3 Die Fokussierung der Beiträge dieses Bandes auf das 18. Jahrhundert, d. h. auf die Gründungsepoche der Moderne, ergibt sich aus den für unsere Gegenwart nach wie vor bedeutsamen Umbrüchen, die sich im Jahrhundert der Aufklärung u. a. in Bezug auf Zeitkonzepte und Zeitwahrnehmungen vollzogen haben, aber auch in Bezug auf die modernen Wissensordnungen (mit einer Dominanz der Anthropologie) und den daraus resultierenden Formen der modernen Wissensgesellschaft. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive interessieren uns die für das Verständnis der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts so aufschlussreichen, in die Moderne weisenden Formen der Lebensgestaltung oder Lebensstile des sich herausbildenden Bürgertums, das sich spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent als neue bildungsbewusste Gesellschaftsschicht einerseits gegen die traditionelle Repräsentationskultur des (Feudal-)Adels und des Hofes behauptet, zugleich aber immer neue Abgrenzungsstrategien gegen die ›volkstümliche‹ Kultur erfindet – obgleich das dem Denken der Aufklärung verpflichtete Bürgertum, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts formiert, im Zeichen von Universalismus, Ebenbürtigkeit, Humanität antrat. Die neuen ästhetischen Normen, Wahrnehmungsformen, Geschlechterrollen und insgesamt Moden im weitesten Sinn des Wortes werden indes nicht ganz ohne Rückgriff auf die Elemente der älteren Adelskultur (obgleich kritisch oder provokativ gegen diese) generiert. Voltaire hatte es bereits 1719 vorgemacht, als er den Namen Voltaire annahm, diesen mit dem Adelsprädikat »de« versah und sich bis an sein Lebensende demonstrativ 2 Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965. 3 Gertrud Lehnert (Hg.), Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011. Raumkonstitution und Lebensstile im 18. Jahrhundert 9 aristokratisch kleidete (stets mit imposanter Perücke); in seinem philosophischen Lehrgedicht Le Mondain (1736) fordert er »Aufklärung« und »Luxus« für alle, und zwar hic et nunc – ganz der Gegenwart zugewandt.4 Welchen Stellenwert die Thematisierung des ›modernen‹, d. h. im späteren 18. Jahrhundert ›bürgerlichen‹ Lebensstils (heute: »Lifestyle«) für das Publikum, das bildungsbewusst ist und ein neues, gegenwartsund zukunftsorientiertes Selbstbewusstsein demonstriert, bereits im 18. Jahrhundert hatte, zeigt sich in besonderer Weise in den zeitgenössischen Modezeitschriften, die seit der Jahrhundertmitte zunehmend ihren Platz in der Medienlandschaft behaupteten und eine zunehmend größere Rolle spielten. So beschreibt das seit 1786 in Paris erscheinende Cabinet des Modes sein Anliegen bereits im ausführlichen (Unter-)Titel: Kabinett der Moden, oder Die neuen Moden. Klar und präzise beschrieben & mit kolorierten Stichen versehen. Das Journal vermittelt eine genaue und prompte Kenntnis sowohl der Kleider und der Aufmachung von Personen beiderlei Geschlechts als auch der neuen Möbel jeder Art, neuer Innenausstattung, ferner der Verschönerungen von Wohnungen, der neuen Formen für Kutschen, für Schmuck, Goldschmiedekunst, & allgemein von allem, was die Mode an Besonderem, Angenehmem oder Interessantem in allen möglichen Bereichen bietet. Mode im Verständnis von »Lebensstil« bezieht sich im Cabinet des Modes, das schon im Titel Raum und Mode miteinander verschränkt5, auf Inneneinrichtungen, Formen der Unterhaltung, Formen des geselligen Verkehrs, des Essens und Trinkens, auf Manieren, Sprachmoden, Geschlechtermoden und schließlich auch auf intellektuelle und wissenschaftliche Moden. Dabei impliziert »Lebensstil« zugleich die – teilweise aktiv von Individuen vorangetriebenen – Geschmacksbildungsprozesse: Diese werden u. a. durch die jeweiligen, sich verändernden Konsumpraktiken modelliert (auch das wird im späteren 18. Jahrhundert ein immer wichtigeres Element der materiellen Kultur) und dienen der Formierung von Individualität. 4 5 Brunhilde Wehinger, Luxus, Mode, Glück im Jahrhundert der Aufklärung, in: Gertrud Lehnert (Hg.), Die Kunst der Mode, Oldenburg 2006, 102–127. »Cabinet« bezeichnet im 18. Jahrhundert einen kleinen (Innen-)Raum, in dem man ungestört seiner Beschäftigung nachgehen kann; z. B. cabinet de lecture (Lesezimmer), cabinet de toilette (Ankleidezimmer); in der französischen (Barock-) Gartenkunst bezeichnet cabinet den »Gartensalon«, ein gartenarchitektonisch gestalteter Ort oder (Rückzugs-)Raum, der umgrenzt ist von Sträuchern, Baumgruppen, Palisaden, dekoriert mit Statuen, Gartenmöbeln etc. und zur Gliederung der Gartenanlage beiträgt. 