250 Jahre russlanddeutsche Geschichte
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250 Jahre russlanddeutsche Geschichte
1763-2013 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Herausgegeben von der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Grußwort der Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe anlässlich des 250. Jahrestages der Veröffentlichung des Einladungsmanifests der Zarin Katharina II. Ich bin davon überzeugt, dass wir einander besser verstehen und akzeptieren können, wenn wir mehr voneinander wissen. Es würde mich freuen, wenn auf diesem Wege dazu beigetragen wird, Verständnis zu schaffen, Vorurteile abzubauen und das vermeintlich Fremde vertrauter zu machen. Das Einladungsmanifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 markiert für die Deutschen aus Russland und ihre Landsmannschaft den Beginn eines langen Weges. Mit der Veröffentlichung ihres Manifests hatte die Zarin, die als geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst selbst aus Deutschland stammte, versucht, die wirtschaftliche Entwicklung und Kultivierung des Landes mit Ausländern voranzutreiben. Vor 250 Jahren wütete in Deutschland der Siebenjährige Krieg. So war es seinerzeit ein attraktives Angebot, Deutschland zu verlassen und - aufgrund verbriefter Privilegien wie Religionsfreiheit, das Recht auf Selbstverwaltung in den Siedlungsgebieten, Freistellung vom Militärdienst, Steuerfreiheiten sowie Zuweisungen an Familien oder Gewährung zinsloser Aufbauhilfen - nach Russland überzusiedeln. Die deutschen Einwanderer waren stets begehrte Fachkräfte und Spezialisten, die sich unter den damaligen attraktiven Rahmenbedingungen entfalten konnten. Fleiß und Tüchtigkeit der Siedler haben den wirtschaftlichen Aufstieg Russlands maßgeblich gefördert. Wegen ihrer Tatkraft waren die deutschen Siedler im zaristischen Russland daher willkommen und allseits wertgeschätzt. Mit den beiden Weltkriegen jedoch, den offenen Feindseligkeiten zwischen dem deutschen und russischen Staat, verschlechterte sich zunehmend auch das Verhältnis zwischen der russischen Bevölkerung und den deutschstämmigen Siedlern. Für die Deutschen in Russland bzw. später in der Sowjetunion begann damit ein weiterer Teil russlanddeutscher Siedlungsgeschichte, die nach opferreichen Anfangsjahrzehnten zu Doris Schröder-Köpf wirtschaftlichem Aufschwung und Wohlstand im 19. Jahrhundert führte, ehe im 20. Jahrhundert Hunderttausende zu Opfern des Stalinismus wurden: Deportation nach Sibirien und Zentralasien und entbehrungsreiche Jahrzehnte unter Kommandantur in Sondersiedlungen folgten. Erst die Entspannungspolitik Gorbatschows eröffnete den Deutschen in Russland die Möglichkeit, die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion als (Spät-)Aussiedler verlassen zu können. Die Gruppe der Spätaussiedler und ihre Familien bildeten in den letzten beiden Jahrzehnten die größte Zuwanderungsgruppe in Niedersachsen. Deutsche Aussiedler aus Russland und vor allem jugendliche Spätaussiedler haben es schwer, in Deutschland als Deutsche akzeptiert zu werden. Dafür gibt es viele Gründe. Ein Grund ist die Unkenntnis über die Geschichte der Deutschen in Russland. Wer sind die Deutschen aus Russland, was haben sie erlebt, warum sprechen manche kaum Deutsch? Titelbild: Statue der jungen Zarin Katharina II. in Zerbst/Anhalt. Bild: Reinhard Uhlmann. Wir müssen verstehen lernen, dass es sich nicht um die Geschichte Fremder handelt, sondern um einen Teil der deutschen Geschichte. Die Geschichte der Russlanddeutschen ist auch unsere Geschichte. Die Erinnerung an den Beginn des Weges der Deutschen aus Russland vor 250 Jahren bildet einen wesentlichen Baustein zur Identitätsfindung dieser Zuwanderungsgruppe. Für die Landsmannschaft ist das Jubiläum daher ein wichtiges Datum. Ein historischer Überblick allein ist aber nicht ausreichend, um die Situation der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und ihre Lage in Deutschland verstehen zu können. Vielmehr müssen Fragen rund um ihre Herkunft, Stellung oder ihre Bedeutung für Deutschland beantwortet werden. Nur so kann ihre Eingliederung als Teil der bundesdeutschen Gesellschaft erfolgreich sein. Die Broschüre der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland skizziert hierzu in gelungener Art und Weise die Schicksalswege der Deutschen in Russland, veranschaulicht deren Leben und ist damit ein wichtiger Beitrag zur Verständigung der Menschen in Niedersachsen. Ihre Doris Schröder-Köpf 1763 - 2013 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Gewidmet dem 250. Jahrestag der Veröffentlichung des Einladungsmanifests der Zarin Zarin Katharina II. der Großen vom 22. Juli 1763, das am Anfang der Auswanderung von Deutschen nach Russland im größeren Umfang steht und dem im Jahr darauf die Gründung der ersten deutschen Kolonien an der Wolga folgte Herausgegeben von der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen. Inhalt Vorwort der Landesbeauftragten für Migration und Teilhabe, Doris Schröder Köpf 2 Johann Kampen: Vor dem Manifest der Zarin Katharina II. 4 Heinrich Heidebrecht: Andreas Schlüter 7 Nina Paulsen: Deutsche wandern nach Russland aus: Ansiedlung an der Wolga und in anderen Gebieten 8 Die Wolgadeutschen - seit 250 Jahren auf der Suche nach einer Heimat 16 Nina Paulsen: Katharina die Große: Eine Deutsche auf dem russischen Zarenthron Nina Paulsen: Überblick: Der weite Weg an die Wolga und zurück Manifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 Dr. Viktor Krieger: Wolgadeutsche Republik Zeittafel Im Einsatz für die Deutschen aus Russland © 2013 Herausgeber: Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. Gefördert durch die Landesregierung Niedersachsen. Raitelsbergstraße 49, 70188 Stuttgart Tel.: 0711-16650-0, Fax: 0711-2864413, E-Mail: [email protected], www.deutscheausrussland.de Redaktion: Hans Kampen Beiträge: Nina Paulsen, Johann Kampen, Dr. Viktor Krieger, Heinrich Heidebrecht. 3 18, 23 19-22 26 30 38 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Vor dem Manifest der Zarin Katharina II. I n der Geschichtsschreibung ein wenig zu kurz gekommen sind die Aktivitäten und das Leben der Deutschen in den Weiten Russlands vor 1763, d.h. vor dem Manifest der großen Deutschen auf dem Zarenthron, Katharina II., mit dem die gebürtige Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst ihre ehemaligen Landsleute ins Land rief. Mit diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, etwas mehr Licht in die ferne Vergangenheit einer Volksgruppe zu bringen, die ohne ihr Dazutun zwischen die Mühlsteine der Weltmächte geriet und in neuester Zeit bedauert, dass sie selbst im Land ihrer Ahnen außer in Verbindung mit negativen Schlagzeilen kaum noch wahrgenommen wird. Dass dabei hauptsächlich die Ereignisse in den beiden bedeutendsten Städten Russlands zur Sprache kommen, liegt daran, dass es bis zum 18. Jahrhundert in anderen Regionen Russlands kaum ein deutsches Leben gab, wie es später in Stadt und Land an der Wolga, in der Ukraine, im Kaukasus, in Wolhynien oder auf der Krim pulsierte. Ein besonderes Kapitel hätten natürlich die Baltendeutschen verdient, die eine herausragende Rolle bei der Kolonisation Russlands gespielt haben. Deutsche aus Estland, Lettland und Litauen dürften jedoch nichts dagegen einzuwenden haben, wenn sie an dieser Stelle nicht der Gruppe typischer russlanddeutscher Aussiedler zugerechnet werden. Weitere tiefere Einblicke in die russlanddeutsche Vergangenheit ergäben das Wirken deutscher Kaufleute im Süden Russlands seit der Christianisierung der Kiewer Russ im Jahr 988 und die Beziehungen der deutschen Hanse nach Nowgorod im Norden des Reiches ab 1229. Dazu an anderer Stelle mehr. Moskau und seine Deutsche Siedlung (Nemetzkaja Sloboda) 1517 und 1521 folgten mehrere deutsche Kanoniere dem Ruf von Werbern und zogen in den Moskauer Vorort „Nalejka“ (kleinrussisch „Naliwka“), um die Stadt gegen die Tataren zu verteidigen. Die Namen hatten allerdings noch nichts mit der späteren „Nemetzkaja Sloboda“ zu tun, sondern mit Likör. 1547 schickte Iwan der Schreckliche (Iwan IV.) seinen Untertanen Hans Schütte nach Europa, um Kaufleute, Gewerbetreibende und Mediziner für sein Reich anzuwerben. 123 Deutsche, Holländer, Schweden, Dänen, Franzosen, Schotten, Polen und Livländer folgten diesem Ruf und wurden von Moskau aufgenommen. Im Verlauf des Livländischen Krieges (1558-1583), den Iwan der Schreckliche gegen den Deutschen Orden führte, kamen weitere Ausländer hinzu, die in Livland gelebt hatten. Während der für Iwan den Schrecklichen erfolgreichen Phase dieses Krieges wurde in Moskau die „Nemetzkaja Sloboda“ („Deutsche Siedlung“) gegründet. Um 1560 hatten russische Truppen Städte im Baltikum und anderswo erobert und siedelten viele Bewohner, darunter auch Deutsche, nach Wladimir, Kostroma, Nischnij Nowgorod, Tula, Kasan und Uglitsch um. In Kasan hatten sich deutsche Kanoniere bei der Eroberung des Khanats unter Iwan IV. ausgezeichnet. Als Gründungsjahr der Deutschen Siedlung in Moskau werden in unterschiedlichen Quellen 1558 oder 1570 angegeben. Das Jahr 1559 wird dagegen übereinstimmend als das erste Jahr der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Moskau mit Timan Brackel als Pastor genannt, und 1576 wurde in der Deutschen Siedlung die erste evangelisch-lutherische Holzkirche er4 baut. Ausländern war bereits um 1560 der Weinhandel erlaubt worden, was sich als gute Einnahmequelle erwies. Die Sloboda hatte zwei Straßen, die Narwskaja und die Derpskaja, zur Erinnerung an die baltischen Städte, aus denen viele Bewohner der Sloboda stammten. 1580 zerstörten auf Befehl des Zaren dessen Gardisten, die „Opritschniki“, die Sloboda. Die Kirche der Ausländer wurde geplündert und in Brand gesetzt. Die Schäden dieser Barbarei wurden erst unter den Nachfolgern von Iwan IV. behoben, von denen der ausländerfreundliche Zar Boris Godunow (1598-1605) durch ein Drama von Puschkin und eine Oper von Mussorgski historische Berühmtheit erlangte. Sehr unterschiedliche Jahre warteten auf die Nemetzkaja Sloboda kurz darauf zur Zeit der „Smuta“ (Wirren) unter den falschen Zaren Pseudodimitri I. und Pseudodimitri II. Unter Pseudodimitri I. wurde die deutsche Siedlung dank der guten Beziehungen des deutschen Pastors Martin Bär zu ihm verschont, sie war aber unter Pseudodimitri II. um 1610 wieder schwersten Brandschatzungen ausgesetzt. Erst nach dem Tod von Iwan IV. (1584) durften die Deutschen wieder in ihre Heimat zurückkehren oder in Moskau bleiben. 1606 gestattete Pseudodimitri I. im Kreml den Bau eines hölzernen Bethauses, das jedoch bereits 1610 von den Horden Pseudodimitris II. zerstört wurde. 1612 durften die Deutschen wieder zurückkehren, nachdem das Militär unter der Führung von Minin und Posharskij Ordnung hergestellt hatte. Im 17. Jahrhundert erstreckte sich die Aktivität deutscher und anderer Einwanderer in Moskau hauptsächlich auf Anforderungen des Zarenhofes und der Regierung in den Bereichen Handel, Militär, Manufaktur, Bauwesen und Medizin. Über 25 Jahre lang arbeitete in Moskau allerdings auch schon ein Gießereimeister namens Hans Falk aus Nürnberg. 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Zeitgenössische Darstellung der „Nemetzkaja Sloboda“. Für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts beziffert die Enzyklopädie der Deutschen Russlands die Zahl der Deutschen in Moskau mit 1.000. Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass Russen den Begriff „Nemzy“ für Deutsche in vielen Jahren ihrer Geschichte gerne auch auf benachbarte Volksstämme ausdehnten, etwa auf Holländer, Dänen oder Schweizer. Im umgekehrten Sinne können Russlanddeutsche aber auch negative Attribute beklagen, die ihnen in Zeiten deutsch-russischer Spannungen rasch angehängt wurden. So wurden Deutsche in der Ukraine zwischen den beiden Weltkriegen von bösen Buben schon mal als „Prus(s)aki“ im doppelten Sinne des Wortes bezeichnet: mit zwei „s“ für Preußen, die in der Regel von Russen nicht besonders geliebt wurden, oder mit einem „s“ für Schaben als Synonym für Kakerlaken. Eine weitere Steigerung des antideutschen Vokabulars erfolgte in der Sowjetunion nach der Machtergreifung Hitlers und wurde im Zweiten Weltkrieg geradezu pervertiert, indem man alle Deutsche im In- und Ausland als Faschisten beschimpfte, ganz gleich, ob damit deutsche Kommunisten, Nationalisten oder Christen gemeint waren. Die ersten Moskauer Deutschen sollen versucht haben, zwischennationale Probleme in weiser Voraussicht aus der Welt zu schaffen, indem sie beispielsweise begannen, sich wie Russen zu kleiden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war Russland sowohl hinsichtlich seines Territoriums als auch mit einer Bevölkerung von über zehn Millionen Menschen das größte Land Europas. Seine Hauptstadt Moskau hatte sich zu einem wichtigen Handelszentrum mit starken deutschen und holländischen Initiativen entwickelt. Die Beziehung zu Europa gewann an Bedeutung. Die Verbindungen liefen zunächst über Riga, ab 1667 über Wilna und später über Archangelsk. 1672 wurde in Moskau die erste Apotheke mit Hilfe von Johann Gutmensch geöffnet, und im gleichen Jahr gründete der evangelische Pastor Jo- hann Gottfried Gregori das erste Moskauer Hoftheater. Peter I., der Große (1672 bis 1725), der mit seinem nach Europa gerichteten Blick ein neues Kapitel der russischen Geschichte aufschlug, verlegte die Führung Russlands Anfang des 18. Jahrhunderts von Moskau nach Petersburg. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren bereits 4.000 von insgesamt 150.000 Bewohnern Moskaus Deutsche. Nach sehr wechselvollen Entwicklungen lebten in der Sloboda im Jahr 1682 wieder 18.000 Einwohner bei einer Moskauer Gesamtbevölkerung von 200.000 Einwohnern. Unter der Bevölkerung der Sloboda überwogen die Deutschen, gefolgt von Holländern, Engländern, Schotten und anderen Europäern. Es gab zwei deutsche lutherische Kirchen, eine reformierte holländische und eine anglikanische Kirche. Sprachlich dominierten Deutsch und Holländisch, woran sich selbst die Einwanderer aus England und Schottland gewöhnten. Eine für unser Jahrhundert nur schwer vorstellbare Erscheinung... Über Archangelsk und andere Häfen im Norden Russlands importierten Engländer vornehmlich Tuche, während Deutsche und Holländer gerne fertige Produkte aus Edelmetallen, Glas und Porzellan in Augsburg und Nürnberg bezogen. Offiziere, Ärzte und Apotheker verdienten gut, aber es gab auch schon die ersten Probleme Der später (1845-1852) von Konstantin Thon erbaute Petersburger Bahnhof in Moskau. Bild: Heinrich Heidebrecht 5 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte durch die unterschiedlichen Konfessionen von Alt- und Neubürgern, die bis zu einem Todesurteil gegen einen Religionsfanatiker durch die weltliche Rechtsprechung reichten. (Vergleiche dazu Heimatbuch 2000 der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Seite 19.) Als Ende der Sloboda muss das Jahr 1812 angesehen werden, in dem Moskau nach der Besetzung durch die Truppen Napoleons I. an vielen Stellen in Brand gesetzt wurde. Eine Katastrophe, von der sich die Deutsche Siedlung nicht mehr erholte. Deutsche in der Stadt Peters I. des Großen S chon nach der Eroberung von Ingermanland (dem späteren Gouvernemet Petersburg) durch die Schweden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts siedelten sich Deutsche in diesem Gebiet an. Durch das Manifest des Königs Gustav Adolf vom 16. Okt. 1622 wurden deutschen Kolonisten große Privilegien zugebilligt, wenn sie sich im Newagebiet, das damals kaum besiedelt war, niederlassen wollten. In der Stadt Nyen an der Ochta nördlich von Petersburg lebte bereits damals eine größere Zahl von Deutschen. Hier bestand zur Zeit der Eroberung des Gebiets durch Peter I. eine deutsche Gemeinde, die 1640 die Erlaubnis zum Bau einer Kirche erhalten hatte. Die Hauptbesiedlung des späteren Gouvernements Petersburg fiel aber in die Zeit der Besiedlung der Wolgagebiete durch die Kaiserin Katharina II. 1763-1768 und des Schwarzmeergebietes unter Alexander I. 1804-1824...“ (Nach dieser kurzen Einführung folgt im Heimatbuch 1962 der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ein sehr detaillierter Bericht von elf Seiten von Dr. Karl Stumpp über die deutsche Kolonisation in Russland nach 1763.) Solche oder ähnliche Texte zur Geschichte der Russlanddeutschen kann man viele finden. Für die Zeiten vor der Zarin Katharina II. der Großen gibt es aber nur wenig authentische Literatur über die ersten deutschen Pioniere in den Weiten Russlands. Und selbst bei den umfangreichen Publikationen zu Peter I. dem Großen fällt es dem interessierten Laien schwer, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Peter I., der von 1682 bis 1725 Zar von Russland war, muss als der Begründer von Russlands Größe angesehen werden. Vor Katharina II. war er der bedeutendste Herrscher auf dem Zarenthron. Sein Blick war verstärkt Richtung Westen gerichtet, nachdem ihm im Norden Schweden und im Süden Türken die Expansion seines Reiches schwer gemacht hatten. Seine Studienreisen in jungen Jahren nach Dass Sankt Petersburg an der Newa auch schon mal Petrograd oder über viele lahre Leningrad hieß und nach seiner Erhebung zur Hauptstadt Russlands in den Jahren 1712-1724 für zwei Jahrhunderte vor Moskau als die Nr. 1 der Städte des Riesenreiches fungierte, dürfte allgemein bekannt sein. Westeuropa sollten einen doppelten Zweck erfüllen: Als junger Peter Alexejewitsch wollte er neue Erkenntnisse sammeln und als Zar aller Reußen ausländische Fachkräfte für seine ehrgeizigen Zukunftspläne mit Russland gewinnen. Holländer und Deutsche hatten es ihm wohl besonders angetan. So soll er sogar einem orthodoxen Popen geraten haben, den Gottesdienst nach Peter der Große niederländischer Art ohne überflüssiges Beiwerk zu gestalten Schon im ersten Jahr der Öffnung eines „Fensters nach Europa“, 1703, wurde im heutigen Sankt Petersburg eine evangelische Holzkirche für Der von Andreas Schlüter und Johann Friedrich Braunstein geschaffene Große Palast in Peterhof. Bild: Heinrich Heidebrecht 6 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Andreas Schlüter Die Pläne für die Kunstkammer, den Petersburger „Palast des Wissens“, wurden von dem Berliner Bildhauer und Architekten Andreas Schlüter hinterlassen und anschließend von Georg Johann Mattarnovi und Gaetano Chiaveri 1718 bis 1734 ausgeführt. Heute dient die Kunstkammer als Museum der Anthropologie und Völkerkunde. Bild: Heinrich Heidebrecht Handwerker errichtet, die aus Norddeutschland und Holland stammten und zumeist Anhänger Luthers waren. Die Stadt entwickelte sich bald nach ihrer Gründung zu einem Magneten für Handwerker aus Deutschland und benachbarten kleineren Landen. Es blieb jedoch nicht bei Handwerkern, denn schon 1627, als die „St. Petersburger Zeitung“ gegründet wurde, gab es in der Stadt eine Akademie der Wissenschaften, die im Wesentlichen von Deutschen geführt wurde, sowie eine deutsche Handwerkskammer und deutsche Fabriken. Sogar das bekannte Russische Theater in St. Petersburg wurde von einer deutschen Theatergruppe gegründet. All diese war ein bedeutender Bildhauer und Baumeister des Barocks, dessen Begabungen Peter der Große sehr schätzte. Der um 1660 in Danzig geborene Schlüter lernte bei dem Bildhauer Saponius und ging 1694 nach Berlin, wo er Hofbildhauer wurde und nach einem Studienaufenthalt in Italien 1698 die Bauleitung am Zeughaus und Schloss übernahm. 