Exorzismus oder Therapie? - Zum Umgang mit - Sekten

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Exorzismus oder Therapie? - Zum Umgang mit - Sekten
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Exorzismus oder Therapie? - Zum Umgang mit Besessenheitsphänomenen
Ausgelöst durch den tragischen Tod der Studentin Anneliese Michel aus Klingenberg nach einer Reihe von Exorzismen,
kam es in der katholischen Kirche zu einem Umdenken in der Behandlung von Menschen, die sich vom Bösen besessen
fühlen.
Kurze Zusammenfassung des Artikels:
Ausgelöst durch den tragischen Tod der Studentin Anneliese Michel aus Klingenberg nach einer Reihe von Exorzismen,
kam es in der katholischen Kirche zu einem Umdenken in der Behandlung von Menschen, die sich vom Bösen besessen
fühlen. Anstelle den „Großen Exorzismus“ über die Menschen zu sprechen wird von einigen Theologen
empfohlen mit den Betroffenen eine Liturgie zur Befreiung vom Bösen zu feiern. In der Psychologie gibt es inzwischen
ebenfalls die Diagnose der Besessenheit, die hier zu den dissoziativen Störungen zählt. In der Therapie von
Besessenheitsphänomenen ist es besonders wichtig, die subjektiven Erklärungsmodelle ernst zu nehmen und nicht
vorschnell zu pathologisieren. Erst in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, in der auch die religiöse
Dimension berücksichtigt wird, kann es zu einer hilfreichen Bearbeitung der Problematik kommen.
Zur Aktualität des ThemasAm 1. Juli 2006 jährte sich der Todestag von Anneliese Michel zum 30. Mal. Die 23-jährige
Pädagogikstudentin war am 1. Juli 1976 nach 67 exorzistischen Sitzungen gestorben. Priester hatten bei ihr eine
„dämonische Besessenheit“ festgestellt. Zu diesem Anlass kamen mit „Der Exorzismus der Emily
Rose“ von Scott Derrickson und „Requiem“ von Hans-Christian Schmid zwei sehr unterschiedliche
Filme in die Kinos, die sich mit den Ereignissen von damals beschäftigen. Während der erste in typischer Hollywoodmanier
mit Elementen eines Horrorfilms die Frage nach dem Wirken Satans zumindestens offen ließ, zeigte der zweite Film eine
sensible, psychologische Studie der Persönlichkeit von Anneliese Michel und die Einflüsse, die schließlich zu ihrem Tod
führen sollten. Der Film endet vor dem Beginn der Exorzismen.
Im Sekten-Info Nordrhein-Westfalen e.V. stellen wir einen Anstieg der Beratungsanfragen von Menschen (mehr Frauen
als Männer) fest, die sich von dämonischen Kräften belästigt fühlen. Nicht selten gab es im Vorfeld Berührungen mit
esoterischen Methoden wie z.B. Reiki, Channeling oder Kontakt zu spirituellen HeilerInnen. Auch spiritistische
Techniken, wie Gläserrücken oder Pendeln, können Auslöser darstellen für das spätere subjektive Gefühl, von fremden Mächten
Besitz genommen worden zu sein.
Die katholische Kirche reagiert ebenfalls auf die zunehmenden Bedürfnisse der Gläubigen nach Befreiung vom Bösen. So
bietet eine der Päpstlichen Universitäten, Regina Apostolorum in Rom, einen dreimonatigen Kurs zum Umgang mit dem
Exorzismus an. In Deutschland waren die Bischöfe seit den Ereignissen in Klingenberg 1976 sehr zurückhaltend gegenüber
einer Exorzismus-Praxis. Bis heute gibt es keine offizielle deutsche Übersetzung des neuen „Großen
Exorzismus“ von 1999.
Das religiöse Umfeld der Anneliese MichelAnneliese Michel wuchs in einem streng konservativ-katholischen Elternhaus
auf, dessen Frömmigkeit bestimmt war von der Angst vor einem baldigen Weltuntergang, dem Fegefeuer und der Hölle.
