Moderne Physik und Theologie - Katholische Theologie PH Gmünd
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Moderne Physik und Theologie - Katholische Theologie PH Gmünd
Moderne Physik und Theologie Voraussetzungen und Perspektiven eines Dialogs Matthias-Grünewald-Verlag. Mainr es engagement Der Matthias-ünincwaid~vciIagist hlltglied der Verlagsgnippe engageiiicnt Dic 1)ciitschc Uibliathck - CIP-tinheitsüiifiiahinc (:in Titcldatcnatr fiii diehe Publikation ist bei Ucr Dcutschcn Bibliothek erhältlich 83 2000 Mattliias-<>runcwald-VcrIag. Malrir Oas Werk clnschltcßiich allcr scincr Tcdc ist urheberrechilich gcschutrt. Jede Venvertung außcrlialb der cnrcn Grenzen des Urhebrrrechiseesctres ist ohne Zustimmunc des Vcrlars unruiassig ynd straibar. Das gilt insbcsondcrc fur Vcr\ielfdltigungcn. Ubersetrungcn. Mtkroverfilmungcn und dic Einspcichening und Verarbeitung tn elektronixhcii Systciiicn. Ais Habilitaiiorisschrift auf Empfehlung der Katholisrli-Theolog~schcnFakultdt der Ebcrhard-Karls-Univers112t TUbingen gedruckt mit Untersnitrung dcr Dcutschcn I'orschungsgemeinschaft Gedruckt aufaltcrungsbcständigem Papier Umschlag: Kirsch &Buckel Grafik~üesign.Wiesbaden Dmck und Bindung: WS-Druckerei. Bodenheiin Inhalt Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Irritationen im gegenwärtigen Dialog von Theologie und Physik . . II. Absicht, Ausgangspunkt und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absicht der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgangspunkt der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Übersicht über die einzelnen Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 11 26 26 27 28 29 Erstes Kapitel: Umbruch von der klassischen zur modernen Physik . . . . . . . . . . . . . I. Emanzipation der neuzeitlichen Physik von Theologie und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Isaac Newtons „Principia“ und das Ideal mechanischer Erklärbarkeit III. Krise der klassischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel: Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Albert Einsteins neuer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . 1. Relativität der Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitdilatation und Längenkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Raum-Zeit-Kontinuum und beschränkter Kausalzusammenhang 4. Veränderlichkeit der Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die allgemeine Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drittes Kapitel: Deutungen der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Relativitätstheorie und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bedeutung der Relativitätstheorie im Rahmen der Physik . . . . III. Relativitätsprinzip oder Postulat der absoluten Welt? . . . . . . . . . . . IV. Relativitätstheorie und kantische Transzendentalphilosophie . . . . . 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kants Verhältnis zur Newtonschen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung . . . . . . . . . . . . . . 4. Fragen an Kants Ansatz aus Perspektive der Relativitätstheorie . 5. Gewißheit aus Anschauung und Unanschaulichkeit der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 33 37 40 45 45 48 48 49 50 52 53 59 60 65 70 72 72 75 76 80 84 5 V. Relativitätstheorie und Logischer Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neue Brücken zwischen Physik und Philosophie . . . . . . . . . . . . 2. Charakteristika des Logischen Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Relativitätstheorie als empirische Philosophie . . . . . . . . . . . VI. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viertes Kapitel: Theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . I. Die Relativitätstheorie als vermeintliche Bestätigung des Glaubens II. Neuscholastische Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangssituation in der katholischen Theologie . . . . . . . . . . . . 2. Erster Reflex: Polemische Zurückweisung der Relativitätstheorie 3. Tendenziöse Darstellung der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . 4. Bestreitung von Richtigkeit und experimenteller Verifizierbarkeit der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Substanzbegriff und Ätherphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Karl Heim: Neue Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangssituation in der protestantischen Theologie . . . . . . . . . 2. Naturwissenschaft und Theologie als zentrales Thema in Karl Heims Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Karl Heims Rezeption und Deutung der Relativitätstheorie . . . . 4. Motiv und Methode Karl Heims bei der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ansätze zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Physik und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Kampf der Weltanschauungen“: Monistenbund und Keplerbund 2. Bernhard Bavink I (1920–1928): Forderungen für das Verhältnis von Naturwissenschaft und christlicher Weltanschauung . . . . . . 3. Vorläufiges Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bernhard Bavink II (1928–1933): Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bernhard Bavink III (1933–1945): Synthese von Realismus, Religion und Deutschtum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünftes Kapitel: Die Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung der Quantentheorie für die moderne Physik . . . . . . . . . II. Die naturphilosophische Grundfrage: Quantentheorie oder Theorie des Kontinuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorien des diskreten Aufbaus der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . 2. Theorien des kontinuierlichen Aufbaus der Wirklichkeit . . . . . . 6 86 86 88 92 96 99 100 105 105 115 116 119 123 128 131 131 133 134 140 143 147 147 152 161 163 165 168 171 171 173 174 178 III. Zur Geschichte der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die ältere Quantentheorie (1900–1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die neuere Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der experimentelle Befund: Versuche am Doppelspalt . . . . . . . . . . 1. Der exemplarische Charakter der Doppelspaltexperimente . . . . . 2. Doppelspaltexperiment mit klassischen Teilchen . . . . . . . . . . . . 3. Doppelspaltexperiment mit klassischen Wellen . . . . . . . . . . . . . 4. Doppelspaltexperiment mit Licht und anderen Quantenobjekten Sechstes Kapitel: Aspekte der Quantentheorie und ihrer Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Welle-Teilchen-Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Unbestimmtheitsrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im Experiment gleichzeitig unbeobachtbare Größen . . . . . . . . . . 2. Begrenzte Anwendbarkeit anschaulicher Begriffe . . . . . . . . . . . . III. Quantenmechanischer Meßprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Indeterminismus der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reproduzierbarkeit und Determiniertheit innerhalb der klassischen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen des Determinismus in der Quantentheorie . . . . . . . . . . . V. Diskussionen um die Vollständigkeit der Quantentheorie . . . . . . . . 1. Das EPR-Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestätigung der Nicht-Lokalität der Quantentheorie . . . . . . . . . . Siebtes Kapitel: Ausgangssituation für den gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gewandeltes Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik . . . . . II. Physiker des Umbruches zu Fragen der Religion . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung: Kein apologetischer Mißbrauch bedeutender Physiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Max Planck: Gott als naturgesetzliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . 3. Albert Einstein: Kosmische Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Werner Heisenberg: Gott als zentrale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . III. Moderne Physiker: Offen für Religion – herausfordernd für die Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rückblick und Ausblick: Sechs Feststellungen zum Dialog von Theologie und moderner Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 183 186 189 189 190 190 191 194 194 196 196 197 198 201 201 202 206 206 208 211 212 219 219 221 227 232 239 246 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 7 Für Monika und unsere Kinder Louisa, Lea und Judith 8 Vorwort und Dank Moderne Physik und Theologie zeigen gegenwärtig ein reges Interesse aneinander. Bei Symposien und Tagungen, die dem Dialog zwischen Theologie und Physik gewidmet sind, wiederholt sich freilich regelmäßig die schon von Karl Rahner beschriebene Erfahrung, daß dieser Dialog „sehr mühsam ist und meist steckenbleibt, bevor er genauere, klare und von beiden Seiten angenommene Resultate erzielt“1. Auch für den evangelischen Theologen Michael Welker, der sich seit vielen Jahren an Versuchen beteiligt, ein wissenschaftliches Gespräch zwischen Naturwissenschaftlern, Theologen und Philosophen in Gang zu bringen, sind „die Gesprächsergebnisse insgesamt leider eher enttäuschend: menschlich erfreulich, in den Details oft anregend, aber chronisch hinter den hochgesteckten Erwartungen aller Beteiligten zurückbleibend“2. Angesichts dieser Erfahrungen setzt sich die vorliegende Untersuchung das Ziel, die Ausgangssituation der Theologie für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik zu verbessern. Dies geschieht hier nicht im Rückblick auf den Galileikonflikt und seine nachhaltigen Folgen – dazu ist längst alles gesagt und geschrieben. Nach dem ersten Jahrhundert der modernen Physik – im Jahr 1900 gab Max Planck den Anstoß zur Entwicklung der Quantentheorie – soll vielmehr daran erinnert werden, daß die Dialogversuche zwischen moderner Physik und Theologie mittlerweile auf eine mehr als achtzigjährige Geschichte zurückblicken können. Doch insbesondere die frühen theologischen Reaktionen auf die neue Physik, die die vorliegende Arbeit ins Gedächtnis ruft und analysiert, sind heute in Vergessenheit geraten. Vergessen ist, daß maßgebliche katholische Theologen auf Einsteins Theorien kaum anders reagierten als zu Zeiten Galileis: sie polemisierten, ließen die Relativitätstheorien allenfalls als hypothetische, experimentell aber nicht nachprüfbare Konstruktion gelten und blockierten durch das Beharren auf ihrer neuscholastischen Ontologie jahrzehntelang das Gespräch zwischen katholischer Theologie und Physik. Vergessen ist aber genauso die nachgerade peinliche Aufgeregtheit vornehmlich evangelischer Theologen, die durch die Relativitätstheorie ihre Jenseitshoffnungen bestätigt sahen, vergessen ist die kläglich gescheiterte Anstrengung, die Relativitätstheorie als „Götzendämmerung“ zu interpretieren, als „gnädige Katastrophe“, die den Zugang zum Glauben an das einzig wahre Absolutum Gott eröffne. Im derzeitigen Dialog zwischen moderner Physik und Theologie sind allerdings auch die auf hohem Niveau geführten philosophischen Auseinandersetzungen um die Deutungen der modernen Physik nicht präsent. Die nach wie vor unterschiedlichen Interpretationen der grundlegenden physikalischen 1 2 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 44. M. Welker, Was leistet die Metaphysik Whiteheads, 97. 9 Theorien zeigen aber, daß die moderne Physik, mit der die Theologie ins Gespräch kommt, immer und notwendig schon philosophisch gedeutete Physik ist. Erst auf der Ebene der miteinander konkurrierenden philosophischen Deutungen der Physik ist ein konstruktiver Dialog zwischen Physik und Theologie möglich. Im Verlauf nachfolgender Darstellung ergibt sich, daß die Bemühungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, den Umbruch im Wirklichkeitsverständnis der Physik aus Sicht der Theologie einzuordnen und sachgerecht zu bewerten, fehlgeschlagen sind und mangels angemessener philosophischer Vermittlung zwischen Physik und Theologie auch fehlschlagen mußten. Solange diese frühen Dialogversuche zwischen Theologie und moderner Physik nicht aufgearbeitet sind, ist es nicht erstaunlich, wenn auch der gegenwärtige Dialog alte Fehler wiederholt und die Erwartungen der Beteiligten enttäuscht. – Vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1999 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurden geringfügige Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen. Vielen Menschen ist es zu danken, daß diese Arbeit verwirklicht werden konnte, einige seien genannt: Herzlicher Dank gebührt Prof. Dr. Alfons Auer, der die Entwicklung der Untersuchung von Anfang an verfolgte und seinen früheren Doktoranden immer wieder zu ihrer Fertigstellung ermunterte. Prof. Dr. Amand Fäßler und Prof. Dr. Hans Küng verdanke ich aufgrund des von ihnen im Sommersemester 1994 veranstalteten öffentlichen Tübinger Kolloquiums „Unser Kosmos – naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Aspekte“ wichtige Impulse. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Georg Wieland für seine hilfreiche Kritik und die Bereitschaft, diese Arbeit im Habilitationsverfahren zu begleiten. Danken will ich auch den drei Gutachtern der Universität Tübingen Prof. DDr. Michael Eckert (Abteilung für Fundamentaltheologie), Prof. Dr. Amand Fäßler (Institut für Theoretische Physik) und Prof. Dr. Georg Wieland (Abteilung für Philosophische Grundfragen der Theologie). Dank gebührt darüber hinaus allen, mit denen ich mich über einzelne Gebiete meines Themas in Gesprächen oder in gemeinsamen Veranstaltungen austauschen konnte, darunter Prof. Dr. Urs Baumann, Prof. Dr. Gerhard Büttner und Prof. Dr. Jörg Thierfelder. Nicht nur für zahlreiche Literaturhinweise, sondern auch für die jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg danke ich meiner Kollegin Prof. Dr. Hildegard Gollinger und meinen Kollegen Prof. Dr. Joachim Maier und Prof. Dr. Norbert Scholl. Bei Frau Veronika Fischer und Herrn Eugen Benk bedanke ich mich für die Lektüre und Korrektur des Manuskripts, bei Herrn Raphael Zimmerer für die Durchsicht der physikalischen Abschnitte. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Erzdiözese Freiburg und der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Einmal mehr gilt mein Dank schließlich Dr. med. Monika Benk – ihre Kritik und ihre Anregungen haben diese Arbeit maßgeblich geprägt. Steinsfurt, am 24. Februar 2000 10 Andreas Benk Einführung I. Irritationen im gegenwärtigen Dialog von Theologie und Physik Als Folge der Auseinandersetzungen um das heliozentrische Weltsystem im 17. Jahrhundert und um die Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert ist das Verhältnis zwischen Theologie und modernen Naturwissenschaften bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von Konfrontation geprägt. Galileo Galileis im Jahr 1632 gedruckter Dialogo dei Massimi Sistemi wird zuletzt in der Ausgabe des kirchlichen Index librorum prohibitorum von 1819 genannt,1 und noch im Jahr 1950 lehrt Papst Pius XII. in der Enzyklika Humani generis unter Berufung auf die biblische Schöpfungserzählung die Herkunft aller Menschen aus einem einzigen Paar.2 Erst das II. Vaticanum kann in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes wieder eine berechtigte Autonomie der irdischen Wirklichkeiten und damit auch eine „legitime Autonomie der Wissenschaft“3 akzeptieren. 1 Der Index des Jahres 1835 zählt dann die Werke von Kopernikus, Galilei, Foscarini und Kepler nicht mehr unter den verbotenen Büchern auf; vgl. dazu L. Bieberbach, Galilei und die Inquisition, 114–125. 2 Vgl. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 3897 (=DH 3897). Zeitgenössischen Äußerungen zufolge soll Humani generis insbesondere auch gegen den wachsenden Einfluß des Biologen und Theologen Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) geschrieben worden sein. Zwar konnte zu Lebzeiten Teilhards noch fast keine seiner theologischen Schriften veröffentlicht werden, aber sein Versuch einer Vermittlung zwischen Evolution und Heilsgeschichte beeinflußte dann maßgeblich die katholische Theologie nach dem II. Vaticanum (vgl. K. Schmitz-Moormann, Pierre Teilhard de Chardin, 12–19). 3 GS Art. 36, in: K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 482. Darüber hinaus deutet Art. 36 in Anm. 7 ein Bedauern über den „Fall Galilei“ an. K. Rahner und H. Vorgrimler, a.a.O., 431f, interpretieren diese Stelle als höchstamtliche Rehabilitation Galileis. – M. Seckler, Der christliche Glaube und die Wissenschaft, 4, nennt als Datum der Rehabilitation dagegen eine Ansprache Johannes Pauls II. vor der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften am 10. November 1979, und M. Vogt, Art. Galilei, Sp. 271, datiert die Rehabilitation Galileis auf eine noch spätere Ansprache des Papstes vor dieser Akademie am 31. Oktober 1992. Allerdings beruft sich Johannes Paul II. bei der zuletzt genannten Ansprache sogar auf A. Einstein und die moderne Kosmologie, um den Streit zwischen Helio- und Geozentrismus als Hinweis darauf zu interpretieren, „daß es jenseits zweier einseitiger und gegensätzlicher Ansichten eine umfassendere Sicht gibt, die beide Ansichten einschließt und überwindet“. Ohne das damalige „pastorale [sic] Urteil angesichts der Theorie des Kopernikus“ (10) rechtfertigen zu wollen, spricht Johannes Paul II. von einem „tragischen gegenseitigen Unverständnis“ (Johannes Paul II., Schmerzliches Mißverständnis [sic] im „Fall Galilei“ überwunden, in: L’Osservatore Romano [deutschsprachige Ausgabe] 22, Nr. 46 [Beilage XXXVIII] vom 13.11.1992, 1). 11 Die Formulierungen des Konzils erschweren einerseits „künftige Übergriffe des kirchlichen Lehramtes in einen Bereich, in dem es nicht zuständig ist“4, und eröffnen andererseits die Möglichkeit einer neuen Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft. Karl Rahner bringt eine innerhalb der nachkonziliaren katholischen Theologie weithin akzeptierte Position zum Ausdruck, wenn er feststellt, daß „Theologie und Naturwissenschaft [...] grundsätzlich nicht in einen Widerspruch untereinander geraten [können], weil beide sich von vornherein in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Methode unterscheiden“5. Die Theologie macht nach Rahner eine Aussage von Gott als dem einen und absoluten Grund aller Wirklichkeiten, der selbst kein einzelnes Moment innerhalb der Welt sein kann. Die Naturwissenschaft hingegen kann, „weil immer beim einzelnen beginnend, grundsätzlich keine absolut alles umfassende Weltformel haben, von der aus alles Wirkliche schon von vornherein im Besitz und in der Voraussicht der Naturwissenschaft wäre“6. Einerseits sollen für Rahner die Naturwissenschaften methodologisch atheistisch sein, und andererseits dürfen Metaphysik und Theologie weder theologische Ausbeute von den Naturwissenschaften verlangen noch hängen sie von deren Zustimmung ab.7 Theologie und Naturwissenschaft sind damit zwei Größen, „die sich nicht grundsätzlich gegenseitig bedrohen oder verneinen“8. Rahner hält allenfalls noch lösbare „sekundäre Konflikte“9 bei illegitimen Grenzüberschreitungen in die jeweils andere Wissenschaft hinein für möglich. Eine ganz entsprechende Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft findet sich in der evangelischen Theologie schon im Jahr 1945 bei Karl Barth.10 Im Vorwort zu seiner Schöpfungslehre begründet Barth, warum er sich nicht mit den in diesem Zusammenhang naheliegenden Fragen der Naturwissenschaft auseinandergesetzt habe. Hinsichtlich dessen, was die Heilige Schrift und die christliche Kirche unter Gottes Schöpfungswerk verstehen, könne es schlechterdings keine naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfestellungen geben, schreibt Barth und fährt fort: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie darf und muß sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft, die nur das und nicht heimlich eine heidnische Gnosis und Religionslehre ist, ihre gegebene Grenze hat.“ 11 4 K. Rahner/H. Vorgrimler, a.a.O., 432. K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 37. H.-H. Peitz, Kriterien des Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Theologie, 28–126, zeigt, daß Rahner über mehrere Stationen zu seiner Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie gelangt ist. 6 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 38. 7 Vgl. a.a.O., 39f. 8 A.a.O., 42. 9 Ebd.; vgl. a.a.O., 37. 10 Vgl. dazu 4. Kap. III. 1. vorliegender Arbeit. 11 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Vorwort. Allerdings schreibt Barth an dieser Stelle auch, er sei der Meinung, „daß künftige Bearbeiter der christlichen Lehre von 5 12 Die Theologie sieht sich durch diese scharfe Grenzziehung einer Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften enthoben und erspart sich fortan entsprechende „dilettantische Quälereien“12. Im Vergleich zu dem bis dahin verbreiteten „Konfliktmodell“, das der Theologie gegenüber den Naturwissenschaften nur die Aufgabe einer aussichtslosen Apologetik überließ, ist ein Modell, das die Argumentationsebenen von Theologie und Naturwissenschaft sorgfältig unterscheidet, die Eigenständigkeit beider Bereiche betont und dadurch Konflikte vermeidet, zweifellos ein Fortschritt.13 Aber in der Folge wird in dieser Grenzziehung auch der Grund für ein unzureichendes „schiedlich-friedliches Nebeneinander“14 von Theologie und Naturwissenschaft gesehen und deren Verhältnis als „friedliche Koexistenz auf der Basis der gegenseitigen Irrelevanz“ 15 kritisiert. „In einer Weltsituation, in der es heißt ‚Eine Welt oder keine Welt‘“, stellt Jürgen Moltmann im Jahr 1981 fest, „können sich Naturwissenschaften und Theologie keine Aufteilung der einen Wirklichkeit leisten. Theologie und Naturwissenschaften werden vielmehr gemeinsam zum ökologischen Weltbewußtsein kommen.“16 Dies zeigt, daß das Bewußtwerden der globalen ökologischen Krise einen wichtigen Anstoß bildet, das gegenwärtige Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft kritisch zu untersuchen. Da gegenseitige Nichteinmischung, so Moltmann weiter, die Probleme nur ausklammere, „muß die Theologie bei den früheren Versuchen einer Synthese wieder anknüpfen, um die Schöpfung und das Wirken Gottes in der Welt im Rahmen der heutigen Erkenntnisse der Natur und der Evolution neu zu begreifen und die Welt als Schöpfung und die Geschichte der Welt als Wirken Gottes auch der naturwissenschaftlichen Vernunft verständlich zu machen“17. Schon für Rahner kommt freilich dem gegenwärtigen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, das er mit einem „friedlich vereinbarten der Schöpfung in der Bestimmung des Wo und Wie dieser beiderseitigen Grenze noch dankbare Probleme finden werden“. 12 Ebd. 13 Vgl. J. Hübner, Art. Naturwissenschaft und Theologie, Sp. 654. 14 Ders., Die Welt als Gottes Schöpfung ehren, 9. 15 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 48. Zur Kritik an der schiedlich-friedlichen Trennung von Theologie und Naturwissenschaft vgl. auch J. Hübner, Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie heute, 9–28, insbes. 13ff, sowie G. Altner, Schöpfungsglaube und Entwicklungsgedanke in der protestantischen Theologie zwischen Ernst Haeckel und Teilhard de Chardin, 82–95. 16 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 48. – Vgl. dagegen J. Fischer, Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? 78 (Anm. 21), der dem Argument, Theologie und Naturwissenschaften bezögen sich auf die „eine Wirklichkeit“ nur eine vordergründige Plausibilität zugesteht. Entscheidend sei vielmehr, ob die ersichtlich unterschiedlichen Perspektiven von Theolgie und Naturwissenschaften auf diese Wirklichkeit ineinander überführbar und abbildbar seien oder nicht. 17 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 200. Moltmann bezieht sich hier namentlich auf die Bemühungen Karl Heims um eine „produktive Synthese zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungslehre“ (ebd.). – Zur kritischen Auseinandersetzung mit der „neuen Apologetik“ Heims vgl. 4. Kap. III. vorliegender Arbeit. 13 Waffenstillstand“18 vergleicht, nur ein provisorischer Charakter zu, da eine „direkte Bereinigung der anstehenden Sachprobleme“19 ausstehe. Rahner hält es allerdings durchaus für denkbar, daß ein solcher Waffenstillstand legitim und der geistigen Situation des heutigen Menschen angemessen ist und „wenigstens im faktischen Bewußtsein des einzelnen praktisch weithin nicht durch einen eigentlichen ‚Friedensschluß‘ überboten werden kann“ 20. In den letzten Jahren erhielt der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft insbesondere von Seiten der Physik neue Impulse, in deren Folge manchen Theologen ein endgültiger „Friedensschluß“ nun doch in greifbare Nähe gerückt zu sein scheint. Verschiedene renommierte Physiker überwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum traten mit einer Reihe zumeist allgemeinverständlicher Veröffentlichungen an die Öffentlichkeit, die ausdrücklich den Anspruch erhoben, in unmittelbarem Anschluß an die Physik Beiträge zu Fragestellungen zu leisten, die traditionell der Metaphysik und Theologie vorbehalten waren. Diesen Beiträgen und den entsprechenden theologischen Reaktionen kommt besondere Bedeutung zu, wenn man berücksichtigt, daß sich die Physik bis heute „als eine Art Leitwissenschaft der Naturwissenschaften“21 versteht; darüber hinaus geben Christian Link und Hanns Joachim Maul zu bedenken, daß zumindest für das öffentliche Bewußtsein die Physik im 20. Jahrhundert an die Stelle gerückt ist, die bis zu Hegels Tod der Philosophie zukam. „Die Gesprächssituation zwischen Theologie und Naturwissenschaft insgesamt und darüber hinaus ihre Gesprächsfähigkeit“, so folgern Link und Maul, „entscheiden sich daher in einer exemplarischen Weise an dem Dialog zwischen Theologie und Physik.“22 Auf Publikationen von drei Physikern, die besonders nachhaltig die gegenwärtige Gesprächssituation zwischen Theologie und Naturwissenschaft beeinflussen, soll im folgenden kurz hingewiesen werden.23 Der bekannte Mathematiker und Physiker Stephen W. Hawking schreibt es in dem im Jahr 1988 veröffentlichten Buch „A Brief History of Time: From the Big Bang to Black Holes“24 nur der Arbeitsüberlastung der Physiker zu, daß 18 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 45. Ebd. 20 Ebd. 21 J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 16. 22 C. Link/H. J. Maul, Physik, 176. 23 Vgl. außerdem die Veröffentlichungen der Physiker und Mathematiker: P. W. Atkins, The Creation, Oxford 1981; F. Hoyle, The Intelligent Universe, London 1983; D. J. Bartholomew, God of Chance, London 1984; J. D. Barrow/F. J. Tipler, The Anthropic Cosmological Principle, Oxford 1986; F. Capra, Das Tao der Physik, München 1987; F. Capra/D. Steindl-Rast, Wendezeit im Christentum: Perspektiven für eine aufgeklärte Theologie, Bern/München/Wien 1991; V. J. Stenger, The Origin of the Universe, 1988; J. C. Polkinghorne, The Way the World is, London 1983; ders., Science and Creation, London 1988; ders., Science and Providence, London 1989; ders., Belief in God in an Age of Science, New Haven/London 1998; ders., Science and Theology, Minneapolis/London 1998; G. Ewald, Die Physik und das Jenseits, Augsburg 1998; vgl. auch Anm. 47. 24 Deutsch: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Hamburg 1991. 19 14 sie sich bislang nicht metaphysischen Fragen zuwenden konnten. Sein Ziel ist „die vollständige Beschreibung des Universums, in dem wir leben“25 und ein „vollständiges Verständnis der Ereignisse, die uns umgeben, und unserer Existenz“26. Hawking ist der Überzeugung, astrophysikalische Vorstellungen hätten „weitreichende Konsequenzen für die Rolle Gottes in den Geschicken des Universums“27, und er scheint der Auffassung zuzuneigen, daß bestimmte kosmologische Modelle keinen Raum mehr für einen Schöpfer lassen.28 Hawking will erklärtermaßen Antwort nicht nur auf die Frage, ob das Universum einen Schöpfer benötige und ob dieser noch in irgendeiner Weise auf das Universum einwirke, sondern auch auf die Frage „warum es uns und das Universum gibt“.29 „Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden“, so Hawking, „wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen“30. Der theoretische Physiker Paul Davies bezeichnet die Physik unumwunden als „die anmaßendste aller Wissenschaften“31, da sie das gesamte Universum zu ihrem Forschungsobjekt erkläre. Im Unterschied zu anderen Naturwissenschaftlern seien „Physiker ebensowenig wie Theologen geneigt zuzugeben, daß es auch Dinge gibt, die prinzipiell außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen“32. In seinem im Jahr 1983 erstmals veröffentlichten Buch „God and the New Physics“33 schreibt Davies, die Naturwissenschaft habe mittlerweile den Punkt erreicht, von dem aus ehedem religiöse Fragen auf wissenschaftlich haltbare Weise untersucht werden können. Die Naturwissenschaft bietet darüber hinaus seiner Auffassung nach „einen sichereren Weg zu Gott als die Religion“34. Der ausgewiesene Astrophysiker Frank J. Tipler überrascht im Jahr 1994 die Öffentlichkeit mit seinem Buch „The Physics of Immortality“35. Tipler entwickelt darin eine „Theorie der Auferstehung“ und eine „OmegapunktTheorie“, wobei der Omegapunkt „im wesentlichen dem Gott von Tillich und Pannenberg“36 entsprechen soll. Tipler beansprucht darzulegen, „daß die wesentlichen Glaubensvorstellungen der jüdisch-christlichen Theologie in der Tat wahr, daß diese Behauptungen direkte Ableitungen aus den Gesetzen der 25 A.a.O., 28. A.a.O., 212. 27 A.a.O., 179; vgl. 216. 28 Vgl. a.a.O., 179. 29 A.a.O., 218. 30 Ebd. 31 P. Davies/J. R. Brown (Hg.), Superstrings. Eine Allumfassende Theorie der Natur in der Diskussion, 11. 32 Ebd. 33 Deutsch: Gott und die moderne Physik, München 1986. 34 A.a.O., 15. 35 Deutsch: Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten“, München 1994. 36 A.a.O., 37. 26 15 Physik, wie wir sie heute verstehen, sind“37. Die Zeit sei gekommen, so Tipler, die Theologie in der Physik aufgehen und den Himmel ebenso wirklich werden zu lassen wie ein Elektron.38 Tiplers Einführung gipfelt in der Zusage: „Dem Leser, der einen geliebten Menschen verloren oder Angst vor dem Sterben hat, verheißt die moderne Physik: ‚Sei getrost, du und sie, ihr werdet wieder leben.‘“39 Bewegen sich diese und eine Reihe ähnlicher populärwissenschaftlicher Publikationen, die leicht zu Bestsellern avancieren, wenn sie nur auf jeglichen mathematischen Apparat verzichten, noch innerhalb des Freiraumes, den die Theologie der Naturwissenschaft zu gewähren hat – oder überschreiten hier Physiker die ihrer Wissenschaft gezogene Grenze und bieten unversehens eine „heidnische Gnosis und Religionslehre“40? Kündigt sich in solchen „physikotheologischen“ Entwürfen wenn nicht die endgültige Kapitulation der Theologie, so vielleicht doch ein „Friedensschluß“ zwischen Naturwissenschaft und Theologie an – oder handelt es sich einmal mehr nur um einen lösbaren „sekundären Konflikt“, genauer um ein „sekundäres Mißverständnis“ aufgrund illegitimer Grenzüberschreitung diesmal von Seiten der Physik? Bei genauerem Zusehen können die im einzelnen sehr unterschiedlichen „metaphysikalischen“ Äußerungen der genannten Physiker ihrem eigenem Anspruch keinesfalls genügen und erweisen sich insbesondere im Fall von Tipler als haltlose, ja wirre pseudophysikalische Spekulationen.41 Darüber hinaus können die die Bestsellerlisten beherrschenden Autoren keineswegs als repräsentativ für die moderne Physik betrachtet werden, sondern werden auch von Fachkollegen als exzentrische Außenseiter eingestuft.42 Was Edgar Lüscher seinem Werk über die moderne Physik voranstellt, ist heute in der 37 A.a.O., 13. Vgl. a.a.O., 19. 39 A.a.O., 24. 40 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Vorwort. 41 Zur Kritik der genannten und weiterer Publikationen vgl. D. A. Wilkinson, Die Wiederkehr der Naturtheologie in der modernen Kosmologie, 2–15; W. B. Drees, Beyond the Big Bang: Quantum Cosmologies and God, 41–153; H.-D. Mutschler, Physik – Religion – New Age, 87–162, 183–200; R. Esterbauer, Metaphysische Physik? Zum Metaphysikbegriff in reduktionistischen Weltbildentwürfen moderner Physiker, 397–400; zu F. J. Tipler vgl. H. Römer, Physik der Unsterblichkeit? 118–122; H.-D. Mutschler, Rez. zu F. J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 619–621; sowie A. Benk, Keine Physik der Unsterblichkeit, 78f. 42 „Zu Beginn meiner Laufbahn als Physiker hätte ich mir nie träumen lassen“, schreibt F. J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 16, „ich würde eines Tages in meiner Eigenschaft als Physiker schreiben, daß es einen Himmel gibt und daß jeden, und zwar jeden einzelnen von uns ein Leben nach dem Tode erwartet. Und doch, hier stehe ich, und schreibe Dinge, die mein früheres Ich als wissenschaftlichen Unsinn abgetan hätte. Hier stehe ich, ein Physiker, und kann nicht anders“. In einem öffentlichen Kolloquium kommentierte dies der Tübinger Atomphysiker G. Staudt lapidar: „Ich stehe hier und kann anders.“ – Gefährlich werde Tiplers Veröffentlichung dadurch, so der theoretische Physiker H. Römer, Physik der Unsterblichkeit? 122, „daß unter der Benutzung der Autorität der Physik und eines anerkannten Physikers phantastische Behauptungen verbreitet und verstiegene Hoffnungen geweckt werden“. 38 16 Physik von wenigen Ausnahmen abgesehen noch immer konsensfähig: „Sämtliche Aussagen des Physikers beziehen sich auf den physikalischen Raum. In diesem können Fragen nach Wechselwirkungen, die außerhalb der physikalischen Meßmöglichkeiten liegen, nicht sinnvoll beantwortet werden.“43 Keine Rede ist davon, daß derartige Fragen „sinnlos“ seien – aber die Physik ist der falsche Adressat für ihre Beantwortung. „Insbesondere ist das Problem der Existenz eines Gottes keine physikalische Fragestellung“, fährt Lüscher fort, „[...] vielleicht gibt es Größen, Wechselwirkungen, Ereignisse, die dem Naturwissenschaftler prinzipiell unzugänglich sind, von denen jedoch der Dichter, der Musiker, der bildende Künstler, der religiöse Mensch etwas ahnt und dieses in seinen Werken auszudrücken vermag; ein Etwas, das nie Gegenstand des physikalischen Raumes sein kann. Darüber eine physikalische Aussage zu formulieren, wäre eine Vermessenheit.“44 Selbst der Spekulationen gewiß nicht abgeneigte Astrophysiker John D. Barrow warnt vor falschen Erwartungen an die Physik und insbesondere an eine physikalische „Theorie für Alles“, die die vier physikalischen Grundkräfte in einer einzigen Theorie zusammenfassen und damit zu einer Vereinheitlichung der Physik führen würde. Barrow hält daran fest, daß es Dinge gibt, „die sich nicht in die Zwangsjacke der mathematisch faßbaren Welt der Naturwissenschaft fesseln lassen“45. Auch eine „Theorie für Alles“ kann keine vollständige Erkenntnis sein: „Es gibt keine Weltformeln, die alle Wahrheit, alle Harmonie, alle Einfachheit enthalten.