1703-04 war er Direktor der Akademie der Künste. 1996 entstanden für das Zeughaus die berühmten 21 Masken sterbender Krieger und zahlreiche bauplastische Arbeiten, die auf einen größeren Werkstattbetrieb schließen lassen. 1699 bis 1708 schuf Schlüter das Reiterdenkmal des Großen Kurfürsten (Charlottenburger Schlosshof). Als maßgeblicher Architekt der Großbauten prägte er das Bild des barocken Berlin, vor allem mit dem gewaltigen Schlossbau (im II. Weltkrieg zerstört, Ruine abgebrochen). 1709 fiel er in Ungnade, nachdem an verschiedenen Bauwerken technische Schäden auftraten. Ab 1713 arbeitete Schlüter für Peter den Großen in St. Petersburg. Das berühmte Bernsteinzimmer, das Friedrich I. 1717 Peter dem Großen schenkte, war sein Entwurf. Er wirkte mit am Bau der Kunstkammer sowie am Schloss Monplaisir in Peterhof. Er und Johann Friedrich Braunstein waren die ersten namentlich erwähnten Architekten in Peterhof. Auch der Kikins Palast, eines der ältesten Gebäude der Stadt, war ein Werk Schlüters. Das herrliche maritime Basreliefs des Sommerpalasts schuf er ebenfalls. Sein Stil war geprägt von barocker Bewegung und Leidenschaftlichkeit, seine Architektursprache erinnert an das feierliche Pathos michelangelesker Ordnungen. Heinrich Heidebrecht Einrichtung und das deutsche Schulwesen blieben mit Ausnahme der Kriegs- und Verfolgungsjahre über die Jahrhunderte erhalten und sind auch heute noch wichtige Reiseziele deutscher Touristen und Forscher. Empfehlenswerte Literatur zum Thema: Heimatbücher 1955, 1963, 1964. 1966, 1967/68, 1996, 1967/68 und 2000/1 der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Nemzy Rossiji, Band I, Moskau 2004 (in russischer Sprache). Mennonitisches Lexikon, Band III, Karlsruhe 1958. 7 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Deutsche wandern nach Russland aus: Ansiedlung an der Wolga und in anderen Gebieten D as russische Zarenreich vergrößerte sich ab dem 15. Jahrhundert um das Fünfzigfache und nahm am Schluss bis zu einem Sechstel der Landfläche der Erde ein. Diese enorme Ausdehnung geschah durch Eroberungskriege, aber auch durch die friedliche Eingliederung von Völkern. Anwerbung In weiten Teilen Russlands gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts große fruchtbare und ungenutzte Landstriche. Um dem Land in den neu gewonnenen, meist völlig unbewohnten Gebieten neue Einnahmen zu verschaffen, wurden mit wenig Erfolg Russen angesiedelt. Die Anwerbung ausländischer Kolonisten hatte im Grunde das gleiche Ziel. Der Zuzug von Bauern war im Süden erforderlich, um die Ostgrenze vor Überfällen zu schützen und das von den Türken 1762 richtete sich vor allem an die aus Russland entflohenen Untertanen, denen bei Rückkehr nach Russland Straffreiheit in Aussicht gestellt wurde. Ausländer wurden zwar als Zielgruppe genannt, aber ohne jegliches Angebot. Erst das Manifest vom 22. Juli 1763, in dem sie Ausländer nach Russland einlud und ihnen Privilegien (unentgeltliche Landzuweisung, freie Religionsausübung, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, Befreiung vom Militärdienst, kulturelle Autonomie, gemeindliche Selbstverwaltung, keine Leibeigenschaft) zusicherte, hatte Folgen. Privilegien für Ansiedler Viktor Hurr: Missernten und Hunger. Nachdem Zarin Katharina die Große 1763 in ihrem Aufsehen erregenden Manifest zur Ansiedlung in neuen Kolonien an der Wolga eingeladen und dafür erhebliche Privilegien und Fördermittel versprochen hatte, zog es Tausende in die russischen Werbebüros. Im so genannten Gnadenprivileg Pauls I. (1796-1801) vom 6. September 1800 wurden den Mennoniten zusätzliche Vorrechte eingeräumt (Befreiung vom Kriegs- und Zivildienst für alle Zeiten, keine Eidesleistung vor Gericht, Gewerbefreiheit etc.). Danach Zarin Katharina II. abgetretene Land neu zu besiedeln. Kaum hatte Katharina II. den Thron bestiegen, erließ sie am 14. Oktober 1762 ihr erstes Einladungsmanifest, das allerdings geschichtlich folgenlos blieb. Das Manifest vom 4. Dezember Viktor Hurr: Napoleonische Kriege. 8 gründeten sie die Halbstädter Kolonien und Gnadenfeld. Das Manifest Alexanders I. (17771825) vom 20. Februar 1804 legte besonderen Wert auf Einwanderer, die gute Landwirte, Handwerker, Winzer oder Viehzüchter waren. Auswanderungsgründe • W irtschaftliche Not und Missstände in Deutschland infolge von Kriegen (Siebenjähriger und Napoleonischer Krieg), • Heeres- und Frondienste für die eigenen Fürsten und die fremden Mächte, • Unterdrückung durch die eigenen Fürsten und die fremde Besatzung, • Missernten und Hunger • sowie Einschränkung der Glaubensfreiheit Auswanderung aus deutschen Landen nach Russland. (Karte: Ingenieurbüro für Kartographie J. Zwick, Gießen.) 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte 9 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte zwangen viele in Hessen, Rheinhessen, der Pfalz, Württemberg, Baden, dem Elsass und Bayern zur Auswanderung, auch nach Russland. Überall im Lande waren Anwerber der Zarin unterwegs. Auswanderungsströme Die Ausreise erfolgte in drei großen Strömen: • auf dem Seeweg über die Nordund Ostsee nach St. Petersburg, von dort an die Wolga; • auf der Donau zum Schwarzen Meer nach Odessa, auf die Krim und in den Kaukasus; • auf dem Landweg quer durch Polen nach Südrussland. Der Zug an die Wolga ab 1764 erfolgte überwiegend aus Rheinhessen und der Pfalz: Mehr als 30.000 Deutsche folgten den großzügigen Angeboten; an der Wolga kamen etwa 27.000 an. Nach näheren Berechnungen waren es sogar nur circa 23.216 Personen, wie Dr. Anton Bosch feststellen konnte. Laut Igor Pleve („Einwanderung in das Wolgagebiet 1764-1767“, Bd. 1, 1999) kamen zwischen 1763 und 1772 insgesamt 30.623 Personen in Russland an. Davon starben ungefähr eintausend Menschen während des Aufenthalts bei St. Petersburg oder liefen weg. In der Umgebung der russischen Hauptstadt wurden 416 Personen angesiedelt, 329 in zwei Kolonien in Livland und Jamburg (Kingisepp). Weitere 1.436 wurden in verschiedene Gebiete Kleinrusslands (Ukraine) geschickt, 337 wurden als Handwerker auf St. Petersburg, Moskau, Reval und Tambow verteilt. Die restlichen 26.676 Personen wurden an die Mittlere Wolga bei Saratow weitergeleitet. Davon starben unterwegs 3.293 (12,5%) Kolonisten. Die 1764 bis 1767 nach Russland ausgewanderten Kolonisten siedelten auf beiden Seiten der unteren Wolga (Bergseite/Westufer und Wiesenseite/ Ostufer) in 104 Kolonien. Davon waren 31 katholisch und über 60 evangelisch (unterschiedliche Angaben in verschiedenen Quellen). Am 29. Juni 1764 wurde die erste deutsche Kolonie Nischnaja Dobrinka gegründet. 1914 gab es bereits 192 deutsche Dörfer, 152 evangelische, 38 katholische und zwei gemischte. 10 Zar Alexander I. Von der russischen Regierung bekamen die Ansiedler Land (35 ha je Familie), landwirtschaftliche Geräte und Vieh zugeteilt. Allerdings ging die Ansiedlung mit erheblichen Schwierigkeiten voran, zumal die vorgefundene Wirklichkeit nicht unbedingt mit den Versprechungen des Manifestes der Zarin übereinstimmte. In den Jahren 1802-1859 wanderten fast 110.000 Deutsche in das Schwarzmeergebiet aus. Der Zug ans Schwar- 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Die Mariupoler Kolonien in der Ukraine. ze Meer erfolgte aus Württemberg, Baden, dem Elsass und Bayern (ab 1803). Die Siedlungsräume der Deutschen im Schwarzmeergebiet konzent rierten sich auf Süd- oder Neurussland in den Gouvernements Odessa, Nikolajew, Jekaterinoslaw (heute Dnjepropetrowsk), Cherson, Taurien und Bessarabien, im Dongebiet und auf der Krim. Die deutschen Kolonien lagen nördlich des Schwarzen Meeres und erstreckten sich von Bessarabien im Westen bis zum Nordkaukasus im Osten. Die Besiedlung begann noch unter Katharina II. und fand unter Zar Alexander I. (17771825) ihren Höhepunkt. Der erste größere Einwanderungsstrom in das Schwarzmeergebiet fand zwischen 1789 und 1797 statt, der zweite große Schub folgte zwischen 1804 und 1824. Ab 1789 wanderten auch mennonitische Siedler aus Westpreußen in die südrussischen Gebiete ein und gründeten Mutterkolonien, unter anderem Die Siedlung Selz im Schwarzmeergebiet. 12 im Gebiet Saporoschje (Molotschnaer und Chortitzaer Kolonien). Aus insgesamt 204 deutschen Mutterkolonien entstanden im Schwarzmeergebiet später über 1.800 Tochterkolonien. Eine besondere Gruppe bildeten die Wolhyniendeutschen, die sich zu verschiedenen Zeiten im 19. Jahrhundert in polnisch-russischen Grenzregionen (in den Gebieten um Rowno, Schitomir, Nowogradwolynsk) niederließen. 1816 bis 1861 wanderten Westpreußen, Rheinländer, Pfälzer und Schwaben nach Wolhynien aus. Bis zum Jahre 1871 stieg die Zahl der Deutschen in diesen Regionen auf etwa 28.560, die in ca. 139 Kolonien lebten. 1889 waren es bereits 102.139 Siedler. Auch im Kaukasusgebiet, der Landbrücke zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, entstanden Dutzende deutscher Kolonien. Besonders der Südkaukasus war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ersehntes Ziel vieler Auswanderer aus den süddeutschen Ländern. Zahlreiche Ausreisewillige glaubten, gerade in diesem Gebiet das gelobte Land anzutreffen, wie es die Bibel beschrieben 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte hatte. Andererseits war Zar Alexander I. stark daran interessiert, den Südkaukasus zu besiedeln, weil dieses Gebiet zu den russischen Eroberungen jener Zeit gehörte. Ab 1817 erhielten 1.500 Familien mit ca. 9.000 Personen aus Schwaben die Genehmigung zur Ansiedlung im Südkaukasus; viele von ihnen fielen unterwegs Krankheiten und Strapazen zum Opfer. Im Nordkaukasus siedelten sich ab den 1840er Jahren deutsche Kolonisten aus dem Wolga- und Schwarzmeergebiet sowie später auch aus dem Molotschnaer Gebiet an. Ihren Siedlungen gaben die Kolonisten oft die Namen ihrer Sammelstellen zur Auswanderung gab es in Ulm, Regensburg, Nürnberg, Frankfurt, in der alten Heimat zurückge- Roßlau/Elbe und insbesondere im hessischen Büdingen. Bild: Viktor Hurr. lassenen Dörfer und Städte, etwa Basel, Darmstadt, Mariental, Ro- Politik als einer der wichtigsten Sam- Paare das Ja-Wort, denn erst als Versenberg, Rheinhardt, Stuttgart, Karls- melplätze der Massenauswanderung heiratete konnte man in den Genuss ruhe oder Mannheim. nach Russland. Neben dem anhaltini- der versprochenen Privilegien komschen Roßlau an der Elbe und Fauer- men. Auskunft darüber geben die im Die ursprüngliche Ansiedlung von bach bei Friedberg nahm Büdingen in Heiratsregister der Büdinger Pfarrei Deutschen in Sibirien und Mittelasi- Hessen, wo es ein Werbebüro für die vermerkten Kolonistentrauungen. en erfolgte später. Sie wurde vor allem Auswanderer gab, unter den damaDer Reichstag und die großen Ende des 19. Jahrhunderts und um die ligen Sammelplätzen im Deutschen Reichsstände reagierten auf die AnJahrhundertwende 1900 notwendig, Reich eine besondere Rolle ein. werbungen mit drastischen Verboten, als das Land für die Deutschen im Diese resultiert vor allem aus der um eine „Reichsentvölkerung“ zu vereuropäischen Russland knapp gewor- großen Zahl von Trauungen, die vor hindern, so dass die Werber in kleineden war und die Lage der Deutschen der Auswanderung in der Büdinger re Herrschaften ausweichen mussten. sich aus unterschiedlichen politischen Marienkirche stattfanden. Allein von Der Büdinger Landesherr, Graf GusUmständen verschärfte. Im Zuge der März bis Juni 1766 gaben sich dort 375 tav Friedrich zu Ysenburg, duldete Agrarreform durch Ministerpräsident Stolypin 1906-1910 entstanden deutsche Siedlungen im Uralgebiet, ein geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet bei Slawgorod in der Kulunda-Steppe sowie Siedlungen in Westsibirien und Nordturkestan, und es wurden neue Tochterkolonien (in den Gebieten Pawlodar, Karaganda, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk u.a.) gegründet. Büdingen als Sammelplatz der Auswanderung an die Wolga Aus Hessen erfolgte 1763 –1767 die Hauptauswanderung in das Wolgagebiet und Anfang des 19. Jahrhunderts teilweise auch in das Schwarzmeergebiet. 1766 erlangte Büdingen kurzzeitig Bedeutung im Feld europäischer Büdinger Kirchenbuch. 13 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte die Tätigkeit des zuvor aus Frankfurt ausgewiesenen Werbekommissars Facius auch aus wirtschaftlichen Erwägungen. Hier nahmen daher zahlreiche der großen, militärisch organisierten Trecks ihren Ausgang, welche die Auswanderer und ihre Habe per Wagen und die Flüsse hinab nach Lübeck führten, um dann die Reise über die Ostsee nach dem russischen Hafen Oranienbaum fortzusetzen. Von dort aus fanden die Menschen erst Monate später ihr Ziel und ihre neue Heimat an der mittleren Wolga, aber auch bei St. Petersburg oder im Gouvernement Tschernigow. Offizielle Akten über die Geschäfte der russischen Kommissare, die sich an der Grenze zur Illegalität abspielten, haben aber - wohl bewusst - nicht überdauert. Daher musste das Geschehen in mühsamer Kleinarbeit aus zahlreichen Indizien rekonstruiert werden, wobei auch Fauerbach bei Friedberg, wo ebenfalls ein Werber tätig war, vergleichend betrachtet wurde. Dass nicht die oft unterstellte „Wanderlust“, sondern wirtschaftliche Not und soziale Zwänge vor allem junge Leute zur Emigration trieben, geht aus Personalakten hervor, die im Wächtersbacher Teil der Grafschaft akribisch zu den Auswanderungsgesuchen angelegt wurden. Für so manche russlanddeutsche Familie beginnt mit den Vorgängen von 1766 in Büdingen die eigene Familiengeschichte. Viele, die in den vergangenen Jahren wieder nach Deutschland gekommen sind, treibt eine vage Erinnerung an ihre Herkunft aus dem hessischen Raum dazu, eine Antwort auf die Frage nach ihren Wurzeln in Büdingen zu suchen. Auswanderung von Lübeck nach Oranienbaum Lübeck war für die meisten Kolonisten die letzte Reisestation auf deutschem Boden. Von hier aus organisierte der im Dienst der russischen Regierung stehende Kaufmann Christoph Heinrich Schmidt die Weiterfahrt über die Ostsee nach St. Petersburg. Nach seinem Tod übernahm der Lübecker Jurist Gabriel Christian Lemke ab dem 30. Mai 1766 diese Aufgabe. Bereits im Januar 1764 empfahl das Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg den Seeweg als die geeignetste Reiseroute für den Transport von Kolonisten. Der Landweg hatte sich nicht nur als zu lang erwiesen, er war auch zu teuer. Die Vorstellung, die in Lübeck verfügbaren Schiffe würden für den Transport ausreichen, musste angesichts der Auswandererzahlen allerdings bald korrigiert werden. Es erwies sich als notwendig, auch Schiffe aus Kiel und Neustadt sowie sogar aus England unter Vertrag zu nehmen. Daneben kamen auch russische Schiffe zum Einsatz. Die so genannten Paketboote und Pinken, die eigentlich nicht für einen Personentransport konstruiert worden waren, brachten rund 3.100 Kolonisten nach Russland. Insgesamt traten über 22.000 Menschen von Lübeck aus ihre Reise nach Russland an. Die Auswanderertrecks kamen entweder über Regensburg, Weimar und Lüneburg nach Lübeck, oder sie fuhren zunächst von Worms den Rhein abwärts, um dann durch Westfalen und Hannover auf dem Landweg in die Hansestadt zu gelangen. In Lübeck angekommen, mussten sich die Kolonisten wegen des großen Andrangs auf eine längere Wartezeit einrichten. Den Vermögenderen unter ihnen wies der Kommissionär Schmidt eine Unterkunft in einem der Bürgerhäuser zu. Die anderen wurden in Baracken in der Nähe des Hafens untergebracht. Diese Gebäude wurden streng bewacht, um Fluchtversuche zu unterbinden. Während der Wartezeit erhielten die Kolonisten ein Tagegeld, das nach Geschlecht und Alter differenziert war. Männer erhielten pro Tag acht, Frauen fünf, Kinder drei und Kleinkinder einen Schilling. Das Geld und die Nahrungsmittel wurden von ausgewählten Männern ausgeteilt, denen Amtsbezeichnungen wie Schulze, Vogt oder Vorsteher gegeben wurden. In Lübeck war das große Echo auf das Angebot der Zarin Katharina II. in seinem ganzen Ausmaß erkennbar. Bereits 1765 warteten hier Tausende Menschen auf ihre Einschiffung. Die damals im Einsatz befindlichen Schiffe waren in der Lage, 280 Passagiere zu befördern. 14 Endlich eingeschifft, stand diesen Menschen gewöhnlich eine Seereise von neun bis elf Tagen bevor. War das Wetter ungünstig (Flauten oder Stürme), so konnte die Schiffsreise aber auch sechs Wochen dauern, so dass Brot und Wasser knapp werden konnten. Zudem gab es immer wieder Kapitäne, die die Reise künstlich in die Länge zogen, um so die Kolonisten zu zwingen, ihr gesamtes für zwei Wochen berechnetes Reisegeld für den Kauf von Proviant auszugeben. Bernhard Ludwig von Platen beschreibt in seinem 1766-67 entstandenen Poem „Reise-Beschreibungen der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen“ diese Seereise. Nach einer zweiwöchigen Wartezeit in Lübeck wurde von Platen mit anderen Kolonisten eingeschifft: „Da ward ein jeder Mann Mit Brofiant versehen Und so nach Petersburg Ins Schiff hinein zu gehen Allein condrerer Wind Macht uns die Reise schwer Das Brofiant ging auf Die Taschen wurden leer. Sechs Wochen mußten wir Die Wasserfahrt ausstehen Angst, Elend, Hungersnoth Täglich vor Augen sehen Also daß wir zuletzt Salz-Wasser, schimmlich Brod Zur Lebens unterhalt Erhielten kaum zur Noth.