Die religiöse Erziehung war geprägt von Leibfeindlichkeit, Askese, magischen Erwartungshaltungen, Privatoffenbarungen,
Wundergläubigkeit und dem Besuch nicht anerkannter Wallfahrtsorte. Die Neuerungen des II. Vatikanischen Konzils, z.B.
Gottesdienst in der Landesprache sowie die Handkommunion wurden abgelehnt. In dem religiös-weltanschaulichen
Bezugssystem war der Glauben an Teufel, Dämonen und Besessenheit etwas Selbstverständliches (Wolff, 2006).
Der Weg von der Krankheit zur BesessenheitSchon als Kind war Anneliese Michel sehr kränklich. Aufgrund einer
Lungenerkrankung verbrachte sie als Jugendliche viele Monate in einer Lungenfachklinik. In dieser Zeit fühlte sie sich,
obwohl sie doch viel Zeit mit Beten verbrachte, von Gott verlassen. Mit 17 Jahren erkrankte sie an einer
Temporallappenepilepsie und wurde medikamentös behandelt. Aufgrund der vielen Krankheiten hatte Anneliese
Probleme in der Schule. Vor allem die Abiturprüfungen waren ein großer Stressfaktor. Sie litt unter starken Prüfungsängsten.
In dieser Zeit hörte sie Stimmen, die ständig den Satz wiederholten: „Du bist verdammt“. Während Anneliese
in Würzburg studierte, wurde im Institut für Psychotherapie eine neurotische Depression diagnostiziert und eine
Gruppentherapie empfohlen, die sie nicht in Anspruch nahm. Seit 1973 traten häufige kleinere epileptische Anfälle auf mit
psychomotorischen Ausfällen, typischen optischen sowie Geruchshalluzinationen in Form von Teufelsfratzen und Gestank
(Ebenda).
Auf einer Wallfahrt nach San Damiano, wo die Mutter Gottes erschienen sein soll, zeigte sich bei Anneliese eine
Aversion gegen Religiöses. So wehrte sie sich dagegen, Weihwasser zu trinken und am Gottesdienst teilzunehmen. Die
Leiterin der Wallfahrt, Thea Hein, vermutete als erste eine Besessenheit und sprach mit den Eltern von Anneliese. Hilfe
suchte diese bei Kaplan Alt, der nach eigener Aussage in Besitz verschiedener parapsychologischer Fähigkeiten wie
Telepathie und Vorauswissen war. Nachdem er Briefe von Anneliese und ihrer Mutter gelesen hatte, berichtete er von
seltsamen Dingen. So spürte er einen kalten Luftzug und ein Brandgeruch zog ihm in die Nase. Eine negative Kraft
umgab ihn und er wusste, dass er es mit dem Teufel zu tun hatte (Mischo & Niemann, 1983).
Spätestens seit 1975 gab es bei Anneliese Michel deutliche Anzeichen für eine beginnende Psychose. So wälzte sich
Anneliese in Kohlenstaub, stopfte sich Fliegen in den Mund und steckte ihren Kopf in die Toilette.
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Anneliese selbst und auch die hilflosen Eltern vertrauten den kirchlichen Fachleuten mehr als den Ärzten, von denen sie
sich nicht verstanden fühlten. Nach einem Besuch bei Anneliese erstellte der Jesuit Pater Rodewyk, der als bekannter
Exorzist galt, ein Gutachten für den Bischof mit der Bitte, den „Großen Exorzismus“ zu genehmigen. Darauf
gab Bischof Stangl, der zunächst zögerlich reagiert hatte, dem Drängen nach und beauftragte Pater Arnold Renz, den
Exorzismus durchzuführen.