“46 Dessen ungeachtet lösten die oben genannten, von Physikern vorgelegten populärwissenschaftlichen Entwürfe auf Seiten der Theologie nicht nur eine rege Diskussion aus, sondern fanden bei einigen Theologen auch eine erstaunlich entgegenkommende Aufnahme.47 Namentlich Wolfhart Pannenberg sieht 43 E. Lüscher, Moderne Physik, 10. Ebd. – In Übereinstimmung damit geht auch der theoretische Physiker J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 30f, von der Feststellung aus, „daß die empirisch-physikalisch erfaßte Realität nicht die ganze Wirklichkeit ist“. Wie für K. Barth und K. Rahner sind für J. Audretsch Widersprüche zwischen Physik und Glauben „nur dann möglich, wenn Glaubensinhalte physikalische Aussagen enthalten – das hat es historisch gegeben – oder wenn in der Physik unzulässig Aussagen über die jeweiligen Anwendungsbereiche der Theorien hinaus gemacht werden – das haben einzelne Physiker getan, dies ist ein Regelverstoß. Beides beruht also gewissermaßen auf Fehlverhalten und ist tatsächlich auch immer historisch im Laufe der Entwicklung korrigiert worden.“ 45 J. D. Barrow, Theorien für Alles. Die philosophischen Ansätze der modernen Physik, 14. 46 A.a.O., 268. 47 Vgl. dazu T. Peters (Hg.), Cosmos as Creation. Theology and Science in Consonance, Nashville/Tennessee 1989; M. Rae/H. Regan/J. Stenhouse (Hg.), Science and Theology. Questions at the Interface, Michigan 1994; J. F. Haught, Science and Religion. From Conflict to Conversation, New York/Mahwah, N. J. 1995; R. J. Russell/N. Murphy/A. R. Peacocke (Hg.), Chaos and Complexity. Scientific Perspectives on Divine Action, Vatican City 1995; L. Boff, Der Adler und das Huhn, Düsseldorf 1998. – F. J. Tipler konnte im übrigen schon im Jahr 1987 auf Einladung von Johannes Paul II. seine Konzeption einer „Omegapunkt-Theorie“ bei einem Symposium von Theologen und Naturwissenschaftlern in der päpstlichen Sommerresidenz äußern. Sein Beitrag wurde in einem vom Vatikanischen 44 17 sich zu der auf dem Klappentext von Tiplers „Physik der Unsterblichkeit“ zitierten Feststellung veranlaßt, hier rekonstruiere ein Physiker „mit physikalischen Argumenten fundamentale Glaubenssätze der Religionen“ und nähere sich „gerade der christlichen Zukunftshoffnung“.48 Zeichnet sich ein neues Mit- und Ineinander von Physik und Theologie ab, wenn Pannenberg andernorts feststellt, die „biblische Aussage über Gott als Geist [stehe] sachlich [...] den Feldvorstellungen der modernen Physik [nahe]“49? Ist eine Synthese von Theologie und Physik schon vollzogen, wenn es „aus rein innertheologischen Gründen“ möglich sein soll, „die Geistnatur Gottes im Sinne eines Kraftfeldes zu denken“50? Pannenberg will ausdrücklich die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Gottesbeweise nicht ausschließen51 und sieht im Hinblick auf die Entwicklung der physikalischen Kosmologie in den letzten Jahrzehnten sogar ein Zusammenstreben und eine Konvergenz von physikalischer Weltauffassung und christlich-jüdischem Schöpfungsglauben.52 In ähnlicher Weise äußert der französische Philosoph und Theologe Jean Guitton im Rahmen eines ausführlich dokumentierten Gespräches mit zwei Physikern, es gebe von nun an „eine wissenschaftliche Grundlage für die von der Religion vorgeschlagenen Auffassungen“53. Guitton entdeckt im quantenphysikalischen „Doppelspaltexperiment“54 nicht nur eine Möglichkeit der Lokalisation Gottes, sondern bietet sogar eine „theologische“ Lösung des physikalischen Phänomens an: „An den unsichtbaren Enden unserer Welt, unter und über unserer Realität, hält sich der Geist auf. Und vielleicht ist es so, daß dort unten, im Innern des seltsamen Reichs der Quanten, unser menschlicher Geist und der Geist jenes transzendenten Wesens, das wir Gott nennen, veranlaßt werden aufeinanderzutreffen.“55 Trifft also zu, daß Quantentheorie und Kosmologie „die Grenzen des Wissens immer weiter [vorschieben], bis sie das fundamentale Rätsel berühren, das dem menschlichen Geist gegenübertritt: die Existenz des transzendenten Seins“56? Findet Observatorium herausgegebenen Sammelband veröffentlicht (vgl. F. J. Tipler, The Omega Point Theory: A Model of an Evolving God, 313–331). 48 Vgl. auch W. Pannenberg, Rez. zu F. J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, 25. 49 W. Pannenberg, Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens, 150. 50 A.a.O., 151; vgl. ders., The Doctrine of Creation and Modern Science, 162–176, insbes. 175: „The concept of a field of force could be used to make effective our understanding of the spiritual presence of God in natural phenomena.“ 51 Vgl. W. Pannenbergs Gesprächsbeitrag in: H.-P. Dürr u.a., Gott, der Mensch und die Wissenschaft, 30. 52 Vgl. a.a.O., 45. 53 J. Guitton/G. u. I. Bogdanov, Gott und die Wissenschaft, 23. 54 Zum Doppelspaltexperiment vgl. 5. Kap. IV. vorliegender Arbeit. 55 J. Guitton/G. u. I. Bogdanov, Gott und die Wissenschaft, 119. Guitton greift hier vermutlich Gedanken einer „neognostischen Physik“ auf, die meint, „Geist“ lasse sich schon in den Elementarteilchen physikalisch beweisen, vgl. z. B. J. E. Charon, Der Geist der Materie, Frankfurt 1988. Auch Pannenberg, Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens, 152, setzt die Schöpfertätigkeit Gottes im Naturgeschehen und die quantenphysikalische Unbestimmtheit in Beziehung zueinander. 56 A.a.O., 17. 18 man tatsächlich „letztlich in der wissenschaftlichen Theorie [...] dasselbe wie im religiösen Glauben“57? Oder reden hier Physik und Theologie ihre unterschiedlichen Argumentationsebenen einmal mehr mißachtend in altbekannter Weise aneinander vorbei?58 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch eine Reihe neuer schöpfungstheologischer Entwürfe, die sich mit dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft befassen.59 Georg Kraus erkennt „seit dem 20. Jahrhundert zwischen der wissenschaftlichen Schöpfungstheologie und der Naturwissenschaft ein[en] wechselseitige[n] Prozess der Annäherung“60; dennoch bleibt für ihn die Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft eines der beiden großen Problemfelder, das gegenwärtig in der Schöpfungslehre zu klären ist.61 Alexandre Ganoczy unternimmt sogar den Versuch „eine[r] Schöpfungslehre ‚von unten‘ [...], die bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ansetzt“62. Gemeint sind damit „vor allem Erkenntnisse der modernen Physik nach der Wende der Relativitäts- und der Quantentheorie [...], die geeignet scheinen, ‚gemeinsame Plattformen‘ zu konstituieren, auf denen dann eine positive und kritische Auseinandersetzung zwischen beiden Wissensbereichen sinnvoll durchgeführt werden kann“63. Problematisch wird allerdings die Bestimmung solcher „Plattformen“, die moderner Physik und Schöpfungsglaube gemeinsam sein sollen: ist die „Offenheit der Materie auf Geist hin“64 eine gemeinsame Plattform? Kann man dann wie Georg Kraus feststellen, „aufgrund der Quantentheorie, die nur noch mit Wahrscheinlichkeiten [rechne], [sei] die Welt im elementaren Bereich ein Prozeß in Freiheit“65? Aber zeigt die Atomphysik tatsächlich, wie Kraus meint, „daß bereits in den Atomen Bindungs-, Ordnungs- und Bewegungskräfte wirksam sind, daß also schon in den Grundbausteinen der Materie eine geistgeprägte Struktur vorliegt“66? Ist weiter mit dem „anthropischen Prinzip“67, eine gemeinsame Gesprächsebene gefunden – oder liegt hier 57 Ebd. Vgl. etwa B. Bavinks theologische Deutung des quantenphysikalischen Indeterminismus, vgl. 4. Kap. IV. 4. vorliegender Arbeit. 59 Vgl. G. Kraus, Welt und Mensch. Lehrbuch zur Schöpfungslehre, Frankfurt a. M. 1997; L. Scheffczyk, Schöpfung als Heilseröffnung. Schöpfungslehre (L. Scheffczyk/A. Ziegenaus, Katholische Dogmatik, Bd. 3), Aachen 1997; A. Ganoczy, Schöpfungslehre, in: W. Beinert (Hg.), Lehrbuch der Katholischen Dogmatik, Bd. 1, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, 365–495; G. L. Müller, Katholische Dogmatik, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1995; D. Sattler/T. Schneider. Schöpfungslehre, in: T. Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, Düsseldorf 1992, 120–238. 60 G. Kraus, Welt und Mensch, 328. 61 Vgl. a.a.O., 26. 62 A. Ganoczy, Schöpfungslehre, 431. 63 Ebd. (Hervorhebung von A. Ganoczy). 64 A.a.O., 448. 65 G. Kraus, Die Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und Evolution, 119. 66 A.a.O., 123. 67 Wären die Bedingungen, unter denen sich das Universum entwickelte, nur geringfügig anders gewesen, dann hätte sich kein Leben entwickeln können („Feinabstimmung“ der 58 19 nur ein Beispiel dafür vor, wie leicht unterschiedliche Ebenen miteinander verwechselt werden können?68 Eignet sich wenigstens die sogenannte „Urknalltheorie“ als ein möglicher Ausgangspunkt für eine Schöpfungstheologie „von unten“? Wenn schon der Physiker Günter Ewald meint, der Urknall sei eine Art „physikalische Version des geläufigen ersten Satzes der Bibel geworden“69, kann dann ein katholischer Dogmatiker schreiben, Gott schaffe „die Anfangsbedingungen der Evolution aus dem Nichts“, der „transzendente Gott [habe] den dichten Energieball geschaffen, der dann bei der Explosion die Materie hervorbringt, die wiederum durch die in sie hineingelegte Selbstorganisation alles weitere in der Welt aus sich heraus entwickelt“70, der „Schöpfergott des Glaubens [sei] also der energetische Urgrund und der kraftmäßige Beweggrund der Evolution“71? – oder wird damit nicht vielmehr verkannt, wie Max Seckler betont, „daß für den Schöpfundamentalen Naturkonstanten). In diesem Zusammenhang sprechen einige Physiker vom „anthropischen Prinzip“: Als „schwaches anthropische Prinzip“ bezeichnet dieses nichts weiter als ein methodisches Instrument der Astrophysik: Weil es nun einmal Leben gibt, müssen die Naturgesetze in unserem Kosmos auch so beschaffen sein, daß in ihm Leben entstehen kann. Das „starke anthropische Prinzip“ geht einen entscheidenden Schritt weiter, der freilich die „Plattform“ der Physik verläßt und tatsächlich auch nur von sehr wenigen Physikern nachvollzogen wird: Die Naturgesetze in unserem Kosmos sind so, wie sie sind, damit Leben und schließlich menschliches Leben ermöglicht wird. Der Mensch war demnach von Anfang an Zweck und Ziel der Naturgesetze. Dahinter verbirgt sich ein teleologisches Denken, wonach das Naturgeschehen durch „Zwecke“ bestimmt und geleitet wird. Demgegenüber hatte schon M. Planck, Vorträge und Erinnerungen, 99, festgestellt, daß die Physik ihre Erfolge seit Galilei gerade in der bewußten Abkehr jeder teleologischen Betrachtungsweise errungen habe. 68 Das aus naturwissenschaftlicher Perspektive nützliche schwache anthropische Prinzip kann man philosophisch oder theologisch als starkes anthropisches Prinzip deuten (vgl. H.-D. Mutschler, Weltentstehungstheorien, 30–32; D. Sattler/T. Schneider, Schöpfungslehre, 220; F. Gruber, Die kreative Natur und der Glaube an den Schöpfergott, 306). Doch bereits bei A. Ganoczy, Schöpfungslehre, 441, wird die hier notwendige Differenzierung verwischt, wenn es im beigefügten Glossar „naturwissenschaftlicher Fachbegriffe“ nur heißt, daß das anthropische Prinzip die Vorstellung meine „daß viele Eigenschaften des Kosmos darauf angelegt sind, die Existenz des Menschen zu ermöglichen“; vgl. die entsprechende Ungenauigkeit bei L. Scheffczyk, Schöpfung als Heilseröffnung, 29. – Ein völliges Mißverständnis liegt bei G. Kraus, Welt und Mensch, 360–366, vor, der das „anthropische Prinzip“ als eines der „naturwissenschaftliche[n] Grunddaten“ (360) aufführt und als „neue kosmische Gesamttheorie“ (364) ausgibt, die in der Physik vertreten werde und „die einzigartige Sonderstellung des Menschen in der Evolution [unterstreiche]“ (ebd.). Konkret heiße das, so Kraus weiter, „die Anfangsbedingungen des Universums und bestimmte Naturkonstanten waren von vorneherein darauf angelegt, am Ende der gesamten Evolution den Menschen als denkendes Wesen entstehen zu lassen“ (365f). 69 G. Ewald, Die Physik und das Jenseits, 2. 70 G. Kraus, Welt und Mensch, 356. 71 Ders., Die Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und Evolution, 116. – Auch für H.-J. Sander, Das Wort vom Anfang. Die Rede von Gott vor dem Urknall der Zeit 173, „ist der Urknall eine formale Basis für die Rede vom Schöpfer Gott“. Die Eckdaten der modernen Kosmologie geben für Sander „Merkmale ab, mit denen die Rede von Gott im Anfang des Universums arbeiten kann“ (169). Das Ursprungsproblem sei durch die moderne Kosmologie in einer nichtreligiösen Weise denkbar geworden (vgl. ebd.). 20 fungsbegriff das Moment des absoluten Ursprungs, das außerhalb jeder zeitlichen Bestimmung liegt, wesentlich ist“72? Auch päpstliche Stellungnahmen zeigen, daß in den letzten Jahren neue Bewegung in den Dialog von Theologie und Physik gekommen ist. Allerdings fällt auf, daß die diesbezüglichen Äußerungen von Papst Johannes Paul II. sehr behutsam formuliert sind: einerseits zeichnen sie sich aus durch eine große Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen der modernen Physik und der uneingeschränkten Akzeptanz ihrer gesicherten Erkenntnisse; andererseits ist in diesem Zusammenhang aber von keiner sich abzeichnenden Konvergenz zwischen Naturwissenschaften und Theolgie die Rede, die zwangsläufig in eine harmonische Synthese beider einmünden würde, und es wird auch keinerlei Versuch unternommen, unmittelbar an naturwissenschaftliche Erkenntnisse irgendwelche theologischen Aussagen anzuschließen. Noch Papst Pius XII. hielt daran fest, daß die Existenz eines persönlichen Gottes mittels der menschlichen Vernunft bewiesen werden könne,73 und er erhoffte sich insbesondere im Anschluß an die „Urknalltheorie“ einen naturwissenschaftlichen Gottesbeweis.74 Papst Johannes Paul II. äußert sich in 72 M. Seckler, Was heißt eigentlich ‚Schöpfung‘? 198; weiter schreibt Seckler ebd.: „Die Vorstellung eines progressiven oder ‚gestuften‘ Schöpfungsprozesses, gemäß dem der evolutive kosmische Gesamtprozeß sozusagen die Art und Weise darstellt, in der Gott, das schöpferische Prinzip, wirkt, wird dem Schöpfungsbegriff in seiner Radikalität keineswegs gerecht.“ Vgl. dazu auch G. L. Müller, Katholische Dogmatik, 171, 215f. 73 Vgl. H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 3890. 74 Vgl. Pius XII., Modern Science and the Existence of God. Address of the Holy Father to the Pontifical Academy of Science, November 22, 1951, 182–192. Nach dem Hinweis auf einige ausgewählte naturwissenschaftliche und insbesondere astrophysikalische Erkenntnisse und Theorien fragt Papst Pius XII. nach deren Bedeutung für die Frage nach der Existenz Gottes und kommt a.a.O., 191, zu dem Schluß: „By means of exact and detailed research into the macrocosm and the microcosm, it has considerably broadened and deepened the empirical foundation on which this argument [for the existence of God] rests, and from which it concludes to the existence of an Ens a se, immutable by His very nature. [...] Thus, with that concreteness which is characteristic of physical proofs, it [science] has confirmed the contingency of the universe and also the well-founded deduction as to the epoch when the cosmos came forth from the hands of the Creator. Hence, creation took place in time. Therefore, there is a Creator. Therefore, God exists! Although it is neither explicit nor complete, this is the reply we were awaiting from science, and which the present human generation is awaiting from it.“ – Im Bulletin of the Atomic Scientists wurde diese päpstliche Ansprache umgehend mit Erstaunen und kaum verhohlenem Amüsement dokumentiert und kommentiert: „In fact, it [the speech] praises modern astrophysics for having disclosed to mankind for the first time, the true story of the creation of the material world“ (Science and the Catholic Church. Two Documents, in: Bulletin of the Atomic Scientists 8 [1952], 142). Vgl. dazu auch S. L. Jaki, Cosmos and Creator, insbes. 18–21; T. Peters, Cosmos as Creation, 46f; sowie I. G. Barbour, Issues in Science and Religion, 366–368, der bestreitet, daß sich die „big bang theory“ besser als etwa die „steady-state theory“ mit der christlichen Schöpfungslehre vereinbaren läßt. Vgl. schließlich auch Q. Smith, Atheism, Theism and Big Bang Cosmology, 48–66, der umgekehrt wie Pius XII. sogar nachzuweisen versucht, daß die „Urknalltheorie“ unvereinbar mit der christlichen Schöpfungsvorstellung sei: „I shall argue that the nontheistic interpretation is not merely an alternative candidate to the theistic interpretation, but is better justified 21 dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender. In einem im Jahr 1988 veröffentlichten Schreiben an den Direktor des Vatikanischen astronomischen Observatoriums, George V. Coyne, bedauert der Papst zunächst die fehlende Fachkenntnis der meisten Theologen im Gespräch mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft, denn „eine derartige Fachkenntnis würde sie davon abhalten, zu apologetischen Zwecken unkritischen und übereilten Gebrauch von solch neueren Theorien wie dem ‚Urknall‘ in der Kosmologie zu machen“75. Das Christentum besitze die Quelle seiner Rechtfertigung in sich selbst und erwarte nicht von der Wissenschaft, daß sie seiner grundlegenden Verteidigung diene. In aller Deutlichkeit betont der Papst in diesem Zusammenhang die schon in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes zum Ausdruck kommende Einsicht: „Sowohl die Religion als auch die Wissenschaft müssen ihre Autonomie bewahren. Die Religion gründet nicht in der Wissenschaft, und die Wissenschaft ist keine Weiterführung der Religion.“76 Insbesondere warnt er davor, daß die Theologie zur Pseudowissenschaft und die Wissenschaft zu einer unbewußten Theologie werde.77 Gleichwohl sieht auch Johannes Paul II. die Theologie durch die gegenwärtige Physik herausgefordert und einen Austausch beider für dringend geboten: „Zuerst und zuvörderst sollten sie dahin gelangen, einander zu verstehen. Allzu lange haben sie sich gegenseitig vom Leibe gehalten.“78 Im Verlauf des Dialogs werde das wechselseitige Verstehen wachsen und schrittweise gemeinsame Belange aufdecken, die die Grundlage für weitere Forschung und Diskussion liefern werden. Zuversichtlicher sogar als die meisten Physiker beurteilt der Papst deren Suche nach Vereinigung der vier physikalischen Grundkräfte, die Licht werfen könnte „sowohl auf den Ursprung des Universums als auch letztlich auf den Ursprung der Gesetze und Konstanten [...], die seine Evolution steuern“79. Reichlich verunsichert und ratlos klingt es dann freilich, wenn Johannes Paul II. im Hinblick auf die moderne Kosmologie fragt: „Welches sind, wenn es sie gibt, die eschatologischen Implikationen der zeitgenössischen Kosmologie, insbesondere im Lichte der gewaltigen Zukunft unseres Universums?“80 Sollte der Papst ungeachtet der zuvor betonten Eigenständigkeit von Theologie und Naturwissenschaft theologische Implikationen kosmologischer Theorien für denkbar halten? Bedeutet für Johannes Paul II. beispielsweise die astrophysikalische Prognose, daß in rund vier Milliarden Jahren auf unserem Planeten kein Leben mehr möglich sein wird, zugleich auch ein eschatologisches Datum, das die christliche Hoffnung tangiert? Ist es für die christliche Eschatologie wichtig zu wissen, ob unser Universum than the theistic interpretation. In fact, I will argue for the strong claim that big bang cosmology is actually inconsistent with theism“ (a.a.O., 48). 75 Johannes Paul II., Schreiben an George V. Coyne, 158. 76 A.a.O., 155. 77 Vgl. a.a.O., 159. 78 A.a.O., 156. 79 A.a.O., 153. 80 A.a.O., 157. 22 fortgesetzt expandieren oder irgendwann einmal vielleicht wieder kollabieren wird?81 Überblickt man die Veröffentlichungen der vergangenen Jahre zum Verhältnis von Theologie und Physik, so gilt ganz besonders, was Jürgen Hübner allgemein für die einschlägige Literatur zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft feststellt: Es „begegnet einem ein ziemliches Gestrüpp von Vorstellungen, Positionen, Lehrmeinungen und Denkweisen“82. Der Naturphilosoph und Physiker Hans-Dieter Mutschler weist darauf hin, daß Karl Rahner schon Anfang der siebziger Jahre beklagt habe, daß sich die Theologie nicht genügend mit der Naturwissenschaft auseinandersetze. „Was würde er heute sagen“, fragt Mutschler im Jahr 1994, „wo im Verhältnis viel weniger zu diesem Spannungsfeld veröffentlicht wird, und wo das Wenige dann auch noch so schlecht ist?“83 Zwar hat die Anzahl der einschlägigen Publikationen in den zurückliegenden fünf Jahren deutlich zugenommen, doch auch wer Mutschlers Urteil nicht für alle oben erwähnten Veröffentlichungen uneingeschränkt gelten lassen will, muß einräumen, daß derzeit ein kontinuierlicher und institutionell abgesicherter Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft fast nur bezüglich ethischer Fragen geführt wird.84 Dabei fällt zudem auf, daß in den verschiedenen Ethikkommissionen zwar regelmäßig Biologen und Mediziner, aber nur selten Physiker vertreten sind. Eine Ethik in den Wissenschaften und der diesbezügliche interdisziplinäre Dialog sind zweifellos notwendig und verdienstvoll. Aber gemäß dem Selbstverständnis heutiger theologischer Ethik als autonom ansetzender Moral im christlichen Kontext müssen zumindest im interdisziplinären ethischen Diskurs religiöse und metaphysische Fragen ausgeklammert bleiben.85 Unter den Bedingungen moderner Lebenswelt und entsprechender natur- und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich sittliche Richtigkeiten mit Bibel und Offenbarung nicht unmittelbar begründen.86 Allein schon um willen der Kommunikabilität und Rationalität ethischer Argumentation muß theologische Ethik darum im Gespräch mit den Naturwissenschaften darauf verzichten, unmittelbar auf religiöse und weltanschauliche Überzeugungen 81 Zur Diskussion des päpstlichen Schreibens vgl. die Stellungnahmen von 19 internationalen Wissenschaftlern in: R. J. Russell/W. R. Stoeger S.J./G. V. Coyne S.J. (Hg.), John Paul II. on Science and Religion. Reflections on the New View from Rome, Vatican City 1990. 82 J. Hübner, Der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 3. 83 H.-D. Mutschler, Karl Rahner und die Naturwissenschaft, 101. 84 So weist der Physiker J. Audretsch, Die andere Hälfte der Wahrheit, 9, darauf hin, daß „für viele Theologen [...] Technik und Naturwissenschaften nur noch unter ethischen Aspekten im Hinblick auf mögliche Folgewirkungen von Interesse [sind]“. Ansonsten sieht er das „inner[e] Wechselverhältnis zwischen Christentum und Technologie sowie den sie begründenden Naturwissenschaften [...] durch wechselseitige Nichtbeachtung, ja völlige Gleichgültigkeit charakterisiert“. 85 Vgl. H. Hirschi, Autonome Moral und christliche Anthropologie, 105, sowie A. Benk, Skeptische Anthropologie und Ethik, 133f, 202–206. 86 Vgl. dazu z. B. D. Mieth, Die Moralenzyklika, die Fundamentalmoral und die Kommunikation in der Kirche, 9–12. 23 zurückzugreifen.87 Damit bleiben aber auch Fragen nach dem Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft und nach der Zuordnung von naturwissenschaftlicher und theologischer Perspektive im interdisziplinären ethischen Diskurs in der Regel ausgespart. Im Hinblick auf diese Fragen gehen sich an den Universitäten die theologischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten nach wie vor aus dem Weg und beschränken sich bei gelegentlichen diesbezüglichen Kolloquien und Symposien auf den Austausch von Freundlichkeiten und gegenseitig oft unverstandenen Informationen. Kommt es dann da und dort doch zu einem intensiveren Gespräch, so wird dies von den beteiligten Gesprächspartnern jedesmal aufs Neue – und zurecht – als Pionierleistung empfunden.88 Nach wie vor trifft dabei Rahners Beobachtung zu, daß der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft „sehr mühsam ist und meist steckenbleibt, bevor er genauere, klare und von beiden Seiten angenommene Resultate erzielt hat“89. Darüber hinaus muß die Situation in unseren Schulen als eindeutiger Hinweis gewertet werden, daß Theologie und Naturwissenschaft dringend eines kompetenten Dialogs auf breiter Basis bedürfen, um ihr Verhältnis zueinander zu klären. Anders als in den Universitäten sind in den Schulen (und in Baden87 Vgl. A. Auer, Zur Theologie der Ethik. Das Weltethos im theologischen Diskurs, 208. Beispiele dafür sind: Vortragsreihen im Rahmen des Studium generale an der Universität Konstanz im Wintersemester 1987/88 (vgl. J. Audretsch/K. Mainzer [Hg.], Vom Anfang der Welt: Wissenschaft, Philosophie, Religion, Mythos) und im Wintersemester 1990/91 (vgl. J. Audretsch [Hg.], Die andere Hälfte der Wahrheit: Naturwissenschaft, Philosophie, Religion); interdisziplinäre Seminare des Physikers Hartmann Römer und des Theologen Helmut Riedlinger von 1986 bis 1990 an der Universität Freiburg (vgl. T. Becker, Der interdisziplinäre Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie an der Universität Freiburg, 624f); Symposien der Specola Vaticana in Castel Gandolfo, wo im Laufe des letzten Jahrzehnts auf Einladung von Papst Johannes Paul II. Naturwissenschaftler und Theologen wiederholt zu gemeinsamen Diskussionen zusammenkamen (vgl. dazu insbes. R. J. Russell/W. R. Stoeger S.J./G. V. Coyne S.J. [Hg.], Physics, Philosophy and Theology: A Common Quest for Understanding); von Carsten Bresch und Helmut Riedlinger in den vergangenen Jahren initiierte interdisziplinäre Tagungen zur Frage einer „neuen natürlichen Theologie“ (vgl. C. Bresch/S. M. Daecke/H. Riedlinger [Hg.], Kann man Gott aus der Natur erkennen? Evolution als Offenbarung); das öffentliche Kolloquium „Unser Kosmos. Naturwissenschaftliche und philosophisch-theologische Aspekte“, das im Sommersemester 1994 gemeinsam von Hans Küng (Institut für Ökumenische Forschung) und Amand Fäßler (Institut für Theoretische Physik) an der Universität Tübingen durchgeführt wurde; der Gesprächskreis an der Katholischen Akademie in Bayern „Kirche und Wissenschaft“, an dem sich auch Physiker beteiligen (vgl. J. Dorschner [Hg.], Der Kosmos als Schöpfung); Jahrestagungen des Institutes der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (s. u. S. 113, Anm. 59). 89 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 44. Vgl. auch die Beurteilung des Physikers H. Gärtner, Nicht-lokale Realität oder was ist Wirklichkeit? 63: „Der Versuch, Theologen und Naturwissenschaftler miteinander ins Gespräch zu bringen, ist schon oft unternommen worden. In der Regel bilden sich Arbeitskreise, die über eine gewisse Zeit zusammenbleiben, oder es werden gemeinsame Vortragsreihen [...] veranstaltet, beides mit dem Ziel, zur Überwindung der von Snow [...] konstatierten Aufteilung in ‚zwei Kulturen‘ beizutragen. Leider müssen diese Bemühungen, von partiellen Erfolgen abgesehen, im großen und ganzen bisher als gescheitert betrachtet werden.“ 88 24 Württemberg auch in den Pädagogischen Hochschulen) die naturwissenschaftlichen Fächer und das Fach Religionslehre noch einmal unter einem Dach vereint. Hier lassen sich Kontroversen, Unvereinbarkeiten und Spannungen nicht so einfach überspielen und verschleiern. Zumindest die Schüler und Studenten – wenn nicht die Lehrer und Dozenten – begegnen aufgrund ihres Stundenplanes auf Jahre hinaus naturwissenschaftlicher und theologischer Denkweise. Welche Antwort sollen sie erhalten auf die naheliegende Frage, wie sich beide Denkweisen zueinander verhalten? Doch gerade im schulischen Religionsunterricht spiegelt sich die gegenwärtige Verunsicherung im Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft ganz besonders. In ihrem Studium werden die späteren Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Regel nicht auf eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema „Glaube und Naturwissenschaft“ vorbereitet. Gleichwohl müssen sie dann entsprechende Unterrichtseinheiten in der Grundschule oder in den Sekundarstufen I und II gestalten, weil an der Lehrplangestaltung mitwirkende Religionspädagogen die Bedeutung dieses Themas für die religiöse Entwicklung von Kindern und Jugendlichen inzwischen erkannt haben. Aus Sicht des Religionspädagogen, so schreibt Albert Biesinger, sei der Dialog zwischen Glaube und Naturwissenschaft elementar: „Soll es in der religiösen Erziehung um die Befähigung zur Bewältigung gegenwärtiger und künftiger Lebenssituationen gehen, dann ist es offensichtlich notwendig, sich mit der naturwissenschaftlichen Denkweise kompetent 90 auseinanderzusetzen.“ In Anbetracht der stiefmütterlichen Behandlung des Themas „Theologie und Naturwissenschaft“ in den gegenwärtigen Studienund Prüfungsordnungen für Lehramtstudierende muß allerdings bezweifelt werden, ob für den in den Schulen erteilten Religionsunterricht die notwendige Kompetenz vorausgesetzt werden kann, um den von Biesinger geforderten „konstruktiven Dialog zwischen der religiösen Gottesbeziehung und naturwissenschaftlichem Denken zu initiieren“91. Wenn aber die Fragen der Kinder und Jugendlichen über das Verhältnis von theologischen und naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen übergangen oder nur ungenügend aufgearbeitet werden, wenn ihnen keine akzeptablen und sowohl theologisch als auch naturwissenschaftlich verantwortbare Lösungsmöglichkeiten angeboten werden können, sehen sich viele Schülerinnen und Schüler nur vor die radikale, aber weder theologisch noch naturwissenschaftlich haltbare Alternative gestellt: Naturwissenschaft oder Glaube, Evolution oder Schöpfung, naturwissenschaftlicher Monismus oder biblischer Fundamentalismus.92 Auch die verschiedenen Religionsbücher sind zu diesem Thema keine große Hilfe, sondern tragen eher noch zur weiteren Verwirrung bei. Eine von VeitJakobus Dieterich im Jahr 1990 veröffentlichte Studie untersucht, wie in 90 A. Biesinger/H.-B. Strack, Gott, der Urknall und das Leben, 9. Ebd. 92 Vgl. dazu A. Benk, „Warum steht in der Bibel nichts vom Urknall?“ Der Religionsunterricht als Indikator einer vernachlässigten theologischen Auseinandersetzung, 150–159. 91 25 evangelischen und katholischen Religionsbüchern das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft dargestellt wird. Dieterich zeigt, daß hier auch noch nach 1968 völlig unterschiedliche Modelle der Zuordnung von Glaube und Naturwissenschaft präsentiert werden, ohne daß in der Regel andere Zuordnungsmöglichkeiten diskutiert werden oder auch nur der jeweils eigene Standpunkt als solcher thematisiert und reflektiert wird. 93 Wie die genannten populärwissenschaftlichen Publikationen von Physikern mit theologischem Anspruch und die durch sie ausgelösten theologischen Reaktionen, verweist auch das Ungenügen des schulischen Religionsunterrichts beim Thema „Glaube und Naturwissenschaft“ auf die Notwendigkeit des gründlichen Dialoges zwischen Theologie und Naturwissenschaft und insbesondere zwischen Theologie und Physik. II. Absicht, Ausgangspunkt und Aufbau der Arbeit 1. Absicht der Arbeit Angesichts der gegenwärtigen Irritationen und der wiederholten frustrierenden Erfahrung, daß der mühsame Dialog zwischen Physik und Theologie meist abbricht, ehe er vorweisbare Ergebnisse erzielen kann, setzt sich vorliegende Arbeit nur ein bescheidenes Ziel: Sie wendet sich an Theologinnen und Theologen und versucht die Ausgangssituation der Theologie für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik zu verbessern. Dazu wird im folgenden aber keine neue Klassifikation der Wissenschaften präsentiert, von der her der Physik aus theologischer und philosophischer Perspektive Ort und Grenze zugewiesen werden könnte.94 Zurecht stellt Georg Wieland fest, daß derartige Klassifikationen entweder „lediglich die Heterogenität und grundlegende Verschiedenartigkeit der durch sie bezeichneten Wissenschaftsbereiche [fixieren]“ oder „Ausdruck eines systematischen Ordnungswillens [bleiben], der den Abstand zur historischen Bewegung nicht zu überbrücken vermag“95. Ersteres gilt insbesondere für das radikale 93 Vgl. V.-J. Dieterich, Glaube und Naturwissenschaft im Religionsbuch, 166–176, insbes. 171. Zwar findet sich nach Dieterich in den neueren themenzentrierten Unterrichtsmaterialien verstärkt das „dialogische Modell“, aber insgesamt überwiegen nach 1968 noch immer verschiedene „nicht-kommunikative Modelle“ (vgl. a.a.O., 168f). 94 Zusammenstellungen und Bewertungen von verschiedenen Modellen der Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft finden sich beispielsweise bei V. Mortensen, Theologie und Naturwissenschaft, 27–78, oder bei R. Esterbauer, Verlorene Zeit – wider eine Einheitswissenschaft von Natur und Gott, 25–98. 95 G. Wieland, Commercium scientiarum. Interdisziplinarität und andere Versuche, 179f. Darum versucht vorliegende Arbeit Wielands Empfehlung zu folgen und (bezüglich moderner Physik und Theologie) „an ausgewählten Beispielen der Wissenschaftsgeschichte die Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen verschiedener Disziplinen zu beobachten und ihre 26 „Trennungsmodell“ von Naturwissenschaft und Theologie im Anschluß an Karl Barth; letzteres wird bestätigt durch die „Phase der theoretischenVerhältnisbestimmung“96 von Theologie und Naturwissenschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und belegt, daß im Ausgang von solchen klassifikatorischen Bemühungen kein kontinuierlicher und konstruktiver Dialog in Gang kommen kann. Die Entwicklungen in den modernen Naturwissenschaften zeigen überdies, daß sich gerade auch diese „nicht an theoretische Grenzen [halten], sondern [...] sich an den ihnen jeweils gegebenen Möglichkeiten [orientieren]“97 – wenngleich diese Möglichkeiten manchmal falsch eingeschätzt werden. Vorliegende Arbeit beabsichtigt auch nicht, sich unmittelbar mit einzelnen Erkenntnissen der modernen Physik auseinanderzusetzen, sie auf ihre theologische Relevanz hin abzufragen, um so möglicherweise deren zwingende theologische Implikationen aufzudecken. Es wird sich vielmehr im Verlauf dieser Arbeit gerade erweisen, daß noch jeder Versuch, im Anschluß an die moderne Physik oder gar nur an einzelne ihrer Erkenntnisse derart billige theologische Ausbeute zu gewinnen, kläglich gescheitert ist. Mit dieser Arbeit soll schließlich keine christliche Schöpfungslehre vorgelegt werden, die die Welt als Schöpfung und die Geschichte der Welt als Wirken Gottes im Licht auch der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse darstellt, um die so gedeutete Welt heutiger naturwissenschaftlicher Denkweise wieder nahezubringen. Zurecht wird das Fehlen einer derartigen Schöpfungslehre beklagt; doch in Anbetracht der skizzierten Verunsicherung und Irritation der Theologie ist allenfalls zu erhoffen, daß eine christliche Schöpfungslehre, die diese Erwartungen erfüllt, vielleicht Frucht, jedenfalls aber nicht Ausgangspunkt des Dialogs zwischen Theologie und moderner Naturwissenschaft sein kann. Vorliegende Arbeit versucht, den Boden für eine aussichtsreichere Fortsetzung des Dialogs von Theologie und moderner Physik zu bereiten: Sie will dazu beitragen, daß die an diesem Dialog beteiligten Theologinnen und Theologen ein besseres Verständnis für physikalische Denkweisen und für die Wirklichkeitserfahrung in der modernen Physik gewinnen. Sie will außerdem dazu beitragen, daß immer wiederkehrende Mißverständnisse und falsche Erwartungen an diesen Dialog genauso vermieden wie berechtigte Erwartungen erkannt werden können. 2. Ausgangspunkt der Arbeit Wenn sich in den zurückliegenden Jahren Theologen mit Physik befassen wollten, so bezogen sie sich in der Regel auf die provozierenden Vorstellungen der eingangs bereits erwähnten Physiker. Doch wer mit Stephen Bedingungen zu erforschen“ (a.a.O., 180). J. Hübner, Art. Naturwissenschaft und Theologie, Sp. 649. 97 G. Wieland, Commercium scientiarum. Interdisziplinarität und andere Versuche, 179. 