“ Während dieser Seereisen waren auch die ersten Toten zu beklagen. Der Bäckermeister Johannes Hühn aus Gelnhausen gab 1766 zu Protokoll, dass er mit dem Ehepaar Dölck und dessen beiden Töchtern auf einem Seefahrzeug des Schiffers Jakob Bauer von Lübeck nach Russland transportiert worden sei. Am zweiten Tag der Überfahrt seien die Töchter, die er sehr gut gekannt habe, an einer auf dem Schiff ausgebrochenen verheerenden Krankheit gestorben. Die Toten wurden der Gewohnheit nach vor seinen Augen in das Meer gelassen. In Kronstadt, einer Festung vor St. Petersburg, angekommen, ging die Reise sofort nach Oranienbaum, dem heutigen Lomonossow, weiter. Dort konnten sich die Kolonisten gegen Vorlage einer vom Vorsteher ausge- 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte gebenen Bescheinigung - eines Billets - mit neuer Kleidung ausstatten. Während ihres dortigen Aufenthaltes, dessen Dauer unbestimmt war, leisteten sie auch den Treueeid auf die russische Krone. Die Reise in die neuen Siedlungsgebiete ging weiter von Oranienbaum an die Wolga. Quelle (Источник): И.Р. Плеве Списки колонистов при бывших в Россию в 1766 году. „Рапорты Ивана Кульберга“ / nach www.wolgadeutsche.ucos.de Moninger/Nischnaja Dobrinka die erste deutsche Kolonie an der Wolga 1910 lebten an der Wolga etwa 500.000 Deutsche in 204 Dörfern. Bild: Viktor Hurr. Unter dem Namen Moninger (nach dem ersten Vorsteher) wurde am 29. Juni 1764 am rechten Ufer (auf der Bergseite) der Wolga die erste deutsche Kolonie gegründet. Die 353 Siedler (Lutheraner) stammten aus Württemberg, Darmstadt, Heidelberg, Zweibrücken und Isenburg und waren mit Pferdewagen aus der damaligen russischen Hauptstadt Sankt Petersburg an der mittleren Wolga eingetroffen. Die ersten 94 Familien ließen sich direkt an der Mündung des Flusses Dobrinka in die Wolga, 32 Kilometer nördlich der heutigen Rayonstadt Kamyschin, nieder. Aus Dankbarkeit der russischen Kaiserin Katharina II. gegenüber bekam die Siedlung 1768 den Namen Dobrinka (russ. „dobraja“ – „guther zig“). Es war lange Zeit die südlichste Kolonie an der Wolga. Südlicher wurde später nur die Kolonie Sarepta von der Herrnhuter Glaubensgemeinde gegründet. Heute ist Sarepta ein Stadtteil von Wolgograd. Später erhielt Dobrinka weitere Namen: Nischnaja Dobrinka und sogar Deutsch Dobrinka. Die Kolonie gehörte zuerst zum Gouvernement Astrachan und ab dem Jahr 1797 zu Saratow. Heute gehört Nischnaja Dob rinka zum Rayon Kamyschin im Gebiet Wolgograd. In Nischnjaja Dobrinka wohnten ausschließlich Lutheraner und Baptisten; später entwickelte sich die Kolonie zum Zentrum der Baptistischen Gemeinde des gesamten Wolgagebiets. 1845 wurde aus Stein eine Kirche gebaut und feierlich eingeweiht. Von dieser Kirche ist nur eine Ruine geblieben. 1859 hatte der Ort 159 Höfe und 2.866 Bewohner, eine lutherische Kirche und eine Kirchenschule. Als 1875 die Auswanderung nach Übersee begann, verließen nicht mehr als 30 Familien die Kolonie. Zum Vergleich: Aus der westlichsten Kolonie Frank, die etwa gleich groß war, wanderten 250 Familien in die USA und nach Kanada aus. Tausende deutsche Siedlungen in über 100 Jahren Aus ursprünglich 304 deutschen Mutterkolonien entstanden im Laufe von Jahrzehnten 3.232 Tochterkolonien. Nach anderen Quellen zählte man in Russland vor 1914 über 6.000 deutsche Kolonien und Siedlungen. Diese Zahl ergibt sich, wenn man zahlreiche Weiler, Chutors und Einzelgehöfte hinzu rechnet. Aus ursprünglich 100.000 Einwanderern war nach 135 Jahren eine Volksgruppe von 1,7 Millionen geworden. Die Volkszählung von 1897 ergab, dass 390.000 Deutsche an der Wolga, 342.000 im Süden Russlands und 237.000 im Westen Russlands lebten. 15 Vor dem I. Weltkrieg gab es im gesamten Russischen Reich 2.416.290 Millionen Deutsche. Davon lebten 600.000 an der Wolga, 530.000 im Schwarzmeergebiet, ca. 200.000 in Wolhynien und den polnischen Provinzen (damals Russisches Reich), 170.000 im Baltikum und ca. 50.000 in und um St. Petersburg. Unter im Vergleich zur alten Heimat Deutschland völlig anderen politischen, sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen begann sich ein neues ethnisches Selbstverständnis herauszubilden: Man sah sich als stolze russische Kolonisten und wurde so auch von den Nachbarvölkern wahrgenommen. Das kennzeichnete vor allem die in einem kompakten Siedlungsgebiet lebenden Wolgadeutschen mit ihrem starken Zusammengehörigkeitsgefühl, die sich unübersehbar zu einer neuen Ethnie des Übersiedlungstyps entwickelten. Zusammenfassung: Nina Paulsen (mit Ergänzungen von Dr. Anton Bosch), nach Publikationen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, des HFDR, des Bildungsvereins für Volkskunde in Deutschland DIE LINDE und Beiträgen von Dr. Alfred Eisfeld und Dr. Viktor Krieger 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Die Wolgadeutschen seit 250 Jahren auf der Suche nach einer Heimat Stichpunkte zur Chronologie 1763 Die deutschstämmige Zarin Katharina II. die Große lädt in einem Manifest vom 22. Juli Ausländer aus den deutschen Landen Hessen, der Pfalz, Westfalen, Bayern und Schwaben sowie aus der Schweiz, dem Elsass und Lothringen ein, sich an der mittleren Wolga anzusiedeln. Das war die „Sogwirkung“ der ersten großen deutschen Auswanderung nach Russland. Als „Schubwirkung“ wird gerne die Lage im damaligen zersplitterten Deutschland nach dem Siebenjährigen Krieg von 1756-1763 bezeichnet. 1764 Am 29. Juni wird die erste wolgadeutsche Kolonie gegründet. Sie erhält den Namen Nischnaja Dobrinka. Bis zum Ende des Jahres 1767 erfolgen 103 weitere Gründungen deutscher Kolonien mit insgesamt 27.000 Siedlern zu beiden Seiten der mittleren Wolga. 1765 Anhänger der Herrnhuter Brüdergemeinde aus Sachsen lassen sich in Sarepta in der Nähe des heutigen Wolgograd mit dem Ziel nieder, die Kalmücken zu christianisieren. 1766 In Katharinenstadt wird die erste lutherische Dorfschule eröffnet. 1769 Von 6.433 an der Wolga angesiedelten deutschen Familien eignen sich nur 579 (9 Prozent) nicht für die Landwirtschaft. 1773 Der Donkosake Jemeljan Puga tschow gibt sich für den ermordeten Zaren Peter III. aus und verbreitet mit seinen Heerscharen in deutschen und nichtdeutschen Siedlungen an der Wolga Angst und Schrecken. 1774 wird er von zaristischen Truppen gefangen genommen und 1775 in Moskau hingerichtet. 1776 Am 15. August überfallen nomadisierende „Kirgiser“ das wolgadeutsche Dorf Mariental und entführen viele Bewohner nach Mittelasien. Pastor Wernborner und über einhundert wehrhafte Männer, die sich den Räubern in den Weg stellen, werden ermordet. 1782 Am 30. April wird das 1766 gegründete „Kontor der Vormundschaftskanzlei für Ausländer“ in Saratow aufgelöst. Damit werden auch die Wolgadeutschen der allgemeinen russischen Gesetzgebung (in St. Petersburg) unterstellt. 1789 Der durchschnittliche Landbesitz pro „Revisionsseele“, d.h. erwachsenes männliches Familienmitglied, beträgt an der Wolga 15,5 Desjatinen und geht in den nächsten 80 Jahren infolge des russischen „Mir-Systems“ auf 1,5 Desjatinen zurück. Beim „MirSystem“ erben alle Söhne und nicht nur einer den ganzen Landbesitz. 1771 Nach offiziellen Angaben gibt es im deutschen Wolgagebiet insgesamt zwölf Dorfschulen. In den beiden folgenden Jahren eröffnet die Herrnhuter Brüdergemeinde in Sarepta eine Dorfschule für Knaben und eine für Oskar Aul: Land an der Wolga. Mädchen. 16 1796 Am 17. November stirbt die Zarin Katharina II., die Große, geb. am 2. Mai 1729 in Stettin, in Sankt Petersburg. Während ihrer 24-jährigen Herrschaft fanden die ersten Masseneinwanderungen von Deutschen und anderen Europäern nach Russland statt. 1797 Am 31. Juni wird die Saratower Vormundschaftskanzlei wieder eröffnet. 1838 Zar Nikolaus I. bestätigt die Privilegien von Kolonisten. 1848 In Saratow wird das katholische Bistum Tiraspol errichtet. 1854 197 mennonitische Familien aus Preußen gründen im Gouvernement Samara an der Wolga bis zum Jahr 1872 zehn deutsche Dörfer, die später unter dem Namen „Am Trakt“ bekannt werden. Ein Großteil der Bewohner wandert 1880/1881 weiter nach Mittelasien. 1861 In Russland wird die Leibeigenschaft abgeschafft. 1871 Die Saratower Vormundschaftskanzlei wird für immer geschlossen. 1874 Deutsche Kolonisten müssen wie alle Bürger Russlands Militärdienst leisten. 1915 Am 13. Dezember plant die zaristische Regierung die Verbannung der Wolgadeutschen, ähnlich wie dies bereits durch das erste „Liquidationsgesetz“ vom 2. Februar 1915 mit den Wolhyniendeutschen geschehen ist. Die Deportation der 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Wolgadeutschen verzögert sich jedoch und wird dank der Februarrevolution im März des Jahres 1917 nicht mehr durchgeführt. 1917 Vom 25. bis 27. April findet in Saratow die „Allgemeine deutsche Kolonistenversammlung“ statt. Sie fordert von der Provisorischen Regierung Selbstbestimmung und staatsbürgerliche Gleichstellung mit den anderen Völkern Russlands. Manches wird versprochen und Jahre später auch im Geiste Lenins und Stalins - anders als von den Delegierten aus allen wolgadeutschen Kantonen vorgesehen - erfüllt. 1917 Bald nach der Oktoberrevolution im Herbst werden die wolgadeutschen Siedlungen in die blutigen Auseinandersetzungen von Rot, Weiß und Banden hineingezogen. 1918 In einem Zusatzprotokoll zum deutsch-russischen Friedensvertrag in Brest-Litowsk vom 3. März wird Russlanddeutschen gestattet, in ihr Ursprungsland Deutschland zurückzukehren. 1918 Im April wird eine „Kommission für deutsche Angelegenheiten“ unter der Leitung des späteren Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, gebildet. 1918 Am 19. Oktober wird das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen unter dem Namen Deutsche ArbeitsKommune gegründet. Zentrum ist zunächst die Stadt Baronsk, die 1919 in Marxstadt umbenannt wird. 1922 wird der Sitz der Gebietsverwaltung nach Pokrowsk, dem späteren Engels, verlegt. 1920 Das katholische Priesterseminar an der Wolga wird geschlossen. 1921 Am 1. Juli erklärt das Präsidium des Gebietsexekutivkomitees des Autonomen Gebiets, dass an der Wolga mehr als zwei Drittel der deutschen Bevölkerung hungern (299.000). der Wolgadeutsche Rätekongress bereits am 29. April 1937 gegeben hat. 1924 Am 6. Januar wird das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen zu einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik erhoben. Die ASSR umfasst ein Gebiet von 28.212 Quadratkilometern, davon 93 Prozent nutzbares Land. Für die Gesamtbevölkerung der ASSR nennt Dr. Matthias Hagin folgende Zahlen: 1920: 452.629; nach dem Hungerjahr 1921: 350.000; 1939: 650.000. 1941 Am 22. Juni beginnt der deutschsowjetische Krieg, in dessen Folge alle Privilegien, die mit dem Status der Wolgadeutschen als Autonomer Sow jetrepublik verbunden sind, zerstört werden. 1928 Die kurzen Erfolge der Neuen Ökonomischen Politik (1921-1928), die den wolgadeutschen Bauern eine gewisse Erholung nach den Jahren der Wirren und des Hungers beschert hat, werden durch die rigoros durchgeführte Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zunichte gemacht. 1934 Spätestens ein Jahr nach der Machtergreifung Hitlers in Berlin setzt in der ASSR der Wolgadeutschen und allen anderen deutschen Siedlungsgebieten der Sowjetunion ein beispielloser moralischer und körperlicher Terror gegen die eigenen „Faschisten“ als Synonym für alle Deutschen ein, von dem selbst linientreue Kommunisten nicht verschont bleiben. 1937 Am 12. Dezember werden mitten in der Zeit des „Großen Terrors“ neun Wolgadeutsche in den Obersten Sowjet gewählt. 1938 In der Sowjetunion wird in allen deutschsprachigen Schulen außerhalb der ASSR der Wolgadeutschen Russisch Unterrichtssprache. In der ASSR gibt es zu diesem Zeitpunkt 191 Grundschulen und 255 Mittelschulen mit sieben oder zehn Klassen. Die Zahl der Lehrer an deutschen Schulen beziffert die „Enzyklopädie der Deutschen aus Russland“ mit 117.160. 1940 Auf der Tagung des Obersten Sowjets der Russischen Föderation vom 28. Mai bis 2. Juni in Moskau wird endlich die Verfassung verabschiedet, die sich 17 1941 Der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons leben“ verbannt alle Wolgadeutschen in asiatische Regionen der UdSSR. 1941 Das Gebiet der ASSR der Wolgadeutschen wird auf die Gebiete Saratow und Stalingrad verteilt. Seither gibt es keine echte deutsche Autonomie in der Sowjetunion oder ihren Nachfolgestaaten mehr. Die Mehrheit der Russlanddeutschen sieht in den späteren Versprechungen wertlose Lippenbekenntnisse und nimmt zur Kenntnis, dass in den Gebieten, die ihnen vor 250 Jahren zugewiesen wurden und die sie mit viel Liebe, Mühe, Schweiß und Blut einst kultiviert haben, heute andere Völker leben, die ihrerseits ebenfalls viel gelitten haben. Auf den Ukas vom 28. August 1941 folgten viele ähnliche Ukase, Erlasse und Befehle, die nicht dazu beigetragen haben, das Vertrauen in einen Staat zu stärken, dem Russlanddeutsche über Jahrhunderte loyal dienten. Zu dieser Feststellung passt auch der verhängnisvolle Ukas vom 28. November 1948, durch den die Lage der deportierten Deutschen durch die Androhung von 20 Jahren Zwangsarbeit für die Entfernung aus den Orten ihrer Zwangsansiedlung weiter verschärft wurde. Alle späteren Autonomiezusagen, Versprechungen und „Rehabilitierungen“ konnten die Masse der Russlanddeutschen nicht von der Rückkehr in ihre historische Heimat Deutschland abhalten. Und so wanderten sie in Scharen aus, sofern die Ausreise von Moskau gestattet und von Berlin gewünscht wurde. 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte K Katharina die Große: Eine Deutsche auf dem russischen Zarenthron ten. Allerdings wusste sie auch mit einnehmenden Reden und Schmeicheleien zu gefallen. Auf Reisen mit der Mutter lernte die heranwachsende Friederike Fürstentümer und den Königshof Friedrichs II. kennen. Den Preußenkönig bezauberte sie durch prompte Antworten, das Beherrschen von drei Sprachen und ihr Wissen. 1742 zog die Fürstenfamilie von Stettin in das Zerbster Schloss. Dort lebte die Prinzessin Sophie bis Anfang 1744. Friedrich II. nutzte seinen Einfluss auf die Eltern der Prinzessin, um seine politischen Pläne mit Hilfe der jungen Prinzessin umzusetzen. Bald schon stand fest, dass Friederike an den russischen Hof gebracht werden sollte. atharina die Große gehört zweifelsohne zu den großen Frauen der Weltgeschichte; sie prägte Russland wie kaum eine Regentin vor ihr. Die aus deutschem Adelsgeschlecht stammende Zarin führte die Expansionspolitik Peters des Großen fort und regierte mit scharfsinnigem politischem Verstand und eisernem Willen zur Macht. Der Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin bezeichnete die Politik des Zaren Peter I., insbesondere den Bau von St. Petersburg, als Öffnen eines Fensters Russlands nach Europa. Katharina II. dagegen stieß für Russland die Türen nach Europa auf. Katharina II., Zarin des Russischen Reiches und Herzogin von SchleswigHolstein-Gottorf, regierte das riesige Russische Reich 34 Jahre lang. Sie setzte die Politik Peters des Großen fort bzw. erneuerte diese selbständig auf weiterentwickeltem Niveau. Als sie 1796 im Alter von 67 Jahren starb, hatte sie verwirklicht, was Peter I. begonnen hatte: Russland war eine Großmacht, mit der Europa rechnen musste. Katharina die Große, in die Geschichte eingegangen als bedeutende Herrscherin, wurde nicht zuletzt durch ihre Liebschaften zur Legende. Mehrere Filme und zahlreiche Bücher nähren sich von diesem oft zweifelhaften Stoff. 1774 begegnete die 45-jährige Katharina ihrer großen Liebe: Grigori Potemkin. Auch darüber gibt es ein sehr lesenswertes Sachbuch (erschienen 2012) von Simon Sebag Montefiore, „Katharina die Große und Fürst Potemkin. Eine kaiserliche Affäre“. Dazu ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Dieses angemessen kolossale, üppige, die Sinne betörende Buch ist ein Meisterwerk. Und ein Glücksfall.“ Nach 34 Regierungsjahren verstarb Katharina am 17. November 1796 in St. Petersburg. Geleitet von scharfem Verstand, willensstarkem Ehrgeiz und grenzenloser Eitelkeit, war es ihr gelungen, sich Glanz und Ansehen zu verschaffen. In der Erinnerung ihrer Zeitgenossen blieb sie eine von Selbst- Zarin Katharina II. vertrauen beseelte Staatslenkerin, die es verstand, erfolgreich Weltpolitik zu betreiben. Heimat Stettin und Zerbst Katharina II. wurde am 2. Mai 1729 als Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst-Dornburg in Stettin geboren. Sie war eine Tochter von Fürst Christian August von Anhalt-Zerbst-Dornburg, dem damaligen preußischen Gouverneur von Stettin, und dessen Gattin Johanna Elisabeth, geborene Prinzessin von HolsteinGottorp. Ihre Mutter, Johanna von Holstein-Gottorp, stammte aus einer hoch angesehenen, in Europa weit verzweigten Adelsfamilie. Bevor Sophie Auguste Friederike als Katharina II. 1762 den russischen Thron bestieg, verbrachte sie ihre Jugendjahre in der Kleinstadt Zerbst sowie in Dornburg an der Elbe. Friederike wuchs in Stettin auf. Schon in Kindesjahren begeisterte sie sich für Bildung und Sprachen, hatte sie doch die blendenden Geistesgaben der Mutter geerbt. Mit 14 Jahren war sie ein lebhaftes Mädchen mit angenehmem Äußeren, in deren Benehmen sich Ernst und Entschlossenheit zeig18 Der Weg zum Zarenthron Im Januar 1744 reiste sie mit ihrer Mutter auf Einladung der russischen Zarin Elisabeth an den Zarenhof; die Prinzessin von Anhalt-Zerbst war als Braut des Thronfolgers Russlands, des Großfürsten Peter Fjodorowitsch, favorisiert worden. Vor der Hochzeit mit dem Thronfolger der russischen Zarin Elisabeth trat Friederike nicht nur zum orthodoxen Glauben über, sondern wechselte auch ihren Namen. Danach wurde die offizielle Verlobung mit dem Großfürsten bekannt gegeben, und aus der Prinzessin von Anhalt-Zerbst-Dornburg wurde Ihre Kaiserliche Hoheit, die Großfürstin Katharina Alexejewna von Russland. Katharina ging als 16-Jährige in die Ehe, doch Glück war dieser Verbindung nicht beschieden. Den Intrigen am russischen Hof und den ständigen Demütigungen und Liebschaften ihres Mannes ausweichend, nutzte sie die Zeit, sich weiterzubilden und die russische Sprache zu lernen. Großfürstin Katharina war eine lebensfrohe und intelligente Frau, die sich schnell in ihre neue Umgebung einpasste. Sie musizierte gern und las viel, mit Vorliebe historische Werke, um so ihr Verständnis für Politik zu schärfen. Vor allem war sie stets über die Vorgänge à Weiter auf Seite 23 Überblick Der weite Weg an die Wolga und zurück Auswanderung von Deutschen unter Katharina II. und Alexander I. In weiten Teilen Russlands gab es Ende des 18. Jahrhunderts große fruchtbare und ungenutzte Landstriche; auch der Krieg mit der Türkei führte zu einer gewaltigen Ausdehnung des Russischen Reiches in der Südukraine. Um dem Land neue Einnahmen zu