Der „Große Exorzismus“ Im Katechismus der katholischen Kirche wird der Exorzismus folgendermaßen
definiert:
„Wenn die Kirche öffentlich und autoritativ im Namen Jesu Christi darum betet, daß eine Person oder ein
Gegenstand vor der Macht des bösen Feindes beschützt und seiner Herrschaft entrissen wird, spricht man von einem
Exorzismus. Jesus hat solche Gebete vollzogen [Vgl. Mk 1,25-26]; von ihm hat die Kirche Vollmacht und Auftrag,
Exorzismen vorzunehmen [Vgl. Mk 3,15; 6,7.13; 16,17.]. In einfacher Form wird der Exorzismus bei der Feier der Taufe
vollzogen. Der feierliche, sogenannte Große Exorzismus darf nur von einem Priester und nur mit Erlaubnis des Bischofs
vorgenommen werden. Man muß dabei klug vorgehen und sich streng an die von der Kirche aufgestellten Regeln
halten.“ (Katechismus, 2003)
In Klingenberg wurde der „Große Exorzismus“ nach dem Rituale Romanum von 1614 durchgeführt. Als
Zeichen der Besessenheit, die einen Exorzismus legitimieren, gelten hier:
- das Sprechen oder Verstehen unbekannter Sprachen,
- die Offenbarung ferner und geheimer Dinge,
- das Zeigen von Kräften, die über das Alter und die natürliche Verfassung des Kranken hinausgehen,
- heftige Aversionen oder Aggressionen gegen Gott, Riten, Sakramente, Kreuze oder heilige Bilder (Niemann, 2006).
Nach einer Abfolge von verschiedenen Gebeten wird Satan ganz direkt angesprochen:
„Ich befehle dir, unreiner Geist (...) nenne mir durch irgendein Zeichen deinen Namen, den Tag und die Stunde
deines Ausganges und gehorche mir pünktlich in allem; (...).“
„Ich beschwöre dich, alte Schlange, bei dem Richter über die Lebendigen und Toten, bei deinem Schöpfer, (...)
welcher die Macht hat, dich in die Hölle zu schicken: weiche von diesem Diener (Dienerin) Gottes, (...).“ (Probst &
Richter, 2002, S. 34/37).
Die exorzistischen SitzungenIn den Exorzismussitzungen der Anneliese Michel „meldeten“ sich eine Reihe
von Dämonen, die sich als Luzifer, Judas, Kain, Nero, Hitler und Fleischmann zu erkennen geben. Schaut man auf die
Inhalte der Dämonenaussagen, so lassen sich Zusammenhänge zur Lebensgeschichte der Anneliese Michel erkennen.
Auch zeigt sich, dass durch suggestive Fragen die Erwartungshaltung des Exorzisten zufrieden gestellt wurde. Immer
mehr wurde Anneliese Michel zum Sprachrohr der Exorzisten, die aus den Aussagen der Dämonen vor allem Kritik an den
Neuerungen des II. Vatikanischen Konzils heraushörten. Anneliese fühlte sich berufen, im Sinne einer Sühnebesessenheit,
für die jungen Menschen und deren Sünden, zu sterben. Zum Zeitpunkt ihres Todes wog sie aufgrund einer
Nahrungsverweigerung noch 31 Kilogramm. Zwei Jahre später wurden die Exorzisten (Pater Arnold Renz und Kaplan
Ernst Alt) sowie die Eltern von Anneliese Michel vom Landgericht in Aschaffenburg wegen unterlassener Hilfeleistung mit
Todesfolge zu Gefängnisstrafen mit Bewährung verurteilt (Mischo & Niemann, 1983).
Letztendlich hatte Anneliese Michel bei zwölf Ärzten Hilfe gesucht, denen sie aber die religiöse Dimension verschwieg. Der
Jesuit und Psychiater Dr. Niemann, der die Ereignisse untersuchte, stellte fest:
„Anneliese Michel hätte seinerzeit nur eine Lebenschance gehabt, wenn Ärzte und Seelsorger vertrauensvoll
zusammengearbeitet hätten. Die Ärzte hatten Wissen und Fähigkeiten zur Heilung; ihnen fehlte aber das Vertrauen von
Anneliese Michel. Den Seelsorgern vertraute sie; ihnen fehlten aber Wissen und Erfahrung, um diese sehr schwere und
vielschichtige somatopsychische Krankheit zu heilen. Formen dieser Zusammenarbeit haben bei Anneliese Michel
gefehlt.“ (Niemann, 2006, S. 122)
KonsequenzenDer Tod von Anneliese Michel war ein Schock für die katholische Kirche in Deutschland. Eine gemischte
Kommission aus Theologen, Psychiatern und Psychologen diskutierte im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz 1979
zu Besessenheit und Exorzismus und kam zu folgenden Ergebnissen:
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- Die Lehre von der Existenz dämonischer Mächte gehört zum Glaubensgut der Kirche, muss aber neu überdacht werden.