96 27 Hawking, Frank J. Tipler oder Ilya Prigogine, mit David Bohm, Fritjof Capra oder anderen esoterischen Physikern in Dialog tritt, kommt nicht mit der gegenwärtig unter Physikern akzeptierten und an unseren Universitäten gelehrten Physik ins Gespräch, sondern mit einer „Physik“, die unter der Hand mit philosophischen und metaphysischen Inhalten angereichert wurde – und die sich gegenüber der Öffentlichkeit doch gerne als die allgemein anerkannte und erfolgreiche moderne Physik ausgibt. Vorliegende Arbeit will keine Aufklärungsarbeit leisten, indem sie besagten Physikern vorrechnet, inwieweit sich ihre Darstellungen auf gesicherte physikalische Erkenntnis stützen können und wo in diese unausgesprochen begründungsbedürftige philosophische Deutungen und durch keinen experimentellen Befund belegte Spekulationen und Extrapolationen einfließen.98 Ausgangspunkt vorliegender Arbeit sind vielmehr die heute weitgehend unbestrittenen Grundlagen der modernen Physik – und eben nicht die hochspekulativen, physikalisch höchst umstrittenen Entwürfe, die sich in den vergangenen Jahren der Theologie förmlich zum Dialog aufdrängten. Ausgangspunkt sind damit die drei großen physikalischen Theorien, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden und die nach wie vor die Grundlage der gegenwärtigen Physik bilden: die spezielle Relativitätstheorie, die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie. 3. Aufbau der Arbeit Im Hinblick auf die leitende Absicht, die Ausgangssituation der Theologie für einen Dialog mit der gegenwärtigen Physik zu verbessern, steht im Zentrum dieser Arbeit die Auseinandersetzung mit frühen theologischen Reaktionen auf die Entwicklung der modernen Physik (4. Kapitel). Während die ablehnenden theologischen und kirchlichen Reaktionen gegenüber dem Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften allgemein bekannt und Gegenstand ungezählter wissenschaftlicher Untersuchungen sind, sind die verschiedenen theologischen Reaktionen auf die Entwicklung der modernen Physik weitgehend in Vergessenheit geraten. Dies gilt insbesondere für diesbezügliche theologische Publikationen während des „goldenen Zeitalters der Physik“ in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Obwohl sich ergeben wird, daß die damaligen Versuche, den Umbruch in der Physik aus Sicht der Theologie einzuordnen und angemessen zu bewerten, fast ausnahmslos gescheitert sind, müssen diese Versuche heute in Erinnerung gerufen werden: Sie zeigen, daß auch der Dialog zwischen Theologie und moderner Physik von Anfang an falsch ansetzte und ohne eine angemessene philosophische Vermittlung langfristig zu scheitern droht. Darüber hinaus ist zu hoffen, daß in Anbetracht der historischen Muster entsprechende 98 Solche Aufklärungsarbeit leistet in vorbildlicher Weise z. B. H.-D. Mutschler, Physik – Religion – New Age, Würzburg ²1992. 28 theologische Fehlreaktionen in der Gegenwart leichter als solche erkannt, kritisiert und beiseite gelegt werden können. Die Auseinandersetzung mit den theologischen Reaktionen auf die moderne Physik geschieht vor dem Hintergrund philosophischer Deutungen dieser Physik (3. und 6. Kapitel), denn es ist zu bedenken, daß sich Theologie nie unmittelbar auf eine „reine“ Physik beziehen kann. Die Physik, mit der sie in Dialog treten kann, ist immer schon und notwendig – wenn auch in der Regel nicht ausdrücklich – philosophisch gedeutete Physik. Die Frage, welcher der unterschiedlichen möglichen Deutungen jeweils der Vorzug zu geben ist, ist zwar keine physikalische Fragestellung mehr, aber auch noch keine unmittelbar theologische. Der Dialog zwischen Theologie und moderner Physik kann aber erst gelingen, wenn die Theologie die unterschiedlichen Deutungen der modernen Physik ausdrücklich als Deutungen erkennt und versteht. Schon allein darum bleibt Theologie hier unabdingbar auf die vorherige Vermittlungsarbeit der Philosophie angewiesen.99 Um die verschiedenen philosophischen Deutungen und die theologischen Reaktionen auf die moderne Physik beurteilen zu können, ist darüber hinaus ein Verständnis der grundlegenden Gedanken der modernen Physik unabdingbar (2. und 5. Kapitel). Relativitäts- und Quantentheorie, die das physikalische Weltbild revolutioniert haben, müssen zumindest so weit verstanden werden, daß unqualifizierte Kritik und Polemik, unangemessene Inanspruchnahme, unhaltbare „Anknüpfungen“ und voreilige Syntheseversuche von seiten der Theologie oder auch der Physik identifiziert und begründet abgewiesen werden können. Die Kenntnis zentraler Gedanken der modernen Physik und ihrer verschiedenen Deutungsmöglichkeiten erhellt zugleich, wie sich aus Perspektive der modernen Physik die Ausgangssituation für den Dialog mit der Theologie verändert hat (7. Kapitel). Insbesondere werden auf dieser Grundlage die Stellungnahmen von Physikern zu theologischen Fragen verständlicher. Ein adäquates Verständnis dieser Stellungnahmen ist aber wiederum unabdingbare Voraussetzung, um die Ausgangssituation der Theologie für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik zu verbessern. 99 Der Mathematiker und Theologe Ulrich Kropac befaßt sich in seiner Dissertation (Naturwissenschaft und Theologie im Dialog. Umbrüche in der naturwissenschaftlichen und logisch-mathematischen Erkenntnis als Herausforderung zu einem Gespräch, Münster 1999) mit den Erkenntnisumbrüchen in moderner Physik und Mathematik, die die „Einsicht in Erkenntnisgrenzen“ förderten und „nicht wenigen Naturwissenschaftlern Anlaß [gaben], sich religiösen Fragen zuzuwenden und nach neuen Gottesbildern zu suchen“ (23). Wie vorliegende Arbeit betont aber auch Kropac die „Offenheit von Resultaten der Grundlagenforschung für verschiedene weltanschauliche Deutungen“ (ebd.) und verweist auf die „Philosophie als Ort eines Dialoges zwischen Naturwissenschaft und Theologie“ (326). 29 III. Übersicht über die einzelnen Kapitel Das erste Kapitel skizziert in knappen Zügen die Emanzipation der neuzeitlichen Naturwissenschaft von Theologie und Philosophie (I.), erläutert kurz das die Epoche der klassischen Physik prägende Ideal mechanischer Erklärbarkeit (II.) und zeigt, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Versuch, die gesamte Physik auf die Mechanik zu begründen, scheitert und somit die Wende zur modernen Physik eingeleitet wird (III.). Das zweite Kapitel zeigt, wie im Rahmen der klassischen Physik unerklärliche Phänomene durch einen grundlegend neuen Ansatz in der speziellen Relativitätstheorie physikalisch gedeutet werden (I.), verweist auf die sich daraus ergebenden weitreichenden Konsequenzen insbesondere für das physikalische Verständnis von Raum und Zeit (II.) und skizziert wie in der allgemeinen Relativitätstheorie durch die Verwendung einer nichteuklidischen Geometrie die Vorstellung der physikalischen Wirklichkeit von Grund auf verändert wird (III.). Im dritten Kapitel werden unterschiedliche physikalische und philosophische Deutungen der Relativitätstheorien vorgestellt. Dazu müssen zuerst populäre Fehldeutungen sowie ideologisch und antisemitisch verblendete Polemik gegen die Relativitätstheorien abgewiesen werden (I.). Im Anschluß daran wird aufgezeigt, welchen Ort verschiedene Physiker Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie im Rahmen der Physik zuweisen (II.) und wie bereits die Benennung dieser Theorie eine folgenreiche, aber keineswegs zwingende Interpretation beinhaltet (III.). Dann werden einige bis heute kontrovers diskutierte Fragen thematisiert, die sich aus der Verhältnisbestimmung von Relativitätstheorien und kantischer Transzendentalphilosophie ergeben (IV.). Zum Abschluß dieses Kapitels werden Deutung und zugleich zentrale Bedeutung der Relativitätstheorien im Rahmen des Logischen Positivismus herausgestellt (V.). Die knappe Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie und dem Logischen Positivismus ist in unserem Zusammenhang aufschlußreich, da sie zeigt, in welchem Bereich die Diskussion um die Interpretation der Relativitätstheorien sinnvoll geführt werden kann und muß; gerade vor diesem Hintergrund erweisen sich im vierten Kapitel einige theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorien als verfehlt. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts werden zahlreiche Beiträge von Theologen veröffentlicht, die sich mit dem Verhältnis der Relativitätstheorien zur Religion im allgemeinen und mit der Bedeutung der Relativitätstheorien für den christlichen Glauben im besonderen befassen. Mit dem Hinweis auf einige theologische „Interpretationen“, die sich ohne jedes physikalische Verständnis einzig auf einige in den Relativitätstheorien verwendete Begriffe beziehen, beginnt im vierten Kapitel der Überblick über die insgesamt sehr unterschiedlichen theologischen Stellungnahmen (I.). Im Anschluß daran wendet sich vorliegende Arbeit den argumentativen Anstrengungen katholi- 30 scher Theologen zu, die Unvereinbarkeiten von neuscholastischer Ontologie und Relativitätstheorie ausmachen und darum sogar die experimentelle Überprüfbarkeit der Relativitätstheorie leugnen. Diese Darstellung der neuscholastischen Apologetik ist im gegebenen Zusammenhang unverzichtbar, weil sich das beharrliche Festhalten an der neuscholastischen Begrifflichkeit im Rückblick als einer der maßgeblichen Gründe erweist, warum der Dialog zwischen katholischer Theologie und moderner Physik im 20. Jahrhundert jahrzehntelang blockiert ist und bis heute nur stockend in Gang kommt (II.). Anschließend befaßt sich vorliegende Untersuchung mit Karl Heims Versuch einer „neuen Apologetik“, in deren Rahmen die Relativitätstheorien zwar bejaht, zugleich aber auch sehr fragwürdig gedeutet werden. Die Kritik von Heims Deutung der Relativitätstheorien und seiner damit verbundenen Sicht der modernen Physik erscheint heute besonders notwendig, da Heim nach wie vor unter Theologen als „profunder Kenner der Naturwissenschaften“100 gilt und verschiedentlich gefordert wird, Heims Bemühung um eine „produktive Synthese“101 von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Schöpfungslehre wieder aufzugreifen (III.). Schließlich werden im vierten Kapitel Ansätze zur Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie dargestellt, die von theologisch interessierten und gebildeten Naturwissenschaftlern im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie vorgelegt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den entsprechenden theologischen Gedanken des Physikers Bernhard Bavink gewidmet (IV.). Nur wenige Jahre dient die Relativitätstheorie als Impuls für einen möglichen Austausch zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Kaum haben die Theologen, die die Entwicklung der modernen Physik zu verfolgen versuchen, die Relativitätstheorie zur Kenntnis genommen, sind für die Physiker die Herausforderungen faszinierend, die ihnen die weitere Entfaltung der Quantentheorie stellt. Im fünften Kapitel wird darum in allgemeinverständlicher Weise in die Grundgedanken der Quantenphysik eingeführt. Nach einleitenden Bemerkungen über die Bedeutung der Quantentheorie im Rahmen der modernen Physik (I.) werden kurz naturphilosophische Traditionen skizziert, die die Entwicklung der Quantentheorie beeinflussen (II.). Im Anschluß daran werden in zwei Schritten zentrale Aussagen der Quantentheorie dargestellt: zunächst durch die physikgeschichtliche Darstellung der Entwicklung der Quantentheorie im 20. Jahrhundert (III.) und dann durch die Beschreibung verschiedener „Doppelspaltexperimente“, deren Diskussion in der Geschichte der Quantentheorie exemplarische Bedeutung zukommt (IV.). Im Anschluß an die Doppelspaltexperimente lassen sich im sechsten Kapitel zentrale Aspekte der Quantenphysik verdeutlichen. Ausgehend vom sogenannten „Welle-Teilchen-Dualismus“ (I.) werden dazu die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation und ihre Deutung erläutert (II.), die Eigenart 100 101 H. Schwarz, Art. Heim, Karl, Sp. 1364. J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 200. 31 des quantenmechanischen Meßprozesses skizziert (III.) und der quantentheoretische Indeterminismus vorgestellt (IV.). Dabei zeigt sich, daß der experimentell bewährte und in sich stimmige Formalismus der Quantentheorie gleichwohl einen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels befaßt sich mit der Diskussion um die Vollständigkeit der Quantentheorie und begründet, warum mit der Quantentheorie trotz ihrer unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten eine Rückkehr zum Wirklichkeitsverständnis der klassischen Physik definitiv ausgeschlossen werden muß (V.). Das sich gegenüber der klassischen Physik gewandelte Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik bestimmt maßgeblich die veränderte Gesprächssituation im gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie. Im siebten Kapitel wird zunächst im Rückblick auf die Relativitäts- und Quantentheorie die Veränderung in der physikalischen Vorstellung von Wirklichkeit noch einmal zusammenfassend dargestellt (I.). So wenig wie von der klassischen, so führt auch von der modernen Physik kein unmittelbarer und zwingender Weg zur Religion. Sofern sich aber Physiker der Religion zuwenden, prägt dieses veränderte Wirklichkeitsverständnis offensichtlich auch die Stellungnahmen zu religiösen Fragen in charakteristischer Weise. Dies wird in diesem Abschnitt anhand entsprechender Äußerungen von Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg aufgezeigt (II.). Der Rückgriff auf diese an der Entwicklung der modernen Physik maßgeblich beteiligten Physiker bietet sich an, da bei diesen Physikern noch ein feineres Gespür für die Tragweite des Umbruchs von der klassischen zur modernen Physik feststellbar ist, als bei der jüngeren Physikergeneration, für die Relativitäts- und Quantentheorie längst zum Standardwissen gehören. Darüber hinaus stehen Planck, Einstein und Heisenberg bis heute stellvertretend für die Physiker, die in wohltuendem Gegensatz zu den gegenwärtig den Dialog mit der Theologie dominierenden Physikern nie als Physiker aufgrund ihrer anerkannten naturwissenschaftlichen Kompetenz zu religiösen Fragen Stellung nehmen, sondern nachdrücklich die Notwendigkeit einer „reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissenschaft“102 betonen. Ihre gleichwohl von der Physik geprägten und nur vor deren Hintergrund verständlichen Fragen und Erwartungen an die Theologie bedeuten für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik eine noch nicht bewältigte Herausforderung (III.). Das letzte Kapitel endet mit sechs Feststellungen, die von der Theologie vor dem Dialog mit der modernen Physik zu bedenken sind und die das Ergebnis der vorliegenden Arbeit zusammenfassen (IV.). 102 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 75. 32 Erstes Kapitel: Umbruch von der klassischen zur modernen Physik I. Emanzipation der neuzeitlichen Physik von Theologie und Philosophie Galileo Galilei (1564–1642) und Isaac Newton (1643–1727) gelten als Begründer der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft und insbesondere als Begründer der später „klassisch“ genannten Physik.1 Galileis Verdienst besteht nicht nur in der Formulierung grundlegender physikalischer Naturgesetze wie etwa der Fallund Bewegungsgesetze, sondern vor allem in der Tatsache, daß er zugleich damit einer neuen wissenschaftlichen Methode zum Durchbruch verhilft: der Verbindung von theoretisch entworfenem Experiment und mathematischer Beschreibung. Der Experimentator begnügt sich nicht mehr mit der Hinnahme beobachteter Naturereignisse, sondern stellt durch geeignete Versuchsanordnungen gezielte Fragen an die Natur und nötigt sie zur Antwort.2 Da für Galilei das „Buch der Natur“ in mathematischer Sprache geschrieben ist, bedarf es zu seinem Verständnis notwendigerweise der Mathematik.3 Wer 1 Unter dem Begriff „klassische Physik“ versteht man heute die Physik, wie sie noch um die Wende zum 20. Jahrhundert gelehrt wurde. Dazu wird insbesondere die Newtonsche Mechanik, die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus, die geometrische Optik, die Wellenoptik und die herkömmliche Thermodynamik gezählt. Außerhalb dieser „klassischen Physik“ liegen die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, die oft auch als „moderne Physik“ bezeichnet werden. Zur insgesamt keineswegs einheitlichen Begrifflichkeit vgl. K. H. Höcker, Art. Klassisch, 51f. 2 Vgl. dazu I. Kants Beschreibung der „Revolution der Denkart“ in der Physik: Die Naturforscher „begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf“ (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XIII). 3 Vgl. G. Galilei, Il Saggiatore, Opere, Bd. 6, 232, vgl. Bd. 5, 316f, sowie Galileis Brief an den Benediktinermönch Benedetto Castelli vom 21.12.1613, a.a.O., Bd. 5, 281ff (in deutscher Übersetzung abgedruckt in: A. Fölsing, Galileo Galilei, 284–288); vgl. dazu auch E. Rothacker, Das „Buch der Natur“, 15f, 45, 127 (Anm. 14); vgl. ferner K. Mainzer, Galileo Galilei – Naturphilosoph und Begründer der neuzeitlichen Physik, 10–31, insbes. auch die weiteren Belege a.a.O., 12 (Anm. 11). – E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 371–399, versucht zwar nachzuweisen, daß Galilei mehr als meist bekannt noch den 33 naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen wolle, unternehme Undurchführbares. Mathematik wird derart bei Galilei „das gedankliche Werkzeug der das Experiment leitenden theoretischen Fragen“4 und erweist sich darin als „der ermöglichende Kern der Naturwissenschaft“ 5. Schon die berühmten Versuche Galileis an der schiefen Ebene, die schließlich zur Entdeckung der Fallgesetze führen, enthalten die wesentlichen Elemente physikalischer Experimente.6 Galilei läßt Messingkugeln verschiedener Masse bei unterschiedlicher Neigung eine abschüssige Rille hinabrollen, mißt die zurückgelegten Strecken und die dazu benötigten Zeiten, variiert des weiteren einzelne Größen, während er die jeweils anderen konstant hält, – und vermag so die wechselseitige Abhängigkeit oder auch Unabhängigkeit dieser beobachteten Größen festzustellen und schließlich ihre Relation in einer mathematischen Gleichung auszudrücken. Voraussetzung dieses Zusammenspiels von Experiment und mathematischer Formulierung ist die mögliche Quantifizierung der gerade untersuchten Eigenschaften eines Gegenstandes oder der Einzelheiten eines Vorganges, deren struktureller Zusammenhang aufgedeckt werden soll. Nur wenn diese Quantifizierung möglich ist, läßt sich ein Gegenstand oder Vorgang mathematisch erfassen, nur dann „können wir einem Vorgang ein mathematisches Funktionsmodell zuordnen“7. Die Verbindung von Mathematik und Experiment eröffnet den Naturwissenschaftlern dieser Zeit eine Möglichkeit, ohne Rückgriff auf biblische Offenbarung, christliche Theologie oder traditionelle Philosophie Erkenntnisse über die Natur zu gewinnen, die auf sicherer experimenteller Grundlage stehen und zumindest grundsätzlich von jedem Menschen nachvollzogen werden können: physikalische Experimente sind reproduzierbar, Physik bezieht sich damit allein auf „intersubjektiv nachprüfbare Erfahrungen“8; desgleichen sind auch die mathematischen Deduktionen im Anschluß an diese Experimente im Prinzip von jedem Menschen auf ihre Stimmigkeit hin kontrollierbar. Im Jahr 1637 rühmt René Descartes gerade die „mathematischen Disziplinen“ wegen ihrer „sicheren und vertrauenswürdigen Fundament[e]“ sowie wegen „der Denkweisen der aristotelisch-scholastischen Physik verhaftet sei, betrachtet aber nichtsdestoweniger die Einsicht „daß die Natur in mathematischer Sprache beschrieben werden muß, und daß sie für den Menschen genau so weit begreiflich ist, als er ihrer Wirkung in seinem mathematischen Denken folgen kann“ als die Frucht, „welche die klassische Naturwissenschaft im Laufe ihrer Entwicklung zur Reife bringen sollte“ (a.a.O., 557). 4 C. F. v. Weizsäcker, Wer ist das Subjekt in der Physik? 129. 5 Ders., Zeit und Wissen, 96. Ähnlich betont M. v. Laue, Geschichte der Physik, 10, die enge Verbindung von Physik und Mathematik: „Die Mathematik ist nun einmal das geistige Werkzeug des Physikers; sie allein ermöglicht [die] endgültige, präzise und auf andere übertragbare Fassung erkannter Naturgesetze, sie allein deren Anwendung auf verwickeltere Vorgänge. So war auch der Fortschritt der Physik, namentlich in der Mechanik, aufs engste verknüpft mit den gleichzeitigen Fortschritten der Mathematik.“ 6 Vgl. die Beschreibung dieser Versuche in: G. Galilei, Unterredungen und mathematische Demonstrationen, 161ff. 7 H.-P. Dürr, Mathematik und Experiment, 57. 8 J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 18. 34 Sicherheit und Evidenz ihrer Beweisgründe“9. Die Möglichkeit aufgrund der neuen Methode „der Natur ihre Geheimnisse ohne Anleihen bei Theologie und Philosophie zu entreißen“10 äußert sich nun auch in einem ungleich selbstbewußteren Auftreten der Naturwissenschaftler gegenüber kirchlicher Autorität. Im Jahr 1609 schreibt Johannes Kepler, in der Theologie gelte zwar das Gewicht der Autoritäten, in der Philosophie – und Kepler versteht darunter gerade auch die neue Astronomie – aber das der Vernunftgründe: „Heilig ist nun zwar Laktanz, der die Kugelgestalt der Erde leugnete, heilig Augustinus, der die Kugelgestalt zugab, aber Antipoden leugnete, heilig das Offizium unserer Tage, das die Kleinheit der Erde zugibt, aber ihre Bewegung leugnet. Aber heiliger ist mir die Wahrheit, wenn ich, bei aller Ehrfurcht vor den Kirchenlehrern, aus der Philosophie beweise, daß die Erde rund, ringsum von Antipoden bewohnt, ganz unbedeutend und klein ist und auch durch die Gestirne hin eilt.“11 Für Kepler bedeuten die Erkenntnisse der Physik und Astronomie seiner Zeit und insbesondere die hier ausgedrückte Preisgabe der ausgezeichneten Position des Menschen und seiner Erde im Universum keine Anfechtung seiner christlichen Überzeugung. Betrachte man angesichts der unvorstellbaren Ausdehnung der Welt „jene Stäubchen [...], die man Menschen nennt, die Gottes Bild in sich tragen“, so könne man daraus den Sinn des Schöpfers erkennen lernen, „der seinen Ruhm nicht auf die große Ausdehnung setzt, sondern der das klein macht, was er durch Würde auszeichnen will“12. Kepler, der sich zur Confessio Augustana bekennt, betont wiederholt, daß es ihm mit der Religion ernst sei und er kein Spiel mit ihr treibe.13 Die von autoritären Zwängen und theologischer Bevormundung befreite naturwissenschaftliche Forschung versteht Kepler ausdrücklich als Hilfe zur Offenbarung Gottes in seinen Werken. Wie durch das Wort der Bibel, so will Gott auch aus dem Buch der Natur erkannt werden.14 9 R. Descartes, Discours de la Méthode, 13. J. Hemleben, Galileo Galilei, 154. „Ohne Anleihen bei der traditionellen aristotelischscholastischen Philosophie“ sollte es wohl besser heißen, denn auch die neuzeitliche Physik beruht auf bestimmten naturphilosophischen Prämissen, auch wenn diese von den Naturwissenschaftlern dieser Zeit nicht reflektiert werden; vgl. dazu z. B. J. Teichmann, Wandel des Weltbildes, 148f, oder auch J. Trefil, Fünf Gründe, 20f. Dessen ungeachtet ist E. Cassirer, Philosophie und exakte Wissenschaft, 13, zuzustimmen, wenn er feststellt, daß der „Kampf gegen das scholastische Bildungsideal und gegen die überlieferte Form der aristotelisch-scholastischen Physik [...] allen großen Naturforschern der Renaissance gemeinsam [ist]“. 11 J. Kepler, Neue Astronomie, 33. 12 J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 28.3.1605, in: M. Caspar/W. v. Dyck (Hg.), Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, 233. 13 Vgl. J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 16.12.1598, a.a.O., Bd. 1, 91; vgl. J. Kepler an Mästlin, 22.12.1616, a.a.O., Bd. 2, 67f, wo Kepler gegenüber Mästlin erklärt, daß er aus Gewissensgründen nicht bereit sei, die Konkordienformel zu unterschreiben. 14 Vgl. Kepler an Mästlin, 3.10.1595, a.a.O., Bd. 1, 24; vgl. J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 13, 40 (Nr. 23, Zeile 254): Deus „vult ex libro Naturae agnoscj“. Zu Keplers Verständnis des Buches der Natur als Offenbarung vgl. J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, 165–175, sowie ders., Johannes Kepler und die 10 35 Der Naturforscher wird damit für Kepler zum Priester am Buch der Natur, Naturforschung wird Priesterdienst: „Da wir Astronomen Priester des höchsten Gottes sind in Hinblick auf das Buch der Natur, geziemt es uns, daß wir nicht auf den Ruhm unseres Geistes, sondern vor allem anderen auf den Ruhm Gottes bedacht sind“.15 In diesem Sinn kann Kepler im Jahr 1619 in „Harmonices mundi“ in Form eines Lobgesanges schreiben: „Ich sage Dir Dank, Schöpfer, Gott, weil Du mir Freude gegeben hast an dem, was Du gemacht hast, und ich frohlocke über die Werke Deiner Hände. Siehe, ich habe jetzt das Werk vollendet, zu dem ich berufen war. Ich habe dabei alle die Kräfte meines Geistes genutzt, die Du mir verliehen hast. Ich habe die Herrlichkeit Deiner Werke den Menschen geoffenbart, soviel von ihrem unendlichen Reichtum mein enger Verstand hat erfassen können.“16 Die neue naturwissenschaftliche Methode ermöglicht die Emanzipation der Naturwissenschaften von Theologie und traditioneller Philosophie. Dies geht einher mit der Auflösung eines Weltbildes, in dem sich ptolemäische Kosmologie, aristotelische Philosophie und christliche Theologie scheinbar zwanglos vereinbaren lassen.17 Aber das Beispiel von Kepler zeigt auch, daß das neu entstehende Weltbild die Naturwissenschaftler keineswegs notwendig in Widerspruch zum Glauben an einen sich in der Schöpfung offenbarenden Gott führen muß. Für die Astronomen und Physiker, die durch ihre Arbeit die Ausbildung des neuzeitlichen Verständnisses von Naturwissenschaft prägen, namentlich für Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton ist „eine innige Verbindung von naturwissenschaftlichem Denken und theologisch fundiertem Weltbild [...] kennzeichnend“18. Unbeschadet der Abwehrreaktionen der Kirche ist für die Naturwissenschaftler der Grundtenor der „einer Konkordanz zwischen Natur und Religion“19. Gerade durch die neu entdeckten Gesetzlichkeiten, die den Gang der Gestirne bestimmen, sehen sie sich zurückverwiesen auf den Urheber und den Schöpfer dieses großartigen, zweckmäßig eingerichteten Weltenbaus. theologischen Vorbehalte zum kopernikanischen System, 118–122, insbes. 121f. – Noch I. Newton schließt seine kurzen theologischen Ausführungen in den „Principia“ mit der Bemerkung ab, es sei Aufgabe der von ihm vorgelegten Naturlehre, Gott aufgrund von Phänomenen zu erfassen (vgl. I. Newton, Opera, Bd. 3, 173: „Et haec de Deo; de quo utique ex Phaenomenis differere, ad Philosophiam Naturalem pertinet“). 15 J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 26.3.1598, in: M. Caspar/W. v. Dyck (Hg.), Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, 70. 16 Zit. in: G. Süßmann (Hg.), Glaube und Naturwissenschaft, 12; vgl. auch Keplers hymnischen Lobpreis auf Gott als den Schöpfer des Kosmos am Ende von „Mysterium Cosmographicum“ (J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1, 79f). 17 Dieses Weltbild ist in popularisierter Form anschaulich dargestellt im Titelholzschnitt von Lukas Cranach zur Lutherbibel (1534): im Zentrum der Welt ist mit biblischen Szenen das Paradies und das erste Menschenpaar auf der Erde abgebildet, um die Erde kreisen die aristotelischen, bzw. ptolemäischen Sphären und jenseits der äußersten Sphäre der Fixsterne thront Gott (der Holzdruck ist wiedergegeben in: V.-J. Dieterich, Glaube und Naturwissenschaft, 9). 18 19 E. Wölfel, Art. Naturwissenschaft I, 191. Ebd. 36 II. Isaac Newtons „Principia“ und das Ideal mechanischer Erklärbarkeit Die neue naturwissenschaftliche Methode bewährt sich zwar schon zu Galileis Lebzeiten hervorragend in Astronomie und Mechanik, aber es bleibt Isaac Newton vorbehalten, zu seinen Zeiten schon vorliegende Ansätze weiterzuentwickeln und die grundlegende Theorie der neuen Physik auszuarbeiten.20 In seinem im Jahr 1687 publizierten Hauptwerk „Philosophiae naturalis principia mathematica“21 legt Newton die Konstruktion einer Mechanik vor, die sich auf drei aus der Erfahrung abgeleitete Axiome gründet22 und die in dem universellen Gravitationsgesetz ihren Höhepunkt findet.23 Das Gravitationsgesetz wiederum bildet das Fundament einer Physik, die auf der Erde keine besonderen Gesetze mehr gelten läßt: die Gestirne folgen denselben Bewegungsgesetzen wie die Körper auf der Erde, die aristotelische Trennung von Erd- und Himmelsphysik ist damit endgültig aufgehoben. Erst im Rückblick wird das Ausmaß des Einflusses sichtbar, den die in diesem Werk zusammengefaßten mechanischen Grundsätze auf die Naturauffassung und auf die gesamte Lebensgestaltung der neuzeitlichen Menschheit ausüben.24 Wie zuvor die „Physik“ von Aristoteles oder der sogenannte 20 Zu den verschiedenen Vorarbeiten, auf die Newton zurückgreifen kann, vgl. die knappe und übersichtliche Darstellung von K. v. Meyenn, Triumph und Krise der Mechanik, 17–58. Zur argumentativen Auseinandersetzung Newtons mit der cartesischen Philosophie vgl. insbes. G. Böhme, Philosophische Grundlagen der Newtonschen Mechanik, 5–20. 21 Die bislang einzige vollständige deutsche Übersetzung, die im einzelnen aber sehr großzügig verfährt, stammt noch aus dem 19. Jahrhundert: I. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg. v. J. Ph. Wolfers, Berlin 1872 (unveränderter Nachdruck Darmstadt 1963). Im folgenden werden die „Principia“ i. d. R. nach der getreueren, aber unvollständigen Neuübersetzung von Ed Dellian zitiert: I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie. Übersetzt, eingeleitet und hg. von E. Dellian, Hamburg 1988. 22 „Gesetz I: Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustandes gezwungen wird. [...] Gesetz II: Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt. [...] Gesetz III: Der Einwirkung ist die Rückwirkung immer entgegengesetzt und gleich, oder: die Einwirkungen zweier Körper aufeinander sind immer gleich und wenden sich jeweils in die Gegenrichtung“ (I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 53f). 23 Zwei Körper üben demnach aufeinander eine Gravitationskraft aus, die proportional zum Produkt ihrer Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes ist (vgl. a.a.O., 190). 24 „Kein anderes Werk in der ganzen Wissenschaftsgeschichte“, urteilt A. Rupert Hall, „kommt den Principia in Originalität oder Kraft des Denkens gleich, ebensowenig in der Großartigkeit des Erreichten. Kein anderes verwandelte die Struktur der Naturwissenschaften so sehr“ (zit. in: H. Wußing, Isaac Newton, 74). 37 „Almagest“ von Klaudios Ptolemaios dienen Newtons „Principia“ dazu, „für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebietes zu bestimmen“25. Für Thomas S. Kuhn ist damit das die Epoche der klassischen Physik prägende „Paradigma“ formuliert, das mehr als zweihundert Jahre lang als verbindliche Grundlage der gesamten Physik dienen wird. Mehr noch als von einer kopernikanischen ist man deshalb heute geneigt, von einer newtonschen Revolution zu sprechen.26 Zu Beginn der „Principia“ definiert Newton einige grundsätzliche Begriffe wie „Masse“, „Trägheit“ und „Kraft“. Er führt ferner aus, daß er die Begriffe „Raum“, „Zeit“, „Ort“ und „Bewegung“ als bekannt voraussetze, merkt aber an, daß man gewöhnlich diese Größen nicht anders als in der Beziehung auf sinnlich Wahrnehmbares auffasse. „Und daraus entstehen gewisse Vorurteile“, so fährt Newton hier fort, „zu deren Aufhebung man sie zweckmäßig in absolute und relative, wirkliche und scheinbare, mathematische und landläufige Größen unterscheidet.“27 Im Anschluß daran gibt Newton dann unter anderem Definitionen der absoluten Zeit, des absoluten Raumes, des absoluten Ortes und der absoluten Bewegung: „Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung ‚Dauer‘.[...] Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich. Der relative Raum ist dessen Maß oder ein beliebiger veränderlicher Ausschnitt daraus, welcher von unseren Sinnen durch seine Lage in Beziehung auf Körper bestimmt wird, mit dem gemeinhin anstelle des unbeweglichen Raumes gearbeitet wird [...]. Ort ist derjenige Teil des Raumes, den ein Körper einnimmt, und er ist je nach dem Verhältnis des Raumes entweder absolut oder relativ. [...] Die absolute Bewegung ist die Fortbewegung eines Körpers von einem absoluten Ort zu einem absoluten Ort, die relative die Ortsveränderung von einem relativen Ort zu einem relativen.“28 Innerhalb des von Raum und Zeit vorgegebenen Rahmens laufen die physikalischen Naturvorgänge streng gesetzlich ab, und es ist erklärtes Ziel der Physik, diese Vorgänge mit Hilfe der Mathematik einer mechanischen und kausalen Erklärung zugänglich zu machen. In diesem Sinne hatte schon Johannes Kepler unbeschadet seiner religiösen Überzeugung ein mechanisches Verständnis des gesamten Kosmos gefordert: „Mein Ziel [...] ist es zu zeigen, daß die himmlische Maschine nicht eine Art göttlichen Lebewesens ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk (wer glaubt, daß die Uhr beseelt ist, der überträgt die Ehre des Meisters auf das Werk), insofern darin nahezu alle die mannigfaltigen Bewegungen von einer einzigen ganz einfachen magnetischen Kraft besorgt werden, wie bei einem Uhrwerk alle die Bewegungen von dem so einfachen Gewicht.“29 25 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 28. Vgl. K. v. Meyenn, Triumph und Krise der Mechanik, 17; vgl. dazu auch I. B. Cohen, Newtons Gravitationsgesetz, 124, sowie ders., Revolution in Science, Cambridge 1985. 27 I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 43. 28 A.a.O., 44f. 29 J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 10.2.1605, in: M. Caspar/W. v. Dyck (Hg.), Johan26 38 Kepler hatte aufgrund der Auswertung der empirischen Daten Tycho Brahes die drei Gesetze der Planetenbewegung entdeckt und damit einen wesentlichen Schritt in Richtung auf das von ihm genannte Ziel getan. Aber zugleich war sich Kepler auch bewußt, daß die notwendige Kenntnis einer „Definition der Schwere“30 noch ausstehe. Aus Newtons universellem Gravitationsgesetz lassen sich nun aber sowohl die Keplerschen Gesetze als auch die Galileischen Bewegungsgesetze mathematisch ableiten und damit in einer bis dahin ungekannten Präzision himmlische und irdische Vorgänge rekonstruieren und prognostizieren. Die Newtonsche Mechanik führt so den Beweis, „daß auf empirischer Grundlage eine mathematisch strenge, deterministische Naturwissenschaft gefunden werden kann“31. Während Newton in einem Abschnitt der „Principia“ noch am Rande auf Gott zu sprechen kommt, der „ewig und unendlich, allmächtig und allwissend“32 sei, tauchen in der Durchführung und Weiterentwicklung des newtonschen Konzepts theologische Fragen nicht mehr auf. Die Vorstellung mechanischer Erklärbarkeit prägt die Arbeitsweise der Naturwissenschaften bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Für Eduard Jan Dijksterhuis ist „mit dem Erscheinen von Newtons Principia [...] die Mechanisierung des Weltbildes [...] im Prinzip vollzogen; dem Studium der Natur ist ein Ziel gesteckt worden, das [der klassischen Naturwissenschaft] zwei Jahrhunderte lang als das einzig denkbare vor Augen stehen und sie zu großen Taten inspirieren wird“33. Im Jahr 1884 geht Max Planck bei seiner Antrittsrede vor der Akademie der Wissenschaften darauf ein, daß sich neuerdings in der physikalischen Forschung auch das Bestreben Bahn breche, den Zusammenhang – heute würde man sagen die Einheit – der Erscheinungen nicht mehr in der Mechanik zu suchen. Trotz des Anscheins, „als ob sich die gegenwärtige Richtung in der Physik von der mechanischen Naturauffassung entferne oder wenigstens ihrer entbehren könne“34, läßt Planck damals noch keinen Zweifel daran, daß sich seines Erachtens die Einheit der Physik auf keinem physikalischen Gebiet besser durchführen lasse als in der Mechanik. 