verschaffen, erließ Zarin Katharina II. am 22. Juli 1763 ein Manifest, in dem sie Ausländer nach Russland einlud und ihnen Privilegien zusicherte. Nur 55 Prozent der Kolonisten, die dem Aufruf der Zarin folgten, waren Bauern. Im so genannten Gnadenprivileg Pauls I. (1796-1801) vom 6. September 1800 wurden den Mennoniten zusätzliche Vorrechte eingeräumt (Befreiung vom Kriegs- und Zivildienst für alle Zeiten, keine Eidesleistung vor Gericht, Gewerbefreiheit etc.). Das Manifest Alexanders I. (18011825) vom 20. Februar 1804 legte besonderen Wert auf Einwanderer, die gute Landwirte, Handwerker, Winzer oder Viehzüchter waren. Auswanderungsgründe und Privilegien Not und Missstände infolge der Kriege, vor allem in Hessen und Südwestdeutschland, zwangen viele zur Auswanderung. Außerdem spielten politische Unterdrückung durch die eigenen Fürsten und die fremde Besatzung, Heeres- und Frondienste für die eigenen Fürsten und für fremde Mächte oder die Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit eine entscheidende Rolle. Den Auswanderern wurden Vergünstigungen wie unentgeltliche Landzuweisung, freie Religionsausübung, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, Befreiung vom Militärdienst, kulturelle Autonomie und gemeindliche Selbstverwaltung zugesichert. Die Kolonisten waren keine Leibeigenen, sie durften das Reich jederzeit verlassen. Herkunftsgebiete der Auswanderer Aus Hessen erfolgte 1763– 1767 die Hauptauswanderung in das Wolgagebiet und Anfang des 19. Jahrhunderts auch in das Schwarzmeergebiet. Die Auswanderer stammten aus Rheinhessen, der Pfalz, Württemberg, Baden, dem Elsass und Bayern. Aus Westpreußen kamen Mennoniten (1789-1804), aber auch Katholiken und Evangelische. Aus Polen zogen 1814 bis 1842 die früher aus Preußen und Württemberg eingewanderten Deutschen nach Bessarabien. Nach Wolhynien wanderten in drei Schüben (1812/1831/1861) Deutsche aus verschiedenen Ge- Viktor Aul, „Das Manfest der Zarin“, Umschlaggenden Deutschlands und Po- bild: Oskar Aul. Erhältlich im Bücherangebot der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. lens aus. Vertreibungen im Ersten Weltkrieg Je mehr Ansehen sich die Deutschen erarbeiteten, desto stärker wurden sie als Fremdkörper empfunden. Der Erste Weltkrieg lieferte erst einen gewissen Vorgeschmack darauf, wie Deutsche in Russland und später in der Sowjetunion als Spielball der großen Politik instrumentalisiert wurden. Die patriotisch gestimmte Presse schürte eine Spionage- und Verdächtigungshysterie: Die seit mehreren Generationen im Zarenreich lebenden Deutschen wurden als mögliche Spione und Verräter dargestellt. Dabei dienten in der russischen Armee um die 300.000 russische Staatsbürger deutscher Herkunft als Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere, 15.000 Mennoniten leisteten Sanitätsdienst in den Lazaretten und Spitälern der russischen Armee, etwa 50.000 Wolgadeutsche waren an der türkisch-russischen Front im Einsatz. 19 Ein Erlass vom 18. August 1914 verbot den Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit, in Schule und Kirche. Den Deutschen wurde das Recht auf Versammlungen untersagt, die deutschen Zeitungen wurden verboten. Den Höhepunkt dieser Hetzkampagne bildeten die vom Zaren Nikolaus II. erlassenen Liquidationsgesetze, laut denen die in Grenzgebieten lebenden Deutschen ausgesiedelt, ihr Land und letztendlich auch das der Wolga- und Sibiriendeutschen liquidiert werden sollte. Zuerst wurden die deutschen Bauern aus frontnahen Gebieten, aus dem Baltikum und Polen, hinter die Wolga ausgesiedelt. Ihr Vieh und ihre landwirtschaftlichen Geräte, die sie nicht einmal zu Schleuderpreisen loswurden, beschlagnahmte die Armee. In Moskau kam es im Mai 1915 zu einem antideutschen Pogrom, der mehrere Menschenleben und Verwundete forderte. Bis 1916 mussten etwa 200.000 Wolhyniendeutsche aus dem westlichen Überblick Teil des Landes ihre Wohnorte verlassen. Etwa ein Viertel der deportierten Wolhyniendeutschen kam infolge der Vertreibungen ums Leben. Mit dem Erlass vom 17. Februar 1917 sollten auch die Deutschen an der Wolga ausgesiedelt werden. Die nachfolgenden revolutionären Ereignisse verhinderten jedoch die Umsetzung der Liquidationsgesetze. Autonomierechte für Wolgadeutsche Für die neuen Machthaber waren die Siedlungsgebiete der Wolgadeutschen, in denen große Mengen von Getreide beschafft werden konnten, von lebenswichtiger Bedeutung. Nicht von ungefähr kamen deshalb die Wolgadeutschen als erste Minderheit in den Genuss der verkündeten Autonomierechte: Am 19. Oktober 1918 unterzeichnete Lenin als Regierungschef das Dekret über die Gründung der Arbeitskommune (des autonomen Gebietes) der Wolgadeutschen. Die wolgadeutschen Bauern mussten das Mehrfache an Lebensmitteln als landesweit üblich abliefern. Diese rücksichtslose Ausbeutung führte unter anderem dazu, dass die Arbeitskommune 1921-1922 von einer verheerenden Hungersnot am härtesten getroffen wurde. Im Bürgerkrieg 1918/21 kamen Zehntausende Wolgadeutsche durch Gewalt und Hunger um. Mehr als 80.000 von ihnen verließen das Wolgagebiet und zogen nach Turkestan, in den Trans- und Nordkaukasus, nach Zentralrussland, in die Ukraine und auch nach Deutschland. Etwa 48.000 kamen zu Tode, zumeist aufgrund der Hungersnot. Vor dem I. Weltkrieg lebten auf dem Gebiet der zukünftigen autonomen Wolgarepublik 516.289 Deutsche, bei der Volkszählung 1926 waren es nur noch 379.630. 1924 wurde die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen mit der Hauptstadt Engels (Pokrowsk) gegründet. Aber nur etwa ein Drittel der Deutschen in der Sow jetunion lebte in der Wolga-Republik, in der sie zwei Drittel der Bevölkerung stellten. Größere Städte wie Pokrowsk und Katharinenstadt wurden in Engels und Marxstadt umbenannt. Kurzer wirtschaftlicher und kultureller Aufschwung nach 1917 In vielen Gebieten des Russischen Reiches galt die Wirtschaftsweise der Deutschen als ergiebig und kultiviert. Zu den Betrieben, die einen landesweiten und sogar internationalen Erfolg hatten, gehörten die Winzerkooperative „Konkordia“ in Helenendorf (Kaukasus), der wolgadeutsche Gewerbeverein Sarpinka (rund 335 Webereien stellten den Baumwollstoff 1932: Eine der führenden deutschen Kooperationen an der Wolga. 20 her) oder die Fabrik zur Herstellung von landwirtschaftlichen Geräten in Katharinenstadt, wo 1926 die ersten Kleintraktoren produziert wurden. In der mennonitischen Kolonie Einlage (heute Gebiet Saporoschje) entwickelten die russlanddeutschen Ingenieure Unger und Rempel 1921 den ersten sowjetischen Traktor, der in Serienproduktion kam. 1932 erhielten Gerhard Epp, Peter Dyck und Cornelius Unruh den Lenin-Orden für die Entwicklung des „Stalinez“, des ersten Mähdreschers der UdSSR. Der gesellschaftliche Wandel ergriff in den ersten Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution 1917 auch die deutsche Bevölkerung. In Engels waren vor allem deutsche Kulturinstitutionen beheimatet: das Deutsche Staatstheater, die Deutsche Staatsphilharmonie, das Symphonieorchester und das Deutsche Lied- und Tanzensemble. Das Wolgagebiet mit seinen zahlreichen deutschen Siedlungen mit verschiedenen Konfessionen, Mundarten und Lebensweisen war ein fruchtbares Forschungsfeld für Sprachwissenschaftler und Mundartforscher, die ethnographische und folkloristische Expeditionen organisierten. 1925 wurde das Museum der ASSR der Wolgadeutschen gegründet. Deutsche Theater, zahlreiche deutsche Zeitungen, Staatsverlage, Hoch- und Fachschulen gab es sowohl an der Wolga als auch in Südrussland. Trotz der ideologischen Einflüsse kam es also zu einem kurzen kulturellen Aufschwung. Mit dem verschärften Terror der 1930er Jahre wurden die Eingriffe in das deutsche Kulturleben aber immer deutlicher, was vor allem als Begleiterscheinung einer gezielten Russifizierung zu deuten ist. Überblick Kollektivierung und politische Repressionen Ende der 1920er Jahre schlug die Sowjetführung mit Stalin an der Spitze einen Kurs der radikalen Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft ein. Die verschärfte Kollektivierung der Landwirtschaft zu Beginn der 1930er Jahre forderte durch Hungersnöte, Zwangsenteignung, Verschleppung der „Kulaken“ (wohlhabende Bauern) und willkürliche Massaker auch unter den Russlanddeutschen Hunderttausende Todesopfer, vor allem im ukrainischen Schwarzmeergebiet. Mit der Zwangskollektivierung und fortschreitenden Russifizierung (Schließung der Kirchen, Auflösung deutscher Rayons und Verbot der deutschen Sprache in den Schulen außerhalb der Wolgarepublik 1938/39) verschlechterte sich die Lage der deutschen Minderheit zusehends. Bei den deutschen Kolonisten entlud sich der Protest gegen die Enteignungen und religiösen Verfolgungen Ende 1929 u.a. in einer massenhaften Auswanderungsbewegung. Ab Mitte der 1930er Jahre setzten politische Verfolgungen ein; ganze Gruppen und Bevölkerungsschichten wurden rücksichtslos ausgeschaltet und vernichtet, darunter Geistliche oder nationale Minderheiten. Die Deutschen gehörten zu den Ersten, die aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit unter die Räder des „Roten Terrors“ gerieten. Im Zuge der „deutschen Operation“ des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten wurden 1937-38 Zehntausende Deutsche verhaftet und zum Tod verurteilt. Mit 5,3 Prozent Opferanteil bei einem Bevölkerungsanteil von nur 0,8 Prozent gehörten die Deutschen zu den am stärksten verfolgten nationalen Gruppen. In den Jahren 1918 bis 1939 wurden auf dem Gebiet der Sowjetunion fast sämtliche katholischen und evangelischen Geistlichen umgebracht bzw. verbannt, die Kirchen umfunktioniert oder zerstört. Der christliche Glaube existierte nur noch im Untergrund. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten insgesamt rund 1,4 Millionen Deutsche auf sowjetischem Territorium. Deutsche Frauen im Zwangsarbeitslager. Zweiter Weltkrieg Deportation, Zwangsarbeit, Sondersiedlung Der Zweite Weltkrieg versetzte der deutschen Minderheit in Russland den Todesstoß. Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 beschuldigte die Wolgadeutschen pauschal der Spionage und Kollaboration und lieferte einen formalen Grund zur Deportation, die auch auf Deutsche in anderen Gebieten ausgedehnt wurde. Bis Ende 1941 wurden 799.459 Deutsche aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach Kasachstan, Sibirien und Mittelasien „umgesiedelt“, darunter 444.115 Wolgadeutsche. Eine weitere Stufe der bürgerlichen Entrechtung der deutschen Minderheit stellte die Einweisung aller erwachsenen Personen (Jugendliche, Männer und Frauen im Alter von 15 bis 55 Jahren) in NKWD-Arbeitslager dar. Hier landeten auch russlanddeutsche Soldaten und Offiziere, die aus den militärischen Einheiten ausgesondert wurden. Wie Strafgefangene wurden die Russlanddeutschen für schwerste und unqualifizierte Arbeiten beim Bau von Eisenbahnlinien und Industriebetrieben, in der Öl- und Kohleförderung oder beim Holzfällen eingesetzt. Die ganze „deutsche Operation“ verlief unter Ausschluss von Presse und Öffentlichkeit. Auch die 280.000 Russlanddeutschen aus der Westukraine, die sich 21 1943/44 mit der Deutschen Wehrmacht nach Westen bewegt hatten, wurden 1945/46 von den Alliierten an die Sowjets ausgeliefert und in die asiatischen Teile der UdSSR deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Jahre der Sondersiedlung unter Kommandanturaufsicht (monatliche Meldepflicht, Studiums- und Berufsverbot) geprägt von Unsicherheit, Angst und völliger Entrechtung. Durch die Auflösung der kulturellen Institutionen an der Wolga und in anderen Regionen und das Verbot der deutschen Sprache wurde die Grundlage für eine eigenständige Entwicklung unwiederbringlich zerstört. Wirtschaftliche Plünderung, Zerschlagung der nationalen Intelligenz, diskriminierende Rechtsnormen der Sondersiedlung und das Totschweigen der Existenz der Volksgruppe verwandelten die Deutschen in der Sowjetunion in Personen „minderen Rechts“. Trotz der gewaltigen Menschenverluste wurden bei der ersten zuverlässigen Volkszählung nach dem Krieg (1959) ca. 1.620.000 Deutsche in der UdSSR gezählt, verstreut vor allem über Sibirien, Kasachstan und Mittel asien. Verbannt in alle Ewigkeit halbherzige Rehabilitierungsversuche Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets von 1948, der die Verbannung der Deutschen und an- Überblick derer “bestrafter” Völker auf „ewig” festlegte, verschärfte die Bedingungen der Sondersiedlung weiter. Verstöße wurden mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft. Der Regierungserlass vom 13. Dezember 1955 schaffte den Status als Sondersiedler für die Deutschen zwar ab, aber eine Rückkehr in die angestammten Herkunftsgebiete war nicht erlaubt. So siedelten sich ab 1956 viele russlanddeutsche Familien in wärmeren Regionen Mittelasiens an und blieben nach wie vor Vertriebene im eigenen Land. Auch die teilweise Rehabilitierung durch den Erlass von 1964 (Freispruch von der Schuld des Verrats) brachte kaum nennenswerte Veränderungen: Eine Rückkehr in die ehemaligen Heimatkolonien gab es nach wie vor nicht. Erst der Regierungserlass von 1972 hob die Einschränkungen in der Wahl des Wohnortes auf. Nach dem „großen Schweigen“ wurde 1955 die erste deutschsprachige Zeitung „Arbeit“ in Barnaul, Sibirien, gegründet, die allerdings 1957 wegen autonomistischer Bestrebungen geschlossen wurde. Ab 1957 erschienen die deutschsprachigen Zeitungen „Neues Leben“ (Moskau) und „Rote Fahne“ (Slawgorod, Altairegion) und ab 1965 die republikanische deutschsprachige „Freundschaft“ in Kasachs tan (Zelinograd). Nach dem Erlass von 1964 gab es in einigen Regionen Auswanderung nach Übersee. deutschsprachige Rundfunksendungen. Diese Maßnahmen waren vor allem als Mittel der ideologischen Einwirkung auf die Deutschen in der Sowjetunion gedacht und wurden unter diesem Vorbehalt auch geduldet. Gleichzeitig sollten sie der Weltöffentlichkeit zeigen, dass die Deutschen in der Sowjetunion ein gleichberechtigter Teil des Vielvölkerstaates waren. Die im Zuge der politischen Liberalisierung der 1960er Jahre entstandene Autonomiebewegung (zwei Delegationen nach Moskau 1965 mit der Forderung nach einer Autonomie für die Russlanddeutschen) wurde unterbunden. 1968 wurden alle Autonomiebestrebungen verboten. Die Heimatbücher der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland erscheinen seit rund sechs Jahrzehnten und vereinen in sich Beiträge von Wissenschaftlern, Publizisten, Kulturschaffenden und Zeitzeugen zur Geschichte der Deutschen aus Russland. Politischer Aufbruch und kulturelle Wiederbelebung nach 1985 Die Liberalisierung nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow schuf Voraussetzungen für die Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Minderheit und ihre weitere Rehabilitierung. Zahlreiche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen gingen auf die Geschichte und Gegenwart der Russlanddeutschen ein. Das im Dezember 1980 eröffnete Deutsche Theater in Temirtau (später in Alma-Ata) veranstaltete mit viel Erfolg Festivals der deutschen Kultur und Kunst, ging auf Tournee in die Gebiete, in denen Deutsche lebten, und trug vielerorts zur kulturellen Wiederbelebung bei. Es bildeten sich Gruppen von Aktivisten, die 1988 eine dritte und danach eine vierte Delegation nach Moskau zusammenstellten, die die Wiederherstellung der Deutschen Wolgarepublik 22 forderten. Als engagierte Vertreterin der nationalen Interessen trat die im März 1989 gebildete Gesellschaft „Wiedergeburt“ auf. Im April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet der Russischen Sowjetrepublik ein Gesetz „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“, das nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Aufarbeitung von Unrechtsakten aufforderte. Bezüglich der Deutschen ist das Anliegen dieser Gesetzgebung bisher nur teilweise eingelöst worden. Das bereits erarbeitete Gesetz zur Rehabilitierung der Russlanddeutschen konnte sich bisher nicht durchsetzen. Gegenwärtig leben noch etwa eine Million Deutsche in Russland, Ka sachstan und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die gescheiterten Hoffnungen lösten Anfang der 90er Jahre eine massenhafte Ausreisewelle aus. Im Jahr der letzten sowjetischen Volkszählung 1989 lebten 2.040.000 Deutsche in der UdSSR: 960.000 in Kasachstan, 840.000 in Russland (davon nur 35.000 an der Wolga), über 100.000 in Kirgisien, 40.000 in Usbekistan und nur 38.000 wieder in der Ukraine. Zusammenfassung: Nina Paulsen 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte am Hof informiert. Sie besuchte jeden Gottesdienst und nahm am religiösen Leben teil. Schon bald hatte sie die Sympathie des russischen Hofes, aber auch großer Teile des Volkes gewonnen. Währenddessen schuf sich Großfürst Peter seine eigene Welt in Oranienbaum (heute Lomonossow) und pflegte seine Freundschaft mit Preußen. 