- Es gibt keine Kriterien, aufgrund derer dämonische Besessenheit mit Gewissheit festgestellt werden kann.
- Das Erfragen der Namen der Dämonen und die imprekative Form des Exorzismus (Befehl an Satan selbst) können die
Entstehung von Multiplen Persönlichkeiten hervorrufen.
- Eine enge Zusammenarbeit zwischen Seelsorger, Arzt und Psychotherapeut wird gefordert.
- Der Exorzismus soll durch eine „Liturgie zur Befreiung vom Bösen“ ersetzt werden, als fürbittendes Gebet
der Kirche zu Gott.
Die Arbeitsergebnisse der Kommission wurden an die zuständige Kongregation in Rom weitergeleitet (Richter, 2005a).
Großer Exorzismus des Rituale Romanum von 1999Es sollte noch 20 Jahre dauern, bis die Überarbeitung des
„Großen Exorzismus“ 1999 vorgelegt wurde, als letztes der nach dem II. Vatikanischen Konzil zu
erneuernden liturgischen Bücher. Bei vielen deutschen TheologInnen war die Enttäuschung groß, da es keine grundsätzliche
Neuordnung gab, sondern nur eine Überarbeitung des „Großen Exorzismus“ von 1614. Aber es gibt doch
einige wesentlichen Verbesserungen. So wird der liturgische Charakter der Feier verdeutlicht. Das Erfragen der Dämonen
und des Zeitpunkts, zu dem sie den Besessenen verlassen werden, ist ersatzlos gestrichen worden. An erster Stelle
steht eine deprekative Form des Exorzismusgebetes (Gebet an Gott), die immer angewandt werden muss. Die
imprekative Form (Befehl an Satan) kann, muss aber nicht zwingend erfolgen. Auch hier steht nun an erster Stelle das
Gebet zu Gott mit den Betroffenen und nicht mehr das direkte Ansprechen des Teufels. In der Einführung werden
bestimmte Vorschriften genannt. So soll der Exorzist vor der Durchführung Fachleute aus Medizin und Psychiatrie
hinzuziehen. (Richter, 2005).
Die Besessenheit vom Bösen aus psychologischer SichtDie Psychologie sieht das Phänomen der Besessenheit als eine
psychische Störung an. Die metaphysische Dimension spielt hier keine Rolle. Inzwischen hat die Diagnose
„Trance- und Besessenheitszustände“ Einzug gehalten in die „Internationale Klassifikation
psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation“ (ICD-10). Sie wird dort den Dissoziativen Störungen
zugeordnet. Diese sind gekennzeichnet durch einen mehr oder weniger deutlichen Verlust der normalen psychischen
Integration, der sich auf Erinnerungen an die Vergangenheit, Identitätsbewusstsein und unmittelbare Empfindungen sowie
Körperbewegungen bezieht (ICD-10, 1991).
Mit den „Trance- und Besessenheitszuständen“ werden Störungen beschrieben,
„bei denen ein zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung
auftritt; in einigen Fällen verhält sich ein Mensch so, als ob er von einer anderen Persönlichkeit, einem Geist, einer Gottheit
oder „einer Kraft“ beherrscht wird“ (ICD-10, S. 165).