35 nes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, 219. J. Kepler an Herwart von Hohenburg, 28.3.1605, a.a.O., Bd. 1, 227. 31 C. F. v. Weizsäcker, Geleitwort zu: K.-D. Buchholtz, Isaac Newton als Theologe, 5. 32 I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 227. Newton erklärt insbesondere die Tatsache, daß alle Planeten unseres Sonnensystems im gleichen Drehsinn die Sonne umkreisen und dabei ihre Bahnebenen nahezu zusammenfallen, durch göttliche Verursachung (vgl. a.a.O., 226). Unabhängig davon befaßt sich Newton in zahlreichen, zu Lebzeiten größtenteils unveröffentlichten Schriften mit theologischen Fragen. „Weder solle man metaphysische Spekulationen in die Religion einführen, noch die Wissenschaft mit Glaubensfragen belasten“, faßt K.-D. Buchholtz das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft bei Newton zusammen. Gleichwohl habe sich Newton bemüht, „in dem sich wandelnden Weltbild einen Platz für Gott freizuhalten, der der Wissenschaft nicht zugänglich ist“ (K.-D. Buchholtz, Isaac Newton als Theologe, 78). 33 E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 550. 34 M. Planck in seinen Akademieansprachen, 3f. 35 Vgl. a.a.O., 4. 30 39 Im gleichen Jahr bemerkt der englische Physiker William Thomson, der spätere Lord Kelvin, im Hinblick auf die elektromagnetische Theorie des Lichts, daß ihm physikalisches Verstehen gleichbedeutend sei mit der Konstruktion eines mechanischen Modells des Gegenstandes, mit dem er sich befasse: „I never satisfy myself until I can make a mechanical model of a thing. If I can make a mechanical model I can understand it. As long as I cannot make a mechanical model all the way through I cannot understand; and that is why I cannot get the electro-magnetic theory. [...] I want to understand light as well as I can without introducing things that we understand even less of.“36 Solche damals verbreiteten Vorbehalte gegen nicht mechanische Erklärungsmodelle der Lichtausbreitung weisen aber zugleich darauf hin, daß gerade die Anstrengungen, die Ausbreitung des Lichts mechanisch zu erklären, die Physiker des 19. Jahrhunderts vor schließlich unlösbare Probleme stellen. In letzter Konsequenz führen diese Versuche sowohl zur Preisgabe der Annahme, daß die Natur als ein mechanisches System begreifbar sein müsse, als auch zu der Aufgabe der Vorstellungen eines „absoluten Raumes“ und einer „absoluten Zeit“. III. Krise der klassischen Physik In der schon zwischen Isaac Newton und Christian Huygens kontrovers diskutierten Frage, ob die Natur des Lichts in der Teilchen- oder der Wellentheorie richtig gedeutet werde, behauptet sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eindeutig die Wellentheorie. Betrachtet man aber das Licht als eine wellenartige Erscheinung, und versucht man sie darüber hinaus als mechanische Welle zu begreifen, so macht dies einen Wellenträger, über den sich die Welle fortpflanzen kann, erforderlich: Schallwellen haben die Luft als Wellenträger, Meereswellen das Wasser usw. Aus diesem Grund wird als Träger der Lichtwellen der „Äther“37 wieder eingeführt – hypothetisch freilich, denn experi36 W. Thomson, Baltimore Lectures, 206. Platon und Aristoteles lehnen die Möglichkeit eines „Leeren“ (NHQRQ ab (vgl. Platon, Timaios, 58b, 60c, 79bc und 80c; vgl. Aristoteles, Physik, 213a–217b). Der „Äther“ (DLTKU) ist für Platon die „durchsichtigste Art“ (Timaios 58d) des Elements Luft. Man versteht dann den Äther als quinta essentia, als feinsten Urstoff, der den Himmelsraum jenseits des Mondes ausfüllen soll. Im Mittelalter (Isidor v. Sevilla, Albert der Große u.a.), in der Renaissance (Agrippa von Nettesheim, Ph. T. Paracelsus) und in der Romantik (L. Oken, Ph. Spiller) werden im Anschluß an die griechische Antike diverse neue Äthervorstellungen entwickelt (vgl. M. Kurdzialek, Art. Äther, Sp. 559–602); mit R. Descartes, C. Huygens und I. Newton beginnen dann die Äthertheorien im Sinne der neuzeitlichen Physik: als hypothetisches Medium soll der Äther nicht nur die Ausbreitung von Licht erklären, sondern darüber hinaus auch die Vermittlung von Fernkräften, insbesondere von Gravitationskräften ermöglichen (vgl. dazu P. Janich, Art. Äther, 209f). 37 40 mentell nachweisen läßt sich ein derartiger Stoff, der beispielsweise auch den Raum zwischen Sonne und Erde vollständig ausfüllen müßte, nicht. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich in dieser Zeit aus der Erkenntnis, daß es sich bei Licht um Querwellen handeln muß (Auguste Fresnel und Thomas Young, 1817): Querwellen benötigen zur Ausbreitung einen festen Träger. Da die hohe Geschwindigkeit der Lichtausbreitung damals schon bekannt ist, ist sogar ein annähernd starrer Körper als Lichtmedium gefordert – der aber zugleich der Bewegung materieller Körper keinerlei Widerstand entgegensetzen darf, da sich ja zum Beispiel die Erde offensichtlich ungehindert um die Sonne bewegen kann. Trotz der genannten Widersprüche wollen sich im 19. Jahrhundert viele Physiker nur ungern vom „Äther“ trennen. Denn bereits Newton hat die Schwierigkeit erkannt, einen „absoluten Raum“ experimentell nachzuweisen,38 und jetzt scheint sich der „Äther“, der den ganzen Weltraum ausfüllen soll, als eine Vergegenständlichung dieses absoluten Raumes anzubieten, auf den jede Bewegung bezogen werden könnte. Nur nebenbei sei hier schon bemerkt, daß neuscholastische Theologen an der Ätherhypothese später auch noch festhalten werden, als diese von den Physikern längst aufgegeben worden ist, um mit einem materiellen Träger der Lichtwellen zugleich die traditionelle Unterscheidung von Substanz und Akzidens zu retten. 39 Albert Abraham Michelson und Edward Williams Morley versuchen im Jahr 1887 die Bewegung der Erde gegen den ruhenden Äther nachzuweisen. Dazu bestimmen sie in einer höchst genauen Messung die Lichtgeschwindigkeit sowohl in Bewegungsrichtung der Erde als auch senkrecht dazu. Sofern die Erde tatsächlich durch den ruhenden Lichtwellenträger Äther „schwimmen“ würde, müßte man bei diesem Versuch unterschiedliche Geschwindigkeiten erwarten. Diese Erwartung wird enttäuscht. Es ergibt sich in beiden genannten Fällen und auch bei allen weiteren entsprechenden Versuchen stets derselbe Betrag der Lichtgeschwindigkeit. Dieses Ergebnis zählt zu den meistdiskutierten und bestbestätigten der gesmaten Physikgeschichte. Obwohl damit der direkte Nachweis eines Äthers mißglückt ist, gibt es noch einige Zeit verschiedene Anstrengungen, dieses Ergebnis entweder zu widerlegen oder mit der Ätherhypothese zu vereinbaren.40 Sie alle führen jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis. 38 „Die wahren Bewegungen der einzelnen Körper zu erkennen und von den scheinbaren durch den wirklichen Vollzug zu unterscheiden, ist freilich sehr schwer, weil die Teile jenes unbeweglichen Raumes, in dem die Körper sich wirklich bewegen, nicht sinnlich erfahren werden können“ (I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 51). Newton nannte allerdings zwei Experimente, die er irrtümlich für geeignet hielt, Größe und Richtung einer Bewegung gegen den absoluten Raum messen zu können (vgl. a.a.O., 51f). 39 Vgl. dazu 4. Kap. II. 5. vorliegender Arbeit. 40 So etwa Armand Fizeau (1893), der annimmt, daß die Erde wie ihre Atmosphäre so auch den Äther mit sich führt, oder noch Walter Ritz (1908), der den Michelson-Versuch durch eine Wiederbelebung der alten Korpuskular- und Emissionstheorie zu erklären versucht; vgl. H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 100. 41 Als Resultat dieser vielfältigen Bemühungen zeigt sich aber immer deutlicher, daß der Versuch der klassischen Physik, die physikalischen Vorgänge auf rein mechanische Weise zu begreifen, an seine Grenzen gestoßen ist. Zugleich verstärken sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zweifel an den Begriffsdefinitionen, die Newton seinem System der Mechanik vorangestellt hatte. Der österreichische Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach kritisiert im Jahr 1883 in einer nachhaltig wirksamen Veröffentlichung insbesondere die Vorstellungen einer absoluten Bewegung, einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes. Eine Bewegung könne zwar gleichförmig sein in Bezug auf eine andere, die Frage aber, ob diese Bewegung an sich gleichförmig sei, habe keinerlei Sinn. „Ebensowenig können wir von einer ‚absoluten Zeit‘ (unabhängig von jeder Veränderung) sprechen“, schreibt Mach weiter, „diese absolute Zeit kann an gar keiner Bewegung abgemessen werden, sie hat also gar keinen praktischen und auch keinen wissenschaftlichen Wert, niemand ist berechtigt zu sagen, daß er von derselben etwas wisse, sie ist ein müßiger ‚metaphysischer‘ Begriff.“41 Alle Massen, Geschwindigkeiten und Kräfte sind für Mach relativ, und er sieht noch nicht einmal einen Vorteil, den eine etwaige Entscheidungsmöglichkeit über Relatives und Absolutes mit sich bringen würde. „Über den absoluten Raum und die absolute Bewegung kann niemand etwas aussagen, sie sind bloße Gedankendinge, die in der Erfahrung nicht aufgezeigt werden können. Alle unsere Grundsätze der Mechanik sind [...] Erfahrungen über relative Lagen und Bewegungen der Körper.“42 Die tatsächlichen Auswirkungen der erkenntniskritischen Gedanken Machs auf die Entwicklung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein sind bis heute umstritten. Jedenfalls ist bekannt, daß sich Einstein während seiner Studienzeit intensiv mit Machs hier zitierter Schrift auseinandersetzt43 und Einstein selbst es später „für nicht unwahrscheinlich“ hält, „daß Mach auf die Relativitätstheorie gekommen wäre, wenn in der Zeit, als er jugendfrischen Geistes war, die Frage nach der Bedeutung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit schon die Physiker bewegt hätte.“44 Die experimentell erwiesene Konstanz der Lichtgeschwindigkeit fordert die Physiker um die Wende zum 20. Jahrhundert heraus, weil sie in eklatantem Widerspruch zu Galileis Relativitätsprinzip – einem Grundprinzip der klassischen Physik – zu stehen scheint. Dieses besagt, daß beispielsweise in einem mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig fahrenden Zug dieselben physikalischen Gesetze gelten wie im stehenden Zug. Allgemeiner formuliert: In zwei Bezugssystemen, die sich geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit relativ zueinander bewegen, verlaufen die Bewegungen nach denselben Gesetzen. Mit Hilfe einfacher Umrechnungsgleichungen (der „Galilei-Transformation“) kann man im Rahmen der klassischen Mechanik berechnen, wie 41 42 43 44 E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 217. A.a.O., 222f. Vgl. dazu z. B. J. Wickert, Albert Einstein, 21, 25, 33f. A. Einstein, Ernst Mach, 103. 42 sich zum Beispiel die Geschwindigkeiten verändern, wenn man das Bezugssystem wechselt. Die Experimente von Michelson und Morley lassen sich nicht mehr so einfach erklären. Für die Lichtgeschwindigkeit wird unabhängig vom Bezugssystem und dessen Relativbewegung stets derselbe Wert gemessen. Ist damit das Galileische Relativitätsprinzip widerlegt? Oder sind nur die Umrechnungsgleichungen zwischen den Bezugssystemen nicht korrekt? Auf analoge Schwierigkeiten stößt man um die Jahrhundertwende auch von anderer Seite her. Im Jahr 1866 stellt der englische Physiker und Wissenschaftstheoretiker James Clerk Maxwell ein Gleichungssystem auf, das die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen45 beschreiben kann. Es gelingt ihm auch, daraus einen relativ exakten Wert für die Lichtgeschwindigkeit abzuleiten, was ein weiterer Hinweis darauf ist, daß es sich bei Licht tatsächlich um elektromagnetische Wellen handelt. Allerdings zeigt sich auch hier, daß bei einem Wechsel des Bezugssystems die Umrechnungsgleichungen der GalileiTransformation die Maxwellschen Gleichungen verändern, diese sich demnach nicht als „galileiinvariant“ erweisen. Im Jahr 1904 legt der niederländische Physiker Hendrik Antoon Lorentz nun neue Transformationsgleichungen vor und weist nach, daß man mit diesen Umrechnungsgleichungen (der späteren „Lorentz-Transformation“) das Bezugssystem wechseln kann, ohne dabei die Maxwell-Gleichungen zu verändern.46 Die Mathematiker Larmor (1900) und Henry Poincaré (1905) kommen zu denselben Ergebnissen. Das heißt, die Invarianz der Maxwellschen Gleichungen gegenüber der Lorentz-Transformation ist aufgezeigt.47 Die gegenüber der Galilei-Transformation kompliziertere Lorentz-Transformation weist freilich die erstaunliche Eigenart auf, daß bei einem Wechsel des Bezugssystems auch die Zeit transformiert werden muß. Mit Lorentz‘ Worten: „Man muß in einem gleichförmig bewegten System ein anderes Zeitmaß verwenden.“48 Allerdings geht Lorentz, der auch die Äthervorstellung retten will, noch von einem bevorzugten Bezugssystem aus, und unterscheidet eine „wahre“ oder „absolute Zeit“ von den zu errechnenden „Ortszeiten“ anderer Bezugssysteme. Im Jahr 1904 hält Henri Poincaré in St. Louis einen Vortrag über den „Stand der theoretischen Physik an der Jahrhundertwende“. Das Ergebnis von Michelsons Versuch, so führt Poincaré aus, habe die theoretischen Physiker gezwun45 Zu den elektromagnetischen Wellen zählen beispielsweise Radio- und Mikrowellen, Infrarot-, Ultraviolett- und Röntgenstrahlen, das sichtbare Licht und die kosmische Höhenstrahlung. 46 H. A. Lorentz, Elektromagnetische Erscheinungen in einem System, das sich mit beliebiger, die des Lichtes nicht erreichender Geschwindigkeit bewegt, 10 (und dort die später hinzugefügte Anm. 1). 47 M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 191, weist darauf hin, daß die Formel, die später Lorentz-Transformation heißt, schon im Jahr 1887 von W. Voigt in einer Dissertation aufgestellt wurde, die noch auf die elastische Äthertheorie des Lichts gegründet war. 48 Zit. in: M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 191. 43 gen, alle ihre Geisteskräfte anzustrengen, um das Relativitätsprinzip zu verteidigen. „Ihre Aufgabe war nicht leicht, und wenn Lorentz durchgekommen ist, so geschah dies nur, indem er Hypothese auf Hypothese häufte.“49 Das Relativitätsprinzip sei in den letzten Zeiten zwar vehement verteidigt worden, aber gerade „die starke Energie der Verteidigung [zeige], wie ernsthaft der Angriff war“50. Zur Gesamtsituation der Physik bemerkt Poincaré: „Es gibt Anzeichen einer ernstlichen Krise, so, als ob wir auf eine baldige Veränderung gefaßt sein müßten. Lassen wir uns jedoch nicht allzusehr beunruhigen! Wir sind überzeugt, daß der Patient nicht daran sterben wird, und wir können sogar hoffen, daß diese Krise heilsam sein wird. Dies scheint durch die bisherige Entwicklung garantiert zu sein.“51 49 H. Poincaré, Der Stand der theoretischen Physik, 196. A.a.O., 197. 51 A.a.O., 146; vgl. auch das Kapitel über „Die gegenwärtige Krisis in der mathematischen Physik“ in: H. Poincaré, Der Wert der Wissenschaft, 136–151. 50 44 Zweites Kapitel: Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie I. Albert Einsteins neuer Ansatz Im Jahr 1905 veröffentlicht Albert Einstein, damals noch Angestellter am Patentamt in Bern, in der maßgeblichen physikalischen Fachzeitschrift „Annalen der Physik“ innerhalb weniger Monate drei Arbeiten, deren Inhalt die Physiker bis heute zu Superlativen greifen läßt. Eine jede dieser Arbeiten für sich allein hätte genügt, so schreibt zum Beispiel der italienische Atomphysiker und Nobelpreisträger Emilio Segrè, um Einstein unsterblich zu machen.1 Die erste Arbeit befaßt sich mit dem „lichtelektrischen Effekt“ und war nach Max Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums im Jahr 1900 ein wichtiger Schritt zur weiteren Entwicklung der Quantentheorie.2 Die zweite Arbeit thematisiert die „Brownsche Molekularbewegung“ und kann damalige Skeptiker unter den Naturwissenschaftlern von der realen Existenz der Atome überzeugen. In der dritten Arbeit mit dem Titel „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“3 entwickelt Einstein schließlich die spezielle Relativitätstheorie. Wer rückblickend die im vorigen Abschnitt dargestellte Entwicklung betrachtet, die nun zur speziellen Relativitätstheorie Einsteins führt, mag den originären Beitrag Einsteins möglicherweise weitaus geringer einstufen, als dies gemeinhin geschieht.4 Sind nicht alle „revolutionären“ Entdeckungen bereits gemacht? Die Lorentz-Transformation, die erstaunlicherweise auch eine Transformation der Zeit erforderlich macht, liegt genauso vor wie die experimentell gut belegte Unabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit vom jeweiligen Bezugssystem. Wer aus diesem Grund die Leistung Einsteins schmälern will, verkennt freilich die Tatsache, daß erst ein grundsätzlicher Neuansatz und ein neues Prinzip die umfassende Lösung ermöglichen kann, die Einstein aufzeigt.5 Einsteins überragende Bedeutung besteht eben darin, daß er ganz verschiedene, teils vor ihm teils zeitgleich mit ihm von Mathematikern und Physikern herausgearbeitete Erkenntnisse in den Disziplinen Mathematik, 1 Vgl. E. Segrè, Die großen Physiker, Bd. 2, 90f. Vgl. 5. Kap. III. 1. vorliegender Arbeit. 3 A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, in: Annalen der Physik 17 (1905), 891–921; wiederabgedruckt in: H. A. Lorentz u.a., Das Relativitätsprinzip, 26–50. 4 E. Whittaker, A History of the Theories of Aether and Electricity, 27, vgl. 40, schreibt die Entdeckung der speziellen Relativitätstheorie vor allem H. A. Lorentz und H. Poincaré zu; noch K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 404, bezeichnet im Anschluß daran Lorentz, Einstein und Poincaré als „Väter der Relativitätstheorie“ und weist insbesondere Einstein eine eher bescheidene Nebenrolle zu (398); vgl. dazu die gegenteilige Stellungnahme von M. Born, Physik und Relativität, 187f. 5 Vgl. dazu H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 109. 2 45 Mechanik, Gravitationstheorie, Elektrodynamik, und Optik in einen neuen Zusammenhang stellt: „Erst im wissenschaftlichen Werk Einsteins konvergieren [...] die von anderen Denkern nur isoliert verfolgten Ideenstränge in einer kohärenten und auch experimentell stimmigen R[elativitäts]t[heorie].“6 Einstein unterscheidet in der Physik zwei verschiedene Arten von Theorien, konstruktive oder synthetische Theorien und Prinziptheorien. Konstruktive Theorien, die viel häufiger vorkommen, „suchen aus einem relativ einfachen zugrunde gelegten Formalismus ein Bild der komplexeren Erscheinungen zu konstruieren“7. Als Beispiel hierfür nennt Einstein die kinetische Gastheorie, die die thermischen Diffusionsvorgänge aus der Hypothese der Molekularbewegung zu erklären versucht. Im Unterschied dazu zählt Einstein die Relativitätstheorie zur Klasse der Prinziptheorien: „Diese bedienen sich nicht der synthetischen, sondern der analytischen Methode. Ausgangspunkt und Basis bilden nicht hypothetische Konstruktionselemente, sondern empirisch gefundene, allgemeine Eigenschaften der Naturvorgänge, Prinzipien, aus denen dann mathematisch formulierte Kriterien folgen, denen die einzelnen Vorgänge bzw. deren theoretische Bilder zu genügen haben.“ 8 Der Vorteil von konstruktiven Theorien liegt für Einstein in ihrer Vollständigkeit, Anpassungsfähigkeit und Anschaulichkeit. Prinziptheorien wie die spezielle Relativitätstheorie zeichnen sich nach Einstein dagegen durch ihre logische Vollkommenheit und durch ihre experimentell gesicherte Grundlage aus. Um das Wesen der speziellen Relativitätstheorie zu erfassen, „muß man also in erster Linie die Prinzipe kennenlernen, auf denen sie beruht“9. Das erste dieser Prinzipien ist das Prinzip der Relativität, das zweite das der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Das Relativitätsprinzip: Auf das Galileische Relativitätsprinzip wurde bereits im vorigen Kapitel hingewiesen. Demnach gelten in zwei relativ zueinander geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit bewegten Bezugssystemen dieselben mechanischen Naturgesetze. Beide Systeme sind physikalisch völlig gleichberechtigt. Dieser Sachverhalt wurde für den Bereich der Mechanik schon von Galilei entdeckt und bewährte sich hier in der Folgezeit sehr gut. Schwierigkeiten entstanden aber, wie im vorigen Kapitel erwähnt, als Versuche unternommen wurden, dieses Relativitätsprinzip auch auf elektrodynamische Vorgänge und insbesondere auf die Lichtausbreitung anzuwenden. Einstein postuliert nun, daß das Relativitätsprinzip für alle Naturvorgänge gültig sein soll und formuliert ganz allgemein für die entsprechenden Gesetze: 6 K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 3. 7 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 210. 8 A.a.O., 210f (Hervorhebungen vom Verf.). 9 A.a.O., 211. 46 „Die Gesetze, nach denen sich die Zustände der physikalischen Systeme ändern, sind unabhängig davon, auf welches von zwei relativ zueinander in gleichförmiger Translationsbewegung befindlichen Koordinatensystemen diese Zustandsänderungen bezogen werden.“10 Zur Begründung dieser Verallgemeinerung verweist Einstein auf die Tatsache, daß sich das Relativitätsprinzip innerhalb der Mechanik sehr gut bewährt habe: „Daß aber ein Prinzip von so großer Allgemeinheit, welches auf einem Erscheinungsgebiete mit solcher Exaktheit gilt, einem anderen Erscheinungsgebiete gegenüber versage, ist apriori wenig wahrscheinlich.“ 11 Damit wird die Identität aller Naturgesetze in allen zueinander gleichförmiggeradlinig bewegten Systemen behauptet. Einstein selbst sieht dieses Postulat „durch die Erfahrung mächtig gestützt“12. Auch ein ansonsten nicht zur Emphase neigendes Physiklehrbuch bestätigt Einstein zwar, daß dieses Postulat durch die Erfahrung tatsächlich bestens gesichert sei, bemerkt aber zugleich, daß die von Einstein vorgeführte „Behandlungsweise ‚gordischer‘ Probleme brutal [sei] und sich durch ihre Folgen rechtfertigen [müsse]“13. Das zweite Prinzip, auf der die spezielle Relativitätstheorie beruht, ist die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: Vergeblich versuchten die Experimentalphysiker im 19. Jahrhundert eine Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit vom Bewegungszustand des Beobachters nachzuweisen. Dieses negative Ergebnis konnte in keine der vorliegenden Theorien zufriedenstellend eingeordnet werden. Einstein kehrt nun die Vorgehensweise um, indem er nicht mehr eine Erklärung dieses Ergebnisses unter den traditionellen, hier konstruktiv vorgehenden Theorien sucht, sondern die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zum Ausgangspunkt einer neuen Prinziptheorie nimmt. Entsprechend postuliert Einstein: „Jeder Lichtstrahl bewegt sich im ‚ruhenden‘ Koordinatensystem mit der bestimmten Geschwindigkeit V, unabhängig davon, ob dieser Lichtstrahl von einem ruhenden oder bewegten Körper emittiert ist.“14 Das bisher unerklärliche Faktum, so kommentiert Hans Sachsse Einsteins Vorgehen, werde damit als Axiom der Theorie vorangestellt. Einstein nehme gerade das Phänomen, das sich nicht als Konsequenz aus anderen Vorstellungen habe ableiten lassen, nun zur Voraussetzung und zum Angelpunkt der neuen Betrachtungsweise. Das führt zu einer grundlegenden Umorientierung des ganzen Gedankensystems.15 Auch im Zusammenhang mit diesem Postulat betont Einstein, daß er damit kein hypothetisches Konstruktionselement an den Anfang seiner Theorie 10 A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 29. Ders., Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 9. 12 Ders., Was ist Relativitätstheorie? 213. 13 C. Gerthsen/H. O. Kneser/H. Vogel, Physik, 643. 14 A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 29. Gewöhnlich wird heute die Lichtgeschwindigkeit mit c bezeichnet. 15 Vgl. H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 110. 11 47 stelle, sondern ein „empirisches Gesetz“16. Wiederholt hebt Einstein hervor, daß die Relativitätstheorie nicht spekulativen Ursprungs sei, sondern ihre Entdeckung nur der Bestrebung verdanke, „die physikalische Theorie den beobachteten Tatsachen so gut als nur möglich anzupassen“17. Mit dem verallgemeinerten Relativitätsprinzip und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sind die beiden Prinzipien genannt, die nun einer weiteren Deduktion als Basis dienen können. Aus diesen Prinzipien folgen jetzt „mathematisch formulierte Kriterien [...], denen die einzelnen Vorgänge bzw. deren theoretische Bilder zu genügen haben“18. Dabei ergeben sich überraschende Folgerungen und ungeahnte Zusammenhänge, „welche über das Tatsachengebiet, an dem die Prinzipe gewonnen sind, weit hinausreichen“19. Im folgenden Abschnitt wird auf einige Konsequenzen, die Einstein selbst aus seinem neuen Ansatz zieht, hingewiesen. II. Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie Für alle physikalischen Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie, die in diesem Abschnitt in knapper Form vorgestellt werden, gilt: w Sie ergeben sich durch relativ einfache mathematische Ableitungen aus den beiden Postulaten, die Einstein seiner Theorie zugrunde legt; w sie stehen im Widerspruch zu unserer alltäglichen Erfahrung, erscheinen dem „gesunden Menschenverstand“ geradezu als paradox und entziehen sich weitgehend anschaulicher Vorstellung; und w sie gestatten Voraussagen, die experimentell bestätigt werden können. 1. Relativität der Gleichzeitigkeit Der Gedanke, es gebe ein objektiv feststellbares „Jetzt“ unseres Universums, erscheint selbstverständlich. Das mit „das Universum jetzt“ bezeichnete Ereignis, das die Gleichzeitigkeit aller Vorgänge in unserem Universum behauptet, die sich „in diesem Augenblick“ ereignen, erweist sich physikalisch betrachtet jedoch als problematisch und eben nicht von objektiver Gültigkeit. Um sich an unterschiedlichen Orten über gleiche Zeiten zu verständigen, muß man sich mit Signalen behelfen. Als solche Signale kann 16 A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 239; vgl. ders., Was ist Relativitätstheorie? 210f. 17 Ders., Über Relativitätstheorie, 217. 18 Ders., Was ist Relativitätstheorie? 211. 19 Ders., Prinzipien der theoretischen Physik, 182. 48 man elektromagnetische Wellen wie zum Beispiel Lichtsignale verwenden. Diese aber breiten sich – anders als Newton vorausgesetzt hatte – nicht instantan, sondern nur mit einer endlichen Geschwindigkeit aus. Für die sich daraus zusammen mit der bezugssystemunabhängigen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ergebenden Komplikationen gibt Einstein ein Beispiel, das hier in etwas abgewandelter Form vorgestellt wird.20 Ein Eisenbahnwagen (Bezugssystem K') bewege sich mit der konstanten Geschwindigkeit v gegenüber dem Bahndamm (Bezugssystem K). Genau in der Mitte des Eisenbahnwagens am Punkt x' wird ein Lichtblitz ausgesandt, der sich nach beiden Seiten des Zuges ausbreitet. Für einen Beobachter, der sich in x' befindet, erreichen die Lichtblitze das vordere und hintere Ende des Wagens gleichzeitig. Ein Beobachter auf dem Bahndamm registriert die Ereignisse anders. Bezogen auf seinen Standpunkt bewegt sich das hintere Ende des Zuges auf den Lichtblitz zu, wohingegen sich das vordere Ende des Zuges vom Lichtblitz wegbewegt. Für diesen Beobachter erreicht der Lichtblitz zuerst das hintere und erst etwas später das vordere Ende des Zuges. Ein im Bezugssystem K' (Eisenbahnwagen) gleichzeitiges Ereignis erweist sich somit im Bezugssystem K (Bahndamm) als ungleichzeitig. Dieses scheinbar paradoxe Ergebnis ist eine direkte Konsequenz aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: sowohl in K als auch in K' wird dieselbe Geschwindigkeit des Lichtblitzes gemessen.21 Da wegen des Relativitätsprinzips kein Bezugssystem vor dem anderen ausgezeichnet ist, kann weder der Beobachter in K noch derjenige in K' behaupten, er registriere den „richtigen“ zeitlichen Zusammenhang. Die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse kann damit nur im Hinblick auf ein bestimmtes Bezugssystem behauptet werden. 2. Zeitdilatation und Längenkontraktion Geschwindigkeit ist definiert als zurückgelegte Wegstrecke pro Zeiteinheit. Um die Lichtgeschwindigkeit zu messen, muß man demnach die Zeit messen, die das Licht für eine bestimmte Wegstrecke benötigt. In zwei relativ zueinander bewegten Bezugssystemen wird für den gleichen Lichtblitz derselbe Geschwindigkeitsbetrag gemessen. Dies ist aber nur denkbar, wenn in beiden Bezugssystemen unterschiedliche Maßstäbe für Weg und Zeit verwendet werden. Diese Maßstäbe müssen beim Wechsel des Bezugssystems gerade so verändert werden, daß sich in beiden Bezugssystemen jeweils der vorausgesetzte (aber experimentell bestätigte) konstante Betrag der Lichtgeschwindigkeit ergibt. Als die Umrechnungsgleichungen, die diese 20 Vgl. ders., Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 15f. Dieses Beispiel ist bereits vor dem Jahr 1905 diskutiert worden; vgl. H. Poincaré, Der Stand der theoretischen Physik, 196. 21 Entsprechend der klassischen Physik und der Galilei-Transformation müßte man dagegen im Bezugssystem K zur Lichtgeschwindigkeit in Fahrtrichtung des Zuges noch den Betrag der Zuggeschwindigkeit addieren. 49 Anpassung der Raum- und Zeitkoordinaten vornehmen, ergeben sich nun gerade die schon vor Einstein bekannten Lorentzschen Transformationsgleichungen. Ursprünglich waren diese Gleichungen nur Ad-hoc-Lösungen, die sich in keinen größeren Zusammenhang sinnvoll einordnen ließen. Nun können sie elegant aus Einsteins Postulaten abgeleitet und physikalisch gedeutet werden. Aus den Transformationsgleichungen können nun weiterhin die verschiedenen bekannten Merkwürdigkeiten der speziellen Relativitätstheorie abgeleitet werden. Dazu zählt zunächst die Zeitdilatation oder Zeitdehnung: Ein Beobachter am Bahndamm stellt fest, daß aus seiner Perspektive im vorbeifahrenden Zug die Zeit langsamer vergeht („bewegte Uhren gehen langsamer“). Wegen der Gleichwertigkeit der Bezugssysteme muß sich diese Feststellung natürlich auch umkehren lassen. Für einen Beobachter im Zug geht die gegenüber seinem Bezugssystem bewegte Uhr am Bahndamm ebenfalls langsamer. Eine weitere Merkwürdigkeit ist die relativistische Längenkontraktion: An einem gegenüber dem Bezugssystem K bewegten Körper werden Strecken, die in Bewegungsrichtung liegen, kürzer gemessen als im Bezugssystem K', das sich mit dem Körper mitbewegt. 3. Raum-Zeit-Kontinuum und beschränkter Kausalzusammenhang Die Relativität der Gleichzeitigkeit zeigte bereits, daß die Relativitätstheorie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Raum und Zeit aufweist: Eine räumliche Bewegung beeinflußt den zeitlichen Zusammenhang zweier Ereignisse. Raum und Zeit sind nicht, wie die klassische Physik annahm, absolut voneinander getrennt, sondern bilden ein „Raum-Zeit-Kontinuum“. Dem Mathematiker Hermann Minkowski, einem früheren Lehrer Einsteins, gelingt es bald nach Veröffentlichung der speziellen Relativitätstheorie, diese Theorie als Geometrie im vierdimensionalen Raum mit drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension zu formulieren. „Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte“, erklärt Minkowski dazu in einem Vortrag im Jahr 1908, „sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“22 Einstein selbst schreibt dazu: „Mit der Erkenntnis der Relativität der Gleichzeitigkeit wurden Raum und Zeit in ähnlicher Weise zu einem einheitlichen Kontinuum verschmolzen, wie vorher [in der klassischen Physik] die drei räumlichen Dimensionen zu einem einheitlichen Kontinuum verschmolzen worden waren. Der physikalische Raum wurde so zu einem vierdimensionalen Raum ergänzt, der auch die zeitliche Dimension enthält.“23 22 23 H. Minkowski, Raum und Zeit, 54. A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 237f. 50 Zwar läßt sich eine vierdimensionale Raum-Zeit nicht vorstellen, aber unter Verzicht auf zwei Raumdimensionen lassen sich immerhin anschauliche Raum-Zeit-Diagramme zeichnen. Im folgenden werden zwei Diagramme verwendet, bei denen die Zeit nach oben hin zunimmt und räumliche Entfernungen waagerecht abgebildet werden. Ein Punkt in diesem Diagramm ist ein Ereignis, das sich in einem hinreichend kleinen Raum- und Zeitbereich abspielt. In Abbildung 1 ist zum Beispiel der Punkt A das Ereignis „Die Erde jetzt“, der Punkt B das Ereignis „Die Sonne vor acht Minuten“ und der Punkt D das Ereignis „Die Erde in acht Zeit "Erde in 8 Minuten" Minuten“.24 Ein Körper, der im Abbildung 1 D gewählten Bezugssystem ruht, wird im Diagramm als zur Zeitachse parallele Gerade dargestellt. Die geradli"Sonne jetzt" "Erde jetzt" nig-gleichförmige Bewegung eines C A Entfernung Körpers wird durch eine gegen die Zeitachse geneigte Gerade abgebildet. Je flacher die Gerade verläuft, desto B schneller ist die Bewegung. Die "Sonne vor 8 Minuten" Lichtgeschwindigkeit (im Vakuum) bedeutet in der Relativitätstheorie aber eine nicht überschreitbare Grenzgeschwindigkeit für alle Körper.25 Das Licht benötigt ungefähr acht Minuten, um die Strecke von der Sonne zur Erde zurückzulegen. Vom Ereignis C „Die Sonne jetzt“ kann darum der Beobachter in A „Die Erde jetzt“ nichts wissen. Erst im Punkt D „Die Erde in acht Minuten“ kann er dieses Ereignis sehen, weil erst dann die entsprechenden Lichtstrahlen bei ihm eintreffen. Damit kann das Ereignis C auch keine Wirkung auf das Ereignis A ausüben. Die damit gegebene Einschränkung des kausalen Zusammenhanges der physikalischen Welt soll an einem Abbildung 2 Zeit weiteren, auf Minkowski zurückgehenden Diagramm ZUKUNFT veranschaulicht werden (vgl. Abbildung 2 ). ZWISCHENZWISCHENAlle Ereignisse (Punkte) im A GEBIET G E B I E T Entfernung unteren Teil des sogenannten stellen die Lichtkegels26 Vergangenheit in Bezug auf B VERGANGENHEIT A dar. Diese Ereignisse können auf das Ereignis A B B 24 Von den Relativbewegungen der Erde gegenüber der Sonne wird hier abgesehen. Theoretisch läßt die Relativitätstheorie auch Teilchen zu, die sich schneller als Licht, aber niemals langsamer bewegen können („Tachyonen“). Der Wert für die Ruhemasse eines derartigen Teilchens wäre aber eine imaginäre Zahl (d. h. die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl). 26 Durch Hinzunahme einer weiteren Raumdimension ergeben sich für die Bereiche von Zukunft und Vergangenheit in unserem Diagramm Kegel. 