1762 verstarb die Zarin Elisabeth Petrowna, und Großfürst Peter Fjodorowitsch bestieg als Zar Peter III. den russischen Thron. Er regierte nur sechs Monate, da seine Amtshandlungen, z.B. Friedensverträge mit Preußen und Säkularisierung der Güter der russischen Kirche sowie Bevorzugung deutscher Militärs in der russischen Armee, nicht von allen führenden Staatsmännern Russlands gebilligt wurden. Peter entpuppte sich als fanatischer Anhänger Friedrichs II.; er wollte die russische Armee reformieren und sie in Uniformen in den Farben Preußens stecken. Er unternahm auch Angriffe gegen die orthodoxe Kirche. Katharina entschloss sich, ihren Gatten zu entmachten. Im Juni 1762 stürzte Katharina Alexejewna ihn mit Hilfe der Gebrüder Orlow und anderer russischer Staatsmänner und ließ sich als Zarin Katharina II. von Russland krönen. Seine Ermordung ordnete sie nicht direkt an, nahm sie aber billigend in Kauf. Ihrer alleinigen und unumschränkten Herrschaft stand nun nichts mehr im Wege. Katharinas Krönung fand am 22. September 1762 in Moskau statt. Ein gigantisches, prunkvolles Volksfest trug letztendlich dazu bei, dass die Einwohner Moskaus sie als ihre rechtmäßige Herrscherin akzeptierten. Widersprüchliche Herrscherin Gerade aufgrund der Widersprüchlichkeiten ihrer Persönlichkeit und ihrer Herrschaft ist Katharina die Große eine der bedeutendsten Gestalten der Weltpolitik. Die Zarin regierte das Riesenreich mit eiserner Hand. Obwohl sie der Gedankenwelt der Aufklärung nahe stand und Russland für die europäische Kunst und Literatur öffnete, konnte sie in ihrem politischen Alltag nur in eng gesteckten Grenzen handeln. Katharina II. las die Werke von Montesquieu und Voltaire. Sie pflegte eine rege Korrespondenz mit Voltaire, den sie sehr schätzte. Er nannte sie den strahlendsten Stern des Nordens und sah in ihr eine Philosophin auf dem Thron. Ihre tiefe Zuneigung und Bewunderung zeigte sich, als sie seine Vorstellungen in ihre „Große Instruktion“ mit einfließen ließ. Darüber hi naus unterstützte sie ihn finanziell und kaufte nach seinem Tod seine gesamte Bibliothek mit all seinen Werken auf, die sich jetzt in der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg befindet. Unmittelbar nach ihrer Ausrufung zur Zarin unternahm sie energische Versuche, durch eine aufgeklärte Gesetzgebung für Verwaltung, Wirtschaft und Militär das riesige Russische Reich zu reformieren. Beeinflusst vom Gedankengut der französischen Aufklärung, führte sie einige innenpolitische Reformen durch. Die im Toleranzedikt festgeschriebene Duldung aller religiösen Bekenntnisse ist das Spiegelbild einer Monarchin, die sich aufgeklärt und modern gibt. Allerdings änderten ihre Bemühungen nichts an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Mit ihrer Großmachtpolitik hielt Katharina II. Russland zusammen. Eine Abschaffung der Leibeigenschaft erwog aber auch Katharina nicht. Der Status der Bauern näherte sich dem der Sklaverei. Einen Aufstand der Landbevölkerung in der Ukraine gegen die Unterdrückung ließ sie blutig niederschlagen. Außenpolitik Außenpolitisch setzte Katharina II. den von Peter III. angefangenen preußenfreundlichen Kurs fort. Mehr noch: Katharina II. baute den Machtbereich Russlands in einem Maße aus wie kein russischer Herrscher vor ihr. Russland erfuhr in der Regierungszeit Katharinas einen ungeheuren Gebietszuwachs. Ihr Handeln war darauf ausgerichtet, dass die anderen Staaten Europas in Russland eine Großmacht sehen sollten. Schon 1766 schrieb Katharina II. in ihrer politischen Schrift 23 „Instruction“: „Russland ist eine europäische Macht.“ Katharina II. nutzte ihre Macht, um zweimal erfolgreich Krieg gegen das Osmanische Reich zu führen; sie verschaffte sich direkten Zugang zur Krim. In zwei russisch-türkischen Kriegen 1768–1774 sowie 1787–1792 eroberte sie den Zugang zum Schwarzen Meer und weite Küstengebiete. Mit Preußen und Österreich verbündet, führte sie die Dreiteilung Polens durch. Im Ergebnis der drei Teilungen Polens gewann Russland 1 Million km² Landfläche und 6 Millionen Menschen dazu. Katharinas „Griechisches Projekt“, d. h. die Eroberung Konstantinopels und die Neugründung des byzantinischen Reichs unter russischer Herrschaft, scheiterte am Widerstand Preußens und Österreichs. Auch auf dem diplomatischen Parkett Europas konnte Katharina II. Erfolge erzielen. Durch ihre Vermittlerrolle im Frieden von Teschen wurde der bayerische Erbfolgekrieg beendet. Seither nahmen an allen bedeutenden Fürstenhöfen Europas russische Gesandte die Interessen ihres Landes wahr. Katharina II. pflegte ihre westeuropäischen Beziehungen und förderte die Einführung geistiger und kultureller Leistungen, vor allem Frankreichs, am russischen Hof. Innenpolitik Ebenfalls vom Gedankengut der französischen Aufklärung beeinflusst, stieß Katharina II. zum Nutzen Russlands Reformen auf verschiedenen Gebieten an. Innenpolitische Reformversuche glückten ihr allerdings nicht immer mit der erforderlichen Konsequenz, da die Interessen des russischen Adels, der wichtigsten Machtstütze Katharinas II., mit denen der Zarin wiederholt nicht zusammengingen. So gab es im Reich Katharinas auch Unruhen, z.B. unter den Bauern, die die aufgeklärte Zarin mit repressiven Maßnahmen beantwortete. Katharinas Verdienst war eine einheitliche Verwaltung mit Statthalterschaften, Provinzen und Kreisen. Sie gründete erste Volksschulen und Gymnasien in den Städten sowie Ingenieurfachschulen. Sie schuf Wohl- 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte fahrtsprojekte, etwa in Form von Hospitälern und Obdachlosenasylen. Im Toleranzedikt vom 17. Juni 1773 versprach sie die Duldung aller religiösen Bekenntnisse. Davon ausgenommen war allerdings die große Zahl von Juden, die seit der Ersten Teilung Polens ihre Untertanen waren. Im Toleranzedikt verbot die Zarin ausdrücklich alle religiös begründeten Verfolgungen und stellte damit ihre moderne, durch die Gedanken der Aufklärung geschulte Ausrichtung unter Beweis. Dieser Erlass kam vor allem den „Altgläubigen“ zugute, jenem Zweig der russisch-orthodoxen Kirche, der sich Mitte des 17. Jahrhunderts offiziell von der Staatskirche abgespaltet hatte und von der Kirchensynode 1666 exkommuniziert und verdammt worden war. Nachhaltig waren ihre Maßnahmen auf dem Gebiet des Erziehungswesens und bei der Besiedlung und Urbarmachung des russischen Südens, indem sie Einwanderer aus Deutschland und anderen europäischen Ländern anwerben ließ. Kaum den Thron bestiegen, erließ Katharina II. am 14. Oktober 1762 ihr erstes Einladungsmanifest, das allerdings geschichtlich folgenlos blieb. Das Manifest vom 4. Dezember 1762 richtete sich vor allem an die aus Russland entflohenen Untertanen, denen bei Rückkehr nach Russland Straffreiheit in Aussicht gestellt wurde. Ausländer wurden zwar als Zielgruppe genannt, aber ohne jegliches Angebot. Erst das Manifest vom 22. Juli 1763, in dem sie Ausländer nach Russland einlud und Privilegien (unentgeltliche Landzuweisung, freie Religionsausübung, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, Befreiung vom Militärdienst, kulturelle Autonomie, gemeindliche Selbstverwaltung, keine Leibeigenschaft) zusicherte, hatte Folgen. Der Zuzug von Bauern war im Süden erforderlich, um die Ostgrenze vor Überfällen zu schützen und das von den Türken abgetretene Land neu zu besiedeln. Katharina II. förderte die Weiterentwicklung von Kunst, Kultur und Wissenschaft. In ihrer Regierungszeit erblühte St. Petersburg zu einer der schönsten Hauptstädte Europas. Obwohl sie der Gedankenwelt der Aufklärung nahe stand und Russland für die europäische Kunst und Litera- tur öffnete, konnte sie in ihrem politischen Alltag nur in eng gesteckten Grenzen handeln. Entgegen dem Eindruck, den sie als gelehrige Schülerin der französischen Enzyklopädisten hinterlassen wollte, bewirkten ihre innenpolitischen R e f o r m ve r s u c h e keine nachhaltige Änderung der bestehenden Sozialordnung. Ihr aufgeklärter Geist regte zwar einige Modernisierungen an, offensichtliche Missstände verschärften sich unter ihrer Regentschaft aber noch mehr. So stärkte die Monarchin die überlieferte Sozi- Das Denkmal der Zarin in Zerbst. Bild: Reinhard Uhlmann alordnung, indem sie die leibeigenen Bauern völlig dem und Urbarmachung des russischen grundbesitzenden Adel auslieferte. Südens, indem sie Einwanderer aus Sie weitete die Leibeigenschaft auf die Deutschland und anderen europäibis dahin freien Bauern in der Ukraine schen Ländern anwerben ließ. Auch aus Zerbst lud Katharina imaus. Gleichzeitig stärkte sie die Privilegien des Adels. Die Verelendung mer wieder Bürger zu sich ein. Mit und Entrechtung der Bauern führte zu dieser Stadt fühlte sie sich zeitlebens massiven sozialen Unruhen, die 1773 verbunden. Als hier 1772 eine Hunim Aufstand der Donkosaken unter gersnot ausbrach, veranlasste sie, dass Pugatschow gipfelten. Der Aufstand große Mengen Roggen zollfrei nach wurde im Jahre 1774 blutig nieder- Zerbst geschickt und an die Bürger schlagen, der Anführer in Moskau der Stadt verteilt wurden. Als Kathaöffentlich hingerichtet, und von den rina am 17. November 1796 in Zarskobescheidenen Versuchen einer Neu- je Selo starb, läuteten die Glocken in ordnung und Dezentralisierung des Zerbst vier Wochen lang für sie. Einblicke in das Leben der 1729 geboreStaates gingen kaum Impulse aus. nen Prinzessin gewährt seit 1995 das bundesweit einzige Katharina-MuseRussland profitiert um in Zerbst. bis heute vom Wirken Katharinas Katharina II. förderte unter anderem die kulturelle, wirtschaftliche und geistige Bindung zwischen Russland und Deutschland. Sie holte bedeutende Leute nach Russland, darunter Künstler, Kaufleute und Gelehrte, aber auch Handwerker und Bauern. Und sie unterstützte die Besiedlung 24 Katharina-Denkmal in Zerbst Ein Symbol für die Bindung zwischen Russland und Deutschland ist das erste Denkmal der russischen Zarin im sachsen-anhaltinischen Zerbst. Die knapp fünf Meter hohe Bronzestatue steht auf einem Sockel vor der 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte barocken Stadthalle im historischen Schlossgarten Zerbst. Die Statue, die in St. Petersburg in Bronze gegossen wurde und die junge Prinzessin Sophie Auguste Friederike zeigt, wurde am 9. Juli 2010 in Zerbst feierlich eingeweiht. Das Katharinen-Denkmal ist ein Geschenk des russischen Bildhauers Michail Perejaslawez an die Stadt Zerbst. Initiiert wurde die Aufstellung der gegossenen Statue, komplett von russischer Seite finanziert, vom Internationalen Förderverein Katharina II. e.V. Zerbst. Der 1992 in Zerbst gegründete Förderverein zählt rund 130 Mitglieder, darunter Künstler und Wissenschaftler aus Russland und der Ukraine, aus Westeuropa, Japan und den USA. 1994 wurden die 1. Internationalen Katharina-Festtage in Zerbst durchgeführt, denen 1995 die zweiten Festtage folgten. Während der 2. Internationalen Katharina-Festtage wurde im September 1995 im Beisein des Botschafters der Russischen Föderation in der Bundesrepublik die Sammlung Katharina II. in Zerbst eröffnet. Mäzen dieser ständigen Sammlung ist der Baron Eduard von Falz-Fein. Der Förderverein initiierte 1994 die Unterzeichnung eines offiziellen Vertrages einer Städtepartnerschaft zwischen Puschkin bei St. Petersburg und Zerbst. Der Förderverein unterstützt den jährlich stattfindenden Jugendaustausch zwischen beiden Städten, er organisiert Konzerte und Ausstellungen mit russischen Künstlern in Anhalt-Zerbst und zeigt seine mobile Fotoausstellung zum Leben und Wirken Katharinas II. im Inund Ausland. Vor dem Katharinen-Denkmal in Marx/Wolga. Denkmal für Katharina II. in Marx/Wolga Seit dem 29. November 2007 gibt es auch in Marx/Wolga, dem ehemaligen Katharinenstadt, im Verwaltungsgebiet Saratow wieder ein Monument der russischen Zarin. Es kehrte an den Ort zurück, an dem es im Herbst 1851, 87 Jahre nach der Erstansiedlung von Deutschen, mit Spenden deutscher Kolonisten und der Anschrift „Der Zarin Katharina in Dankbarkeit von den ausländischen Siedlern“ errichtet wurde. Den Auftrag für das Denkmal erhielt Baron von Klodt. Er stellte Katharina in einer römischen Toga auf dem Thron sitzend dar, in der Hand den berühmten Erlass über die Ansiedlung von Kolonisten. Die Skulptur wurde in Bronze gegossen. Um die Skulptur herum entstand der Katharinengarten. Bis in die Sowjetzeit stand das bronzene Denkmal des Bildhauers von Klodt in der Stadt, 1941 wurde es „für den Bedarf der Front“ zerstört und abtransportiert. Es ist eine getreue Kopie der ursprünglichen Skulptur. In St. Petersburg stieß man sogar auf 25 Originalentwürfe, die von Klodt während der Vorbereitungsarbeiten angefertigt hatte. 2005 fasste dann der Gesellschaftsrat bei der Kreisverwaltung den Beschluss, das Denkmal wieder zu errichten. Den Auftrag erhielt der Petersburger Bildhauer Jurij Kisseljow. Zusammenfassung: Nina Paulsen (Ergänzungen von Dr. Anton Bosch), nach Publikationen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (VadW) und online-Artikeln Beilage: Das Manifest der Zarin Manifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 Originaltext: Von Gottes Gnaden Entschlackte Übersetzung: Von Gottes Gnaden Wir Catharina die Zweite, Zaarin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zaarin zu Casan, Zaarin zu Astrachan, Zaarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Smolensko, Fürstin zu Esthland und Lifland, Carelien, Twer, Jugorien, Permien, Wjatka und Bolgarien und mehr anderen; Frau und Großfürstin zu Nowgorod des Niedrigen Landes, von Tschernigow, Resan, Rostow, Jaroslaw, Belooserien, Udorien, Obdorien, Condinien, und der ganzen Nord-Seite, Gebieterin und Frau des Jurischen Landes, der Cartalinischen und Grusinischen Zaaren und Cabardinischen Landes, der Tscherkessischen und Gorischen Fürsten und mehr anderen Erb-Frau und Beherrscherin. Wir1, Katharina II., Zarin und Selbstherrscherin aller Russen zu Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Zarin zu Kasan, Zarin zu Astrachan, Zarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Smolensk, Fürstin zu Estland und Livland, Karelien, Twer, Jugorien, Permien, Wjatka, Bolgarien u.a.m., Frau und Großfürstin zu Nowgorod des Niedrigen Landes, von Tschernigow, Rjasan, Rostow, Jaroslawl, Belooserien, Udorien, Obdorien, Kondinien und der ganzen Nordseite, Gebieterin und Frau des Jurischen Landes, der Karalinischen und Grusinischen Zaren und des Kabardinischen Landes, der Tscherkessischen und Gorischen Fürsten sowie Erbfrau und Beherrscherin von anderen Gebieten. Da Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr, daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereyen in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; und weil selbiger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meerung gnugsam versehen, so sind sie auch ungemein bequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen Anlagen. Dieses gab Uns Anlaß zur Erteilung des Manifestes, so zum Nutzen aller Unserer getreuen Unterthanen den 4. December des abgewichenen 1762 Jahres publiciert wurde. Jedoch, da wir in selbigen Ausländern, die Verlangen tragen würden, sich in Unserem Reich häuslich niederzulassen, Unser Belieben nur summarisch angekündiget; so befehlen Wir zur besseren Erörterung desselben folgende Verordnung, welche Wir hiermit feierlichst zum Grunde legen, und in Erfüllung zu setzen gebieten. Der große Umfang der Länder Unseres Reiches ist Uns zur Genüge bekannt, und Wir nahmen unter anderem wahr, dass eine nicht geringe Anzahl dieser Gebiete unbebaut ist. Die meisten dieser Ländereien verbergen in ihrem Schoße einen unerschöpflichen Reichtum an kostbaren Erzen und Metallen und könnten vorteilhaft bevölkert und bewohnt werden. Darüber hinaus bieten sie in ausreichendem Maße Wälder, Flüsse, Seen und verwendbare Meeresufer und sind daher geeignet zum Aufbau von Manufakturen, Fabriken und anderen Anlagen. Das veranlasste uns, am 4. Dezember des vergangenen Jahres 1762 ein Manifest zum Nutzen aller Unserer getreuen Untertanen zu publizieren. Darin hatten Wir jedoch unsere Einladung an Ausländer, die das Verlangen haben, sich in Unserem Reich niederzulassen, nur summarisch angekündigt; Wir haben daher zur Verdeutlichung des Manifestes die Bekanntmachung der folgenden Verordnung veranlasst: 1. Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen. 1. Wir erlauben allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich nach Belieben in allen Gouvernements häuslich niederzulassen. 2. Dergleichen Fremde können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Unsere Residenz bey der zu solchem Ende für die Ausländer besonders errichteten Tütel-Canzley, sondern auch in den anderweitigen Gränz-Städten Unseres Reiches nach eines jeden Bequemlichkeit bey denen Gouverneure, der wodergleichen nicht vorhanden, bey den vornehmsten Stadts-Befehlshabern zu melden. 2. Diese Fremden können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Unserer Residenz bei der eigens zu diesem Zweck für Ausländer errichteten Tutelkanzlei2 melden, sondern auch nach Wunsch bei 26 1 Der Pluralis Majestatis wurde beibehalten. 2 Auf Anweisung der Zarin am 22. Juli 1763 geschaffene „Kanzlei der Vormundschaft der Ausländer“ mit Sitz in St. Petersburg. Mit ihrer Hilfe sollten die Angelegenheiten der Einwanderer geregelt werden. Beilage: Das Manifest der Zarin den Gouverneuren anderer Grenzstädte Unseres Reiches bzw., soweit diese nicht vorhanden, bei den vornehmsten Befehlshabern der Stadt. 3. Da unter denen sich in Rußland niederzulassen Verlangen tragenden Ausländern sich auch solche finden würden, die nicht Vermögen genug zu Bestreitung der erforderlichen Reisekosten besitzen: so können sich dergleichen bey Unseren Ministern und an auswärtigen Höfen melden, welche sie nicht nur auf Unsere Kosten ohne Anstand nach Rußland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen. 3. Ausländer, die sich in Russland niederlassen wollen, aber nicht genügend Vermögen besitzen, um die erforderlichen Reisekosten zu bestreiten, können sich bei Unseren Ministern und bei auswärtigen Höfen melden, die sie nicht nur ohne Umstände auf Unsere Kosten nach Russland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen. 4. Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Gränz-Stadt gemeldet haben werden; so sollen dieselben gehalten sein, ihren wahren Entschluß zu eröffnen, worinn nehmlich ihr eigentliches Verlangen bestehe, und ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben lassen und Bürger werden wollen, und zwar nahmentlich, in welcher Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freyem und nutzbarem Grunde und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder zu allerley nützlichen Gewerben sich niederlassen; da sodann alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen ihre Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifolgendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen Gegenden Unseres Reiches nahmentlich freye und zur häuslichen Niederlassung bequeme Ländereyen vorhanden sind; wiewohl sich außer der in bemeldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige Gegenden und allerley Ländereyen finden, allwo Wir gleichergestalt verstatten sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder am nützlichsten selbst wählen wird. 4. Sobald diese Ausländer in Unserer Residenz angelangt sind und sich bei der Tutelkanzlei oder in einer Grenzstadt gemeldet haben, sollen sie mitteilen, worin ihr Verlangen besteht und ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter die Zünfte einschreiben lassen und Bürger werden wollen, und zwar in welcher Stadt, oder ob sie sich auf freiem und nutzbarem Grund und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder als Gewerbe Treibende niederlassen wollen. Sodann erhalten diese Leute ohne Verzögerung ihre Bestimmung gemäß ihrem eigenen Wunsch und Verlangen, wobei aus beiliegendem Register hervorgeht, in welchen Gegenden Unseres Reiches freie und zur Ansiedlung geeignete Ländereien vorhanden sind. Darüber hinaus finden sich außer den im Register angegebenen noch erheblich mehr ausgedehnte Gegenden und Ländereien, in denen Wir ebenfalls eine Ansiedlung gestatten. 