Trance- oder Besessenheitsphänomene sind nicht in jedem Fall als psychische Abweichungen zu werten. Diese
Dissoziationsformen werden erst dann als psychische Störung diagnostiziert,
- wenn sie nicht als normaler Bestandteil allgemeiner kultureller oder religiöser Riten akzeptiert werden und
- wenn sie in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen
wichtigen Funktionsbereichen verursachen. Weitere Merkmale zur Unterscheidung zwischen nichtpathologischen und
pathologischen Besessenheitszuständen:
Nichtpathologisch:
- Freiwillige Teilnahme an Riten, religiösen Handlungen
- Befremdliche Erfahrung, aber eher als angenehm erlebt
- Verbundenheit mit dem Universum
- Innerlich erlebte Personifizierung als „Begleiter“ oder „Beschützer“
Pathologisch:
- Spontan und ungewollt, als Störung oder Leidenszustand empfunden
- Verlust der Bewusstheit für die eigene Person, Aktionen werden unter „fremder“ Kontrolle durchgeführt
- Gefühl, von fremder Person in Besitz genommen zu werden, „Eindringling“ (Fiedler, 2001)
Abzugrenzen ist die beschriebene Störung vor allem zur Dissoziativen Identitätsstörung und zur Schizophrenie.
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Abgrenzung zur Dissoziativen IdentitätsstörungBei der Dissoziativen Identitätsstörung treten zwei oder mehrere
unterscheidbare Identitäten oder Persönlichkeitszustände auf. Auch wenn diese sich sehr von einander unterscheiden
können, so werden sie doch als ein Teil der eigenen Persönlichkeit gesehen.
Dagegen werden bei Besessenheitszuständen äußere Geister oder Wesen beschrieben, die in den eigenen Körper
eingedrungen sind und sich seiner bemächtigen.
Abgrenzung zur Schizophrenie
Um die Diagnose Schizophrenie stellen zu können, müssen die folgenden Symptome fast ständig während eines Monates
oder länger vorhanden sein (ICD-10, S. 96f):
- Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug
- Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen
- Kommentierende oder dialogische Stimmen
- Anhaltender, kulturell unangemessener Wahn, wie z.B. eine religiöse Persönlichkeit zu sein, übermenschliche Kräfte zu
besitzen
(ein eindeutiges Symptom 1-4)
- Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität mit Wahngedanken oder überwertigen Ideen
- Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss z.B. Zerfahrenheit, Danebenreden oder Neologismen
- Katatone Symptome, z.B. Erregung, Haltungsstereotypen, Mutismus
- „Negative“ Symptome: Apathie, Sprachverarmung, verflachter Affekt
(mindestens zwei Symptome 5-8)
Bei Besessenheitszuständen treten in der Regel nicht alle Symptome einer Schizophrenie auf. Vor allem formale
Denkstörungen, katatone und „negative“ Symptome finden sich bei Besessenheitszuständen kaum.
Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist der Realitätsbezug, der bei psychotischen Klienten in der Regel
verschwindet, bei Klienten mit Besessenheitszuständen aber intakt bleibt. Die Bewusstseinszustände sind zwar dissoziiert,
aber das Bewusstsein selbst ist klar, während es bei schizophrenen Klienten zu einer Fragmentierung des Bewusstseins
kommt. Der Kontaktaufbau sowie der Aufbau einer therapeutischen Beziehung sind leichter bei Klienten mit
Besessenheitsanzeichen. Auf Fragen und Interventionen wird klar Bezug genommen.
Entstehung von BesessenheitszuständenKlientInnen mit Besessenheitszuständen haben häufig traumatische Erfahrungen
in ihrer Kindheit und/oder Jugend gemacht. Diese traumatischen Erlebnisse erhöhen in der Folge die
Dissoziationsbereitschaft und Suggestibilität. Später sind es dann unlösbare, unerträgliche Konflikte oder gestörte
Beziehungen, die Auslöser für die Störung werden können. Ein unangenehmer Affekt setzt sich in Besessenheit um. Häufig
sind Besessenheitszustände auch Folge von kulturell-religiösen Riten.