25 51 wirken, das heißt, sie können Ursache von A sein. Alle Ereignisse, die sich innerhalb des oberen Lichtkegels befinden, liegen bezüglich A in der Zukunft. Auf diese Ereignisse kann A wirken. Das gesamte Gebiet außerhalb der beiden Lichtkegel nennt Minkowski „Zwischengebiet“. Mit den Ereignissen dieses Gebietes gibt es in Bezug auf A keine Möglichkeit eines kausalen Zusammenhanges. Ereignis B kann nicht auf A wirken, weil sich Wirkungen höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Eine physikalische Fernwirkung mit Überlichtgeschwindigkeit läßt sich mit der Relativitätstheorie nicht vereinbaren. Die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen, die im Zwischengebiet liegen, kann in Bezug auf A durch die Wahl eines anderen Bezugssystems verändert werden. Da die zeitliche Reihenfolge zweier Ereignisse, von denen das eine die Ursache des anderen sein soll, feststehen muß, kann auch aus diesem Grund zu den Ereignissen im Zwischengebiet kein kausaler Zusammenhang bestehen.27 4. Veränderlichkeit der Masse Im Bereich der klassischen Physik gilt der Satz von der Erhaltung der Masse: In einem abgeschlossenen System kann Masse weder erzeugt noch vernichtet werden, das heißt, die Gesamtmasse ist konstant. Schon vor der Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie tauchen allerdings im Zusammenhang mit Versuchen an schnell bewegten Elektronen Zweifel an diesem Satz auf. Henry Poincaré stellt im Jahr 1904 fest, daß das Prinzip über die Erhaltung der Masse nicht angegriffen werden könne, ohne damit gleichzeitig die gesamte klassische Mechanik umzustoßen. „Jetzt aber denken manche Menschen“, so Poincaré weiter, daß dieses Prinzip „nur deshalb richtig erscheint, weil man in der Mechanik bloß mäßige Geschwindigkeiten verwendet, daß es aber für Körper mit Geschwindigkeiten, die mit der des Lichts vergleichbar sind, nicht mehr gelten würde.“28 Aus der speziellen Relativitätstheorie ergibt sich nun zwangsläufig die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse. Man hat die „Ruhemasse“ eines Körpers zu unterscheiden von der bewegten oder „relativistischen Masse“, die gegen unendlich geht, wenn sich die Geschwindigkeit des Körpers der Lichtgeschwindigkeit annähert. Einstein bezeichnet es darüber hinaus als die bedeutendste Folgerung aus der speziellen Relativitätstheorie, daß der Satz von der Erhaltung der Masse im umfassenderen Energieerhaltungssatz aufgeht: „Das wichtigste Ergebnis der speziellen Relativitätstheorie betraf die träge Masse körperlicher Systeme. Es ergab sich, daß die Trägheit eines Systems von seinem Energieinhalt abhängen müsse, und man gelangte geradezu zur Auffassung, daß träge Masse nichts anderes sei als latente Energie. Der Satz von der Erhaltung der Masse verlor seine Selbständigkeit und verschmolz mit dem von der Erhaltung der Energie.“29 27 28 29 Vgl. dazu P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 28–31. H. Poincaré, Der Stand der theoretischen Physik, 198. A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 213f. 52 Die Relativitätstheorie lehrt demnach, daß Masse nur eine der vielen Formen ist, in denen uns Energie in der Physik begegnet. In einem abgeschlossenen System muß zwar die Gesamtenergie konstant bleiben, nicht aber die Gesamtmasse. Bedeutsam wird diese Tatsache später insbesondere im Zusammenhang mit Kernprozessen. Wird ein Atomkern gespalten, dann ist die Gesamtmasse der Spaltprodukte etwas kleiner als die ursprüngliche Masse. Dieser „Massendefekt“ ist nicht verloren, sondern bleibt in Form von Energie, die bei der Spaltung frei wird, erhalten. Die Energie E, die beim Massendefekt m frei wird, läßt sich mit der aus der speziellen Relativitätstheorie abgeleiteten Formel E=mc² leicht berechnen. Wegen des hohen Betrags der Lichtgeschwindigkeit c ist diese Energie sehr groß. Freilich äußert auch Einstein noch zwanzig Jahre nach Veröffentlichung der speziellen Relativitätstheorie die Meinung, daß der Gleichung E=mc² keine praktische Verwendung im Hinblick auf eine mögliche Energieausbeutung zukomme. Erst als im Jahr 1938 die Kernspaltung realisiert und dabei ein Massendefekt festgestellt wird, ist mit Hilfe von Einsteins Formel sofort klar, welche ungeheuren Energien auf diese Weise freigesetzt werden können. III. Die allgemeine Relativitätstheorie Isaac Newton entwickelte in seinen „Philosophiae naturalis principia mathematica“ das universelle Gravitationsgesetz, das die allgemeine Massenanziehung beschreibt. Demnach wirkt zwischen zwei Massen eine Anziehungskraft, die dem Produkt der beiden Massen proportional und dem Quadrat ihrer Entfernung umgekehrt proportional ist. Mit Hilfe dieses Gesetzes konnte Newton den Aufbau unseres Planetensystem in fast allen Einzelheiten erklären.30 Allerdings nahm er an, daß die Anziehungskräfte zwischen den Himmelskörpern den Raum ohne jede Zeitverzögerung überbrücken.31 Solche unmittelbaren Fernwirkungen stehen jedoch grundsätzlich im Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie, gemäß der sich Wirkungen maximal mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Schon aus diesem Grund muß nunmehr eine neue Theorie der Gravitation notwendig erscheinen. Doch auch noch in anderer Hinsicht weist für Einstein „die spezielle Relativitätstheorie [...] über sich selbst hinaus“32. Das seiner Theorie vorangestellte Relativitätsprinzip beschränkt sich auf Bezugssysteme, die sich geradlinig und gleichförmig zueinander bewegen. Bezugssysteme sind aber nur von Menschen geschaffene Hilfsmittel, um Naturvorgänge beschreiben zu 30 Vgl. I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 178–224; vgl. ders., Mathematische Prinzipien der Naturlehre, 379–576. 31 Um derartige Fernwirkungen verständlich zu machen, nahm Newton die Metaphysik zu Hilfe und ließ sogar die Mitwirkung Gottes zu, der gleichzeitig auf alle Dinge einwirken sollte; vgl. R. Locqueneux, Kurze Geschichte der Physik, 65f. 32 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 214. 53 können. Darum ist es für Einstein nicht nachvollziehbar, daß die Naturgesetze von unserer Wahl des Bezugssystems abhängen sollen: „Sollte die Unabhängigkeit der physikalischen Gesetze vom Bewegungszustand des Koordinatensystmes auf gleichförmige Translationsbewegungen der Koordinatensysteme zueinander beschränkt sein? Was hat die Natur mit den von uns eingeführten Koordinatensystemen und deren Bewegungszustand zu tun? Wenn es schon für die Naturbeschreibung nötig ist, sich eines von uns willkürlich eingeführten Koordinatensystems zu bedienen, so sollte die Wahl von dessen Bewegungszustand keiner Beschränkung unterworfen sein; die Gesetze sollten von dieser Wahl ganz unabhängig sein [...].“ 33 Die Verallgemeinerung der Relativitätstheorie, die nun auch beschleunigte Bezugssysteme berücksichtigte, stellte Einstein vor ungleich größere mathematische Probleme und konnte von ihm erst im Jahr 1916 vollendet werden. „Im Lichte bereits erlangter Erkenntnis erscheint das glücklich Erreichte fast wie selbstverständlich“, schreibt Einstein im Rückblick. „Aber das ahnungsvolle, Jahre währende Suchen im Dunkeln mit seiner gespannten Sehnsucht, seiner Abwechslung von Zuversicht und Ermattung, und seinem endlichen Durchbrechen zur Wahrheit, das kennt nur, wer es selber erlebt hat.“ 34 Ausgangspunkt für Einsteins Überlegungen ist die auch schon Galilei und Newton bekannte Äquivalenz von träger und schwerer Masse. Mit „Trägheit“ und „Schwere“ werden zwei verschiedene Eigenschaften eines Körpers bezeichnet: Um einen Körper zu beschleunigen, muß man das „Beharrungsvermögen“ oder die „Trägheit“ dieses Körpers durch eine beschleunigende Kraft überwinden. Diese Trägheit ist eine Eigenschaft aller Körper und ihre Größe kann durch die quantitativ meßbare träge Masse angegeben werden. Die träge Masse eines Körpers „wehrt sich“ gegen jede Geschwindigkeitsänderung nach Größe und Richtung und versucht sich gleichförmig geradlinig fortzubewegen. Weil die träge Masse eines Körpers darum geradlinige von krummen Bahnen, gleiche von ungleichen Strecken und Zeiten „unterscheiden“ kann, wird sie als sein „Organ für die Maßstruktur der Welt“35 oder auch als „Fühlorgan des Körpers für das metrische Feld in Raum und Zeit“36 bezeichnet. Mit schwerer Masse oder Schwere wird die Eigenschaft eines Körpers benannt, in einem Gravitationsfeld angezogen zu werden. Die schwere Masse ist der Ausgangs- und Angriffspunkt der Massenanziehung an einem Körper gemäß dem erwähnten newtonschen Gravitationsgesetz. Sie wird darum auch ein „Organ für Gravitationswirkungen“37 genannt. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß träge und schwere Masse äquivalent sind.38 Denn zunächst bezeichnen diese beiden Begriffe völlig verschiedene 33 34 35 36 37 38 Ebd. Ders., Einiges über die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie, 228f. E. Fues, Art. Relativitätstheorie, 305. Ders., Art. Masse, 81. Ders., Art. Relativitätstheorie, 305. Genau genommen sind träge und schwere Masse zueinander proportional, da der Propor- 54 Eigenschaften eines Körpers. Es wäre immerhin denkbar, daß zwei Körper mit gleicher träger Masse, aber zum Beispiel unterschiedlicher äußerer Form am gleichen Ort eine unterschiedliche Gravitationswirkung erfahren. Der einfachste experimentelle Nachweis der Identität von Trägheit und Schwere liegt in der Beobachtung, daß am gleichen Ort alle Körper (im Vakuum) gleich schnell fallen. Obwohl diese Identität längst bekannt war, wurde ihr lange Zeit keine größere Bedeutung beigelegt: „Viele haben sich wohl über die Tatsache gewundert, niemand aber suchte dahinter einen tieferen Zusammenhang. Es gibt doch vielerlei Kräfte, die an einer Masse angreifen können; warum sollte es nicht eine geben, die der Masse genau proportional ist? Eine Frage, auf die keine Antwort erwartet wird, wird auch nicht beantwortet. Und so blieb die Sache unberührt, jahrhundertelang. Das war nur dadurch möglich, daß die Erfolge der Galilei-Newtonschen Mechanik überwältigend waren.“39 Erst Einstein erkennt die fundamentale Bedeutung der Äquivalenz von schwerer und träger Masse und nimmt sie zum Ausgangspunkt seiner allgemeinen Relativitätstheorie: „Dieser Satz, der auch als der Satz von der Gleichheit der trägen und schweren Masse formuliert werden kann, leuchtete mir nun in seiner tiefen Bedeutung ein. Ich wunderte mich im höchsten Grade über sein Bestehen und vermutete, daß in ihm der Schlüssel für ein tieferes Verständnis der Trägheit und Gravitation liegen müsse. An seiner strengen Gültigkeit habe ich [...] nicht ernsthaft gezweifelt.“40 Um den wesentlichen Inhalt des Äquivalenzprinzips zu verdeutlichen, wird es von Einstein zunächst umformuliert: „In einem homogenen Gravitationsfeld gehen alle Bewegungen so vor sich wie bei Abwesenheit eines Gravitationsfeldes in bezug auf ein gleichförmig beschleunigtes Koordinatensystem.“41 Dies kann veranschaulicht werden, indem man sich einen von der Außenwelt abgeschlossenen Kasten vorstellt.42 Stellt ein Beobachter in diesem Kasten nun eine Beschleunigung fest, so kann er diese theoretisch auf zwei unterschiedliche Arten deuten. Nach der ersten Betrachtungsweise ist der Kasten so weit von allen anderen Himmelskörpern und ihren Gravitationsfeldern entfernt, daß deren Massenanziehung vernachlässigt werden kann. In diesem Fall deutet der Beobachter die in seinem Kasten wirkenden Kräfte als Trägheitskräfte, die durch eine äußere Beschleunigung hervorgerufen werden. Die Masse der Körper erscheint hier als träge Masse. Entsprechend der zweiten Betrachtungsweise befindet sich der Kasten in einem homogenen Gravitationsfeld, wie es zum Beispiel auf der Erdoberfläche näherungsweise realisiert ist: Nun interpretiert der Beobachter im Kasten die auftretenden Kräfte als Schwerkräfte in einem Gravitationsfeld. Die Massen der Körper erscheinen damit als schwere Massen. Beide Betrachtungsweisen sind tionalitätsfaktor aber nur in diesem Zusammenhang auftritt, setzt man ihn gleich 1. M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 38. 40 A. Einstein, Über die Entstehung der Allgemeinen Relativitätstheorie, 224. 41 A.a.O., 225. 42 Vgl. ders., Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 40–42. 39 55 angemessen und einander äquivalent. Der Beobachter im Kasten kann nicht entscheiden, welches die „richtige“ Betrachtungsweise ist. Einstein deutet den aufgezeigten Befund dahingehend, daß das „Organ für die Struktur der Welt“ (träge Masse) und das „Organ für Gravitationsfelder“ (schwere Masse) physikalisch dasselbe sind. Er schließt darüber hinaus, daß darin auch eine Wesensgleichheit von Gravitation und Beschleunigung zum Ausdruck kommt, daß mithin die Struktur der Welt durch Gravitationsfelder bestimmt werde. Diese Wesensgleichheit beinhaltet aber auch, daß die tatsächliche Inhomogenität eines Gravitationsfeldes zwangsläufig auf die Maßstruktur der Welt übergeht.43 Weil die Massen ungleichmäßig im Kosmos verteilt sind, ist auch die metrische Struktur des Kosmos nicht mehr gleichmäßig. Man sagt, daß die Massenverteilung eine Verzerrung oder Krümmung des Raumes (genauer der Raum-Zeit) bewirkt. In einem derart strukturierten Raum gelten die aus der Schulgeometrie geläufigen Sätze zum Beispiel des Pythagoras, des Euklid oder des Thales nicht mehr. Vor der allgemeinen Relativitätstheorie gingen die Physiker fast ausnahmslos davon aus, daß der anschaulichen euklidischen Geometrie die Struktur der uns umgebenden Welt exakt entspricht. Obwohl die einzelnen geometrischen Sätze nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern aus einem Axiomensystem abgeleitet werden, war man sicher, daß sie die physikalisch erfahrbaren räumlichen Verhältnisse unserer Welt wiedergeben. Im Lauf des 19. Jahrhunderts setzt sich unter Mathematikern jedoch mehr und mehr die Einsicht durch, daß es auch nichteuklidische Geometrien gibt, die in sich widerspruchsfrei und darum mathematisch genauso berechtigt sind wie die euklidische Geometrie.44 Damit stellt sich die physikalische Frage, welche Geometrie die Struktur der uns umgebenden Welt am geeignetsten beschreibt. So versuchte schon der Mathematiker und Physiker Karl Friedrich Gauß (1777–1855) am Beispiel der Winkelsumme im Dreieck, die gemäß der euklidischen Geometrie zwei rechten Winkeln entspricht, zu überprüfen, ob dies den tatsächlichen irdischen Verhältnissen entspricht. Dazu konstruierte er aus Lichtstrahlen ein Dreieck zwischen dem Inselberg, dem Brocken und dem Hohen Hagen. Obwohl dieser Versuch die euklidische Geometrie zu bestätigen schien, wird deutlich, daß diese Bestätigung im 19. Jahrhundert nicht mehr als selbstverständlich betrachtet wurde. Gauß schien immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sich etwas, was im kleinen Maßstab exakt richtig zu sein scheint, im größeren als ungenau erweisen könnte. Die allgemeine Relativitätstheorie legt nun zugrunde, daß die räumliche Struktur des Kosmos im allgemeinen nichteuklidisch ist. Die newtonsche Gravitationstheorie und die euklidische Geometrie stellen jedoch so gute 43 Vgl. dazu E. Fues, Art. Relativitätstheorie, 305. Vgl. dazu S. Gottwald, Grundlagen der Geometrie und nichteuklidische Geometrie, 768f. Jedenfalls läßt sich mathematisch keine Präponderanz der euklidischen Geometrie gegenüber nichteuklidischen Geometrien nachweisen, wie dies insbesondere von einigen neuscholastischen Autoren versucht wurde, vgl. dazu H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 38. 44 56 Näherungen dar, daß die raumzeitliche „Krümmung“ unserer Welt bei irdischen Vorgängen in der Regel nicht in Erscheinung tritt. Die gedankliche mathematische Nachkonstruktion der physikalischen Welt, die Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie durchführt, verzichtet mit der Aufgabe der euklidischen Geometrie zugleich auch auf Anschaulichkeit. Ein vierdimensionaler nichteuklidischer Raum läßt sich nicht mehr vorstellen, man kann sich allenfalls mit Analogien behelfen: Nach Euklid ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade. Eine Kugeloberfläche (näherungsweise zum Beispiel die Erdoberfläche) stellt einen zweidimensionalen gekrümmten Raum dar. In diesem Raum ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten – aus der Perspektive des dreidimensionalen Raumes – nicht mehr gerade, sondern gekrümmt. Analog verfolgen nach der allgemeinen Relativitätstheorie die Körper in einem nichteuklidischen Raum die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten – und und bewegen sich dabei auf gekrümmten Bahnen, wenn man den Vorgang im euklidischen Raum beschreibt. Die veränderte Sichtweise kann am Beispiel der Bewegung der Erde in Bezug auf die Sonne verdeutlicht werden: Aus der Sichtweise der newtonschen Gravitationslehre würde sich die Erde fern von anderen Massen geradlinig und gleichförmig bewegen. In unserem Sonnensystem wird die Erde aber von der Schwerkraft der Sonne gezwungen, von dieser geradlinigen Bewegung abzuweichen und sich in elliptischen Bahnen um die Sonne zu bewegen. Aus der Sichtweise der allgemeinen Relativitätstheorie treten keine Schwerkräfte auf. Die Masse der Sonne bewirkt aber in ihrer Umgebung eine „Verzerrung“45 der Raumzeit. Während sich die Erde aus Perspektive des dreidimensionalem euklidischen Raumes auf einer Ellipse um die Sonne zu bewegen scheint, folgt die Erde in der „verzerrten“ Raumzeit in freier Bewegung einer Geraden. Gravitation wird damit als ein geometrischer Effekt behandelt. Die beiden hier skizzierten Sichtweisen erweisen sich freilich in dieser Form nicht als gleichberechtigt. Obwohl die newtonsche Gravitationslehre für irdische Verhältnisse sehr gute Näherungen liefert, treten bei astronomischen Abmessungen Effekte auf, die sich nur noch aus der allgemeinen Relativitätstheorie ableiten lassen. Das bekannteste und schon im Jahr 1919 experimentell untersuchte Beispiel dafür ist die „Ablenkung“ von Lichtstrahlen, die die Sonne passieren.46 Wollte man unsere Welt weiterhin exakt mit Hilfe der euklidischen Geometrie beschreiben, müßte man feststellen, daß die Lichtstrahlen nicht mehr die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten wählen, sondern einen Umweg, für den man eine zusätzliche Erklärung geben müßte. In den klassischen Gesetzen der Optik und Mechanik müßten komplizierte Korrekturfaktoren ein- 45 „Verzerrung“ ist aus Sicht des vertrauten euklidischen Raumes gesprochen; angemssener wäre es hier von einer „Umstrukturierung“ oder „Umgestaltung“ der Raumzeit zu sprechen. 46 Vgl. A. Einstein, Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 45f. 57 geführt werden. Man könnte sich durchaus für diese Art der Naturbeschreibung entscheiden, sofern man eben bereit ist, bizarre physikalische Gesetze dafür in Kauf zu nehmen.47 Entscheidet man sich hingegen wie die moderne Physik im Anschluß an Einstein für eine nichteuklidische Beschreibung unserer Welt, so erhält man vergleichsweise sehr einfache physikalische Gesetze. Die Ausbreitung des Lichts im genannten Beispiel folgt dann einer Geraden in der durch die Sonnenmasse strukturierten Raum-Zeit.48 47 Die Feststellung von J. Wickert, Albert Einstein, 75, daß die neuen Einsichten für die Physik bedeuten, „daß die alte Geometrie Euklids aufgegeben werden muß“, ist nicht korrekt. Sie muß nicht aufgegeben werden, sondern es erweist sich in der Physik als zweckmäßig, an ihrer Stelle eine nichteuklidische Geometrie zu verwenden. 48 Nach 1916 wird die allgemeine Relativitätstheorie auch auf die Frage nach Gestalt und Geschichte unseres Universums angewandt. Einstein selbst vertritt dabei die Vorstellung eines statischen und räumlich geschlossenen Universums, vgl. A. Einstein, Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie, 142–152; ders., Geometrie und Erfahrung, 206–209; ders., Über Relativitätstheorie, 221. 58 Drittes Kapitel: Deutungen der Relativitätstheorie Für viele Physiker ist schon bald nach der Veröffentlichung der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie klar, daß diese Theorien Auswirkungen über die Grenzen der Physik und der Naturwissenschaften hinaus haben werden. Nach dem Urteil von Max Planck übertrifft die mit Einsteins Relativitätstheorie verbundene neue Auffassung des Zeitbegriffs „wohl alles, was bisher in der spekulativen Naturforschung, ja in der philosophischen Erkenntnistheorie geleistet wurde“1. In kurzer Zeit entstehen zahlreiche Schriften von Physikern, vor allem aber auch von Philosophen über die philosophische Bedeutung der neuen Theorie. Darüber hinaus gibt es bald populäre und allgemeinverständliche Darstellungen, die freilich häufig die physikalischen Sachverhalte nicht nur verkürzt, sondern auch verzerrt wiedergeben. Arnold Sommerfeld spricht in diesem Zusammenhang von einem für Einstein nur schwer erträglichen „Relativitätsrummel“2. Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche Deutungen der Relativitätstheorie vorgestellt. Dazu müssen aber zuerst einige geläufige Mißverständnisse und der ideologische, zum Teil antisemitisch motivierte Mißbrauch der Relativitätstheorie zurückgewiesen werden (I.). Im Anschluß daran wird aufgezeigt, welchen Ort verschiedene Physiker Einsteins Theorien im Rahmen der Physik zuweisen (II.) und wie bereits die Benennung von Einsteins Postulaten in der speziellen Relativitätstheorie eine folgenreiche Interpretation beinhaltet, zu der es Alternativen gibt (III.). Dann werden einige Fragen thematisiert, die sich aus der Verhältnisbestimmung von Relativitätstheorie und Kants Transzendentalphilosophie ergeben (IV.), und zum Abschluß des Kapitels werden Deutung und Bedeutung, die der Relativitätstheorie im Rahmen des Logischen Positivismus zukommen, herausgestellt (V.). Die knappe Auseinandersetzung mit Transzendentalphilosophie und Logischem Positivismus ist im Zusammenhang mit unserer Thematik aufschlußreich, da auf diesem Weg deutlich wird, auf welcher Ebene die Diskussion um die Interpretation der Relativitätstheorie sinnvoll geführt werden kann; gerade vor diesem Hintergrund werden sich dann im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit verschiedene theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie als unangemessen oder sogar als indiskutabel erweisen. Die Diskussion der Relativitätstheorie im „Wiener Kreis“ und in der Berliner „Gesellschaft für Empirische Philosophie“ könnten dabei der gegenwärtigen Theologie zugleich als lehrreiches Beispiel für eine zwar angreifbare, aber 1 2 Zit. in: C. Seelig, Albert Einstein. Eine dokumentarische Biographie, 163. A. Sommerfeld, Albert Einstein, 39. 59 nichtsdestoweniger niveauvolle Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen dienen. Überdies legt sich im gegebenen Zusammenhang auch noch aus einem weiteren Grund der Hinweis auf die Deutungen der Relativitätstheorie durch Vertreter des Logischen Positivismus nahe: Da sich diese durch eine akzentuiert antimetaphysische Haltung auszeichnen und sie gerade die Relativitätstheorie als Beleg für ihre Metaphysikkritik heranziehen, kann die positive Aufnahme, die die Relativitätstheorie bei ihnen findet, die massiven Vorbehalte neuscholastischer Theologen gegen die Richtigkeit der Relativitätstheorie erklären – aber nicht begründen.3 I. Relativitätstheorie und Ideologie Nachdem Einstein im Jahr 1921 der Nobelpreis für Physik zugesprochen wird und die Relativitätstheorie zunehmend auch in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt,4 ist es ein verbreitetes Mißverständnis, von der Relativitätstheorie unversehens auf eine „Philosophie der Relativität“ zu schließen. Hans Reichenbach, Philosoph und Physiker, weist das Ansinnen derartiger Interpretationsversuche entschieden zurück: „Philosophen, die es für der Weisheit letzten Schluß halten, daß alles relativ ist, sind im Irrtum, wenn sie glauben, daß Einsteins Theorie den Beweis für eine solche weittragende Verallgemeinerung liefert. Und ihr Irrtum wird noch krasser, wenn sie eine derartige Relativität auf das Gebiet der Ethik übertragen und behaupten, Einsteins Theorie führe zum Relativismus der menschlichen Rechte und Pflichten. Die Relativitätstheorie gilt nur auf dem Gebiet der Erkenntnis.“5 Ähnlich beklagt der physikalisch geschulte Philosoph Paul Volkmann im Jahr 1924, daß wegen der unvermeidlichen Vieldeutigkeit in den Worten der Nichtphysiker leicht einen anderen Sinn in die Worte lege, als der Relativitätstheoretiker mit ihnen verbinde: „So besagt auch der Ausdruck ‚Relativitätstheorie‘ keineswegs, daß nunmehr alles Absolute zu relativieren ist, wenn auch manches, was bisher für absolut gehalten wurde, mehr oder weniger relativiert werden muß.“6 Es wird freilich darauf zurückzukommen sein, daß gerade dieses Mißverständnis eine Reihe von Theologen auf den Plan ruft und dazu veranlaßt, entweder den Glauben an das „Absolutum Gott“ einer vermeintlich alles 3 Vgl. 4. Kap. II. Die Schwedische Akademie begründet die Nobelpreisverleihung an Einstein allerdings vor allem mit dessen Verdiensten für die Entdeckung der Gesetze des lichtelektrischen Effekts – die Relativitätstheorie wird in der Begründung nicht einmal erwähnt. 5 H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 142. 6 P. Volkmann, Rez. von G. Alliata, 103. 4 60 relativierenden Physik entgegenzusetzen7 oder überhaupt die Richtigkeit der Relativitätstheorie in Frage zu stellen. 8 Bald stellt sich allerdings heraus, daß die Absicht vieler „Interpretationen“ weniger in einer redlichen Bemühung um ein Verständnis der Relativitätstheorie zu suchen ist als vielmehr in dem Versuch, diese physikalische Theorie und ineins damit ihren Urheber in Mißkredit zu bringen. Vielen, die sich etwa ab dem Jahr 1920 in der deutschen Öffentlichkeit als erklärte Gegner der Relativitätstheorie hervortun, geht es bestenfalls vordergründig um eine philosophische oder naturwissenschaftliche Diskussion. Immer unverhüllter offenbart sich statt dessen in ihrer Argumentation das Gesicht des nationalsozialistischen Antisemitismus. Die Kampagne gegen Einstein und die Relativitätstheorie, zu deren Wortführern sich die Physiknobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark aufschwingen, erreicht in Deutschland ihren traurigen Höhepunkt nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der absurden Unterscheidung zwischen einer „jüdischen“ und einer „arischen“ Physik .9 Der Physiker Bruno Thüring äußert im Jahr 1937 in der Universität München im Rahmen einer Vortragsreihe „Das Judentum in der Wissenschaft“: „[Die Relativitätstheorie] stellt nichts weiter als eine spezifische, wir müssen sagen jüdische, Art dar, sich mit den Erscheinungen der Natur rein formal auseinanderzusetzen. Ihre wirklichen ‚Leistungen‘ sind die Zerstörung der Begriffe des Raumes, der Zeit, der Kraft, der Welt, des Äthers, der Unendlichkeit und der Kausalität und der Aufbau eines Zerrbildes aus ihren Trümmern. Ihr Ziel ist nicht nur nicht Naturforschung durch Pflege des menschlichen Naturerlebnisses und Förderung unvoreingenommenen Naturstudiums, sondern Zerstörung der Grundlagen arischer Forschung durch Verdogmatisierung, in deren konsequenter Verfolgung die ganze Welt in einer Rechenformel erstarrt [...]. Wir sind deshalb berechtigt und im Interesse der Wahrheit gezwungen, von einer jüdischen Physik zu sprechen, die zu der Physik des Ariers in vollständigem und das innere Wesen treffenden Gegensatz steht [...]. Wer heute noch jüdischer Physik in Gestalt der Relativitätstheorie das Wort redet, und sie als die große im 20. Jahrhundert gewonnene neue Grundlage der künftigen Naturforschung preist, der pflanzt [...] jüdischen Geist in deutsche Seelen und macht sie unfruchtbar für wirkliche Naturforschung.“ 10 Dieses peinliche Dokument ist nur ein Beispiel für viele andere.11 Offensichtlich geht es hier nicht mehr um Physik oder Philosophie, sondern um die 7 So K. Heim, vgl. 4. Kap. III. 3. So neuscholastische Theologen, vgl. 4. Kap. II. 4. 9 Vgl. dazu H. Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Deutsche und jüdische Physik, 7–13, 71–83. – P. Lenard und J. Stark engagieren sich in einem Aufruf schon im Jahr 1924 für Hitler und erklären gemeinsam, daß sie in Hitler und seinen Genossen „eben denselben Geist [erkennen], den wir bei unserer Arbeit, damit sie tiefgehend und erfolgreich sei, selbst stets gesucht, erstrebt, aus uns hervorgeholt haben [...]“ (zit. in: A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich, 136). 10 B. Thüring, Physik und Astronomie in jüdischen Händen, 68f, 70. 11 Des weiteren wird die Relativitätstheorie von Thüring, a.a.O., 60, als „trügerisches Scheingebilde“ und von Lenard als „Judenbetrug“ bezeichnet (zit. in: A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich, 133). Der Physiker L. Glaser schreibt im Jahr 1939 in der Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft mit Bezug auf die vertriebenen 8 61 „physikalische“ Variante des antisemitischen Rassismus. Das Ende der Unschuld kommt für viele Physiker im nationalsozialistischen Deutschland nicht erst mit ihrer Bereitschaft, sich für eine Mitarbeit im damaligen deutschen Kernforschungsprojekt zur Verfügung zu stellen.12 Im Deutschland setzt sich allerdings allmählich die Einsicht durch, daß sich physikalische Erkenntnisse nicht um ideologische Prämissen kümmern und daß es möglicherweise sogar kriegsentscheidend sein könnte, sich der modernen Physik zu bedienen. Ungefähr ab dem Jahr 1940 kann an deutschen Universitäten die Relativitätstheorie wieder weitgehend ungehindert gelehrt werden, wenngleich der Name Einsteins und anderer jüdischer Physiker peinlichst vermieden wird. Der Führer der SS, Heinrich Himmler, gibt Werner Heisenberg im Jahr 1938 in einem Brief den wohlmeinenden Rat, vor seinen Studenten „die Anerkennung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse von der menschlichen und politischen Haltung“13 des Forschers klar zu trennen. Heisenberg verzichtet wie die meisten seiner Kollegen fortan auf die Nennung Albert Einsteins, wenn er öffentlich von der Relativitätstheorie spricht oder über sie schreibt.14 jüdischen Physiker und die „jüdische Physik“: „Wir danken unserem Führer Adolf Hitler, daß er uns von der Plage der Juden befreit hat. [...] Der Jude hat in Deutschland auf deutschen Lehrstühlen und in der Wissenschaft seine Tätigkeit beendet, nun gilt es aber, seine Spuren zu beseitigen [...]. Der Kampf geht weiter um eine unbeschwerte Jugend“ (L. Glaser, Juden in der Physik: Jüdische Physik, 275); vgl. auch H. Israel, E. Ruckhaber und R. Weinmann, 100 Autoren gegen Einstein, Leipzig 1931. 12 Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 und die ihm nachfolgenden Maßnahmen vertreiben die jüdischen Physiker fast vollständig aus den Universitäten und Forschungsinstituten. Insgesamt ein Viertel der akademischen Physiker verliert seinen Arbeitsplatz, darunter nicht weniger als elf Nobelpreisträger für Physik. Nach der „Reichspogromnacht“ 1938 fordert schließlich die „Deutsche Physikalische Gesellschaft“ die „reichsdeutschen Juden im Sinne der Nürnberger Gesetze“ ausdrücklich zum Austritt auf – die letzten sechs betroffenen Mitglieder müssen daraufhin ausscheiden. Die Vertreibung der jüdischen Physiker hat bei ihren Kollegen bestenfalls ein zaghaftes und letztlich auch folgenloses Protestieren zur Folge. Insgesamt scheint man sich erstaunlich schnell mit dem erzwungenen Exodus jüdischer Gelehrter abzufinden. Als die verbliebenen Physiker aber mit dem Hirngespinst einer arischen Parteiphysik konfrontiert werden, reagieren sie ungleich empfindlicher und effektiver. Vgl. dazu H. Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Deutsche und jüdische Physik, 71–106, sowie insgesamt A. D. Beyerchen, Wissenschaftler unter Hitler. Physiker im Dritten Reich. – Zum deutschen Kernforschungsprojekt vgl. M. Walker, Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, 100, der die Beziehung zwischen Physik und Nationalsozialismus in Deutschland als ein Verhältnis von Kompromiß und Kollaboration kennzeichnet; vgl. außerdem die deutlich andere Beurteilung von C. F. v. Weizsäcker, Die Unschuld der Physiker? 37–40, 42–45. 13 Zit. in: H. Rechenberg (Hg.), Werner Heisenberg, Deutsche und Jüdische Physik, 75. – Heisenberg wurde im Organ der SS zuvor als „weißer Jude“ und als „Statthalter des Judentums“ bezeichnet, da er die „jüdische Physik“ vertrete (‚Weiße Juden‘ in der Wissenschaft, in: Das schwarze Korps vom 15.7.1937, 6). 14 Nach dem Zweiten Weltkrieg legt Heisenberg diese Zurückhaltung wieder ab (vgl. z. B. Heisenbergs Rede bei der Grundsteinlegung des Einstein-Hauses der Ulmer Volkshochschule: W. Heisenberg, Einstein ist ein guter Name, 162–164). 62 Auch unter Theologen gibt es zu dieser Zeit offensichtlich rassistisch motivierte Vorbehalte gegen die Einsteinsche Relativitätstheorie. Obwohl zum Beispiel der Theologe Rudolph Lettau „die stärksten Antriebe zur Heiligung“15 in der Relativitätstheorie auszumachen vermag, sieht er sich zu einer Begründung genötigt, warum ein Christ ausgerechnet durch Einstein in seinem Glauben gestärkt werden sollte: „Einstein ist Jude und überzeugter Jude, wie man aus den Zeitungen vernimmt. Da will es einem guten Deutschen nicht ein, etwas von ihm anzunehmen.“ Lettaus Problem und die von ihm gefundene „Lösung“ zeigen, daß die theologische Reaktion auf die Relativitätstheorie in Deutschland auch durch offen antisemitische Einstellungen belastet war: „Wie, wenn Gott aber mit den Juden noch etwas vorhätte? [...] Ihre Führerschaft bei den radikalen Parteien zwingt geradezu die Langsamen und Widerstrebenden auf der anderen Seite zu aufbauender Arbeit, die sonst vielleicht unterbliebe. Ist das nun etwa auch einem Juden von Gott gegeben, in der Welt der Wissenschaft, in Weltanschauungsfragen Dinge in Fluß zu bringen, die sonst noch lange ruhten, und sollten nicht Deutsche und Christen auf den Plan treten und etwas Gutes aus dem, was schädlich zu sein schien, schaffen? Wir wollen doch die Augen auftun, daß uns Satan [sic!] nicht durch Trägheit und Feigheit übervorteilt.“16 Wo neben mangelhafter physikalischer Kenntnis auch noch solche dumpfen Gesinnungen gären, kann es nicht wundern, wenn dort ein konstruktiver Dialog zwischen Physik und Theologie aufgrund der Relativitätstheorie nicht in Gang kommt. Selbst wer die Vorbehalte einiger evangelischer und katholischer Theologen gegenüber der Relativitätstheorie nicht auch antisemitisch motiviert sehen will, wünscht sich eine Erklärung dafür, warum man sich hier in der Diskussion über die Richtigkeit der Relativitätstheorie gegen die große Mehrheit der Physiker wiederholt auf den erklärten Antisemiten Philipp Lenard als Kronzeugen beruft.17 Ideologische Vorbehalte gegen die Relativitätstheorie meldet im übrigen lange Zeit auch der dialektische Materialismus an. Wladimir I. Lenin veröffentlicht schon im Jahr 1909 eine Streitschrift, in der er sich vehement gegen den „Machismus“ wendet, das heißt gegen die Philosophie Ernst Machs und ihren Einfluß auf die moderne Physik.18 „Der Relativismus als Grundlage der Erkenntnistheorie ist nicht nur die Anerkennung der Relativität unserer Kenntnisse, sondern auch die Leugnung irgendeines objektiven, unabhängig 15 R. Lettau, Die Einsteinsche Relativitätstheorie im Verhältnis zur christlichen Weltanschauung, 155; vgl. dazu 4. Kap. I. vorliegender Arbeit. 16 Ebd. 17 T. Wulf S. J., Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 109, zählt Lenard zu den wenigen „Gewährsmännern“ gegenüber denen es nicht viel bedeute, wenn die große Masse der Physiker anderer Meinung sei. – „Solange sich noch ein Mann von der Bedeutung Lenards auf die Seite der Gegner stellt, muß die Sache uns anderen noch nicht als spruchreif gelten“, urteilt der theologisch engagierte Biologe E. Dennert, Einige Bemerkungen zur Relativitätstheorie und ihren Folgerungen, 46. 18 Vgl. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, insbes. 249–316 („Die neueste Revolution in der Naturwissenschaft und der philosophische Idealismus“). 