5. Gleich bei der Ankunft eines jeden Ausländers in Unser Reich, der sich häuslich niederzulassen gedenket und zu solchem Ende in der für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley oder aber in anderen GränzStädten Unseres Reiches meldet, hat ein solcher, wie oben im 4ten § vorgeschrieben stehet, vor allen Dingen seinen eigentlichen Entschluß zu eröffnen, und sodann nach eines jeden Religions-Ritu den Eid der Unterthänigkeit und Treue zu leisten. 5. Gleich bei der Ankunft in Unserem Reich hat jeder Ausländer, der sich ansiedeln möchte und sich zu diesem Zweck in der Tutelkanzlei oder in einer anderen Grenzstadt Unseres Reiches angemeldet hat, wie im Paragraphen 4 angegeben, vor allem sein Vorhaben mitzuteilen und nach seinem Religionsritus den Eid der Untertänigkeit und Treue zu leisten. 6. Damit aber die Ausländer, welche sich in Unserem Reiche niederzulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie weit sich Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser Unser Wille: 6. Damit aber die Ausländer, die sich in Unserem Reich niederlassen wollen, sehen, wie weit Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteil und Nutzen geht, ist dies Unser Wille: 1. Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern unverhindert die freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen; denen aber, welche nicht in Städten, sondern auf unbewohnten Ländereyen sich besonders in Colonien oder Landflecken nieder zu lassen gesonnen sind, erteilen Wir die Freyheit, Kirchen und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten, nur einzig den Klosterbau ausgenommen. Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Rußland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen, unter gar keinem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens und seiner Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze auszusetzen gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende dem Mahometanischen Glauben zugethane Nationen ausgeschlossen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen Religion zuneigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, einem jeden erlauben und gestatten. 1. Wir gestatten allen in unserem Reich ankommenden Ausländern die freie Religionsausübung nach ihren Kirchensatzungen und Gebräuchen. Denjenigen, die sich nicht in Städten, sondern auf unbewohnten Ländereien und besonders in Kolonien oder Landflecken niederlassen wollen, geben wir die Freiheit, Kirchen und Glockentürme zu bauen und die benötigte Anzahl von Priestern und Kirchendienern zu beschäftigen; ausgenommen ist nur der Klosterbau. Allerdings wird jedermann dringend davor gewarnt, einen in Russland wohnhaften christlichen Glaubensgenossen zur Annahme oder zum Beitritt zu seinem Glauben und seiner Gemeinde zu überreden und zu verleiten, sofern er sich nicht der Strafe nach aller Strenge Unseres Gesetzes aussetzen will. Davon ausgenommen sind an Unser Reich angrenzende Nationen mohammedanischen Glaubens; wir erlauben einem jeden, sich nicht nur auf anständige Weise der christlichen Religion zuzuwenden, sondern diese auch anzunehmen. 2. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa die geringsten Abgaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten gezwungen, noch Einquartierung zu tragen verbunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer und Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, wel- 2. Keiner der zur häuslichen Niederlassung nach Russland gekommenen Ausländer soll gezwungen werden, auch nur die geringsten Abgaben an Unsere Reichskasse zu entrichten, gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten oder für Einquartierung zu sorgen. Vielmehr soll, mit einem Wort, jeder folgendermaßen von allen Steuern und Auflagen frei sein: Wer mit vielen Familien und in 27 Beilage: Das Manifest der Zarin che in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher noch unbekannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre; die sich aber in Städten niederlassen und sich entweder in Zünften oder unter der Kaufmannschaft einschreiben wollen, auf ihre Rechnung in Unserer Residenz Sankt-Petersburg oder in benachbarten Städten in Lifland, Estland, Ingermanland, Carelien und Finland, wie nicht weniger in der Residenz-Stadt Moscau nehmen, haben fünf FreyJahre zu genießen. Wonechst ein jeder, der nicht nur auf einige kurze Zeit, sondern zur würklichen häuslichen Niederlassung, nach Rußland kommt, noch über dem ein halbes Jahr hindurch frey Quartier haben soll. ganzen Kolonien eine bis dahin unbekannte Gegend besiedelt, genießt 30 Freijahre. Wer sich in Städten niederlassen und sich entweder in Zünften oder unter die Kaufmannschaft eintragen lassen will - auf seine Rechnung in Unserer Residenz Sankt Petersburg oder in benachbarten Städten in Livland, Estland, Ingermanland, Karelien und Finnland, genauso in der Residenzstadt Moskau -, genießt fünf Freijahre. Außerdem soll jeder, der nicht nur für kurze Zeit, sondern zur wirklichen Ansiedlung nach Russland kommt, ein halbes Jahr lang freies Quartier haben. 3. Allen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommenen Ausländern, die entweder zum Kornbau und anderer Handarbeit, oder aber Manufacturen, Fabriken und Anlagen zu errichten geneigt sind, wird alle hülfliche Hand und Vorsorge dargeboten und nicht allein hinlanglich und nach eines jeden, erforderlichen Vorschub gereichet werden, je nachdem es die Notwendigkeit und der künftige Nutzen von solchen zu errichtenden Fabriken und Anlagen erheischet, besonders aber von solchen, die bis jetzo in Rußland noch nicht errichtet gewesen. 3. Allen Ausländern, die nach Russland gekommen sind, um sich hier niederzulassen, und Ackerbau und andere Handwerke betreiben bzw. Manufakturen, Fabriken und Anlagen errichten wollen, wird jede Hilfe und Vorsorge geboten. Diese orientiert sich an der Notwendigkeit und dem künftigen Nutzen der zu errichtenden Fabriken und Anlagen, besonders aber von solchen, die bis jetzt in Russland noch nicht errichtet worden sind. 4. Zum Häuser-Bau, zu Anschaffung verschiedener Gattung im Hauswesen benöthigten Viehes, und zu allerley wie beym Ackerbau, also auch bey Handwerken, erforderlichen Instrumenten, Zubehöre und Materialien, soll einem jeden aus unserer Cassa das nöthige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen, sondern lediglich das Kapital, und zwar nicht eher als nach Verfließung von zehn Jahren zu gleichen Theilen gerechnet, zurück gezahlt werden. 4. Zum Häuserbau sowie zur Anschaffung von Vieh und von Instrumenten, Zubehör und Materialien, die beim Ackerbau und beim Handwerk benötigt werden, soll jedem aus Unserer Reichskasse das nötige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen werden. Lediglich das Kapital soll im gleichen Umfang nach zehn Jahren zurückgezahlt werden. 5. Wir überlassen denen sich etablirten ganzen Colonien oder Landflecken die innere Verfassung der Jurisdiction ihrem eigenen Gutdünken, solcher-gestalt, daß die von Uns verordneten obrigkeitlichen Personen an ihren inneren Einrichtungen gar keinen Antheil nehmen werden, im übrigen aber sind solche Colonisten verpflichtet, sich Unserem Civil-Recht zu unterwerfen. Falls sie aber selbst Verlangen trügen eine besondere Person zu ihrem Vormunde oder Besorger ihrer Sicherheit und Verteidigung von uns zu erhalten, bis sie sich mit den benachbarten Einwohnern dereinst bekannt machen, der mit einer Salvegarde von Soldaten, die gute Mannszucht halten, versehen sey, so soll Ihnen auch hierinnen gewillfahret werden. 5. Wir überlassen den Kolonien und Landflecken, die sich gebildet haben, die innere Rechtssprechung nach ihrem eigenen Gutdünken, wobei die von Uns eingesetzten obrigkeitlichen Personen an ihren inneren Einrichtungen keinen Anteil nehmen werden. Im Übrigen aber sind diese Kolonisten verpflichtet, sich Unserem Zivilrecht zu unterwerfen. Sollten sie aber selbst wünschen, von Uns eine besondere Person zu ihrem Vormund bzw. zur Wahrung ihrer Sicherheit und Verteidigung zu erhalten, bis sie sich mit ihren Nachbarn bekannt gemacht haben, so soll diesem Wunsch entsprochen und die Person mit einer Schutzwache von Soldaten, die zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet sind, ausgestattet werden. 6. Einem jeden Ausländer, der sich in Rußland niederlassen will, gestatten Wir die völlige zollfreie Einfuhr seines Vermögens, es bestehe dasselbe worinn es wolle, jedoch mit dem Vorbehalte, daß solches Vermögen in seinem eigenen Gebrauche Viktor Hurr: Anwerbung. und Bedürfnis, nicht aber zum Verkaufe bestimmt sey. Wer aber außer seiner eigenen Nothdurft noch einige Waaren zum Verkaufe mitbrächte, dem gestatten Wir freyen Zoll für jede Familie vor drey Hundert Rubel am Werte der Waaren, nur in solchem Falle, wenn sie wenigstens zehn Jahre in Rußland bleibt: widrigenfalls wird bey ihrer Zurück-Reise der Zoll sowol für die eingekommene als ausgehende Waaren abgefordert werden. 7. Solche in Rußland sich niederlassende Ausländer sollen während der ganzen Zeit ihres Hierseins, außer dem gewöhnlichen LandDienste, wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen werden; ja auch zur Leistung dieses Land-Dienstes soll keines eher als nach Verfließung obangesetzter Freyjahre verbunden seyen: wer aber frey-willig geneigt ist, unter die Soldaten in Militär-Dienst zu treten, dem wird man außer dem gewöhnlichen Solde bey seiner Enrollierung beym Regiment Dreißig Rubel Douceur-Geld reichen. 28 6. Jedem Ausländer, der sich in Russland niederlassen will, gestatten Wir die völlig zollfreie Einfuhr jedweden Vermögens, jedoch unter dem Vorbehalt, dass es nur zum eigenen Gebrauch, nicht aber zum Verkauf bestimmt ist. Jeder Familie, die außer den eigenen Habseligkeiten Waren zum Verkauf mitbringt, gewähren wir freien Zoll für einen Warenwert von 300 Rubeln nur für den Fall, dass sie mindestens zehn Jahre in Russland bleibt. Andernfalls wird bei der Rückreise Zoll sowohl für die mitgebrachte als auch für die ausgeführte Ware verlangt. 7. Ausländer, die sich in Russland niederlassen, sollen während der gesamten Dauer ihres Aufenthaltes außer dem gewöhnlichen Landdienst gegen ihren Willen weder zum Militär- noch zum Zivildienst verpflichtet werden, und auch zum Ableisten des Landdienstes sollen sie erst nach Ablauf der angesetzten Freijahre eingesetzt werden. Wer aber freiwillig den Militärdienst antritt, erhält neben dem gewöhnlichen Sold bei seiner Registrierung eine zusätzliche Zahlung in Höhe von 30 Rubeln. Beilage: Das Manifest der Zarin 8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tütel-Canzley oder sonst in Unsern Gränz-Städten gemeldet und ihren Entschluß eröffnet haben, in das Innerste des Reiches zu reisen, und sich daselbst häuslich niederzulassen, so bald werden selbige auch Kostgeld, nebst freyer Schieße an den Ort ihrer Bestimmung bekommen. 8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tutelkanzlei oder in Unseren Grenzstädten gemeldet und ihren Entschluss bekannt gegeben haben, in das Innerste des Reiches zu reisen und sich dort anzusiedeln, werden sie am Ort ihrer Bestimmung Kostgeld nebst freier Munition3 erhalten. 9. Wer von solchen in Rußland sich etablirten Ausländern dergleichen Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichtet, und Waaren daselbst verfertigt, welche bis dato in Rußland noch nicht gewesen, dem gestatten Wir, dieselben Zehn Jahre hindurch, ohne Erlegung irgend einigen inländischen See- oder Gränze-Zolles frey zu verkaufen, und aus Unserm Reiche zu verschicken. 9. Ausländern, die sich in Russland eingerichtet sowie Fabriken, Manufakturen und Anlagen errichtet und Waren hergestellt haben, die es bis dahin in Russland noch nicht gegeben hat, erlauben Wir, diese zehn Jahre lang ohne inländische See- oder Grenzzölle frei zu verkaufen und aus Unserem Reich zu exportieren. 10. Ausländische Capitalisten, welche auf ihre eigenen Kosten in Rußland Fabriken, Manufacturen und Anlagen errichten, erlauben Wir hiermit zu solchen ihren Manufacturen, Fabriken und Anlagen erforderliche leibeigene Leute und Bauern zu erkaufen. Wir gestatten auch: 10. Ausländischen Kapitalisten, die auf eigene Kosten in Russland Fabriken, Manufakturen und Anlagen errichten, erlauben Wir, die für diese Manufakturen, Fabriken und Anlagen erforderlichen leibeigenen Leute und Bauern zu kaufen. Wir gestatten auch 11. Allen in Unserm Reiche sich in Colonien oder Landflecken niedergelassenen Ausländern, nach ihrem eigenen Gutdünken MarktTage und Jahrmärkte anzustellen, ohne an Unsere Cassa die geringsten Abgaben oder Zoll zu erlegen. 11. allen Ausländern, die sich in Unserem Reich in Kolonien oder Landflecken angesiedelt haben, nach ihrem eigenen Gutdünken Markttage und Jahrmärkte zu veranstalten, ohne an unsere Reichskasse die geringsten Abgaben oder Zölle zu entrichten. 7. Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich gekommen sind, sich häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassene Kinder und Nachkommenschaft, wenn sie auch gleich in Rußland geboren, solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in Rußland zu berechnen sind. 7. In den Genuss der genannten Vorteile und Einrichtungen kommen nicht nur diejenigen, die sich in unserem Reich angesiedelt haben, sondern auch ihre Kinder und ihre Nachkommenschaft, auch wenn sie in Russland geboren wurden. Ihre Freijahre sind von dem Tag der Ankunft ihrer Vorfahren in Russland zu berechnen. 8. Nach Verfließung obangesetzter Freyjahre sind alle in Rußland sich niedergelassene Ausländer verpflichtet, die gewöhnlichen und mit gar keiner Beschwerlichkeit verknüpften Abgiften zu entrichten, und gleich Unsern anderen Unterthanen, Landes-Dienste zu leisten. 8. Nach Ablauf der angesetzten Freijahre sind alle Ausländer, die sich in Russland niedergelassen haben, verpflichtet, die gewöhnlichen und mit keiner besonderen Belastung verbundenen Abgaben zu entrichten und ebenso wie Unsere anderen Untertanen Landesdienste zu leisten. 9. Endlich und zuletzt, wer von diesen sich niedergelassenen und Unsrer Bothmäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes würde, sich aus Unserm Reiche zu begeben, dem geben Wir zwar jederzeit dazu die Freyheit, jedoch mit dieser Erleuterung, daß selbige verpflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen in Unserm Reiche wohlerworbenen Vermögen einen Theil an Unsere Cassa zu entrichten; diejenigen nehmlich, die von Einem bis Fünf Jahre hier gewohnet, erlegen den Fünften, die von fünf bis zehen Jahren und weiter, sich in Unsern Landen aufgehalten, erlegen den zehenden Pfennig; nachher ist jedem erlaubt ungehindert zu reisen, wohin es ihm gefällt. 9. Schließlich und endlich: Ausländern, die sich in Russland niedergelassen und Unserer Herrschaft unterworfen haben und beabsichtigen, Unser Reich zu verlassen, geben Wir dazu zwar jederzeit die Freiheit, jedoch unter der Maßgabe, dass sie verpflichtet sind, einen Teil ihres in Unserem Reich erworbenen Vermögens an Unsere Reichskasse zu entrichten. Wer ein bis fünf Jahre in Unserem Land gewohnt hat, entrichtet ein Fünftel seines Vermögens, wer von fünf bis zehn Jahre hier gewohnt hat, ein Zehntel. Danach darf jeder ungehindert dorthin reisen, wo es ihm gefällt. 10. Wenn übrigens einige zur häuslichen Niederlassung nach Rußland Verlangen tragenden Ausländer aus einem oder anderen besonderen Bewegungsgründen, außer obigen noch andere Conditiones und Privilegien zu gewinnen wünschen würden; solche haben sich deshalb an Unsere für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley, welche uns alles umständlich vortragen wird, schriftlich oder persönlich zu wenden: worauf Wir alsdann nach Befinden der Umstände nicht anstehen werden, um so viel mehr geneigte Allerhöchste Resolution ertheilen, als sich ein jeder von Unserer Gerechtigkeitshiebe zuversichtlich versprechen kann. 10. Im Übrigen sollen sich Ausländer, die sich in Russland niederlassen und aus dem einen oder anderen besonderen Beweggrund außer den oben genannten noch andere Konditionen und Privilegien erhalten wollen, schriftlich oder persönlich an Unsere für Ausländer errichtete Tutelkanzlei wenden, die Uns alles vortragen wird. Daraufhin werden Wir nach Prüfung der Umstände nicht zögern, eine wohlwollende Allerhöchste Entscheidung zu treffen, die jeder zuversichtlich von Unserer Gerechtigkeitsliebe erwarten kann. Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli, im Zweyten Jahre Unserer Regierung Erlassen zu Peterhof am 22. Juli 1763, im zweiten Jahr Unserer Regierung Das Original hat Ihre Kaiserliche Majestät allerhöchst eigenhändig folgendermaßen unterschrieben: Das Original haben Ihre Kayserliche Majestät Allerhöchst eigenhändig folgendergestalt unterschrieben: Gedruckt beim Senat am 25. Juli 1763. 3 Ob damit das Wort "Schieße" im Originaltext korrekt übersetzt wurde, ist fraglich. Gedruckt beym Senate den 25. Juli 1763. 29 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Dr. Viktor Krieger Wolgadeutsche Republik - Zeittafel 1917 6. Februar: Die Gesetze zur Liquidierung des Landbesitzes der russischen Bürger „feindlicher“ Abstammung werden auch auf das Gouvernement Saratow und Samara ausgedehnt. 27. Februar: Bürgerliche demokratische Revolution in Russland. Formierung nationaler Bewegungen verschiedener Völker und Völkerschaften. 25. bis 27. April: Erster Kongress der Wolgadeutschen in Saratow. 19. bis 22. September: Zweiter Kongress der Wolgadeutschen in Schilling. Forderungen der nationalkulturellen Autonomie und des freien Gebrauchs der deutschen Sprache. 25. Oktober: „Oktoberrevolution“, Machtergreifung der Bolschewiki. 2. November: Verkündung der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“, in der die Bolschewiki unter anderem das Recht der zahlreichen Völker des einstigen Zarenreiches auf freie nationale Selbstbestimmung bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates versprechen. 1918 bis 1921 Aus den deutschen Siedlungen bzw. dem deutschen Gebiet werden im Zuge der Lebensmitteleintreibungen Hunderttausende Tonnen Getreide und andere Lebensmittel requiriert, was den Hauptgrund für die schreckliche Hungerkatastrophe 1921-22 darstellt. 1918 1. bis 14. Februar: Kongress der Abgeordneten der ländlichen Körperschaften in Warenburg, der auf Grundlage des deklarierten Selbstbestimmungsrechts eine territoriale Autonomie für die Wolgadeutschen verlangt. 