In unsere Beratungsstelle kommen häufig KlientInnenen, bei denen die Phänomene erstmals nach dem Ausüben spiritueller,
esoterischer oder okkulter Praktiken auftraten. Auf der Suche nach alternativer Heilung von Krankheiten, Botschaften
aus dem Jenseits, Kontakt zu Verstorbenen oder einem Blick in die Zukunft, scheinen sich die „fremden“
Kräfte plötzlich gegen den Suchenden zu richten. Eine Klientin, die sich nach einigen Reiki-Sitzungen vom Bösen
heimgesucht fühlte, beschrieb es folgendermaßen: „Der Reikikanal öffnete sich und das Böse fand den Weg in mein
Innerstes“. Reiki ist ein esoterisches Verfahren bei dem angeblich durch Handauflegen Energie übertragen wird.
Auch Pendeln kann Auslöser für Besessenheitsgefühle sein. „Plötzlich wandte sich das Pendel gegen mich. Als hätte
ich beim Pendeln einen Dämon herbeigerufen, der mich jetzt quält und verfolgt“ berichtet eine andere Klientin.
Kulturelle Aspekte berücksichtigenDissoziative Trance- und Besessenheitszustände und ihre exorzistische Behandlung
werden in allen Epochen beschrieben. Kulturelle Heilungsriten und Behandlungsvorschläge sollten auch nicht zu schnell
ad acta gelegt werden. Oft bleiben Heilungserfolge mit Medizin und Psychologie aus. In der Literatur findet sich
beispielsweise der Fall eines 13-jährigen Yakima-Indianermädchens, das in einem Reservat im US-Staat Washington lebte.
Die ausgeprägte Besessenheitssymptomatik war therapieresistent. Erst die Durchführung eines stammesüblichen
Exorzismus-Rituals führte zur Heilung. In einem anderen Fall wurde ein schizophrener Patient von dämonischen Stimmen
belästigt, die auch durch Neuroleptika nicht zum Verschwinden kamen. Erst ein kulturell orientierter Exorzismus brachte
die Stimmen zum Verschwinden (Fiedler, 2001).
Psychotherapie bei BesessenheitszuständenKlienten mit dem subjektiven Gefühl, von Satan, Dämonen oder auch
spirituellen Heilern besessen zu sein oder beeinflusst zu werden, haben in der Therapie häufig Probleme Vertrauen
aufzubauen. Viele haben bereits schlechte Erfahrungen mit Psychiatern und Psychotherapeuten gemacht. Sie fühlen sich
allzu schnell mit einer psychiatrischen Diagnose, z.B. Schizophrenie abgestempelt. „Sie bilden sich das nur
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ein“, „Ihnen können nur Medikamente helfen“ oder „Den Teufel gibt es nicht“ sind
typische Sätze, mit denen die Klienten konfrontiert werden. Gerade in der Anfangsphase der Therapie ist es sehr wichtig,
den Klienten viel Raum zu geben ihre Erfahrungen zu schildern, diese ernst zu nehmen und nicht vorschnell zu
pathologisieren.
Das erste Ziel ist, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzubauen. Dazu ist es wichtig zu versuchen, das
subjektive Erklärungsmodell nachzuvollziehen und zu verstehen. Die subjektive Theorie des Klienten sollte nicht frontal
attackiert werden. Nur vorsichtig kann man diese in Frage stellen in Form von Aussagen wie: „Es kann schon
sein, dass es so ist, wie Sie vermuten, ich könnte mir aber auch vorstellen, dass andere Erklärungen möglich sind, wie zum
Beispiel (...)“.