63 von der Menschheit existierenden Maßes oder Modells, dem sich unsere relative Erkenntnis nähert“19, schreibt Lenin und versucht dies anhand von Entwicklungen in der modernen Physik zu belegen. Lenin kritisiert vor allem „das Prinzip des Relativismus, der Relativität unseres Wissens, ein Prinzip, das sich den Physikern in der Periode des jähen Zusammenbruchs der alten Theorien mit besonderer Kraft aufdrängt“20. Dieser Relativismus führe die von Mach beeinflußten Physiker bei Unkenntnis der Dialektik unvermeidlich zum „‚physikalischen‘ Idealismus“. Als „Grundidee der zur Diskussion stehenden Schule der neuen Physik“ erkennt Lenin in diesem Zusammenhang „die Leugnung der objektiven Realität [...] oder der Zweifel an der Existenz einer solchen Realität“21. Lenin beschließt seine Ausführungen über die „neueste Revolution in der Naturwissenschaft“ mit dem Urteil, der „‚physikalische‘ Idealismus“ seiner Zeit bedeute, „daß eine bestimmte Schule von Naturforschern in einem bestimmten Zweig der Naturwissenschaft zu einer reaktionären Philosophie abgeglitten ist, weil sie nicht vermochte, sich direkt und von Anfang an vom metaphysischen Materialismus zum dialektischen Materialismus zu erheben“22. Noch zu Beginn der fünfziger Jahre gibt es in der Sowjetunion gegen die Relativitätstheorie eine massive Kampagne, bei der behauptet wird, Einsteins Theorie beruhe auf einer falschen Philosophie, widerspreche dem dialektischen Materialismus und könne die – zugegebenermaßen beobachtbaren – relativistischen Effekte nicht erklären.23 Im Jahr 1952 wird in einem von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sammelband die Forderung erhoben, die Relativitätstheorie als ganze zu verwerfen und durch eine materialistische „Theorie schneller Bewegungen“ zu ersetzen. Namentlich A. A. Maksimov, Parteiphilosoph und Akademiemitglied, bezeichnet Einsteins philosophische Ideen als antiwissenschaftliche Äußerung eines reaktionären Angriffs und fordert eine Kritik an den idealistischen Phantasien Einsteins und seiner Anhänger.24 Schließlich sieht sich aber auch die offizielle Sowjetphilosophie zu einem pragmatischen Standpunkt gezwungen. Ab der Panunionskonferenz über philosophische Fragen der Naturwissenschaften im Oktober 1958 in Moskau wird der Widerstand gegen die Relativitätstheorie aufgegeben, und einige Jahre später erkennt man in ihr sogar eine Bestätigung des dialektischen Materialismus. Im „Philosophischen Wörterbuch“ aus dem Jahr 1975, das nach Auskunft seines Vorworts „auf marxistisch-leninistischer Grundlage aufgebaut“ sein will, heißt es unter dem Stichwort Relativitätstheorie nunmehr: 19 A.a.O., 131. A.a.O., 311. 21 A.a.O., 306. 22 A.a.O., 315. 23 Vgl. dazu die umfangreiche Darstellung und Materialiensammlung von S. Müller-Markus, Einstein und die Sowjetphilosophie. Krisis einer Lehre, Bd. 1 und 2, hier Bd. 1, 59–63. 24 Vgl. a.a.O., Bd. 1, 136f. 20 64 „In der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophie wird die Meinung verbreitet [...], die Relativitätstheorie könne philosophisch sowohl im idealistischen als auch im materialistischen Sinne interpretiert werden. Diese Behauptung ist falsch [...]. Die [...] Ergebnisse der Relativitätstheorie widersprechen nämlich allen idealistischen Thesen über das Wesen von Raum und Zeit und bestätigen die entsprechenden philosophischen Auffassungen des dialektischen Materialismus.“25 Die Relativitätstheorie darf nun sogar ausdrücklich als eine „materialistische Erkenntnis“26 bezeichnet werden. Die genannten Beispiele ideologischen Mißbrauchs der Relativitätstheorie sind geeignet, mißtrauisch zu stimmen, wenn von „Deutungen der Relativitätstheorie“ die Rede ist. Wann immer die Relativitätstheorie als Beleg oder Bestätigung einer philosophischen oder gar theologischen Position herangezogen wird, ist zunächst einmal Skepsis angebracht. Zu viele unterschiedliche und widersprüchliche Standpunkte beriefen sich in der Vergangenheit auf Einsteins Theorie. So schreibt Hans Reichenbach schon im Jahr 1949 sehr treffend: „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie ist zum Gegenstand widersprechender Meinungen geworden. Während viele Autoren den philosophischen Gehalt der Theorie betont und sogar versucht haben, sie als eine Art philosophisches System zu interpretieren, haben andere das Vorhandensein einer philosophischen Problematik geleugnet und die Ansicht vertreten, daß Einsteins Theorie eine rein physikalische, nur für den mathematischen Physiker interessante Angelegenheit ist.“27 Der Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell betont angesichts zahlreicher Mißverständnisse und vorschneller Folgerungen, daß die philosophischen Konsequenzen der Relativitätstheorie „weder so groß noch so überraschend [sind], wie man manchmal denkt“28. Doch auch Russell hält es für wahrscheinlich, „daß sich gewisse Änderungen in unseren Denkgewohnheiten ergeben, die auf lange Sicht eine große Bedeutung erlangen werden, wenn man erst mit den in Einsteins Werk enthaltenen Ideen vertraut ist [...]“29. II. Die Bedeutung der Relativitätstheorie im Rahmen der Physik Kein ernstzunehmender Physiker bezweifelt heute, daß die spezielle Relativitätstheorie zum gesicherten Bestand der Physik gehört. In ungezählten Experimenten konnten die Voraussagen der speziellen Relativitätstheorie 25 26 27 28 29 G. Kröber und H. Mielke, Art. Relativitätstheorie, 1046. A.a.O., 1045. H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 142. B. Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, 165. A.a.O., 166. 65 bestätigt werden, und kein einziges Experiment ist bekannt, das im Widerspruch zur speziellen Relativitätstheorie stünde. Auch die allgemeine Relativitätstheorie gilt heute als anerkannt und wird von der physikalischen Forschung vorausgesetzt. Allerdings bezog diese Theorie längere Zeit ihre Überzeugungskraft weniger aus experimentellen Bestätigungen als vielmehr aus ihrer „Eleganz“ und ihrer „inneren Stimmigkeit“. In diesem Sinne schreibt Einstein, daß der „Hauptreiz der Theorie [...] in ihrer logischen Geschlossenheit [liege]“30, und er läßt seinen Kollegen Arnold Sommerfeld auf einer Postkarte wissen: „Von der allgemeinen Rel[ativitäts-]Theorie werden Sie überzeugt sein, wenn Sie dieselbe studiert haben werden. Deshalb verteidige ich sie Ihnen mit keinem Wort.“31 Die Schwierigkeit, bei der Nachprüfung der allgemeinen Relativitätstheorie bestand darin, daß ihre experimentell prüfbaren Folgerungen so geringfügig von den entsprechenden Folgerungen der newtonschen Theorie abweichen, daß sie zunächst an der Grenze der Meßgenauigkeit lagen. Aufgrund von Präzisionsmessungen gilt aber inzwischen auch die allgemeine Relativitätstheorie als sehr gut bestätigt. Damit stellt sich die Frage, ob nunmehr Newtons Gravitationstheorie als „falsch“ und „widerlegt“ anzusehen ist. Einstein weist dies zurück: „Niemand [...] soll denken, daß durch diese oder irgendeine andere Theorie Newtons große Schöpfung im eigentlichen Sinne verdrängt werden könne. Seine klaren und großen Ideen werden als Fundament unserer ganzen modernen Begriffsbildung auf dem Gebiet der Naturphilosophie ihre eminente Bedeutung in aller Zukunft behalten.“ 32 Die klassische Newtonsche Mechanik bleibt dabei nicht nur für die Physikhistoriker interessant. Für Geschwindigkeiten, die klein sind im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit, geht die Lorentz-Transformation in die klassische Galilei-Transformation über, das heißt, die Newtonsche Mechanik bleibt gültig. Außerdem zeigt sich, daß die allgemeine Relativitätstheorie Newtons Gravitationstheorie als erste und sehr gute Näherung bestätigt. Insgesamt läßt sich also sagen, daß die Relativitätstheorie die klassische Physik als einen Spezialfall enthält – ein Spezialfall überdies, der unter irdischen Bedingungen in der Regel sehr gut erfüllt ist. Darum ist es ja auch sinnvoll, daß im Physikunterricht an unseren Schulen vorrangig noch immer die klassische Physik gelehrt wird. Auch die euklidische Geometrie ist nicht widerlegt. Mathematisch ist sie korrekt wie eh und je. Im allgemeinen und insbesondere in astronomischen Maßstäben erweist sich für die Physik aber die Verwendung einer nichteuklidischen Geometrie als zweckmäßiger. Soweit besteht über diese physikalischen Sachverhalte unter den Naturwissenschaftlern Einigkeit. Unterschiedlich wird von Physikern dagegen die Rolle beurteilt, die der Relativitätstheorie bei der Entwicklung zur modernen 30 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 216. A. Einstein/A. Sommerfeld, Briefwechsel. Sechzig Briefe aus dem goldenen Zeitalter der modernen Physik, 41. 32 A. Einstein, Was ist Relativitätstheorie? 216f. 31 66 Physik zukommt. Die einen sehen in Einsteins Theorie den krönenden Abschluß der klassischen Physik, die anderen betrachten die Relativitätstheorie als den entscheidenden Schritt zur modernen Physik. Einstein selbst beurteilt seinen Beitrag eher bescheiden. Es handele sich bei der Entdeckung der Relativitätstheorie „keineswegs um einen revolutionären Akt, sondern um eine natürliche Fortentwicklung einer durch Jahrhunderte verfolgbaren Linie“33. Insbesondere die spezielle Relativitätstheorie sei nichts anderes als eine systematische Fortsetzung der Maxwell-Lorentzschen Elektrodynamik“34. Die Relativitätstheorie habe „zum großartigen Gedankengebäude Maxwells und Lorentz‘ eine Art Abschluß geliefert“35. Man könnte derartige Feststellungen Einsteins als Understatement und Ausdruck seiner Bescheidenheit halten, zumal wenn man bedenkt, daß Einstein die zitierten Sätze in England äußert, dem Geburtsland der klassischen Physiker Newton, Faraday und Maxwell. Doch Einsteins spätere Haltung zur Quantentheorie läßt es als durchaus plausibel erscheinen, daß es ihm mit diesen Feststellungen ernst ist; denn zeitlebens versucht Einstein im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Physiker auch die Quantentheorie von einem klassischen Standpunkt aus zu verstehen. Eine „Revolution“ oder einen Bruch in der Entwicklung der Physik lehnt er damit ab. Im Zusammenhang mit der Behandlung der Quantentheorie werden wir darauf zurückkommen. Auch Victor Weisskopf, Atomphysiker und Schüler von Max Born und Niels Bohr, kann in der Relativitätstheorie keinen revolutionären Umbruch für die Entwicklung der Physik ausmachen. Zwar begründe sie eine neue Auffassung von Raum und Zeit und stelle ein neues begriffliches Gerüst dar, mit dem die bisherige Physik vereinheitlicht werden kann. Die Relativitätstheorie breche damit aber nicht mit der klassischen Tradition, sondern sie stelle viel eher die Krönung und die Synthese der Physik des 19. Jahrhunderts dar. Die radikale Veränderung der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht für Weisskopf allein auf die Quantentheorie zurück: „Die Quantentheorie [...] stellte tatsächlich einen Vorstoß ins Unbekannte dar; mit ihrer Hilfe dringt man in eine Welt von Phänomenen ein, die sich nicht in das Vorstellungsgebäude der Physik des vergangenen Jahrhunderts einfügen lassen. Um die Quantentheorie zu begründen und weiterzuentwickeln, mußte man eine neue physikalische Sprache und Denkweise schaffen.“36 Im folgenden wird noch gezeigt werden, daß diese Aussagen auf die Quantentheorie zweifellos zutreffen. Aber trifft es nicht gerade auch für die Relativitätstheorie zu, daß sie eine „neue physikalische Sprache und Denkweise“ geschaffen hat? Weisskopf beginnt sein Physikstudium in den zwanziger Jahren und ist aktiv an der Entwicklung der Quantentheorie beteiligt. Der ganze Bereich der Relativitätstheorie ist um diese Zeit, wie man bei Werner 33 34 35 36 Ders., Über Relativitätstheorie, 217f. Ders., Was ist Relativitätstheorie? 214. A.a.O., 217. V. Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, 18. 67 Heisenberg nachlesen kann, „schon ziemlich weitgehend erschlossen und daher gar kein Neuland mehr“37, die spezielle Relativitätstheorie müsse man „einfach lernen und anwenden, so wie jede ältere Disziplin der Physik“38. Darum sei sie für jeden, der Neues entdecken wolle, nicht mehr sonderlich interessant. Ältere Physiker wie zum Beispiel Max Planck, die die Entdekkung der Relativitätstheorie miterleben und sich nur mühsam von den gewohnten traditionellen Vorstellungen trennen können, sind später eher geneigt, darin eine physikalische „Revolution“ zu erkennen. Louis de Broglie spricht dementsprechend auch von einer geistigen Leistung, „die die ältesten Traditionen der Physik umgestürzt [habe]“39. Eine vermittelnde Position nimmt in dieser Frage Max Born ein. Einstein habe mit seiner Theorie „nicht nur die klassische Physik zum Gipfel geführt, sondern ein neues Zeitalter der Physik eröffnet“40. Der klassischen Physik sei Einstein noch verbunden, weil er weiterhin die Vorstellung „von kausalen – oder genauer: deterministischen Naturgesetzen“41 gebrauche. Richtungsweisend für die moderne Physik sei dagegen, daß Einstein die newtonschen Begriffe von Raum und Zeit einer scharfen Kritik unterziehe und sie durch „neue, revolutionäre Begriffe“42 ersetze. Born sieht Einsteins Leistung insbesondere auch darin begründet, daß er konsequent Ernst Machs Prinzip der Elimination des Unbeobachtbaren anwende. Dieses Prinzip fordert, in der theoretischen Physik keine Begriffe mehr zuzulassen, die nicht empirisch verifiziert werden können. Dies führt bei Einstein konsequent zur Ablehnung eines Äthers und des klassischen Begriffs der Gleichzeitigkeit von Ereignissen an unterschiedlichen Raumstellen. Für Leopold Infeld ist Einsteins Arbeit für die Geschichte der theoretischen Physik besonders bedeutsam, „weil sie ein völlig neues Problem, nämlich das der Struktur des Weltalls, formuliert, und weil sie zeigt, daß die allgemeine Relativitätstheorie neues Licht auf dieses Problem werfen kann“43. Die allgemeine Relativitätstheorie habe „die kosmologischen Probleme aus dem Bereich der Poesie oder der spekulativen Philosophie in den physikalischen übertragen“44. Dies gilt bis heute: Auch wenn die gegenwärtige Astrophysik zu anderen Schlußfolgerungen als Einstein kommt, so nimmt doch auch sie ihren Ausgang von der allgemeinen Relativitätstheorie. Auffällig ist, daß viele Physiker die Relativitätstheorie nicht nur zur inzwischen selbstverständlichen Grundlage für weitergehende physikalische Fragestellungen nehmen, sondern sich nach Entwicklung dieser Theorie zu einer grundsätzlichen Reflexion über ihre Wissenschaft und deren Erkenntnis37 38 39 40 41 42 43 44 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 32. A.a.O., 37. L. de Broglie, Das wissenschaftliche Werk Albert Einsteins, 43. M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins, 3. A.a.O., 2. Ebd. L. Infeld, Über die Struktur des Weltalls, 179. Ebd. 68 methoden veranlaßt sehen. Hans Reichenbach stellt in diesem Sinne schon im Jahr 1924 fest: „Selten ist die Diskussion einer physikalischen Theorie in so hohem Maße mit philosophischen Denkmitteln geführt worden wie im Falle der Relativitätstheorie Einsteins. Nicht nur Philosophen haben die Theorie zum Gegenstand ihrer Betrachtungen gemacht, sondern auch die Physiker selbst fanden sich gezwungen, ihren Darstellungen und Kritiken der Theorie philosophische Begriffsbildungen zugrunde zu legen. Das ist kein Zufall, und auch nicht bloße Wirkung einer überall beobachtbaren Welle philosophischen Interesses an den Grundlagen der exakten Wissenschaft. Sondern die Relativitätstheorie fordert zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung geradezu heraus, ja, sie ist gar nicht verständlich ohne klare Einsicht in die prinzipiellen Methoden der physikalischen Erkenntnis überhaupt.“45 Im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie sehen sich die Physiker dieser Zeit mit Fragen konfrontiert, die weit über ihr jeweiliges Fachgebiet hinausreichen. Immer häufiger werden sie nun um Stellungnahmen zu Problemen gebeten, für die sie sich von Haus aus nicht zuständig fühlen. Nicht wenige Physiker nehmen aber diese Herausforderung an und geben nun Auskunft über ihren erkenntnistheoretischen Standpunkt, die Methodik ihrer Wissenschaft und den „Wirklichkeitsbezug“ der Physik. Solche Besinnung der Physiker über die Grundlagen ihrer Wissenschaft wirkt zugleich wieder zurück auf den weiteren Fortgang ihrer Forschung. Zurecht stellt Martin Heidegger in „Sein und Zeit“ fest, daß sich die eigentliche „Bewegung“ der Wissenschaften in der Revision ihrer Grundbegriffe abspiele: „Das Niveau einer Wissenschaft bestimmt sich daraus, wie weit sie einer Krisis ihrer Grundbegriffe fähig ist. In solchen immanenten Krisen der Wissenschaften kommt das Verhältnis des positiv untersuchenden Fragens zu den befragten Sachen selbst ins Wanken. Allenthalben sind heute in den verschiedenen Disziplinen Tendenzen wachgeworden, die Forschung auf neue Fundamente umzulegen.“ 46 Die Relativitätstheorie – Heidegger verweist in diesem Zusammenhang zwar ausdrücklich auf sie, befaßt sich aber ansonsten in „Sein und Zeit“ nicht mit ihr – unterzieht die für die Physik fundamentalen Begriffe von Raum und Zeit einer radikalen Revision. Solche Grundbegriffe sind aber für Heidegger „die Bestimmungen, in denen das allen thematischen Gegenständen einer Wissenschaft zugrundeliegende Sachgebiet zum vorgängigen und alle positive Untersuchung führenden Verständnis kommt“47. Im folgenden wird noch aufgezeigt werden, daß sich in der Neufassung der Begriffe von Raum und Zeit ein gewandeltes physikalisches Verständnis der Wirklichkeit andeutet, das für die physikalische Forschung bis in die Gegenwart hinein maßgebend ist. Aus diesem Grund ist die Relativitätstheorie zweifellos über ihren unmittelbaren wissenschaftlichen Ertrag hinaus als wegweisend zu beurteilen sowohl für die weitere Entwicklung der modernen Physik als auch für das gegenwärtige Verständnis der Physiker von ihrer Wissenschaft. 45 46 47 H. Reichenbach, Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, V. M. Heidegger, Sein und Zeit, 9. A.a.O., 10. 69 III. Relativitätsprinzip oder Postulat der absoluten Welt? Die Relativitätstheorie ist anerkannt, ihre erkenntnistheoretische Bedeutung ist umstritten. Bereits ihr Name gibt Anlaß zu diesbezüglichen Kontroversen. So spricht etwa Arnold Sommerfeld, von dem „vielfach mißverstandenen und nicht sehr glücklichen Namen ‚Relativitätstheorie‘“48. Das Unbehagen vieler Physiker an dieser Bezeichnung rührt daher, daß der Titel „Relativitätstheorie“ bereits eine keineswegs zwingende Interpretation eines physikalischen Sachverhaltes beinhaltet und darüber hinaus zahlreichen Fehldeutungen Vorschub leistet. Einstein selbst verwendet übrigens weder in der Überschrift noch im Text der für die „spezielle Relativitätstheorie“ grundlegenden Arbeit aus dem Jahr 1905 das Wort „Relativitätstheorie“. Statt dessen spricht Einstein vom „Prinzip der Relativität“ oder auch vom „Relativitätsprinzip“49. Auch damit gibt Einstein allerdings schon eine Deutung des postulierten Prinzips. Das Relativitätsprinzip fordert, daß physikalische Gesetze von einem Wechsel des Bezugssystems unabhängig sind und sich darum nicht verändern dürfen. Als Konsequenz ergibt sich daraus die Abhängigkeit verschiedener physikalischer Größen vom jeweiligen Bezugssystem. Man hat in der Folge zu unterscheiden zwischen diesen „relativen“ physikalischen Größen und „absoluten“ Naturgesetzen: Nicht invariant, sondern abhängig vom jeweiligen Bezugssystem und damit „relativ“ sind zum Beispiel die Masse, die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse an unterschiedlichem Ort sowie die Orts- und Längenbestimmungen. Auch die klassische Formulierung der mechanischen Gesetze ist in diesem Sinn relativ. Invariant, das heißt unabhängig vom Bezugssystem und damit „absolut“ sind dagegen die Naturgesetze, beispielsweise die fundamentalen Sätze von der Energie- und Impulserhaltung. Invariant ist auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts im Vakuum. Damit erweisen sich gerade die physikalischen Bestimmungen, die im Alltag begegnen und mit denen man eine anschauliche Vorstellung verbindet, als relativ. Was doch „augenscheinlich“ richtig scheint, das Bekannte und Vertraute, ist bei genauerer Überprüfung nicht exakt, sondern nur eine Näherung. Einstein betont diesen Aspekt seiner Theorie, indem er das Postulat, auf dem seine Theorie aufbaut, Prinzip der Relativität nennt. 48 A. Sommerfeld, Albert Einstein, 37. A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 29. Einstein soll zunächst auch mit dem Namen „Absoluttheorie“ und „Kovarianztheorie“ geliebäugelt haben, vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 93. Später übernimmt Einstein aber den Begriff „Relativitätstheorie“. 49 70 Schon Hermann Minkowski kritisiert diese Namengebung. In dem bereits erwähnten Vortrag aus dem Jahr 1908 nennt er die Bezeichnung „Relativitätspostulat“ für ein Postulat, das die Invarianz der Naturgesetze fordert, „sehr matt“50. Er bevorzugt darum den Namen „Postulat der absoluten Welt (oder kurz Weltpostulat)“51. Damit setzt Minkowski einen deutlich anderen Akzent als Einstein. Das Wesentliche ist nicht, daß vertraute Erscheinungen auf ihr Bezugssystem relativiert werden. Das Überraschende und Neue ist für Minkowski vielmehr, daß sich die fundamentalen physikalischen Gesetze einer derartigen Relativierung entziehen. Das Postulat drückt aus, daß es zwar unendlich viele Bezugssysteme geben kann, daß aber in allen dieselben Naturgesetze gültig sind. Vorausgesetzt wird nichts weniger als eine hintergründige, nicht relativierbare „absolute Welt“. Minkowskis „Welt“ stellt allerdings ein sehr abstraktes Gebilde streng gesetzlicher Strukturen dar, das nicht mehr vergleichbar ist mit einer anschaulich gegebenen, vorstellbaren Welt. Spätere Physiker verzichten darum in diesem Zusammenhang auf den Begriff „Welt“, betonen aber weiterhin den Charakter der Absolutheit und Unabhängigkeit der physikalischen Gesetze. Arnold Sommerfeld schreibt in diesem Sinn, daß „nicht die Relativierung der Vorstellungen von Länge und Dauer [...] die Hauptsache [sei], sondern die Unabhängigkeit der Naturgesetze, insbesondere der elektrodynamischen und optischen, vom Standpunkt des Beobachters“52. Aus dieser Perspektive wäre beispielsweise die Bezeichnung „Invariantentheorie“ gewiß angemessener und auch weniger mißverständlich gewesen.53 Victor Weisskopf weist außerdem darauf hin, daß die Bezeichnung „Relativitätstheorie“ nicht nur eine eigenwillige und ihm unangemessen erscheinende Deutung darstellt, sondern auch Ursache vieler Fehlinterpretationen ist: „Eigentlich bin ich der Meinung, [die Relativitätstheorie] wäre in gewissem Sinn besser als ‚Theorie des Absoluten‘ bezeichnet worden. Man hätte so all die Widersinnigkeiten und philosophischen Mißverständnisse, die mehr oder weniger ausgeklügelten Spitzfindigkeiten vermieden, die in dieser Theorie ein Argument zugunsten des Relativismus sehen wollten. Als ob Einstein einfach hätte sagen wollen, daß ‚alles relativ‘ sei! Auch hätte man mit obiger Benennung zugleich das unterstrichen, was an dieser Theorie wirklich neu ist: Mit ihr können wir zum ersten Mal die Naturgesetze unabhängig von jedem Bezugssystem formulieren; genau gesagt heißt das, daß wir ihnen mit dieser Theorie eine absolute Bedeutung zuschreiben können.“ 54 Die Auswirkungen, die der Begriff „Relativitätstheorie“ auf die späteren Kontroversen über die Bedeutung dieser Theorie hatte, sind nicht zu unterschätzen. Man ersetze einmal in einem Text von Karl Heim, der mit dem Gegensatz von „relativen“ physikalischen Größen und dem „Absolutum Gott“ 50 H. Minkowski, Raum und Zeit, 60. Ebd. 52 A. Sommerfeld, Albert Einstein, 37. 53 Vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 92–105. 54 V. Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, 17. 51 71 argumentiert, an den entsprechenden Stellen regelmäßig „Einsteins Relativitätstheorie“ durch „Einsteins Theorie des Absoluten“ und wird erstaunt sein über die suggestive Kraft des jeweiligen Begriffs.55 Bereits in der Namengebung ein und desselben physikalischen Sachverhaltes kommen unterschiedliche Bewertungen zum Ausdruck. Abhängig davon, ob der Aspekt des „Relativen“ oder des „Absoluten“ als wesentlicher für die Relativitätstheorie beurteilt wird, fallen auch die entsprechenden Deutungen dieser Theorie unterschiedlich aus. Gibt es aber zwingende über den Rahmen der Physik hinausgehende Konsequenzen aus Einsteins Theorie? Oder läßt sich zum Beispiel mit der „Einsteins Theorie des Absoluten“ ein idealistischer und mit „Einsteins Relativitätstheorie“ ein positivistischer Standpunkt „begründen“? Ist diese physikalische Theorie philosophisch und theologisch neutral, und alles weitere nur ein suggestives Spiel mit Worten? Im folgenden sollen zentrale Aspekte der Kontroverse um die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie thematisiert werden, indem zunächst das Verhältnis der Relativitätstheorie zu Kants transzendentalem Ansatz und anschließend zum Logischen Positivismus untersucht wird. Auf diesem Weg kann verdeutlicht werden, daß die über die Physik hinausgehende Bedeutung der Relativitätstheorie vor allem erkenntnistheoretische Fragen betrifft. IV. Relativitätstheorie und kantische Transzendentalphilosophie 1. Vorbemerkungen Im Jahr 1781 veröffentlicht Immanuel Kant (1724–1804) die „Kritik der reinen Vernunft“, sechs Jahre später folgt die zweite Auflage, und bereits in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts avanciert Kants kritisches Werk zur offiziellen Philosophie an den deutschen Universitäten. Philosophiehistoriker sind sich über die epochemachende Bedeutung Kants weitgehend einig: „Man hat Kant den größten deutschen Philosophen geheißen, den größten Philosophen der Neuzeit überhaupt, den Philosophen der modernen Kultur und noch verschiedenes anderes. Wie man aber seine Philosophie schließlich auch bewerten mag, fest steht, daß mit Kant mindestens für die deutsche Philosophie eine neue Epoche anhebt.“56 Für Oswald Schwemmer stellt Kants System „den Ausgangspunkt oder kritischen Hintergrund so gut wie aller philosophischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts [...] dar und ist auch in der zeitgenössi55 56 Vgl. 5. Kap. II. vorliegender Arbeit. J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 268. 72 schen systematischen Philosophie explizit oder implizit weitgehend präsent“57. Günther Patzig rechnet Kant zu den klassischen Philosophen der ersten Größenordnung, dessen Fragestellungen insbesondere die philosophische Diskussion in der Erkenntnistheorie und in der Wissenschaftstheorie bis in die Gegenwart hinein beherrschen.58 Vor allem die „Kritik der reinen Vernunft“ gilt nicht nur „als ein klassisches Werk der Philosophie, das die permanente gelehrte Erschließung verdient“59, sondern als nach wie vor anerkanntes „Grundbuch der modernen Philosophie [...], das selbst diejenigen zur Auseinandersetzung auffordert, die nicht bzw. nicht mehr bereit sind, im Rahmen transzendentalphilosophischer Theoriebildung zu denken“60. „Die Kritik der reinen Vernunft“ vollzieht eine „Revolution“ oder „Umänderung der Denkart“61, die eine neue und für Kants Erkenntnistheorie grundlegende Auffassung von Raum und Zeit beinhaltet. Gut ein Jahrhundert später bricht Einstein mit der Raum- und Zeitvorstellung der zu Kants Zeit noch konkurrenzlos akzeptierten Newtonschen Physik. Ist davon auch Kants Ansatz betroffen, ist dieser möglicherweise damit endgültig widerlegt und erledigt – oder thematisiert die Relativitätstheorie Raum und Zeit unter einem völlig anderen Gesichtspunkt, so daß sie die erkenntnistheoretischen Überlegungen Kants überhaupt nicht widerlegen kann? Strittig ist im Zusammenhang mit der speziellen Relativitätstheorie vor allem der Zeitbegriff: Hat die Relativierung der Zeit und der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse auf das jeweilige Bezugssystem Auswirkungen auf Kants System, das die „Einheit der Zeit“62 behauptet? Demgegenüber führt im Hinblick auf die allgemeine Relativitätstheorie hauptsächlich der gewandelte Raumbegriff zu Kontroversen: Im 18. Jahrhundert waren in der Mathematik nichteuklidische Räume noch unbekannt, und die Beispiele, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ zur Verdeutlichung anführt, beziehen sich auf die Verhältnisse innerhalb der euklidischen Geometrie. Zieht Einsteins Erkenntnis, daß eine nichteuklidische Geometrie den physikalischen Raum im allgemeinen geeigneter beschreiben kann, eine Beschränkung der von Kant beanspruchten Allgemeingültigkeit nach sich, gelten die von Kant genannten „Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinungen“63 vielleicht nur für Erscheinungen im Rahmen des Gültigkeitsbereiches der klassischen Physik? Die Positionen, die in den diesbezüglichen Fragen bezogen werden, sind denkbar extrem. Hans Reichenbach vertritt die Auffassung, daß Einstein mit 57 O. Schwemmer, Art. Kant, 357f. Vgl. G. Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 10. 59 J. Kopper/W. Marx (Hg.), 200 Jahre Kritik der reinen Vernunft, 7 (Vorwort). 60 Ebd. 61 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI. 62 A.a.O., B 231, vgl. B 232: „Denn es ist nur Eine Zeit, in welcher alle verschiedenen Zeiten nicht zugleich, sondern nacheinander gesetzt werden müssen“; vgl. dazu auch a.a.O., B 47. Zur Kritik an den transzendentalen Aussagen der kantischen Philosophie im Anschluß an die spezielle Relativitätstheorie vgl. P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 16–45. 63 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 39. 58 73 der Relativitätstheorie auf die gleichen Fragen, mit denen sich Kant befaßt habe, anders antworte. Kants Raumbegriff werde widerlegt, sein System sei unhaltbar.64 Max Born bezweifelt, ob Kant seinen „Standpunkt beibehalten hätte, wenn er etwas länger gelebt hätte“65 und ihm die Entwicklung nichteuklidischer Geometrien bekannt geworden wäre. Albert Einstein selbst erklärt unumwunden, daß er „die Frage nach dem a priori im Sinne Kants niemals [habe] begreifen können“66. Derart in die Defensive gedrängt wendet sich der Kantherausgeber Raymund Schmidt gegen „die banalen Vorwürfe, welche seit einiger Zeit von der Seite gewisser moderner mathematischer Physiker gegen Kants Lehre von der Apriorität des Raumes und der Zeit vorgebracht werden“67 und vertritt den Standpunkt, daß sich „Kants Überlegungen [...] ohne jede Schwierigkeit auch auf die nichteuklidischen Sätze sowie auf jedes andere mathematisch-physikalische Raumzeitschema übertragen [lassen], das mit dem Anspruch auf Gültigkeit [auftrete]“68. Wilhelm K. Essler ist sogar der Überzeugung, daß Kant ohne Zweifel selbst der Entdecker der speziellen wie der allgemeinen Relativitätstheorie gewesen wäre, wenn er seine Gedanken über Raum, Zeit und Bewegung in allen Details logisch-mathematisch analysiert hätte.69 Insgesamt ist bei dieser Kontroverse neben mangelhafter Sachkenntnis und der damit verbundenen Unfähigkeit, sich auf die Argumentation des anderen einzulassen, viel Polemik und Überheblichkeit festzustellen.70 Man kann zuweilen den Eindruck gewinnen, es gehe dabei nicht so sehr um notwendige gegenseitige Klärungen als vielmehr um einen vermeintlichen Prioritätenstreit zwischen Philosophie und Physik, bei dem beide Seiten mit ihren hervorragendsten Vertretern Kant und Einstein gegeneinander zu Felde ziehen. Dadurch wird diese Auseinandersetzung zu einem exemplarischen Fall der gegenwärtigen Kommunikationsstörungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Tatsächlich wird hier aber auch beiden Seiten viel zugemutet. Philosophen gestehen, daß Kants Hauptwerke „nicht nur zu den inhaltsreichsten, sondern auch zu den schwierigsten der Weltliteratur“71 zu rechnen sind. Darüber hinaus wird Kants Stil als langatmig, umständlich und gestelzt charakterisiert.72 Auf der anderen Seite setzt ein auch mathematisch fundiertes Verständnis der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie in der Regel ein physikalisches oder mathematisches Fachstudium voraus. Die Vorausset64 Vgl. H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 143; vgl. 151. M. Born, Philosophische Betrachtungen zur modernen Physik, 40. 66 A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 229. 67 R. Schmidt (Hg.), Immanuel Kant. Die drei Kritiken, 104. 68 A.a.O., 105. 69 Vgl. W. K. Essler, Art. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 6267. 70 Vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 212–223. 71 H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 392. 72 Vgl. C. Helferich, Geschichte der Philosophie, 185; vgl. G. Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 11. 65 74 zungen für eine niveauvolle Auseinandersetzung sind damit außerordentlich hoch gesteckt. Viel wäre freilich schon gewonnen, wenn in diesem interdisziplinären Austausch mangelndes Verständnis im Bereich der jeweils anderen Disziplin nicht überspielt, vertuscht oder durch Polemik ersetzt werden würde, sondern offen benannt werden könnte. Denn erst im sich ergänzenden gemeinsamen Gespräch besteht Aussicht, die anstehenden komplexen Fragen in gegenseitig verständlicher Weise beantworten zu können. Dabei gelten gerade Kant und Einstein als Wissenschaftler, die um einen fruchtbaren Austausch zwischen Philosophie und Physik besonders bemüht sind. Kant ist über die Physik Newtons sehr gut informiert und erachtet deren Wissenschaftlichkeit als vorbildlich. Einstein, der als „philosophierender Physiker“73 bezeichnet wurde, bemerkt mehrfach, daß er durch die Lektüre erkenntnistheoretischer Schriften wichtige Impulse für seine Theorie erhalten habe, und er befaßt sich insbesondere in seinen späteren Jahren mit philosophischen Aspekten der Physik. 2. Kants Verhältnis zur Newtonschen Physik Kant steht auf der Höhe der Physik seiner Zeit. An verschiedenen Stellen spricht er mit größter Hochachtung von Newton und nennt dessen „Principia“ sogar ein „unsterbliches Werk“74. Darüber hinaus verfaßt Kant aber auch eigene naturwissenschaftliche Werke, die heute zwar weitaus weniger bekannt sind als seine kritischen Schriften, die aber auf ihrem Gebiet oft wichtige Anstöße gaben. Mit Bezug auf diese fachwissenschaftlichen Erkenntnisse gilt Kant „als ‚Vater der modernen Kosmologie‘, als Begründer der Geographie als Wissenschaft sowie als Autorität auf den Gebieten der Mathematik und der Geometrie; seine Arbeiten zur theoretischen Biologie, zur theoretischen Physik, zur vergleichenden Geologie, zur Rassen-, Wüstenund Mondkunde sowie zur Theorie der Winde sind als grundlegend anerkannt worden“75. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang Kants im Jahr 1755 veröffentlichtes vorkritisches Werk „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“. Im Untertitel dieser Schrift bestimmt Kant sein Unternehmen als „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt“. Kant entwickelt darin eine Geschichte des Universums unter mechanischem Gesichtspunkt, wobei er von einem chaotischen Urzustand ausgeht: „Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos. Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktion den Stoff sich bilden und durch die Zurückstoßung ihre Bewegung modifizieren. Ich genieße das Vergnügen, ohne Beihülfe willkürlicher Erdichtungen, unter 73 74 75 F. Herneck, Einstein und sein Weltbild, 210. I. Kant, Opus postumum. Erste Hälfte, 292. J. Zehbe, Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Philosophie Kants, VII. 75 der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem so ähnlich siehet das wir vor Augen haben, daß ich mich nicht entbrechen kann, es vor dasselbe zu halten.