3. März: Frieden von Brest-Litowsk mit gegenseitiger Repatriierungsklausel für russischstämmige Bürger in Deutschland bzw. deutschstämmige Bürger in Russland. April: Vertreter der Warenburger Konferenz und des Verbandes der deutschen Sozialisten an der Wolga werden nach Moskau entsandt, um mit der Zentralregierung die Frage der Selbstbestimmung auszuhandeln. 18. April: Stalin als Volkskommissar (Minister) für Nationalitätenangelegenheiten empfängt die Sozialistendelegation aus Saratow und unterstützt ihr Ansinnen bezüglich einer Autonomie der Wolgadeutschen. Wenige Tage später wird das „Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“ mit Ernst Reuter an der Spitze konstituiert, der mit seinen Mitarbeitern bereits am 26. April in Saratow eintrifft. 21. April: Im Volkskommissariat für Nationalitätenangelegenheiten wird eine Deutsche Abteilung gegründet. 29. Mai: Verabschiedung der allgemeinen Satzung des „Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“. 30. Juni bis 1. Juli: Tagung des ersten Räte-Kongresses der deutschen Siedlungen an der Wolga in Saratow, der eine „Föderation der Arbeiter- und Bauernräte in den deutschen Wolga kolonien“ ausruft. 17. bis 18. Oktober: Besprechung der Frage der Autonomie der Wolgadeutschen in den Zentralgremien. Regierungschef Wladimir Lenin unter- stützt mit mehreren Wortmeldungen den Vorschlag. 19. Oktober: Der Rat der Volkskommissare der RSFSR genehmigt per Dekret die Errichtung der Gebietsautonomie (Arbeitskommune) der Wolgadeutschen mit Katharinenstadt als Zentrum. 1919 März: Trotz heftiger Widerstände der Saratower Partei- und Sowjetorgane können 214 deutsche Dörfer im neuen nationalen Territorium vereinigt werden, die in den drei Bezirken Katharinenstadt, Seelmann und Balzer organisiert sind. Das wolgadeutsche Gebiet besteht zunächst aus mehreren, nicht immer miteinander verbundenen Territorien und Einsprengseln unterschiedlicher Größe auf beiden Seiten der Wolga. Die Gesamtfläche beträgt 19.694 km². 4. Juni: Umbenennung von Katharinenstadt in Marxstadt. Die zentrale Republikzeitung „Nachrichten“ erscheint vorerst in Marxstadt und von 1922 bis zum 30. August 1941 in Pokrowsk/Engels. 1920 28. August: Die erste sowjetrussische Volkszählung registriert im Au- Blick auf Katharinenstadt, das spätere Marxstadt. 30 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte tonomen Gebiet 452.629 Einwohner, darunter mehr als 96 Prozent Deutsche. 1921 März bis April: Hungeraufstände in mehreren wolgadeutschen Dörfern, die brutal niedergeschlagen werden. März: Übergang im ganzen Land zur „Neuen Ökonomischen Politik“ (NÖP; 1921-1928), die begrenztes Privateigentum und Eigeninitiative zulässt. Im Laufe des Jahres geht die Gebietsbevölkerung um 20,5 Prozent auf 359.460 Menschen zurück. Offiziell verlassen 74.084 Bewohner das nationale Gebiet und ziehen nach Turkestan, in den Trans- und Nordkaukasus, nach Zentralrussland, in die Ukraine und 31 bis nach Deutschland. Wegen grassierender Seuchen und minderwertiger Ernährung erreichen bei weitem nicht alle Hungerflüchtlinge die angestrebten Orte. Hinzu kommen 47.777 erfasste Todesfälle, in ihrer Mehrheit Hungeropfer, denen immerhin 18.701 Geburten gegenüber stehen. 30. November: Der bedeutende Polarforscher Fridtjof Nansen besucht 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte als Leiter des internationalen „Kinderhilfswerks“ Marxstadt, das Zentrum des Hungergebietes. Dem Aufruf der Sowjetregierung zur Linderung der Hungersnot folgen zahlreiche ausländische Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, die American Relief Administration, das „Kinderhilfswerk“, das Hilfswerk der wolgadeutschen Emigranten und andere. In Berlin konstituiert sich der humanitäre Ausschuss „Brüder in Not“, um für die „notleidenden deutschen Kolonisten in Russland“ Sammlungen, Paketsendungen und andere Hilfsaktivitäten zu organisieren. schan) zur Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, d.h. der UdSSR. 1922 Im Deutschen Gebiet haben die American Relief Administration und das „Kinderhilfswerk“ seit November 1921 mehr als 80.000 Kinder verpflegt; hinzu kommt in den Sommermonaten die zusätzliche Verpflegung von 181.000 Erwachsenen. Anfang 1922 darf eine medizinische Hilfsexpedition des Deutschen Roten Kreuzes mit Stützpunkt in Saratow ihre Tätigkeit zur Bekämpfung der Seuchengefahr, vor allem durch Cholera, Typhus und Malaria, aufnehmen. Auf Druck der sowjetischen Behörden müssen allerdings alle ausländischen Hilfsorganisationen 1924 ihre Tätigkeit in der UdSSR einstellen. 22. Juni: Die Regierung der Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) stimmt, ungeachtet der strikt ablehnenden Haltung der Saratower Gouvernementsführung, einer „Abrundung“ des Wolgadeutschen Gebietes durch die Eingliederung von russischen und ukrainischen Siedlungen im Bezirk Pokrowsk zu. Die Hauptstadt des Gebietes wird nach Pokrowsk (ab 1931 Engels) verlegt. Die Gesamtfläche der Autonomie vergrößert sich dadurch um 29 Prozent auf 25.447 km², die Bevölkerungszahl um 64 Prozent auf 527.876. Administrativ-territorial besteht das neue Gebiet nun aus 14 Kantonen (Landkreise). 30. Dezember: Deklaration der vier damaligen Unionsrepubliken Russland (RSFSR), Ukraine, Weißrussland und Transkaukasische Föderation (Georgien, Armenien und Aserbaid- 1924 6. Januar: Auf der Sitzung des Zentralexekutivkomitees der Arbeitskommune (des Autonomen Gebietes) der Wolgadeutschen in Pokrowsk wird die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) feierlich proklamiert. 20. Februar: Die Regierung der Russländischen Föderativen Sowjetrepublik bestätigt in einem Dekret offiziell die Umwandlung des Gebietes in eine autonome Republik. 19. Mai: Verabschiedung von Maßnahmen zur Einführung der deutschen Sprache in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen der Republik. 1923 Neugründung der ältesten und wichtigsten pädagogischen Anstalt in der Wolgarepublik, des Marxstädten Deutschen Pädagogischen Technikums (Fachschule). 13. Dezember: Das Politbüro des ZK der Bolschewistischen Partei [WKP(B)] unter Stalins Vorsitz stimmt in einer streng geheimen Sitzung dem Vorschlag aus Pokrowsk zu, das Wolgadeutsche Gebiet in eine autonome Republik umzuwandeln. 1925 März bis Mai: Längerer Aufenthalt in Berlin des Regierungschefs der ASSR der Wolgadeutschen, Wilhelm Kurz, bei denen er Unterredungen über wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen der Wolgarepublik mit Deutschland führt. 27. August: Das Politbüro des ZK der WKP(B) erlaubt der Wolgarepublik, direkte Kontakte mit Deutschland aufzubauen, um so ihre „politische Bedeutung“ zu stärken. 9. Juni: Gründung des Zentralmuseums der ASSRdWD in Pokrowsk. Erster Direktor wird der bekannte Sprachwissenschaftler Prof. Georg Dinges. 1926 31. Januar: Der 3. Rätekongress der ASSRdWD nimmt die erste wolgadeutsche Verfassung an, die weitgehende Kompetenzen der Republik vorsieht. Aber auch nach mehrmaliger Überarbeitung wird der Entwurf nicht von den übergeordneten Organen der RSFSR bzw. der Union bestätigt. März bis April: Delegationen aus der Wolgarepublik in Deutschland. Sie werden von Johannes Schwab, dem Vorsitzenden des Zentralexekutivkomitees der ASSRdWD (in den Medien als „Staatspräsident“ tituliert), und dem Volkskommissar für Bildungswesen, Josef Schönfeld, geleitet. 17. Dezember: Laut der ersten unionsweiten Volkszählung leben in der ASSR der Wolgadeutschen 571.578 Menschen, davon 379.630 Deutsche (66,4 Prozent), 116.561 Russen (20,4 Prozent), 68.561 Ukrainer (12,0 Pro- Sarepta, Zentrum der Baumwollweberei an der Wolga. 32 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte se Vorstellung die Handlungsweise der örtlichen Führungsschicht und erscheint in den Erinnerungen vieler Zeitzeugen. 20. April: Verurteilung von 20 Priestern im Prozess gegen die wolgadeutsche katholische Geistlichkeit. Die Verhaftungen haben Ende 1929 begonnen. 6. Juni: Verurteilung von weiteren 16 Priestern im selben Prozess. 19. Oktober: Die Hauptstadt der ASSRdWD, Pokrowsk, wird in Engels umbenannt. „Tag der Presse“ in Mariental. zent) und andere zahlenmäßig kleinere Nationalitäten. 1927 6. Dezember: Beschluss des Zentralexekutivkomitees der RSFSR, Ortschaften ihre deutschen Namen zurückzugeben, die sie bis 1914 geführt haben. 1928 bis 1932 Abkehr von der Politik der NÖP. Zwangskollektivierung der selbständigen Bauernwirtschaften, verbunden mit der restlosen Enteignung der wohlhabenden Bauern („Kulaken“) und ihrer Verbannung nach Kasachstan und in den Hohen Norden. Ursache der großen Hungersnot 1932-33. 1928 28. Juni: Die Republik wird Teil der Unteren Wolgaregion. 5. Oktober: Beschluss der Regierung der RSFSR über die Gründung des Deutschen Pädagogischen Instituts in Pokrowsk zur Ausbildung von Lehrern für Mittelschulen mit deutscher Unterrichtssprache. 1929 5. Januar: Breit angelegte Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Gründung der Wolgadeutschen Autonomie, in Anlehnung an das Dekret vom 19. Oktober 1918 und den Beschluss von Anfang Januar 1924 zur Umwandlung in eine Autonome Republik. 20. Dezember: Beginn massenhafter Unruhen. Widerstand und Proteste der Bauern gegen die Verschickungen von „Kulaken“ und die zwangsweise Überführung in die Kolchosen; besonders heftig in den Kantonen Kamenka und Frank. 1930 6. Januar: Offizielle Eröffnung des Deutschen Staatlichen Pädagogischen Instituts (Pädinstitut) in Pokrowsk. 30. Januar: Verhaftung des ersten Prorektors des deutschen Pädinstituts, Prof. Georg Dinges. Auftakt zum Kampf gegen den „deutschen bürgerlichen Nationalismus“ in der Republik. 23. Juli: Beschluss des Zentralexe kutivkomitees der ASSRdWD über die Gründung des nationalen deutschen Theaters. 1931 9. Januar: Beschluss über die Gründung des Deutschen Landwirtschaftlichen Instituts. 27. Februar: Erste Gebietskonferenz der wolgadeutschen proletarischen Schriftsteller. März: Der 8. Räte(Sowjet)-Kongress der ASSRdWD beschließt, dass die Republik der Wolgadeutschen zu einer Musterrepublik der kompakten Kollektivierung werden muss. Schon früher tauchte der Slogan „Musteroder Vorreiterrepublik“ mehrmals auf, aber vor allem danach prägt die33 1932-33 Zweite große Hungersnot an der Wolga, in Kasachstan und in der Ukraine als direkte Folge der überstürzten Kollektivierung. Zwischen 35.000 und 40.000 Wolgadeutsche werden Opfer dieser stalinschen „Umgestaltung der Landwirtschaft“. Die wieder aktiv gewordene Aktionsgemeinschaft „Brüder in Not“, die Geldüberweisungen und Lebensmittelpakete aus Deutschland an die Betroffenen weiterleitet, wird von sowjetischen Propagandisten als Hitler-Hilfe denunziert. Die Empfänger der Hilfen werden wegen „antisowjetischer Handlungen“ öffentlich verurteilt und nicht selten strafrechtlich belangt. 1932 Januar: Unweit von Engels wird das größte Fleischkombinat der UdSSR aufgebaut. 1933 18. Oktober: Inmitten der grassierenden Hungersnot Feierlichkeiten zum 15. Gründungstag der Wolgadeutschen Autonomie. Die Zentralzeitung „Prawda“ preist mit einem großen Aufmacher die Erfolge der Republik und „entlarvt“ das wirtschaftliche und soziale Elend im faschistischen Deutschland. 1934 10. Januar: Die Untere Wolgaregion wird aufgelöst, die ASSR der Wolgadeutschen Teil der Saratower Region. Januar: Gründung des Wolgadeutschen Philharmonischen Orchesters, das später in die Wolgadeutsche Philharmonie umgewandelt wird. 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Ansprachen von wolgadeutschen Bestund Stachanowarbeiter in Moskau bei Unionsberatungen der Landwirtschaftskader. Katharina Grauberger, Adolf Dehning, Jakob Schlund und weiteren Deutschen werden Staatsorden und andere Auszeichnungen verliehen. Das Pädagogische Institut (oben) und die Technische Hochschule in Engels, der Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik. 17. August bis 1. September: Literaten der Republik nehmen am Gründungskongress des Schriftstellerverbandes der UdSSR teil. Auftritt des Leiters der Delegation, Franz Bach, vor dem Kongress am 31. August und Wahl in den Vorstand des Schriftstellerverbandes der UdSSR. 5. November: Das ZK der WKP (B) verschickt eine Anordnung in alle Landesteile, die zum Kampf gegen „Faschisten“ unter den Russlanddeutschen auffordert. Eine Welle von Repressionen erfasst die Wolgarepublik. 1935 14. Januar: Neue Aufteilung des Territoriums der Wolgadeutschen Re- publik in 21 Kantone und die Hauptstadt Engels. 12. Dezember: Erster Auftritt des deutschen Kolchos-Sowchos-Theaters in Balzer. Das ganze Jahr bis in den Frühling 1936 Berichte der Zentralmedien über 1936 5. Dezember: Annahme der sog. stalinschen Verfassung, die eine direkte oder indirekte Beschränkung der Rechte von Personen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit oder die Propagierung von Nationalitätenhass unter Strafe stellt. Gleichzeitig kommt die ASSRdWD aus der „Obhut“ von Saratow und wird den Zentralorganen der RSFSR direkt unterstellt. 1937 29. April: Der Außerordentliche 10. Sowjetkongress der ASSRdWD nimmt die Konstitution der Republik an. Das Grundgesetz besteht aus 113 Artikeln; darunter Art. 15: „Das Territorium der ASSR der Wolgadeutschen kann ohne Einverständnis der ASSR der Wolgadeutschen nicht geändert werden.“ 26. Juli: Plenarsitzung des Gebietsparteikomitees, das die Absetzung des Ersten Parteisekretärs Eugen Frescher bestätigt. Seither und bis zum Ende der Republik stehen an der Spitze der Parteiorganisation nur nichtdeutsche Kader (Jakow Popok, Iwan Anoschin, Sergej Malow und andere). 12. Dezember: Neun Wolgadeutsche werden in den Obersten Sowjet der UdSSR, das „höchste Organ der Staatsgewalt“, gewählt. 1938 26. Juni: Wahlen in den Obersten Sowjet der ASSRdWD. 25. bis 27. Juli: Konstituierte Sitzung des Obersten Sowjets (OS) der Republik. Zum Regierungschef wird Ausweis des Regierungschefs der Republik, Alexander Heckmann. 34 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Alexander Heckmann, zum Staatspräsidenten, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der ASSR der Wolgadeutschen, Konrad Hoffmann gewählt. 18 Oktober: Breit angelegte Feierlichkeiten in der ganzen Republik anlässlich des 20. Gründungsjahres. Nach lückenhaften Angaben sind in der Wolgarepublik nicht weniger als 6.698 Menschen Opfer des „Großen Terrors“ geworden; davon wurden 3.632 (54,2 Prozent) erschossen. 1939 17. Januar: Die Volkszählung registriert in der Republik 606.532 Menschen, davon 366.685 Deutsche (60,4 Prozent), 156.027 Russen (25,7 Prozent) und 58.248 Ukrainer (9,6 Prozent). In den Städten leben 51.955 Deutsche oder 14,2 Prozent. Ungeachtet eines starken natürlichen Zuwachses, hat sich ihre absolute Zahl gegenüber 1926 verringert und ist fast um ein Viertel niedriger als 1920! Es sind direkte Folgen der beiden Hungerkatastrophen der zwanziger und dreißiger Jahre. 28. Mai: Bei einer Sitzung des Nationalitätenrates des Obersten Sowjets der UdSSR hebt der Regierungschef der ASSRdWD, Alexander Heckmann, „große Erfolge der Republik in der sozialistischen Landwirtschaft, der Industrie und im Kulturaufbau“ hervor: vier Hochschulen, 14 Fachoberschulen (Technika) mit ca. 5.000 Studenten, zwei Musikschulen, fünf Theater (davon drei Kolchos-Sowchos-Theater) usw. Die Textilindustrie ist zum bedeutendsten Industriezweig in der Wolgarepublik geworden und stellt einen wichtigen Standort für die ganze UdSSR dar. Zu den größten Betrieben zählen neben den Weber- und Trikotagefabriken in Balzer (1.377 bzw. 1.118 Arbeiter) und Kratzke (679) vor allem die Spinnwollefabrik in der Arbeitssiedlung Krasny Tekstilstschik mit 1.904 Beschäftigten. 1940 1. April: Durch territoriale Veränderungen beträgt die Fläche der Repub lik zuletzt 28.200 km². Administrativ gliedert sie sich in 22 Kantone, drei Städte, Balzer, Marxstadt und Engels, sowie fünf Arbeitssiedlungen. 26. Oktober: Einführung von Studiengebühren an Fachoberschulen (Technika) bzw. Hochschulen und von Schulgeld für die höheren Klassen der Mittelschule. Daraufhin bricht fast die Hälfte der Studenten in Engels ihr Studium ab. Der Deutsche Staatsverlag in Engels druckt bis Kriegsausbruch jedes Jahr Dutzende Lehrbücher und methodische Hilfsmittel für Schulen und höhere Bildungsanstalten zum Unterricht in der deutschen Muttersprache. 1941 22. Juni: Angriff von NS-Deutschland auf die Sowjetunion. 15. Juli: Das Staatliche Verteidigungskomitee beschließt, in der Republik sechs operative Flugplätze neben den Orten Mariental, Friedenfeld, Neu-Urbach und anderen durch mobilisierte Bewohner bauen zu lassen. 26. August: Das Politbüro des ZK der Bolschewistischen Partei mit Stalin an der Spitze beschließt die Verbannung der Deutschen aus der ASSR der Wolgadeutschen sowie den angrenzenden Gebieten Saratow und Stalingrad (seit 1961 Wolgograd). 28. August: Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ legalisiert den Politbürobeschluss zur Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Wolgaregion. 30. August bis 20. September: In dieser Zeit werden nach offiziellen Angaben 371.164 Personen aus der Wolgarepublik, 46.706 aus dem Gebiet Saratow und 26.245 aus dem Gebiet Stalingrad verbannt, zu 80 Prozent nach West- und Ostsibirien und zu 20 Prozent nach Nordkasachstan. Schließung und Auflösung aller bildungskulturellen Einrichtungen: des Deutschen Pädagogischen und des Landwirtschaftsinstituts, aller Fachoberschulen, des Akademischen Deutschen Staatstheaters und der Kolchos-Sowchos-Bühnen in Balzer und Marxstadt, des Zentralmuseums und 35 der Zentralbibliothek der Wolgarepublik sowie des Deutschen Staatsverlags. Schließung aller deutschsprachigen allgemeinbildenden Schulen, Einstellung des Erscheinens aller deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, Beendigung deutschsprachiger Radiosendungen, Vernichtung der deutschsprachigen Bücher- und Zeitungsbestände öffentlicher und Schulbzw. Behördenbibliotheken. 6. September: Das Politbüro des ZK der Bolschewistischen Partei beschließt die Aufteilung des Territoriums der Wolgarepublik auf die Gebiete Saratow und Stalingrad. 7. September: Das Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR legalisiert diesen geheimen Beschluss durch einen entsprechenden Erlass. 22. September: Das Saratower Gebietsparteikomitee geißelt in seiner Sitzung die „beispiellosen Plünderungen“ der herrenlosen Häuser und des Kolchosen- bzw. Staatseigentums in den verlassenen Ortschaften. 1942 bis 1944 In den Gebieten Saratow und Stalingrad werden die deutschen Namen durch russische ersetzt. Aufgrund mehrerer Partei- und Regierungsbeschlüsse werden in den Rayons der ehemaligen Wolgarepublik Flüchtlinge aus den westlichen Regionen sowie Bauern aus der Ukraine und der RSFSR angesiedelt. 