Im nächsten Schritt können die Phänomene und Erfahrungen sowie ihre Bedeutung in die Lebenssituation und
–geschichte eingebettet werden. Häufig ist die auslösende Situation der Phänomene von Bedeutung. So kann der
Beginn der Besessenheit z.B. in einer partnerschaftlichen Konfliktsituation liegen. Werden die Eheprobleme nicht
bearbeitet, so kann auch die Besessenheit nicht geheilt werden. In einem anderen Fall fühlte sich eine Klientin von einem
Geistwesen bedrängt, dass nach einer Channeling-Sitzung aufgetaucht war. Beim Channeling werden angeblich
Botschaften übernatürlicher Wesenheiten durch ein Medium übertragen. Eine genauere Beschreibung ergab die Vorstellung
eines weisen, alten Mannes, der die Klientin bei schwierigen Entscheidungen beriet. Dahinter stand der frühe Verlust des
Vaters und die starke Sehnsucht nach Unterstützung bei der Lebensplanung. Diese Erkenntnis und die Übernahme der
Verantwortung für das eigene Leben halfen der Klientin das Gefühl der Beeinflussung durch ein Geistwesen wieder
loszuwerden.
Das Gefühl der Besessenheit ist häufig verbunden mit einem Gefühl von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit. Der Einfluss von
außen ist übermächtig, und die eigenen Möglichkeiten etwas entgegenzusetzen werden als sehr gering eingeschätzt. Ein
Therapieziel ist die Erhöhung der Selbstwirksamkeit und der Eigenkontrolle. Neue Handlungsspielräume sollen eröffnet
werden. Dazu gehören der Aufbau sozialer Kontakte und die Förderung von Aktivität und Eigeninitiative.
Ergeben sich in der Anamnese Hinweise auf traumatische Lebenserfahrungen, so sollte auch eine traumatherapeutische
Arbeit nicht fehlen.
Ein nicht zu vergessender Aspekt der Therapie ist die Klärung von Sinnfragen und religiösen Themen. Das Beispiel der
Anneliese Michel zeigt, dass eine Trennung zwischen Medizin und Psychotherapie auf der einen und Seelsorge auf der
anderen Seite nicht hilfreich ist. Mit der Klientin bzw. dem Klienten sollte überlegt werden, welche religiöse Unterstützung
sie/er möchte. Oft wird von KlientInnen die Hoffnung genannt, ein Exorzismus, das Einschalten eines (anderen) Heilers,
das Durchführen eines Rituals, können die Heilung bringen. Hier sollte daraufhingewiesen werden, welche Risiken damit
verbunden sind. Unseriöse Behandlungsangebote können die Symptomatik verschlimmern oder auch eine seelische
Abhängigkeit entstehen lassen. Aber die religiösen Bedürfnisse müssen ernstgenommen werden und einen Platz in der
Therapie bekommen.
Literatur
Fiedler, P. (2001). Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung. 2. Auflage. Weinheim:
Psychologie Verlags Union.
Katechismus der Katholischen Kirche: Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina. München [u.a.] 2003.
ICD-10 - Internationale Klassifikation psychischer Störungen (1991). Bern; Göttingen; Toronto: Verlag Hans Huber
Mischo, J. & Niemann, U. (1983). Die Besessenheit der Anneliese Michel (Klingenberg) in interdisziplinärer Sicht. In:
Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie. Nr. 3/4. S. 129 – 193
Niemann, J. (2005). In: Niemann, J. & Wagner, M. (Hg.). Exorzismus oder Therapie. Ansätze zur Befreiung vom Bösen.
Regensburg: Verlag Friedrich Puster
Niemann, J. (2006). Das Böse und die Psychiatrie. Zur Diskussion über Besessenheit und Exorzismus. In: Herder
Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion. Heft 3. März 2006. S. 119 –123
Probst, M. & Richter, K. (2002). Exorzismus oder Liturgie zur Befreiung des Bösen. Münster: Aschendorff Verlag
Richter, K. (2005). Teufelsaustreibung in liturgischer Feier? Der Umgang mit dem römischen Exorzismus von 1999. In:
Diakonia 36. S. 204 – 300
Richter, K. (2005a). In: Niemann, U. & Wagner, M. (Hg.). Exorzismus oder Therapie. Ansätze zur Befreiung vom Bösen.
Regensburg: Verlag Friedrich Puster
Wolff, U. (2006). Der Teufel ist in mir. Der Fall Anneliese Michel, die
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letzte Teufelsaustreibung in Deutschland. München: Wilhelm Heyne Verlag
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