“ 76 Aus Newtons Gravitationsgesetz und den Bewegungsgesetzen, deren Gültigkeit Kant vorbehaltlos anerkennt, ergibt sich demnach die Geschichte des Universums als ein notwendiger Prozeß. Kant übernimmt damit das mechanische Erklärungsmodell, das die Physik seiner Zeit prägt, und wendet es auf die Kosmogonie an. Freilich gibt Kant zugleich auch seiner Überzeugung Ausdruck, daß die Newtonsche Mechanik an Grenzen stoße und keine „Erklärung für alles“ leisten könne, wenn er betont, „daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursach ihrer Bewegungen, kurz, der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues, werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe, aus mechanischen Gründen, deutlich und vollständig kund werden wird.“77 An der Verehrung Newtons und an der Hochschätzung der Physik hält Kant zeitlebens fest. Gerade auch in der „Kritik der reinen Vernunft“ nimmt er die wissenschaftliche Exaktheit von Mathematik und Physik zum Maßstab für die Metaphysik. Damit steht Kant in einer Linie mit René Descartes, der bereits im Jahr 1637 in seinem „Discours de la Méthode“ die „mathematischen Disziplinen wegen der Sicherheit und Evidenz ihrer Beweisgründe“78 rühmt und zugleich feststellt, daß es in der Philosophie noch nichts gebe, worüber nicht gestritten werde und was folglich nicht zweifelhaft sei.79 Auch schon Descartes versucht darum eine an den mathematischen Wissenschaften orientierte Neubegründung der Philosophie mit dem Ziel, sie auf ebenso „sichere und vertrauenswürdige Fundamente“80 aufzubauen. Die Relativitätstheorie relativiert die klassische Physik Newtons. Kant zieht aber die Gesetze dieser Physik an keiner Stelle in Zweifel und beurteilt die Wissenschaftlichkeit der „Physica“ sogar als vorbildlich für die in Frage stehende Wissenschaftlichkeit der Metaphysik.81 Dies berechtigt zu der Frage, ob die „Kritik der reinen Vernunft“ durch die moderne Physik in ihrer Aussagekraft eingeschränkt wird. Im folgenden wird zuerst Kants grundlegende Fragestellung in der „Kritik der reinen Vernunft“ skizziert und kurz sein Verständnis von Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung erläutert. Im Anschluß daran befassen wir uns mit einigen Fragen, die in Konsequenz der allgemeinen Relativitätstheorie an Kants Konzeption gestellt werden müssen. 76 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, A XXIII. Nach dem Urteil von S. Sambursky, Der Weg der Physik, 357, nimmt Kant in dieser Schrift modernste kosmologische Entwicklungen vorweg. 77 A.a.O., A XXXV. 78 R. Descartes, Discours de la Méthode, 13. 79 Vgl. a.a.O., 15. 80 A.a.O., 13; vgl. 37, 53. 81 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XII–XVI. 76 3. Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung Kants „Kritik der reinen Vernunft“ kann als Reaktion auf zwei einander entgegengesetzte extreme Positionen verstanden werden. Auf der einen Seite steht die traditionelle Metaphysik, die in keinem ihrer zentralen Themen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu sicheren Ergebnissen gelangen konnte, nichtsdestoweniger aber mit dogmatischer Selbstsicherheit auftritt, und auf der anderen Seite steht ein radikaler Skeptizismus, der grundsätzlich die Möglichkeit sicherer Erkenntnis bezüglich metaphysischer Fragen leugnet. In dieser Situation erachtet es Kant als notwendig, zuallererst die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft zu untersuchen. Seine Kritik ist darum eine Kritik des menschlichen Vernunftvermögens. Erst wenn die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit bekannt sind, kann über die Möglichkeit oder die Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft entschieden werden. Die gesamte „Kritik der reinen Vernunft“ stellt somit den Versuch dar, eine umfassende Antwort auf die Reichweite menschlicher Erkenntnis zu geben. Es erinnert an Newtons „hypotheses non fingo“82, wenn Kant dabei für seine Untersuchungsergebnisse Gewißheit verlangt und jegliche Hypothesenbildung strikt ablehnt: „Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen und daß alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht für den geringsten Preis feil stehen darf, sondern sobald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß.“83 Es sei schon viel gewonnen, schreibt Kant, wenn man seine Untersuchungen unter die Formel einer einzigen Frage bringen könne. Als solche präzise Frage, in der er die eigentliche Aufgabe enthalten sieht, formuliert Kant: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“84 Zum Verständnis dieser Hauptfrage der „Kritik der reinen Vernunft“ muß erläutert werden, was Kant unter „synthetischen Urteilen“ und unter „a priori“ versteht. A priori: Kant zieht nicht in Zweifel, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt. Wenn aber auch alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebe, schreibt Kant, so entspringe sie darum doch nicht alle aus der Erfahrung: „Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes 82 Vgl. I. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, 230: “[.. .] und bloße Hypothesen denke ich mir nicht aus. Was immer nämlich sich nicht aus den Naturerscheinungen ableiten läßt, muß Hypothese genannt werden, und Hypothesen, sei es metaphysische, sei es physische, sei es solche über verborgene Eigenschaften, sei es solche über die Mechanik, haben in der experimentellen Philosophie keinen Platz.“ 83 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XV. 84 A.a.O., B 19. 77 Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt [...]“85. Kants Interesse richtet sich dabei auf das, was „unser eigenes Erkenntnisvermögen aus sich selbst hergibt“. Derartige von der Erfahrung und von allen Eindrücken der Sinne unabhängige Erkenntnisse nennt Kant Erkenntnisse a priori und unterscheidet sie von empirischen Erkenntnissen, „die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung haben“86. Synthetische Urteile: Beim analytischen Urteil erläutert und entfaltet das Prädikat nur den jeweiligen Begriff des Subjekts. „Ein Quadrat hat vier gleiche Seiten“ ist ein analytisches Urteil, da im Begriff des Quadrats die vier gleichen Seiten bereits enthalten sind. Bei synthetischen Urteilen hingegen wird dem Begriff des Subjekts etwas hinzugefügt, was in diesem „gar nicht gedacht war, und durch keine Zergliederung desselben hätte können herausgezogen werden“87. Erst synthetische Urteile erweitern demnach unsere Erkenntnis. „Alle Körper sind schwer“ nennt Kant als Beispiel für ein solches „Erweiterungsurteil“. Das Schwersein ist „etwas ganz anderes, als das, was ich in dem bloßen Begriff eines Körpers überhaupt denke“88. Da dieses Urteil aber außerdem seine Quelle in der Erfahrung hat, ist es für Kant ein synthetisches Urteil a posteriori. Kant fragt demnach in seiner Hauptfrage, wie Urteile möglich sind, die unsere Erkenntnis erweitern und zugleich nicht aus der Erfahrung stammen. Kant legt dar, daß derartige synthetische Urteile a priori in allen theoretischen Wissenschaften enthalten sind. Dies gilt insbesondere für die Mathematik: „Zuvörderst muß bemerkt werden: daß eigentliche mathematische Sätze jederzeit Urteile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Notwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann.“89 Zugleich sind mathematische Sätze für Kant synthetisch, wie er am Beispiel 7 + 5 = 12 zu erklären versucht. Weder in „7“ noch in „5“ ist die „12“ enthalten, „12“ ist also eine tatsächliche Erweiterung unserer Erkenntnis. Auch den Grundsatz der reinen Geometrie, daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei, nennt Kant als Beispiel für einen synthetischen Satz a priori.90 Von Interesse ist in unserem Zusammenhang überdies ein Beispiel, das Kant als Beleg dafür angibt, daß neben der Mathematik auch die Naturwissenschaft (Physica) synthetische Urteile a priori als Prinzipien in sich enthalte: In allen Veränderungen der körperlichen Welt bleibe die Quantität der Materie unverändert. Weil die Erhaltung der Materie nicht im Begriff der Materie enthalten ist, liegt eine synthetische Erkenntnis vor. Weil diese Erkenntnis überdies 85 86 87 88 89 90 A.a.O., B 1. A.a.O., B 2. A.a.O., B 11. Ebd. A.a.O., B 14. Vgl. a.a.O., B 16. 78 notwendig ist, Erfahrungserkenntnis aber grundsätzlich nicht notwendig sein kann, ist sie zugleich auch a priorisch: „Der Satz ist also nicht analytisch, sondern synthetisch und dennoch a priori gedacht, und so in den übrigen Sätzen des reinen Teils der Naturwissenschaft.“ 91 Die Erfolge von Mathematik und Naturwissenschaft beeindrucken Kant offensichtlich stark. Die Mathematik, schreibt er, gebe uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntnis a priori bringen können.92 Sie beschäftige sich dabei „mit Gegenständen und Erkenntnissen bloß so weit, als sich solche in der Anschauung darstellen lassen“93. Gegenstände werden uns aber vermittelt über die Sinnlichkeit gegeben, denn allein diese liefert uns Anschauungen.94 Wie sollen aber a priorische Erkenntnisse möglich sein, wenn wir bei Anschauungen unvermeidlich auf Sinnlichkeit angewiesen sind? Kant unterscheidet zwischen empirischer und reiner Anschauung. Wenn ich mir einen Ball vorstelle, so zählt seine Farbe, seine Härte, seine Größe usw. zur empirischen Anschauung. Wenn ich nun von dieser empirischen Anschauung absehe, „so bleibt [...] noch etwas übrig“95, was Kant zur „reinen Anschauung“ zählt. Diese reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen sei das einzige, „das die Sinnlichkeit a priori liefern kann“96. Als Ergebnis von Kants Untersuchung ergibt sich, daß es zwei reine Formen der Anschauung gibt, nämlich Raum und Zeit. Über den Raum schreibt Kant: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.“ 97 Indem Kant hier den Raum und im darauf folgenden Abschnitt die Zeit als „Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen“ einführt, vollzieht er die „kopernikanische Wendung“ der Erkenntnistheorie. Kant nimmt an, „[...] unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart“.98 Aus dieser Perspektive erweisen sich Raum und Zeit „als Bedingungen der Existenz der 91 A.a.O., B 18. Vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 116: „Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert.“ 92 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 8. 93 Ebd. 94 Vgl. a.a.O., B 33. 95 A.a.O., B 35. 96 A.a.O., B 36. 97 A.a.O., B 38f. 98 A.a.O., B XX. 79 Dinge als Erscheinungen“99. Auf Erkenntnisse über Dinge an sich, die hinter den Erscheinungen liegen mögen, wird verzichtet. Aber unabhängig von jeder Erfahrung und damit a priorisch kann ausgesagt werden, daß alles, was uns anschaulich erscheinen will, uns in den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit erscheinen muß. Auf diesem Wege löst sich für Kant auch die Frage, warum die Mathematik synthetischer Urteile a priori fähig ist. Raum und Zeit sind „zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können“100. In diesem Zusammenhang verweist Kant noch einmal auf die grundsätzliche Einschränkung derartiger Erkenntnis: „Aber diese Erkenntnisquellen a priori bestimmen sich eben dadurch (daß sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen, nämlich, daß sie bloß auf Gegenstände gehen, sofern sie als Erscheinungen betrachtet werden, nicht aber Dinge an sich selbst darstellen.“101 4. Fragen an Kants Ansatz aus Perspektive der Relativitätstheorie 102 Der vorangegangene Abschnitt kann und will nicht den Anspruch erheben, Kants erkenntnistheoretischen Ansatz umfassend dargestellt zu haben. Wohl aber kann jetzt gezeigt werden, welche Schwierigkeiten sich schon hier ergeben, wenn man Kants Ausführungen aus der Sicht der Relativitätstheorie verstehen und beurteilen will. Zur Verdeutlichung welche Fragen sich insbesondere vor dem Hintergrund der allgemeinen Relativitätstheorie stellen, soll zunächst noch einmal ein Absatz aus Kants transzendentaler Erörterung des Raumbegriffs zitiert werden: „Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt. Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntnis von ihm möglich sei? Er muß ursprünglich Anschauung sein; denn aus einem bloßen Begriffe lassen sich keine Sätze, die über den Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in der Geometrie geschieht [...]. Aber diese Anschauung muß a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein. Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden, z. B. der Raum hat nur drei Abmessungen; dergleichen Sätze aber können nicht empirische oder Erfahrungsurteile sein, noch aus ihnen geschlossen werden [...].“ 103 Im Zusammenhang von Kants Gedankengang gelesen sind diese Sätze einleuchtend und stimmig. Liest man diesen Absatz dagegen vor dem Hintergrund der allgemeinen Relativitätstheorie, so ergeben sich Fragen, die aus 99 A.a.O., B XXV. A.a.O., B 55. 101 A.a.O., B 56. 102 Vgl. dazu P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 16–99. 103 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 40f. 100 80 Kants Perspektive nicht mehr ohne weiteres beantwortet werden können. Geometrie bestimme die Eigenschaften des Raumes a priorisch und synthetisch – von welchem Raum ist hier die Rede? Von einem durch die euklidischen Axiome festgelegten geometrischen Raum? Vom physikalischen Raum, der aber nicht notwendig euklidisch beschrieben werden muß? Welcher Geometrie gehorcht „die Vorstellung des Raumes“, die reine Anschauung ist? Die geometrischen Sätze sind „apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden“ – notwendig sicherlich in Bezug auf das jeweils zugrunde liegende Axiomensystem, aber nicht notwendig in Bezug auf die physikalischen Erscheinungen. So gilt bei Kant der geometrische Satz, „daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei“104 als Beispiel für ein synthetisches Urteil a priori. Im Raum einer euklidischen Geometrie ist diese Aussage korrekt, aber eben nicht mehr in der physikalischen Raum-Zeit, die der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt. Ein anderes Beispiel: Die Dreidimensionalität des Raumes ist für Kant zwar eine notwendige Erkenntnis – aber nicht aufgrund von Erfahrung, denn dann würde man „nur sagen können, so viel zur Zeit noch bemerkt worden, ist kein Raum gefunden, der mehr als drei Abmessungen hätte“105, wie es in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ heißt. Aber gestatten die apriorischen Sätze der Geometrie überhaupt eine Aussage darüber, welcher Raum „gefunden“ werden kann? Sind Kants Beispiele nur falsch gewählt? Läßt sich Kant ohne größere Eingriffe korrigieren, indem man hier entsprechende Beispiele aus der „richtigen“ Riemannschen Geometrie auswählt, auf die die allgemeinen Relativitätstheorie aufbaut? Selbst wenn man hier Kant ergänzt, korrigiert oder einer Revision unterzieht106 und apriorische Sätze und entsprechende Beispiele dieser nichteuklidischen Riemannschen Geometrie zugrunde legt, so ist der Raum der Physik keineswegs notwendigerweise, sondern nur zweckmäßigerweise dieser Riemannsche Raum.107 Alle die in diesem Abschnitt aus Sicht der modernen Physik gestellten Fragen sind im Hinblick auf Kant eigentlich unangemessen. Kant setzt es – wie nicht anders zu erwarten – als selbstverständlich voraus, daß sich die zu seiner Zeit konkurrenzlose euklidische Geometrie in den physikalischen Erscheinungen unbestreitbar bestätigt findet. Er hatte keinerlei Anlaß, eine andere Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. Es wäre darum in der Tat beckmesse104 A.a.O., B 16. A.a.O., A 24 (fehlt in B). 106 Vgl. z. B. E. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, 85–87, 98–103, oder auch S. Körner, Kant, 27. 107 Aufgrund des apriorischen Systems einer Geometrie läßt sich überhaupt keine Aussage machen über den physikalischen Raum. Aus dem reichlichen Angebot verschiedener Geometrien wählt der Physiker diejenige aus, die ihm für seine Zwecke am geeignetsten erscheint. Im Fall der allgemeinen Relativitätstheorie ist das die Geometrie, in der sich die Naturgesetze am einfachsten darstellen lassen. Vgl. die diesbezügliche Kritik von P. Mittelstaedt an E. Cassirer (P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 59f, Anm. 5). 105 81 risch, sich mit den verschiedenen Unstimmigkeiten zwischen Kants und Einsteins Theorien zu befassen – wenn Kant nicht mit dem Anspruch antreten würde, die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung zu bestimmen und wenn nicht immer wieder die tatsächlichen Unstimmigkeiten geleugnet oder verharmlost werden würden, um Kants Ansatz unangetastet lassen zu können. Die meisten bislang nicht zufriedenstellend beantworteten Anfragen von Seiten der modernen Physik an Kants Entwurf ergeben sich aus der Tatsache, daß die rasante Entwicklung von Mathematik, Physik und auch Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert ein differenzierteres Verständnis von Raum und Zeit notwendig macht.108 Heute unterscheidet man hinsichtlich des Raumes die psychologische Raumanschauung vom physikalischen Raum der uns umgebenden Welt und letzteren wieder von den unendlich vielen geometrisch möglichen Räumen. Kant spricht statt dessen stets vom „Raum“, von der „Einheit des Raumes“ usw., und mehrfach entstehen Unklarheiten bereits dadurch, daß aus heutiger Sicht nicht eindeutig ist, welcher Raum von Kant denn nun gemeint ist. Denn was zum Beispiel im Rahmen eines bestimmten mathematischen Raumes apodiktische Gültigkeit besitzt, muß sich keineswegs auch im physikalischen Raum als gültig erweisen. Angesichts dieser berechtigten Einwände sehen sich vor allem auf Seiten der Neukantianer einige Philosophen dazu genötigt, die „Kritik der reinen Vernunft“ gegenüber den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen dadurch zu verteidigen, daß sie Kants Gedanken ergänzen, anpassen oder kurzerhand gegen jede neue wissenschaftliche Erkenntnis zu immunisieren versuchen.109 Derartige Ausbesserungen und Immunisierungen des bereits sehr differenzierten kantischen Systems erscheinen aus heutiger Perspektive fragwürdig. Zurecht wird „im allgemeinen die Kantsche Philosophie als eine Grundlegung der Newtonschen Physik “110, als das „für unerschütterlich gehaltene Fundament der klassischen Physik“111 interpretiert. In vorbildlicher Weise gibt Kant mit der „Kritik der reinen Vernunft“ und mit der fünf Jahre später veröffentlichten Schrift „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ eine philosophische Antwort auf die vorangegangene naturwissenschaftliche Entwicklung. Anstatt Kants Werk notdürftig auszubessern, damit es auch der modernen Naturwissenschaft noch angemessen sei, wäre es m. E. an der Zeit, eine philosophische Grundlegung der modernen Physik auszuarbeiten, die im Anschluß an Kant für die moderne Physik leistet, was dieser für die klassische Physik geleistet hat. 108 Vgl. K. Jaspers, Die großen Philosophen, 421. Zu den verschiedenen Immunisierungs- bzw. Revisionsstrategien des Neukantianismus vgl. K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 212–239. 110 I. Strohmeyer, Transzendentalphilosophische Raum-Zeit-Lehre, 111 (Hervorhebung vom Verf.). 111 K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 317 (Hervorhebung vom Verf.); vgl. dazu auch H.-D. Mutschler, Die Welterklärung der Physik und die Lebenswelt des Menschen, 59, der Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als eine „Metatheorie der Newtonschen Physik“ bewertet. 109 82 Im Rahmen vorliegender Arbeit soll und kann aber nicht darüber entschieden werden, ob Kants erkenntnistheoretischer Ansatz durch die moderne Physik nun endgültig überholt ist. Auch Kritiker verweisen darauf, daß es wesentliche Gedanken der „Kritik der reinen Vernunft“ für eine heutige Deutung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu bewahren gelte. Trotz gewichtiger Einwände gegen Kants Theorie beurteilt es beispielsweise Günther Patzig als Kants epochemachende Entdeckung, „daß an allem unserem Erfahrungswissen apriorische Elemente beteiligt sein müssen“112, und auch Karl Jaspers stellt fest, daß die heute vorgebrachten Widerlegungen nicht Kants „philosophischen Grundgedanken von der Erscheinungshaftigkeit des sinnlichen Daseins in Raum und Zeit [treffen]“113, da alles, was als Realität erkannt werde „in irgendwelche [sic] apriorisch erkennbare mathematische Formen eintreten [müsse]“114. Auch gegenüber der modernen Physik kann man mit Kant jedenfalls darauf bestehen, daß unserer Erkenntnis die Wirklichkeit „an sich“ nicht zugänglich ist. Wir können „von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur sofern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben“115. Insbesondere können wir die Gegenstände physikalischer Erkenntnis immer nur als Erscheinung haben. Diese Grenze bleibt auch der modernen Physik gezogen – was insbesondere die Theologen bedenken sollten, die heute versuchen einzelne physikalische Erkenntnisse unmittelbar metaphysisch in Anspruch zu nehmen. Auf diese grundsätzlich den Naturwissenschaften gezogene Grenze bezieht sich denn auch die Kritik Kants an der von ihm inhaltlich ansonsten voll akzeptierten Newtonschen Physik. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Newton einen absoluten Raum und eine absolute Zeit zugrunde legt. Für Kant sind Raum und Zeit „reine Formen der Anschauung“, die den Objekten selbst vorhergehen: „Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? Sind es zwar nur Bestimmungen, oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden, oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge beigelegt werden können?“ 116 112 G. Patzig, Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 67. „Aber daß es nur ein einziges System solcher apriorischer Elemente geben könne und dies durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens ein für alle Mal festgelegt sei“, so fährt Patzig ebd. fort, „hat sich als eine viel zu kühne und optimistische Behauptung erwiesen.“ 113 K. Jaspers, Die großen Philosophen, 421. 114 Ebd. Die Frage ob und ggf. wie synthetische Urteile a priori im Sinne Kants möglich sind, ist mit dieser Formulierung Jaspers noch offen gelassen. Vor allem mit dieser Frage befaßt sich der Logische Positivismus (vgl. 3. Kap. V. vorliegender Arbeit). 115 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXVI. 116 A.a.O., B 37f (Hervorhebung vom Verf.). 83 Kant entscheidet sich für die letztere Möglichkeit. Er verneint damit die Erkenntnis einer unabhängigen Existenz von Raum und Zeit „an sich“ – und muß darum auch die newtonsche Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit an sich zurückweisen. Diejenigen, die wie Newton „die absolute Realität des Raumes und der Zeit behaupten [...], [müssen] mit den Prinzipien der Erfahrung selbst uneinig sein“117. Denn, schreibt Kant im Hinblick auf die „Partei der mathematischen Naturforscher“, sie müssen „zwei ewige und unendliche für sich bestehende Undinge (Raum und Zeit) annehmen, welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen“118. Im übrigen spricht sich Kant auch in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ (1786) gegen die Existenz eines absoluten Raumes aus, akzeptiert diesen dort aber als eine für die Naturwissenschaften notwendige Idee.119 Eine Bewegung gegen den absoluten Raum, die Newton aufgrund zweier Experimente irrtümlich als erwiesen betrachtete, muß Kant freilich auch hier als „Paradoxon“120 erscheinen. Ernst Mach, ansonsten bedacht, sich von „Kantschen Traditionen“121 abzuheben, verneint später als erster aus physikalischen Gründen die Beweiskraft der Experimente Newtons und schließt sich Kants Kritik an absoluter Zeit, absolutem Raum und absoluter Bewegung an. Darum schon von „der Vermittlung kantischer Überlegungen durch Ernst Mach an Einstein“122 zu sprechen, scheint in diesem Zusammenhang allerdings etwas hoch gegriffen. Es ist Kants Absicht, in der „Kritik der reinen Vernunft“ zu untersuchen, ob und gegebenenfalls wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Dies führt Kant zu der grundlegenden Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind; daß solche Urteile möglich sind, versucht Kant insbesondere aufgrund von Beispielen aus Geometrie und Physik aufzuzeigen. Diese Beispiele halten aber vor den Erkenntnissen der modernen Physik nicht stand. Darf dies als Hinweis darauf gewertet werden, daß Geometrie und Physik grundsätzlich keine synthetischen Urteile a priori enthalten können? Was würde es für die weitergehende Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft besagen, wenn Geometrie und Physik als Fundgruben vorbildlicher Beispiele ausfallen würden? Ist damit auch schon die Unmöglichkeit aller synthetischen Urteile a priori erwiesen? Mit diesen Fragestellungen befassen sich, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird, die Vertreter des Logischen Positivismus. Bereits jetzt soll aber festgehalten werden, daß sich vor dem Hintergrund der modernen Physik 117 A.a.O., B 56. Ebd. (Klammern von Kant); vgl. ders., Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 3f. 119 Vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 1ff, 149; vgl. dazu I. Strohmeyer, Transzendentalphilosophische und physikalische Raum-Zeit-Lehre, 102–111. 120 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 144. 121 E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, IX. 122 J. Zehbe, Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Philosophie Kants, XV. 118 84 einige grundsätzliche Fragen an Kants Konzept ergaben. Sofern die Theologie heute akzeptieren könnte, daß eine „Kritik der reinen Vernunft“, die Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Vernunfterkenntnis absteckt, vor jedem metaphysischen Entwurf vollzogen werden muß, sollte sie die Auseinandersetzung um diese Fragen zumindest mit Aufmerksamkeit verfolgen. Dies wäre zweifellos ein lohnenderes Unterfangen als ohne Ansehen der von Kant bezeichneten und schwerlich bestreitbaren Grenzen jeder Vernunfterkenntnis immer wieder aufs Neue die gerade aktuellen physikalischen Entdeckungen auf irgendwelche unmittelbaren metaphysischen Implikationen hin zu befragen. 5. Gewißheit aus Anschauung und Unanschaulichkeit der Relativitätstheorie In Kants Erkenntnislehre kommt der „Anschauung“ zentrale Bedeutung zu. So beginnt auch der erste Teil der „Kritik der reinen Vernunft“ mit der Feststellung: „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. [...] Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (direkte) oder im Umschweife (indirekte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.“ 123 Für Kant wird beispielsweise der geometrische Satz, „daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind, als die dritte, [...] aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet“124. Der Begriff der Anschauung besitzt eine lange philosophische Tradition und tritt dabei in unterschiedlichen, zum Teil einander widersprechenden Bedeutungen auf. Weitgehend übereinstimmend aber gilt das, was „anschaulich“ vorgestellt werden kann, als unmittelbar einleuchtend. Die Überzeugungskraft dessen, was „angeschaut“ werden kann, spiegelt sich auch in der Sprache wider: es ist „offensichtlich“, „einsichtig“, „augenscheinlich wahr“, „evident“. Unbestreitbar hängt das, was man gemeinhin als „anschaulich“ bezeichnet, auch von Gewöhnung ab und ist durch gesellschaftliche, wissenschaftshistorische und individuelle Faktoren mitbedingt. Man ist zum Beispiel nun eben gewohnt, das Verhalten der Dinge im dreidimensionalen Raum und in der Zeit zu erleben. Soweit nun diese Dinge derart in Raum und Zeit dargestellt werden können, sind sie zugleich auch anschaulich vorstellbar. Die Newtonsche Mechanik entspricht (inzwischen) unserer Gewöhnung und kommt unserem Bedürfnis nach Anschaulichkeit weitgehend entgegen: „Die klassische Mechanik, die es mit der Bewegung und der mechanischen Wechselwirkung von Körpern im dreidimensionalen euklidischen Raum und in der absoluten Zeit zu 123 124 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 33. A.a.O., B 39. 85 tun hatte und die Gesetze dieser Bewegung und Wechselwirkung erforschte, war das Musterbeispiel einer anschaulichen Theorie. Auch andere klassische physikalische Theorien, wie die Thermodynamik, die physikalische Statistik und die Elektrodynamik sind ungeachtet ihrer Kompliziertheit im Prinzip anschauliche Theorien.“125 Solche Anschaulichkeit eignet der Relativitätstheorie nicht mehr. Konstanz der Lichtgeschwindigkeit unabhängig vom Bezugssystem, Relativierung der Gleichzeitigkeit, Bezugssystemabhängigkeit von Längenverhältnissen und Zeitintervallen, relativistische Massenveränderlichkeit und „gekrümmte Räume“ sind anschaulich nicht vorstellbar. Heutige Naturwissenschaftler haben sich zwar längst an diese Konsequenzen der Relativitätstheorie gewöhnt, es ist ihnen geradezu selbstverständlich geworden, damit umzugehen, aber genauso selbstverständlich verzichten sie in diesem Zusammenhang auch auf anschauliche Vorstellungen. Physikalische Erscheinungen können einsichtig sein, ohne anschaulich zu sein, und umgekehrt kann Anschaulichkeit – Kants Beispiele zeigen es – sehr wohl in die Irre führen. Weil sich die anschauliche klassische Mechanik als ein spezieller Grenzfall der unanschaulichen Relativitätstheorie erwies, wurde von manchen die Unanschaulichkeit sogar zum „Prinzip“ der modernen Physik erhoben. Im Rahmen der modernen Physik hat, beginnend mit der Einsteinschen Relativitätstheorie, eine auf unmittelbarer Anschauung beruhende Gewißheit ihre Überzeugungskraft verloren. Eine physikalische Theorie muß in sich stimmig und an den Erscheinungen überprüfbar, aber nicht anschaulich sein. An die Stelle anschaulicher Vorstellungen sind abstrakte, unanschauliche Strukturen und Gesetze getreten. Gerade dies zählt Bertrand Russell auch zu den bleibenden philosophischen Konsequenzen der Relativitätstheorie: „Was wir über die physikalische Welt wissen, ist viel abstrakter, als man früher annahm. [...] Wir interpretieren die Welt von Natur aus bildlich; das heißt, wir stellen uns vor, daß die Vorgänge mehr oder weniger dem gleichen, was wir sehen. Aber in Wirklichkeit kann sich diese Gleichheit nur auf bestimmte formale logische Eigenschaften erstrecken, die die Struktur ausdrücken, so daß alles, was wir wissen können, gewisse allgemeine Merkmale ihrer Veränderungen sind.“ 126 Russell hält es für wahrscheinlich, daß der Prozeß, bei dem von allem, was nur anschauliche Vorstellung ist, abstrahiert werden muß, um zum Kern wissenschaftlicher Erkenntnis vorzudringen, noch nicht abgeschlossen ist: „Die Relativitätstheorie hat auf diesem Gebiet vieles geleistet und uns dabei der nackten Struktur immer näher gebracht, die das Ziel des Mathematikers ist – nicht weil sie das einzige ist, wofür er sich als menschliches Wesen interessiert, sondern weil sie das einzige ist, was er in mathematischen Formeln ausdrücken kann. Aber so weit wir die Abstraktion schon getrieben haben: es kann sein, daß wir darin noch weiter gehen müssen.“ 127 Es wird sich zeigen, daß die Quantentheorie hinsichtlich Unanschaulichkeit und Abstraktion noch weit über die Relativitätstheorie hinausgeht. Wenn 125 G. Kröber, Art. Anschaulichkeit, 78. B. Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, 170. 127 A.a.O., 171. 126 86 Hans Reichenbach im Jahr 1924 schließlich sogar noch einen Weg sehen konnte, „in der physikalischen Welt der allgemeinen Relativitätstheorie Anschaulichkeit zu finden“128, so dürfte dies in Bezug auf die zu eben dieser Zeit weiter ausgearbeitete Quantenphysik gewiß nicht mehr zutreffen. V. Relativitätstheorie und Logischer Positivismus 1. Neue Brücken zwischen Physik und Philosophie Die Relativitätstheorie veranlaßt zum einen, wie bereits erwähnt, viele Physiker zu einer grundsätzlichen Reflexion über ihre Wissenschaft und deren Erkenntnismethoden; zum anderen geht aber darüber hinaus in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von den neuen Entwicklungen in Physik und Mathematik ein mächtiger Impuls auf die Philosophie aus.129 Diesem Impuls verdankt sich eine bis heute an Einfluß kaum zu unterschätzende philosophische Strömung, die unter den Namen Logischer Positivismus, Neopositivismus, Kritischer Empirismus oder Wissenschaftliche Philosophie bekannt wird. Diese Richtung entwickelt sich vornehmlich in den zwanziger und dreißiger Jahren im „Wiener Kreis“ um Max Schlick und etwas später in der Berliner „Gesellschaft für Empirische Philosophie“, bei der Hans Reichenbach maßgebliche Bedeutung zukommt.130 In beiden Gruppen spielen Physiker die dominierende Rolle. Schlick promovierte im Jahr 1904 mit einer Arbeit „Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht“ bei Planck und wird 1922 auf den Wiener Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften berufen, der 1895 für Ernst Mach errichtet und später von Ludwig Boltzmann übernommen wurde. Schlick steht in Austausch mit führenden Vertretern von Physik und Mathematik wie Planck, Einstein und dem Mathematiker David Hilbert. Im Wiener Kreis, der im Jahr 1929 erstmals mit einer gemeinsamen Veröffentlichung hervortritt,131 sind überdies noch weitere Physiker und Mathematiker sowie 128 H. Reichenbach, Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, 156. K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 196–504, befaßt sich mit mehr als zehn philosophischen Richtungen, die sich an einer Deutung der Relativitätstheorie versuchen: Neukantianismus, Kritischer Rationalismus, Husserlsche Phänomenologie, Fiktionalismus, Konventionalismus, Logischer Empirismus, Operationalismus, Lebensphilosophie u. a.. Der sorgfältige Vergleich der verschiedenen Interpretationen durch K. Hentschel kommt zu dem Ergebnis, daß „insgesamt der logische Empirismus, also namentlich Schlick und Reichenbach, die angemessenste Deutung vorlegten“ (a.a.O., 573). 130 Vgl. zur Geschichte der Wiener Kreises V. Kraft, Der Wiener Kreis, 1–10; R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 32–53; sowie R. Hegselmann, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, 70–72. 131 Vgl. H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 299–336. 129 87 mathematisch und naturwissenschaftlich geschulte Philosophen vertreten: der damalige Privatdozent Rudolf Carnap, der theoretische Physiker und Nachfolger Einsteins an der Deutschen Universität in Prag Philipp Frank, die Mathematiker Kurt Gödel, Hans Hahn und Karl Menger, ferner Otto Neurath, Herbert Feigl und Victor Kraft. Auch Hans Reichenbach kommt von der Physik und bleibt durch seine Vorlesungen und Forschungsarbeiten in Berlin in engem Kontakt mit den neuen physikalischen Entwicklungen. Sowohl im Wiener Kreis als auch innerhalb der Berliner Gruppe kommt bei der Formulierung des eigenen philosophischen Standorts der Relativitätstheorie eine besondere Bedeutung zu. Dies zeigt bereits ein kurzer Blick auf einige Titel der Veröffentlichungen, die von dieser Seite vorgelegt wurden: Im Jahr 1915 schreibt Schlick über „Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips“, 1917 über „Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik“ und 1922 über „Die Relativitätstheorie in der Philosophie“. Reichenbach befaßt sich mit „Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori“ (1920), mit einer „Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre“ (1924) und schreibt eingehend über „Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie“132. Carnaps Dissertation „Der Raum“ (1921) handelt von den unterschiedlichen Theorien über das Wesen des Raumes, die von Mathematikern, Philosophen und Physikern vertreten werden. Die Schwierigkeiten, die Carnap bei der Suche nach einem „Doktorvater“ überwinden muß, decken Widerstände auf, die den „Logischen Empiristen“ auch später immer wieder begegnen. So lobt der Physiker Max Wien Carnaps Projektidee, verweist ihn aber an die philosophische Fakultät. Dort ist man wiederum der Ansicht, daß dieses Thema eher in die Physik gehöre. In seinem biographischen Rückblick schreibt Carnap: „Die Erfahrung mit meinem Dissertationsthema, das weder in die Physik noch in die Philosophie zu passen schien, machte mir erstmals klar, mit welchen Schwierigkeiten ich in Zukunft ständig zu rechnen hatte. Wenn jemand an den Grenzbereichen verschiedener Gebiete interessiert ist, die nach der üblichen akademischen Fächeraufteilung zu verschiedenen Fakultäten gehören, wird er nicht, wie er es vielleicht erwartet, als Brückenbauer begrüßt, sondern von beiden Seiten eher als Außenseiter und lästiger Eindringling angesehen.