1942 bis 1946 Nach der Einweisung in die Zwangsarbeitslager finden Dutzende Geheimprozesse gegen ehemalige wolgadeutsche Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunktionäre, gegen Abgeordnete und Intellektuelle statt, die 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte die Existenz einer „5. Kolonne“ und die verräterischen Absichten der betroffenen Volksgruppe „beweisen“ und somit ihre Deportation im Nachhinein rechtfertigen sollen. 1947 25. Februar: Gesetz über die Änderung der Unionsverfassung, in der die ASSRdWD nicht mehr erwähnt wird. 1955 13. Dezember: Erlass über die Aufhebung des Sondersiedlerstatus und Befreiung von der Kommandanturaufsicht. Verbot der Rückkehr in die früheren Wohnorte. 1961 17. bis 31. Oktober: 22. Parteitag der KPdSU, auf dem Stalin und seine Politik ungewöhnlich scharf öffentlich kritisiert werden. Darauf folgen massenhafte Umbenennungen von Städten, Straßen, Betrieben, Kolchosen etc., die seinen Namen tragen. Entfernung aller Stalin-Denkmäler und -Porträts, von Szenen aus Filmen und Theaterstücken, die mit ihm in Verbindung stehen, usw. Die Beschlüsse des Parteitags geben einen starken Impuls zur Erstarkung und Entfaltung der deutschen Protestund Autonomiebewegung. 1963 bis 1964 Im Zuge des heranrückenden 200-jährigen Jubiläums der Ansiedlung an der Wolga entstehen zahlreiche individuelle und kollektive Eingaben für die höheren Partei- und Staatsorgane, die sich für eine vollständige Rehabilitierung der Deutschen in der UdSSR einsetzen. Vielerorts wird eine repräsentative Abordnung nach Moskau vorbereitet. 1964 Mai bis Juni: Angesichts zahlreicher Unmutsäußerungen und Proteste von Betroffenen setzt sich eine vom ZK der KPdSU einberufene Kommission mit der deutschen Problematik auseinander und empfiehlt, keinen zusätzlichen Rechtsakt anzunehmen und „den 200. Jahrestag der Einwanderung der Kolonisten nach Russland nicht zu würdigen“. 3. Juli: Bei einer Sitzung im Sekretariat des Zentralkomitees entscheidet sich die Parteispitze jedoch für eine Kompromisslösung und schlägt vor, ein Dekret über die Teilrehabilitierung der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ doch anzunehmen. 24. Juli: Abschließende Beratung in der Rechtsabteilung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR mit Vertretern der Staatssicherheit, des Obersten Gerichts und der Staatsanwaltschaft der UdSSR, die den Entwurf eines entsprechenden Liebevoll auf Ton publik. Ukases abstimmen. 29. August: Nach der Bestätigung des ausgearbeiteten Entwurfes durch das ZK der KPdSU wird er durch die formale Staatsgewalt, das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, mittels eines Erlasses bestätigt. Darin wird zwar der Vorwurf des Verrats als unbegründet aufgehoben, aber die Wiederherstellung der Autonomie und die Rückkehr der einstigen Bewohner abgelehnt. Auch darf dieser Rechtsakt nicht öffentlich bekannt gemacht werden. 28. Dezember: Nach der heftigen Kritik der enttäuschten Russlanddeutschen entscheidet man sich jedoch dafür, den Ukas in den amtlichen „Nachrichten des Obersten Sowjets der UdSSR“ sowie in der Moskauer Zeitung „Neues Leben“ in deutscher Übersetzung zu publizieren. In den Massenmedien, in Schulbüchern oder populärwissenschaftlichen Werken wird dieses „Rehabilitierungs“-Dekret weiterhin totgeschwiegen. 1965 Im Januar und Juli reisen zwei Abordnungen von Russlanddeutschen nach Moskau und versuchen in Gesprächen mit Vertretern des Zentralkomitees und dem Staatsoberhaupt Anastas Mikojan vergeblich, eine substanzielle Wiedergutmachung zu erreichen. 36 geprägte Karte der Wolgadeutschen Re 1965 bis 1973 Autonomieanhänger werden in den nachfolgenden Monaten und Jahren vom KGB, der Staatsanwaltschaft, Miliz und Partei, von gesellschaftlichen Organisationen und Arbeitskollektiven überwacht, eingeschüchtert, unter Druck gesetzt und als Nationalisten diffamiert. Enttäuschung und der verstärkte Wunsch machen sich breit, in die Bundesrepublik Deutschland auszuwandern, um dort Glaubens- und Gewissensfreiheit, rechtliche Gleichheit und die erhoffte sprachlich-kulturelle Umgebung zu finden. Der Prozess des erzwungenen Identitätswandels ist besonders plausibel in der Samisdat-Schrift „Von dem Gedanken über die Autonomie zum Gedanken über die Emigration“ aus dem Jahr 1973 dargelegt. 1985 bis 1991 Tiefgreifender Reformversuch in der Sowjetunion, der unter dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, als die Periode von Perestroika und Glasnost in die Geschichte eingeht. Wachsende Kritik an den stalinistischen bzw. kommunistischen Verbrechen seit 1917. Unter anderem werden Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung der Rechte der deportierten Völker laut. 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte 1988 Bildung und Entsendung von drei russlanddeutschen Delegationen nach Moskau, die von den zentralen Machtorganen die vollständige Rehabilitierung der Volksgruppe verlangen; dazu gehört die Verabschiedung eines staatlich finanzierten Rückkehrprogramms in die wieder hergestellte autonome Republik an der Wolga. 1989 bis 1992 Wie schon oft in der Vergangenheit massive Proteste der russischen Bevölkerung, vornehmlich im Gebiet Saratow, mit deutlicher Stoßrichtung gegen eine Rückkehr der einst Deportierten und ihrer Nachkommen und gegen eine Neugründung der deutschen Republik. 1989 16. Januar: Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion „Über zusätzliche Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit hinsichtlich der Opfer der Repressionen im Zeitraum der 1930er und 1940er sowie zu Beginn der 1950er Jahre“. Im März wird in Moskau die Gesellschaft „Wiedergeburt“ gegründet, deren primäres Ziel die Wiedererrichtung der deutschen Autonomie ist. 14. November: Erklärung des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Bewertung der Repressionsakte gegen Völker, die gewaltsam umgesiedelt wurden, als ungesetzlich und verbrecherisch und über die Gewähr der Rechte dieser Völker“. 1991 12. bis 15. März: Außerordentlicher Kongress der gewählten Vertreter der deutschen Bevölkerung, der die unverzügliche Wiederherstellung der autonomen Republik an der Wolga fordert. 24. April: Russland erklärt mit dem Gesetz „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ die seinerzeitigen Repressionen gegen Russlanddeutsche und andere Völker für gesetzeswidrig und verbrecherisch. 1992 8. Januar: In einer Rede im Gebiet Saratow erteilt der Präsident der Russländischen Föderation, Boris Jel- Denkmal für die russlanddeutschen Opfer der Verfolgung in Engels. zin, den Autonomieplänen eine unmissverständliche Absage. 21. Februar: Jelzin erlässt den Ukas „Über sofortige Maßnahmen zur Rehabilitation der Russlanddeutschen“, in dem ein deutscher nationaler Ra yon im Gebiet Saratow und ein Landkreis im Gebiet Wolgograd vorgesehen sind. Diese Absichten bleiben auf dem Papier. 2011 Zahlreiche Maßnahmen und Gedenkveranstaltungen in Deutschland, in Russland und anderen GUS-Staaten 37 zum 70. Jahrestag der Deportation der Deutschen in der ehemaligen UdSSR und der Auflösung der Wolgadeutschen Republik. 28. August: Nach langen Querelen Enthüllung des Denkmals für die deutschen Opfer der Deportation, das durch private Spenden errichtet wurde, im eingezäunten Innenhof des ehemaligen Zentralarchivs der ASSR der Wolgadeutschen in Engels. Ministerpräsident Medwedew, Premierminister Putin und andere führende Politiker blieben dem Ereignis demonstrativ fern. 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Im Einsatz für Deutsche aus Russland Wendelin Jundt: Bundesverdienstkreuz und Landesverdienstkreuz für besonderes Engagement Lilli Bischoff Lilli Bischoff: Bundesverdienstkreuz als Zeichen der Anerkennung langjährigen Engagements Als Zeichen der Anerkennung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit wurde Lilli Bischoff 2007 das Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Die Tatkraft von Lilli Bischoff, die im Arbeitsamt Hannover arbeitet, ist erstaunlich. Gleich nach ihrer Ankunft 1988 in Deutschland gründete sie in ihrem Wohnort Barsinghausen eine Ortsgruppe der Landsmannschaft und stürzte sich in die Integrationsarbeit mit Aussiedlern. Besonders beispielhaft ist ihr Einsatz für die Integration von Jugendlichen in Barsinghausen. Seit 2006 ist sie Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft, deren Bundesvorstand sie über Jahre angehörte. Außerdem kümmert sich Lilli Bischoff um Hilfsmaßnahmen für die Menschen in Kowel, Ukraine, die vom Atomreaktorenunglück von Tschernobyl betroffen sind. 1995 gründete sie den Verein „Kinderhilfe Ukraine“, der sich für kostenlose Erholungsmaßnahmen für die Kinder aus Kowel und einen Kulturaustausch einsetzt. Als Zeichen der Anerkennung der Verdienste in der Integrationsarbeit wurde Wendelin Jundt 1993 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. 2004 erhielt er für sein besonderes Engagement und langjähriges Wirken zum Wohle der Allgemeinheit in Niedersachsen das Verdienstkreuz am Bande des Niedersächsischen Verdienstordens. Der Nienburger stammt aus Selz, Odessa, wo er 1930 geboren wurde. 1973 durfte er mit seiner Familie nach Deutschland ausreisen. Der damals 43-Jährige engagierte sich zuerst im BdV und später vor allem in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. 1984 gründete er die Ortsgruppe Nienburg, wurde deren Vorsitzender und bald darauf Motor und Vorsitzender der Landesgruppe Niedersachsen (1990-2002). Mit großem Erfolg organisierte er sieben Landestreffen mit bis zu 10.000 Teilnehmern. Hervorzuheben sind seine Verdienste in der Sozialberatung auf allen Ebenen bis hin zum berufenen Referenten des Bundesvorstandes der Landsmannschaft, dem er von 1993 bis 1995 angehörte. Für sein unermüdliches Engagement wurde Wendelin Jundt mit der goldenen Ehrennadel des Vereins ausgezeichnet. Frieda Dercho: „Niedersachsen-Ross“ für beispielhafte Integration Im Oktober 1990 „landete“ Frieda Dercho in Osnabrück und wurde bereits ein Jahr später in den Vorstand der Ortsgruppe Osnabrück der Landsmannschaft gewählt. Die ehemalige Lehrerin aus Sibirien kümmerte sich um Familienzusammenführung und Beratung, wurde dann stellvertretende Vorsitzende und steht seit 2000 engagiert an der Spitze der Ortsgruppe. Im Rahmen des landesweiten Projektes „Angekommen“ wurde sie 2007 mit dem „Niedersachsen-Ross“ für eine beispielhafte Integration ausgezeichnet. Geboren 1935 in Mariental, Wolga, wurde Frieda Dercho nach Sibirien Beste Glückwünsche für Wendelin Jundt (Mitte) 38 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte (Altairegion) deportiert. Dem Traum, Ärztin zu werden, stand ihre deutsche Nationalität im Wege. So wurde sie Lehrerin und blieb der pädagogischen Tätigkeit 36 Jahre lang treu. Als sich die Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der Wolgarepub lik als Illusion erwiesen, wanderte sie nach Deutschland aus. Vom ersten Tag an unterstützte sie ihre Landsleute mit Rat und Tat. 2010 wurde Frieda Dercho mit dem Yilmaz-Akyürek-Preis der Stadt Osna brück ausgezeichnet. Es ist die Aner kennung der ehrenamtlichen Tätigkeit einer mutigen Frau. Mit der Auszeich nung wurden Verdienste anerkannt, die sich Frieda Dercho insbesondere durch ihr außerordentliches Engage ment bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und ihre Un terstützung der in Osnabrück leben den Aussiedler erworben hat. Peter Reger: Ehrenorden des Landes Niedersachsen für vorbildliches Engagement tionen nach Hannover. Vom ersten Tag an setzte sich Peter Reger als ehren amtlicher Mitarbeiter der Landsmann schaft für die Belange der Deutschen aus Russland ein. Unzählige Hilfesu chende hat er beraten und begleitet. Nicht wegzudenken war sein Enga gement bei Eingliederungsseminaren und Informationsveranstaltungen der Landsmannschaft, die den Neuan kömmlingen das nötige Rüstzeug für die Eingliederung vermittelten. Nicht unerwähnt darf auch seine zentrale Rolle bei der Organisation von acht niedersächsischen Landestreffen blei ben. Seine über 25-jährige Tätigkeit an der Spitze der Ortsgruppe Hannover war gekennzeichnet von Bemühun gen, die Zusammenarbeit mit allen Einrichtungen und politischen Ent scheidungsträgern auf Stadt- und Landesebene aufzubauen und auf rechtzuerhalten. aufgelöst wurde. So begann Andreas Maurer eine Lehre bei der Post und wurde Postbeamter. Seit 15 Jahren ist der fünffache Vater parteipolitisch aktiv. 2001 kandidierte er zum ersten Mal für den Gemein derat und wurde Ratsmitglied im Gemeinderat der Samtgemeinde Art land. Bei den Kommunalwahlen 2011 wurde Maurer Kreistagsabgeordneter in Osnabrück. Innerhalb der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland engagiert sich Maurer auf Orts-, Landes- und Bundesebene. Ludmilla Neuwirth: Politisch erfolgreich in Wolfsburg Andreas Maurer: Engagement in der Integrationsarbeit und Kommunalpolitik Ludmilla Neuwirth Der damalige Oberbürgermeister von Hannover und heutige niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil überreichte Peter Reger (rechts) den Ehrenorden des Landes Niedersachsen. Im April 2008 wurde der lang jährige Vorsitzende der Ortsgruppe Hannover der Landsmannschaft, Pe ter Reger, für seinen unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz mit dem Eh renorden des Landes Niedersachsen ausgezeichnet. Sein Lebensweg führte ihn von Omsk, Sibirien, wo er 1929 geboren wurde, 1976 nach vielen Zwischensta Andreas Maurer „Je mehr Deutsche aus Russland sich in der Kommunalpolitik enga gieren, desto mehr können wir für unsere Landsleute erreichen“, so die Überzeugung von Andreas Maurer, der in Quakenbrück und Umgebung als engagierter Kommunalpolitiker bekannt ist. Geboren in Schachtinsk, Karagan da, kam er 1988 mit 18 Jahren nach Deutschland, schaffte den Realschul abschluss und begann ein Studium an der Polizeischule, die jedoch bald 39 Die Dipl. Sozialpädagogin/Dipl. So zialwirtin Ludmilla Neuwirth ist seit beinahe 30 Jahren beim Diakonischen Werk Wolfsburg tätig. Im sibirischen Barnaul, Altairegi on, studierte sie am Institut für Kultur und unterrichtete anschließend an der Fachschule für Kultur im Fach „Kul turmanagement und Organisation von Kinder- und Jugendprojekten“. 1987 kam sie mit ihrem Ehemann Walde mar und zwei Töchtern nach Deutsch land. Da beide schon im Vorfeld gute Deutschkenntnisse hatten, stand die berufliche Integration von Anfang an im Vordergrund. Waldemar Neu wirth stieg als Betriebsschlosser bei den Stadtwerken Wolfsburg ein, und 250 Jahre russlanddeutscher Geschichte Ludmilla Neuwirth begann als Sozialpädagogin für die Betreuung junger Spätaussiedler beim Diakonischen Werk Wolfsburg. 2000/02 studierte sie berufsbegleitend und ist seitdem auch Diplom-Sozialwirtin. Besonderen Erfolg hat Ludmilla Neuwirth als Kommunalpolitikerin. 2005 wurde sie Ortsbürgermeisterin von Westhagen und 2006 Ratsfrau im Rat der Stadt Wolfsburg. Schwerpunkte ihrer Ratstätigkeit sind Integration, Soziales und Jugend. Paul Derabin – sieht sich als Bindeglied zwischen Politik und Spätaussiedlern parlament gewählt. 2005 trat er in die Junge Union ein und wurde Jugendregionspräsident der Region Hannover, ein Jahr später Mitglied der CDU. Seit 2006 ist er Ratsmitglied in Laatzen, aktuell Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Vermögen. Ab 2006 engagierte sich Paul Derabin als beratendes Mitglied im Stadtverbandsvorstand und Pressesprecher der Jungen Union in Laatzen. Gegenwärtig ist er Mitglied im Arbeitskreis Migranten der CDU in Niedersachsen, der Aussiedlerbeauftragtenkonferenz der CDU Deutschlands und im Arbeitskreis Junger Integrationspolitiker der Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit vielen Jahren ist sie ehrenamtlich bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland aktiv, in der Ortsgruppe Hannover und im niedersächsischen Landesvorstand. 20092012 leitete sie zusammen mit Anna Welz das landesweite Projekt „Stark und offen in Niedersachsen“. Lilli Hartfelder: Offenes Ohr für die Nöte Anderer Svetlana Judin: Ehrenamtliches und berufliches Engagement in der Integrationsarbeit Lilli Hartfelder Paul Derabin Paul Derabin studiert Rechtswissenschaften in Hannover und ist als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie tätig. Seit zehn Jahren engagiert er sich in der parteipolitischen Arbeit und wurde 2006 in den Laatzener Stadtrat als jüngstes Ratsmitglied gewählt. „Ich sehe mich in Deutschland als Bindeglied zwischen Politik und Spätaussiedlern, die von der Politik Hilfe benötigen, um besser leben zu können. Integration ist erst dann erfolgreich, wenn sie aktiv ist“, sagt er. 1988 in Russland geboren, kam er 1999 mit seinen Eltern aus Sibirien nach Niedersachsen, lernte die deutsche Sprache ohne größere Schwierigkeiten und lebte sich schnell ein. Schon sehr früh zeigte er Interesse an parteipolitischer Tätigkeit. 2003 wurde er in das Laatzener Jugend- Svetlana Judin Seit Jahren leistet Svetlana Judin eine beispielhafte ehrenamtliche und berufliche Arbeit im Bereich der Integ ration der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie wurde 1965 in Kant, Kirgisien, geboren und lebt seit 1993 in Hannover. Nach dem Hochschulstudium als Lehrerin für russische Sprache und Literatur arbeitete sie in Frunse, Kirgisien. In Deutschland studierte sie Sozialwesen in Hannover und qualifizierte sich weiter in ihrem Beruf. Sie sammelte Erfahrungen in der Arbeit mit Spätaussiedlern, u.a. bei der Kinderbetreuung und Suchtberatung. 40 „Ehrenamt und die Menschen, die es ausüben, sind für mich etwas Besonderes“, sagt Lilli Hartfelder. Sie gehört zu denen, die für die Sorgen und Nöte der Anderen immer ein offenes Ohr haben. Im Oktober 1989 kam die zweifache Mutter aus Kasachstan nach Hannover. Hier studierte die ehemalige Deutschlehrerin Sozialpädagogik mit Diplomabschluss und absolvierte eine Ausbildung im Case-Management in der Sozialarbeit mit Migranten. Sieben Jahre arbeitete Lilli Hartfelder im Beratungszentrum für Integrations- und Migrationsfragen bei der AWO – Region Hannover, war als Sozialarbeiterin in der Migrationserstberatung der Landsmannschaft in Hannover tätig und führte Familienbetreuung und Sprachförderung in Kindertagesstätten von Lehrte durch. Seit 1992 engagiert sich Lilli Hartfelder in der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, sowohl in ihrer Ortsgruppe Hannover als auch auf niedersächsischer Landesebene.