10 Gertrud Lehnert, Brunhilde Wehinger Ausgangspunkt der Studien dieses Bandes sind konkrete Räume, die man im Unterschied zum allgemeinen, abstrakten »Raum« auch als Orte bezeichnen könnte. Die Aufmerksamkeit der Autoren/innen gilt jedoch insbesondere der literarischen und künstlerischen Konstitution dieser Räume in Bildern und Texten. Im Vordergrund stehen also literarisch oder künstlerisch vergegenwärtigte Räume wie das Boudoir in den Liaisons dangereuses (Gertrud Lehnert), das »Wohn-Zimmer« als Bildergalerie bei Sophie von La Roche (Matthias Hahn), das bürgerliche Interieur als Bühne für die Inszenierung »lebender Bilder« oder »modischer Posen« der Emma Hamilton (Bettina Brandl-Risi), das Kaffeehaus u. a. als Ort eines angeblich so skandalösen, nur mühsam zu domestizierenden rauschhaften Konsums (Elfi Bettinger) sowie der Salon als weiblich geprägter Raum einer ›gemischten Gesellschaft‹ (Brunhilde Wehinger). Aber auch Wirtshaus und fürstlicher Speisesaal (beide im Gegensatz zum bürgerlichen Esszimmer) rücken als spezifische Räume der Geselligkeit und des Konsums in den Blick. Diese paradigmatischen Räume werden in den kunst- und literaturgeschichtlichen Quellen nicht einfach als Behältnis von Dingen oder als dekorativer Schauplatz des alltäglichen Lebens imaginiert. Es geht deshalb darum, ihre semantische Polyvalenz und ihre poetische und ›moralische‹ Wirkung in den Blick zu nehmen. So geht es uns um folgende Fragen: Wie verhält sich der Raum (etwa das von Sophie von La Roche literarisch konstituierte »Wohn-Zimmer«, in dem sie Bilder zur Bildung der Familie und ihrer Besucher/innen ›ausstellt‹) zu den Betrachter/innen und zur Wahrnehmung der Gemälde und umgekehrt? Wie verhalten sich die Menschen in den Räumen, wie realisieren sie ihre Selbstinszenierungen? Wie wirken bewegte oder stillgestellte Körper im bürgerlichen Interieur, das Emma Hamilton als (nicht öffentliche, aber umso exklusivere) Bühne dient? Insgesamt geht es um historische Erfahrung beziehungsweise um die Erzeugung von Raumvorstellungen und Raumwahrnehmungen, um Körpersprachen, Mimik, Physiognomik. So widmen sich die Beiträge am Beispiel unterschiedlicher Quellen der Frage, wie Dinge im Raum inszeniert, wie im Raum (Kunst-)Gegenstände exponiert und Räume voneinander abgegrenzt werden, welche Wissensordnungen sich in bestimmten Räumen entfalten bzw. etablieren. Wie erzeugen Räume Wissen und welches Wissen? Oder es geht – wie im diachronisch angelegten Beitrag zur Kulturgeschichte des englischen Kaffeehauses – darum zu erörtern: Raumkonstitution und Lebensstile im 18. Jahrhundert 11 Inwiefern repräsentieren und produzieren Räume Machtstrukturen? Wie positionieren sich die Geschlechterordnungen in dem auf den ersten Blick männlich beherrschten Kaffeehaus? In den Studien zum Boudoir und zum Salon werden die Dichtotomie beziehungsweise die konkreten und symbolischen Übergänge zwischen Innenräumen und Außenräumen profiliert. Dabei rückt der sich immer neu formierende Gegensatz zwischen ländlichen und städtischen oder höfischen Räumen in den Blick, desgleichen die grundlegende Gender-Kodierung von Raum und räumlichem Verhalten. Auch die Frage, warum bestimmte Räume überhaupt thematisiert, andere hingegen verschwiegen werden, wird im Horizont der einzelnen Beiträge mitgeführt. Der Sammelband führt kulturanthropologische, literatur- und kunstwissenschaftliche sowie modehistorische6 Fragestellungen zusammen und fokussiert auf die beiden Aspekte »Raum« und »Lebensstile« in ihrer Verschränktheit. Indem eine – historisch wandelbare – anthropologische Konstante, nämlich der grundsätzliche Raumbezug des Menschen, mit sozialgeschichtlichen und ästhetischen Prozessen zusammengedacht wird, lassen sich sowohl neue (systematische) Perspektiven auf die Prozesshaftigkeit von Raum-Konstitution als auch neue (kulturgeschichtliche) Erkenntnisse über die Kulturformen des (späteren) 18. Jahrhunderts gewinnen. Das Erkenntnisinteresse ist demgemäß kulturgeschichtlich und historisch-anthropologisch sowie kunst- und literaturwissenschaftlich orientiert: Konzepte von Ästhetik als ästhetische Arbeit und der Erzeugung von Atmosphären spielen – neben Theorien des Erscheinens und der Aufmerksamkeit – für die Erforschung der Interdependenz von Raum und Lebensstil ebenfalls eine Rolle. 6 Gertrud Lehnert, Frauen machen Mode. Modeschöpferinnen vom 18. Jahrhundert bis heute, Dortmund 1998; Brunhilde Wehinger, »Modisch« / »Mode«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. Karlheinz Barck et al., Bd. 4, Stuttgart 2002, 168–183. 12 Gertrud Lehnert, Brunhilde Wehinger