“133 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Ermordung Schlicks an der Wiener Universität (1936) findet der Wiener Kreis ein abruptes Ende. Viele Vertreter des Logischen Positivismus fliehen in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien.134 Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sie dort ihre Ideen insbesondere im Rahmen der modernen Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie weiter. 132 Vgl. H. Reichenbach, Gesammelte Werke, Bd. 2 (Philosophie der Raum-Zeit-Lehre) und Bd. 3 (Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie). 133 R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 18. 134 Zur Emigrationsgeschichte des Wiener Kreises vgl. R. Hegselmann, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, 73–78. 88 Im folgenden soll aufgezeigt werden, aus welchem Grund im Rahmen des Logischen Positivismus der Relativitätstheorie eine zentrale Bedeutung zukommt. Dazu ist vorgängig eine kurze Charakteristik der philosophischen Ausrichtung des Wiener Kreises und der Berliner Gruppe um Reichenbach notwendig. 2. Charakteristika des Logischen Positivismus Der Logische Positivismus darf nicht als eine geschlossene und einheitliche philosophische Lehrmeinung aufgefaßt werden. Gerade der Wiener Kreis stellt eine Gruppe von eigenständigen und eigenwilligen Denkern dar, denen jeglicher uniforme Dogmatismus abhold ist. Es gibt einen „radikalen“ Flügel, vertreten insbesondere durch Otto Neurath, der auch pragmatisch-politische Argumente in die philosophischen Diskussionen einzubringen versucht, und eine gemäßigte Richtung, der Max Schlick und Rudolf Carnap zuzurechnen sind.135 Dennoch bemühen sich die Mitglieder des Wiener Kreises das sie Verbindende in den Vordergrund zu rücken, um so eine fruchtbare Zusammenarbeit zu ermöglichen. Als diese verbindende Grundrichtung nennt die erste öffentliche Selbstdarstellung des Wiener Kreises die „wissenschaftliche Weltauffassung“.136 Diese Weltauffassung ist gekennzeichnet durch eine empirische und zugleich antimetaphysische Ausrichtung (a), ferner durch die an der Mathematik und der modernen Physik orientierte Methode der logischen Analyse (b) und schließlich durch das angestrebte Ziel einer Einheitswissenschaft (c). a) Empirische und antimetaphysische Ausrichtung Der Wiener Kreis knüpft an die Bemühungen von Ernst Mach an, die Naturwissenschaften und in erster Linie die Physik von metaphysischen Elementen zu reinigen und auf rein empirische Grundlagen zu stellen. In dieser Absicht unterzog Mach Newtons Vorstellungen von absolutem Raum und absoluter Zeit einer eingehenden Kritik.137 Mach forderte, daß physikalische Gesetze so formuliert werden müssen, daß man sie durch direkte experimentelle Beobachtungen oder wenigstens durch eine kurze Gedankenkette in Verbindung mit direkten Beobachtungen verifizieren kann. „Es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenem beruht“138, heißt es entspre135 „Wir alle im Kreis waren an sozialem und politischem Fortschritt stark interessiert“, schreibt Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 36, im Rückblick auf den Wiener Kreis. „Die meisten von uns, ich eingeschlossen, waren Sozialisten. Aber wir wollten unsere philosophische Arbeit von unseren politischen Zielen getrennt halten.“ 136 Vgl. Anm. 131. 137 Vgl. E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 179–271. 138 H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 307. 89 chend in der Anfangszeit des Wiener Kreises. Dies wird später etwas abgemildert, wenn Philipp Frank formuliert: „Wie immer auch die grundlegenden Symbole und die Gesetze ihrer Kombination beschaffen sein mögen, es muß logische Schlüsse von diesen Prinzipien aus geben, die mit der direkten Erfahrung konfrontiert werden können.“ 139 Ist eine derartige Kombination oder Ableitung nicht möglich, so handelt es sich bei den Prinzipien um „sinnlose“ Sätze oder Begriffe, denen kein Erkenntniswert in Bezug auf die Wirklichkeit zukommen kann. Damit ist für den Logischen Positivismus zugleich auch eine Grenze für den Inhalt legitimer Wissenschaft gezogen.140 Es gebe eine scharfe Grenze zwischen zwei Arten von Aussagen, heißt es dazu in der Programmschrift des „Wiener Kreises“: „Zu der einen gehören die Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden; ihr Sinn läßt sich feststellen [...] durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes. Die anderen Aussagen [...] erweisen sich als völlig bedeutungsleer, wenn man sie so nimmt, wie der Metaphysiker sie meint.“141 Der Metaphysiker und der Theologe glauben nämlich irrtümlich mit ihren Sätzen einen Sachverhalt darzustellen, während diese in Wirklichkeit nur Ausdruck eines Lebensgefühles seien. Das adäquate Ausdrucksmittel für Lebensgefühle sei aber nicht eine wissenschaftliche Theorie, sondern die Kunst, zum Beispiel Lyrik oder Musik.142 Insbesondere wird mit der genannten Unterscheidung jegliche Erkenntnis der Wirklichkeit, die unabhängig von der Erfahrung durch reines Denken zustande kommt, strikt abgelehnt. Synthetische Urteile a priori im Sinne Kants sind grundsätzlich nicht möglich: „Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unbedingt gültige Erkenntnis aus reiner Vernunft, keine ‚synthetischen Urteile a priori‘, wie sie der Kantischen Erkenntnistheorie und erst recht aller vor- und nachkantischen Ontologie und Metaphysik zugrunde liegen. [...] Gerade in der Ablehnung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori besteht die Grundthese des modernen Empirismus.“143 An dieser Einstellung hält zum Beispiel Carnap trotz vieler Wandlungen seines Denkens zeitlebens fest. Noch in seiner letzten größeren Veröffentlichung betont er: „Wenn man den Empirismus akzeptiert, dann kann es kein Wissen geben, das sowohl a priori wie auch synthetisch wäre.“144 Für den Beleg dieser These spielt die allgemeine Relativitätstheorie, wie wir weiter unten sehen werden, eine entscheidende Rolle. 139 P. Frank, Einstein, Mach und der Logische Positivismus, 180. Vgl. H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 307. 141 A.a.O., 305f. 142 Vgl. dazu auch R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, 168–171. 143 H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 307. 144 R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 182. 140 90 b) Methode der logischen Analyse Einen Grund für die produktive Zusammenarbeit des Wiener Kreises sieht Carnap darin, daß alle Mitglieder unmittelbar mit einem Wissenschaftsgebiet, sei es Mathematik, Physik oder Sozialwissenschaften, vertraut sind: „Das ergab ein höheres Niveau an Klarheit und Verantwortung, als es sonst in philosophischen Kreisen, besonders in Deutschland, anzutreffen war. Die Mitglieder des Kreises kannten auch die moderne Logik. Dadurch ließ sich die Analyse eines zur Diskussion stehenden Begriffs oder einer Aussage symbolisch darstellen, wodurch die Argumente präziser wurden.“145 Mit diesem Vorgehen verbindet sich zugleich die Orientierung am Erkenntnis- und Methodenideal der Naturwissenschaften, das auch auf die Geisteswissenschaften übertragen werden soll. Da letztlich alle Sätze, die über die Wirklichkeit etwas besagen, empirischer Natur sein müssen, reduziert sich speziell die Aufgabe der Philosophie auf die Methode der logischen Analyse, das heißt auf die „Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes“146. Einerseits deckt Philosophie dadurch bedeutungslose Wörter und sinnlose Scheinsätze auf, andererseits klärt sie sinnvolle Begriffe und Sätze und trägt so zur Grundlagenforschung der Naturwissenschaften und der Mathematik bei.147 c) Einheitswissenschaft und Physikalismus Vor allem unter dem Einfluß Otto Neuraths sieht der Wiener Kreis eine wichtige Aufgabe im Aufbau einer „Einheitswissenschaft“. Demnach sind die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zwar aus praktischen Gründen getrennt, müssen aber grundsätzlich als Teile einer umfassenden einheitlichen Wissenschaft verstanden werden. Diese Einheit soll eine alle Erkenntnis umfassende Gesamtsprache gewährleisten. Als solche Universalsprache wird die physikalische Sprache verstanden, weshalb Neurath mit „Physikalismus“ auch das Programm und die Philosophie des Wiener Kreises bestimmt: „In einem Sinn ist die Einheitswissenschaft allgemeinste Physik, ein Gewebe von Gesetzen, die Raum-Zeit-Verknüpfungen ausdrücken – nennen wir das: Physikalismus.“ 148 Alle Aussagen der Einzelwissenschaften – neben der Chemie und Biologie insbesondere auch der Psychologie und Soziologie – können in der Sprache 145 R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 33f. H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 305f. 147 Vgl. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, 167f. 148 O. Neurath, Physikalismus: Die Philosophie des Wiener Kreises, 415. – Auch R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, 248, bekennt sich im Jahr 1934 ausdrücklich zur „These des Physikalismus“, die besage, „daß die physikalische Sprache eine Universalsprache der Wissenschaft ist, d. h. daß jede Sprache irgendeines Teilgebietes der Wissenschaft gehalttreu in die physikalische Sprache übersetzt werden kann.“ 146 91 der Physik ausgedrückt werden. Die Physik rückt dadurch für Neurath in eine Schlüsselposition: „Die Einheitswissenschaft umfaßt nur physikalistische Formulierungen. Das Schicksal der Physik im engeren Sinne wird so das Schicksal aller Wissenschaften, soweit Aussagen über kleinste Teile in Frage kommen. Für den ‚Physikalismus‘ ist es wesentlich, daß eine Art der Ordnung allen Gesetzen zugrunde liegt, ob es sich nun um geologische, chemische oder soziologische Gesetze handelt.“149 Carnap bezeichnet im Rückblick die frühen Formulierungen des Physikalismus von Neurath und ihm selbst „nur als grobe Versuche“150, die in späteren Jahren differenzierteren Betrachtungen weichen mußten. Diese Feststellung gilt nicht nur bezüglich des Physikalismus. Victor Kraft weist darauf hin, daß die Arbeit des Wiener Kreises nicht abgeschlossen, sondern durch die politischen Umstände unvermittelt abgebrochen wurde. Manche allzu große Vereinfachung und mancher Radikalismus erklärt sich nach Kraft als erster Ansatz, der später bei kontinuierlicher Weiterarbeit wohl ausgereiftere Lösungen zugelassen hätte.151 Doch es sind gerade die ersten, noch unausgereiften Versuche des Logischen Positivismus, die von dem gewaltigen Eindruck, den die moderne Physik und hier vor allem die Relativitätstheorie Einsteins auf diese philosophische Strömung ausüben, zeugen können. In den frühen Schriften des Wiener Kreises ist eine ungeheure Zuversicht spürbar, nun endlich alle Wissenschaften auf sichere Grundlagen stellen zu können und damit auch in der Philosophie, die sich ihrer eigentlichen Aufgabe bewußt geworden ist, Fortschritte erzielen zu können. In der Neuzeit hatten die Erfolge der mathematischen Naturwissenschaften Descartes provoziert, es in der Philosophie genauso zu versuchen und die Metaphysik durch Anwendung einer der Mathematik abgeschauten Methode auf eine unerschütterliche Grundlage zu stellen. Entsprechend sah sich Kant angesichts der Revolution der Denkart in Mathematik und Naturwissenschaft veranlaßt „ihnen, soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnis, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen“152. Und nun lassen sich wiederum in ganz ähnlicher Weise, aber in radikaler Abkehr von Kant, die Vertreter des Logischen Positivismus durch Einsteins Relativitätstheorie für eine neue Grundlegung der Philosophie als Wissenschaft inspirieren. Sie analysieren dazu Einsteins methodisches Vorgehen und beabsichtigen, es auch über den Rahmen der Physik hinaus anzuwenden. Sie versuchen, so schreibt Philipp Frank, „ihre Formulierungen den Methoden anzupassen, die mit Erfolg bei der allgemeinen Relativitätstheorie angewandt worden waren“153. Welche Interpretation die Relativitätstheorie dabei im einzelnen erfährt, wird nun im folgenden genauer untersucht. 149 O. Neurath, Physikalismus: Die Philosophie des Wiener Kreises, 419. R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 81. 151 Vgl. V. Kraft, Der Wiener Kreis, VI. 152 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI. 153 P. Frank: Einstein, Mach und der logische Positivismus, 177. 150 92 3. Die Relativitätstheorie als empirische Philosophie Die spezielle Relativitätstheorie kann als Bestätigung der empiristischen These des Logischen Positivismus aufgefaßt werden, derzufolge nur Erfahrungserkenntnis zugelassen werden darf, die auf unmittelbar Gegebenem beruht. Der von den Physikern des 19. Jahrhunderts postulierte Äther, der den gesamten Weltraum ausfüllen sollte, ist keine beobachtbare Tatsache und damit eben keine Erfahrungserkenntnis. Einstein sieht darum auch keinen Anlaß einen derartigen Äther „neben dem Raum als ein Wesen besonderer Art“154 einzuführen, dieser erweist sich ihm als „überflüssig“155. Statt dessen gründet sich die spezielle Relativitätstheorie „direkt auf ein empirisches Gesetz“156, nämlich auf die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, eine experimentell sehr gut belegte Erfahrungserkenntnis. Darüber hinaus betont Einstein wiederholt den empirischen Charakter der Relativitätstheorie, wobei er bewußt auf Formulierungen Ernst Machs zurückgreift: Die Relativitätstheorie sei nicht spekulativen Ursprungs, sondern sie verdanke ihre Entdeckung nur der Bestrebung, „die physikalische Theorie den beobachteten Tatsachen so gut als nur möglich anzupassen“157. Es sei einer der wesentlichsten Züge der Relativitätstheorie, so Einstein weiter, daß sie bemüht sei, „die Beziehungen der allgemeinen Begriffe zu den erlebbaren Tatsachen schärfer herauszuarbeiten“158. Die Berechtigung eines physikalischen Begriffes beruhe „ausschließlich in seiner klaren und eindeutigen Beziehung zu den erlebbaren Tatsachen“159. Reichenbach erkennt in dieser Einstellung eine „positivistische oder wohl besser gesagt empiristische Haltung“, die Einsteins „philosophische Position“160 bestimme: „Die Einsteinsche Relativitätstheorie gehört [...] zur Philosophie des Empirismus.“161 Allerdings modifiziert Einstein die Forderung Machs – und damit auch eine ursprüngliche Forderung des Wiener Kreises – wenn er später darauf hinweist, daß Erkenntnisse in der Physik in der Regel nicht auf unmittelbare Erfahrungstatsachen zurückgeführt werden können und zur Veranschaulichung gerade wieder die allgemeine Relativitätstheorie anführt: „Die Relativitätstheorie ist ein schönes Beispiel für den Grundcharakter der modernen Entwicklung der Theorie. Die Ausgangshypothesen werden nämlich immer abstrakter, erlebnisferner. Dafür aber kommt man dem vornehmsten wissenschaftlichen Ziele näher, mit einem Mindestmaß von Hypothesen oder Axiomen ein Maximum von Erlebnisinhalten durch logische Deduktion zu umspannen. Dabei wird der gedankliche Weg von den 154 A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 237. Ders., Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 27. 156 Ders., Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 239. 157 Ders., Über Relativitätstheorie, 217. 158 A.a.O., 218. 159 Ebd. 160 Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 143. 161 A.a.O., 160. 155 93 Axiomen zu den Erlebnisinhalten bzw. zu den prüfbaren Konsequenzen ein immer längerer, subtilerer.“162 Die Theorie muß schon weit ausgearbeitet sein, um zu Folgerungen zu führen, die sich mit der Erfahrung vergleichen lassen. Dennoch bleibt auch für Einstein „die Erfahrungstatsache die allmächtige Richterin“163. Aber ihr Spruch könne erst aufgrund großer und schwieriger Denkarbeit erfolgen, die den weiten Raum zwischen den Axiomen und den prüfbaren Folgerungen zu überbrücken habe. Diesem hier zum Ausdruck kommenden Vorgehen der theoretischen Physik, das diese bis heute prägt, tragen spätere Modifizierungen und „Liberalisierungen“ der positivistischen Konzeption durch Frank und Carnap Rechnung.164 Weiterhin sieht der Logische Positivismus im Fall der speziellen Relativitätstheorie ein Beispiel für den Erfolg der konsequent durchgeführten logischen Analyse. Die entscheidenden, epochemachenden Fortschritte der Wissenschaft sind für Schlick immer dadurch gekennzeichnet, „daß sie eine Klärung des Sinnes der fundamentalen Sätze bedeuten“165. Dies gelte auch für die Einsteinsche Relativitätstheorie, „die von einer Analyse des Sinnes der Aussagen über Zeit und Raum ausging“. Schlick beurteilt Einsteins diesbezügliche Klärung als eine „eminent philosophische [...] Leistung“166. Victor Kraft führt dies am Beispiel der Relativierung der Gleichzeitigkeit noch etwas näher aus. Einstein gebe an, unter welchen Umständen das Wort „Gleichzeitigkeit“ zu gebrauchen sei, und damit lege er – nach einer Formulierung von Ludwig Wittgenstein – die „Grammatik“ dieses Wortes fest.167 Einstein beschreibt exakt die komplexe Situation, die die genaue Bedeutung des Begriffs „Gleichzeitigkeit“ überhaupt erst verständlich macht. Damit entspricht Einstein in diesem konkreten Fall einer der ersten Bemühungen des Wiener Kreises, die darin besteht, „die Sprache ihrer Bedeutungsfunktion nach klarzustellen“168. Die zweifellos wichtigste Funktion der allgemeinen Relativitätstheorie besteht für den Logischen Positivismus aber darin, daß sie hier als das entscheidende Argument gegen die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori im Sinne Kants dient. Reichenbach ordnet die Relativitätstheorie aus philosophiegeschichtlicher Perspektive aus diesem Grund auch in den „Prozeß der Auflösung des synthetischen a priori“169 ein. Zufolge der Programmschrift des Wiener Kreises macht die Ablehnung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori die Grundthese des modernen Empirismus 162 A. Einstein, Das Raum-, Äther- und Feld-Problem in der modernen Physik, 238. A.a.O., 238f. 164 Vgl. dazu P. Frank, Einstein, Mach und der logische Positivismus, 175–178, sowie R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 60, 88–93. 165 M. Schlick, Die Wende der Philosophie, 18. 166 Ebd. 167 Vgl. V. Kraft, Der Wiener Kreis, 27. 168 A.a.O., 26. 169 H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 159. 163 94 aus, und darum kommt der Relativitätstheorie an dieser Stelle sogar eine konstitutive Bedeutung für den Logischen Positivismus zu. Nach Auffassung der Vertreter des Logischen Empirismus sind für Kant die Sätze der euklidischen Geometrie zum einen a priorisch gültig, das heißt unabhängig von Erfahrung, und zum anderen sind sie synthetisch, das heißt Erkenntnis der erfahrbaren Wirklichkeit. Mathematiker des 19. Jahrhunderts entdeckten nun Geometrien, die unter logischem Gesichtspunkt mit der euklidischen Geometrie gleichberechtigt sind. Immerhin scheint aber zu dieser Zeit die euklidische Geometrie noch dadurch ausgezeichnet zu sein, daß sich ihre Aussagen mit der uns umgebenden physikalischen Wirklichkeit decken, wohingegen die anderen, nichteuklidischen Geometrien reine Gedankengebilde ohne sinnvollen Bezug zur Wirklichkeit darzustellen scheinen. Diese Vorzugsstellung verliert die euklidische Geometrie, als Einstein in seiner allgemeinen Relativitätstheorie für den physikalischen Raum mit Erfolg eine nichteuklidische Struktur zugrunde legt. Damit ist für die Vertreter des Logischen Positivismus erwiesen: Die (unendlich vielen) axiomatischen Systeme, die die Geometrie zur Auswahl stellt, sind zwar allesamt a priorisch, aber sie sind nicht synthetisch, das heißt ohne unmittelbaren Erkenntniswert in Bezug auf die physikalische Wirklichkeit. Carnap konstatiert in diesem Sinn unmißverständlich: „Die Relativitätstheorie machte es allen, die es verstanden, klar, daß Geometrie, im a-priori-Sinn genommen, uns nichts über die Realität sagt. Es gibt keine Aussage, die logische Sicherheit mit einer Information über die geometrische Struktur der Welt verbindet.“170 Im gleichen Sinn faßt Victor Kraft die gemeinsame Überzeugung des Wiener Kreises zusammen: „Logik und Mathematik sagen nichts über die erfahrbare Wirklichkeit aus. Die Logik enthält keine Erkenntnisse, sie gibt nicht die Grundgesetze des Seins, sondern die Grundlagen gedanklicher Ordnung. Logische Beziehungen sind bloß gedankliche Beziehungen, sie bestehen nicht als tatsächliche Beziehungen innerhalb der Wirklichkeit, sondern nur als Beziehungen innerhalb des Darstellungssystems.“171 Erst der Physiker entscheidet in Anbetracht von empirischen Vorgaben, welche der zur Auswahl stehenden Geometrien ihm geeigneter erscheint, die Struktur der physikalischen Wirklichkeit zu beschreiben. Theoretisch bieten sich ihm dazu im Zusammenhang mit der allgemeinen Relativitätstheorie unterschiedliche Möglichkeiten: Entweder er behält die euklidische Geometrie bei und erklärt die neuen Beobachtungsergebnisse durch zusätzliche Korrekturfaktoren in den klassischen Gesetzen der Mechanik und Optik; oder er zieht eine nichteuklidische Geometrie vor und erhält dann vergleichsweise einfache physikalische Gesetze.172 In der Beurteilung dieser beiden Möglich170 R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 183. V. Kraft, Der Wiener Kreis, 16. 172 Eine Gegenüberstellung dieser beiden Möglichkeiten findet sich in: P. Mittelstaedt, Philosophische Probleme der modernen Physik, 46–99, insbesondere 98f. 171 95 keiten weichen die Ansichten der Logischen Positivisten voneinander ab. Für Carnap führen beide Möglichkeiten zu äquivalenten Theorien, das heißt, daß die Theorien jeweils zu genau den gleichen Vorhersagen führen. Allerdings besitzt die von Einstein und der modernen Physik verwendete nichteuklidische Geometrie den Vorteil, das gesamte System der Physik zu vereinfachen.173 Reichenbachs Standpunkt ist hier radikaler, wenn er darauf insistiert, daß es im Hinblick auf die genannten Möglichkeiten „nur ein entweder-oder“174 gebe. Der Übergang zwischen beiden Möglichkeiten „würde den Übergang zu einer anderen Physik bedeuten, die physikalischen Gesetze würden dann materiell anders lauten, und eine Physik kann nur richtig sein“175. Wogegen man freilich einwenden muß, daß die jeweils anders lautenden Gesetze zu exakt den gleichen Voraussagen kommen würden und von da her keine Theorie „richtiger“ als die andere ist. Aber Reichenbach geht es darum, die nichteuklidische Geometrie, die in der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde gelegt wird, nicht nur als zweckmäßig und praktikabel herauszustellen, sondern auch als „wahr“. Über diese Wahrheit entscheiden Beobachtung und Experiment, wie Reichenbach in anderem Zusammenhang, aber gleichfalls mit Bezug auf die Geometrie feststellt: „Es ist eine empirische Frage, zu welchem Typus unsere Welt gehört. Das Experiment hat zugunsten der Einsteinschen Auffassung entschieden. Wie bei der Geometrie ist der menschliche Geist fähig, auch verschiedene Formen eines Zeitschemas zu konstruieren. Die Frage, welches dieser Schemata auf die physikalische Welt paßt, also wahr ist, kann nur mit Bezug auf die Beobachtungsdaten beantwortet werden.“176 Es zeigt sich, daß die Relativitätstheorie für den Logischen Positivismus nicht nur einen gedanklichen Anstoß bedeutet, sondern daß ihr auch eine überragende Bedeutung in der Argumentation dieser philosophischen Richtung zukommt. Es kann darum nicht überraschen, daß Albert Einstein in der Selbstdarstellung des Wiener Kreises neben Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein als „führende[r] Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung“ aufgeführt wird. Einstein wird unter den Denkern der Gegenwart genannt, „die die wissenschaftliche Weltauffassung am wirkungsvollsten in der Öffentlichkeit vertreten und auch stärksten Einfluß auf den Wiener Kreis ausüben“177. In gewissem Maß ist diese Berufung auf Einstein sicherlich begründet. Dies gilt insbesondere für die von Carnap vertretene Position, mit der Einstein weitgehend übereinzustimmen scheint,178 wenn er mit Bezug auf das Verhältnis von Mathematik zur Wirklichkeit feststellt: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern 173 Vgl. dazu R. Carnap, Philosophie der Naturwissenschaften, 163f. H. Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, 296. 175 Ebd. 176 H. Reichenbach, Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, 158. 177 H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 332. 178 Vgl. R. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, 60. 174 96 sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“179 Einstein kann aus diesem Grund „die Frage nach dem a priori im Sinne Kants niemals begreifen“180. Einsteins Feststellung über das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit läßt aber offen, wie er zu Reichenbachs Position steht; mit Geometrie und Mathematik allein ist jedenfalls auch für Einstein die Frage nach der „Struktur der Welt“ nicht eindeutig entscheidbar.181 VI. Schlußbemerkung Die Relativitätstheorie wirft philosophische Fragen nach ihrer Deutung auf, die weit über den Rahmen der Physik hinausgehen. Diese Fragen werden von Philosophen und Physikern wie gesehen im einzelnen sehr unterschiedlich beantwortet und zum Teil bis heute kontrovers diskutiert. Die übereinstimmende Überzeugung, daß die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie physikalisch richtig sind, schließt demnach miteinander unvereinbare Deutungen dieser physikalischen Theorien keineswegs aus. Bezüglich der Physiker ist außerdem schon hier festzuhalten, daß sich mit der Relativitätstheorie ihr Wirklichkeitsverständnis nachhaltig zu verändern beginnt. Das Bild, das die moderne Physik von der Welt – „ihrer“ Welt – Zug um Zug entwirft, verzichtet zunehmend auf anschauliche Vorstellungen, es wird abstrakter und mathematischer. Ein unreflektierter „Realismus“, der insbesondere unter den Physikern des 19. Jahrhunderts noch die Regel ist, läßt sich mit der modernen Physik nicht mehr vereinbaren. Physiker, die unbeirrt an einer unmittelbar anschaulichen Weltauffassung festhalten, können immer weniger mit selbstverständlicher Zustimmung rechnen und sehen sich genötigt, gegenüber jüngeren Fachkollegen ihr physikalisches Wirklichkeitsverständnis zu rechtfertigen. Im weiteren Verlauf vorliegender Arbeit wird deutlich werden, daß sich diese Veränderung im Wirklichkeitsverständnis, die sich in der Relativitätstheorie erst abzeichnet, in der Quantentheorie fortsetzt, bei den Physikern zu einem ausdrücklich bewußt werdenden „Realismusproblem“ führt und sich insbesondere auch auf die Stellungnahmen von Physikern zu Fragen der Religion auswirkt. 179 A. Einstein, Geometrie und Erfahrung, 197. Ders., Das Raum-, Äther- und Feld-Problem der Physik, 231. 181 „Die Frage nach der geometrischen Struktur der Welt wird eindeutig entscheidbar“, heißt es allerdings in der Programmschrift des Wiener Kreises – ausgerechnet unter Bezug auf Einsteins Vortrag Geometrie und Erfahrung (H. Hahn/O. Neurath/R. Carnap (Hg.), Wissenschaftliche Weltauffassung, 333); vgl. dazu auch Einsteins Kommentar zu Reichenbachs Interpretation der Relativitätstheorie in: P. A. Schilpp (Hg.), Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher. Eine Auswahl. Braunschweig 1983, 242–244. 180 97 Zuvor werden wir uns aber im folgenden Kapitel den Reaktionen auf die Relativitätstheorie von Seiten der Theologie zuwenden. Die von den Vertretern des Logischen Positivismus geführten Diskussionen um die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie und um den damit in Frage stehenden erkenntnistheoretischen Ansatz Kants stoßen damals freilich nicht auf das Interesse der Theologie. Dies ist um so bedauerlicher, als gerade im Zusammenhang mit diesen Fragen ein konstruktiver Austausch zwischen moderner Physik, Philosophie und Theologie vorstellbar gewesen wäre. Vom „Wiener Kreis“ und von der Berliner Gruppe um Reichenbach hätte die Theologie dabei zunächst einmal lernen können, daß die gründliche Kenntnis physikalischer Sachverhalte ihrer Deutung vorangehen muß. Des weiteren hätte aber die Inanspruchnahme der Relativitätstheorie für die Metaphysikkritik im Logischen Positivismus einer kritischen Beurteilung unterzogen werden müssen. Dabei hätte sich ergeben, daß es zwar möglich, aber keineswegs zwingend ist, die Relativitätstheorie von einem physikalistischen Standpunkt aus im Sinne Neuraths zu deuten. Doch selbst wenn man etwa Carnap zugesteht, daß mit der allgemeinen Relativitätstheorie belegt werden kann, daß Mathematik und Geometrie keine synthetischen Urteile a priori enthalten können, so ist damit noch keineswegs die Unmöglichkeit aller synthetischen Urteile a priori erwiesen. Wäre es damals im Anschluß an die Relativitätstheorie zu einem offenen Dialog gekommen, hätte sich die Theologie vielleicht unversehens auf der Seite Kants wiedergefunden und im Anschluß an ihn gegen physikalistische Kurzschlüsse und für die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori und damit für die Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft argumentiert. Auf diesem Wege hätte sich der Theologie nach ihrer pauschalen Ablehnung der kritischen Philosophie Kants im 19. Jahrhundert sogar ein Zugang zum transzendentalphilosophischen Ansatz eröffnen können. Vielleicht wäre es der Theologie im Ausgang von Kant dann auch gelungen, sich zu den modernen Naturwissenschaften in ein Verhältnis zu setzen, bei dem sie nicht immer wieder neu entscheiden muß, ob sie sich durch neues naturwissenschaftliches Wissen eher bedroht oder bestätigt sehen soll. Dies bleiben Gedankenspiele. Auf dieser Ebene kommt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kein Dialog zwischen moderner Physik, Philosophie und Theologie zustande. Zwar gibt es theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie, aber sie sind von anderer Art, wie folgendes Kapitel zeigen wird. 98 Viertes Kapitel: Theologische Reaktionen auf die Relativitätstheorie Wer mit den grundlegenden physikalischen Aussagen der Relativitätstheorie vertraut ist, wird sich wundern, wenn nun von theologischen Reaktionen auf die Relativitätstheorie die Rede sein soll. Daß die Relativitätstheorie unterschiedliche erkenntnistheoretische Deutungen erfährt, ist aufgrund der physikalischen Revision der Begriffe von Raum und Zeit naheliegend und kann im vorangegangenen Kapitel nachvollzogen werden. Was aber haben die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie mit Theologie und Religion zu tun? Albert Einstein selbst reagiert amüsiert und verständnislos auf diesbezügliche Anfragen und weist jeden Zusammenhang seiner Theorie mit religiösen Fragen entschieden zurück. So bescheidet Einstein beispielsweise den Erzbischof von Canterbury Randall Thomas Davidson auf dessen direkte Frage „what effect the theory of relativity had on religion“ kurz und bündig: „None. Realtivity is a purly scientific theory, and has nothing to do with religion.“1 Dessen ungeachtet gibt es vor allem in den zwanziger Jahren zahlreiche Beiträge von Theologen, die sich mit dem Verhältnis von Relativitätstheorie und Religion und darüber hinaus auch mit der Bedeutung der Relativitätstheorie für den christlichen Glauben befassen. Wenn man diese Beiträge allerdings mit der physikalisch kompetenten Auseinandersetzung, die beispielsweise im „Wiener Kreis“ über die Relativitätstheorie geführt wurde, vergleicht, fällt sofort das bescheidene Niveau ins Auge, auf dem diese „theologische Rezeption“ stattfindet. Der Physiker und Einsteinbiograph Philipp Frank bemängelt, daß sich die theologischen Interpretationen der Relativitätstheorie mehr auf den Wortlaut als auf den Inhalt dieser Theorie beziehen. Das sehe man besonders bei den „Hunderten von Autoren, die die vierdimensionale Darstellung der Relativitätstheorie heranziehen, um ein Argument für die traditionelle Religion zu finden“2. Mit einigen Beispielen einer derart oberflächlichen und unangemessenen „Deutung“ der Relativitätstheorie beginnt der Überblick über die insgesamt sehr unterschiedlichen Stellungnahmen, die hier von theologischer Seite vorgelegt werden (I.). Im Anschluß daran wendet sich die vorliegende Untersuchung den argumentativen Anstrengungen katholischer Theologen zu, die Unvereinbarkeiten von neuscholastischer Ontologie und Relativitätstheorie ausmachen und darum sogar grundsätzlich die experimentelle Überprüfbar1 Zit. in: M. Jammer, Einstein und die Religion, 58; vgl. auch P. Frank, Einstein. Sein Leben und seine Zeit, 303f, vgl. 416. – Einstein lehnt zwar jede religiöse Implikation der Relativitätstheorie ab, bekennt sich aber unabhängig davon verschiedentlich zu einer „kosmischen Religiosität“; vgl. 7. Kap. II. 2. vorliegender Arbeit. 2 P. Frank, Einstein. Sein Leben und seine Zeit, 418. 99 keit der Relativitätstheorie leugnen (II.). Der darauffolgende Abschnitt befaßt sich mit Karl Heims Versuch einer „neuen Apologetik“, in deren Rahmen die Relativitätstheorie zwar bejaht, zugleich aber auch sehr fragwürdig gedeutet wird (III.). Schließlich sollen Ansätze einer neuen Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie dargestellt werden, die von theologisch interessierten und gebildeten Naturwissenschaftlern im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie vorgelegt werden (IV.). Nur wenige Jahre dient die Relativitätstheorie als Impuls für einen möglichen Austausch zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Kaum nehmen die wenigen Theologen, die die Entwicklung der modernen Physik verfolgen, die Relativitätstheorie zur Kenntnis, ist für die neue Physikergeneration insbesondere die spezielle Relativitätstheorie schon eine Theorie geworden, die man „einfach lernen und anwenden [muß], so wie jede ältere Disziplin der Physik“3. Faszinierend sind nun die Herausforderungen, die die Entfaltung der neuen Quantentheorie stellt. Als nach dem zweiten Weltkrieg da und dort das Gespräch zwischen Physikern und Theologen (wieder) in Gang kommt, geht es dann fast ausschließlich um die Deutung der Quantentheorie. I. Die Relativitätstheorie als vermeintliche Bestätigung des Glaubens Rudolph Lettau, evangelischer Pastor in Riezig bei Stargard, veröffentlicht im Jahr 1920 in der „Furche“, einer „Monatsschrift zur Vertiefung christlichen Lebens und Anregung christlichen Werkes“, einen Aufsatz mit dem Titel „Die Einsteinsche Relativitätstheorie im Verhältnis zur christlichen Weltanschauung“. Obwohl Lettau zugesteht, daß eine umfassende philosophische, mathematische und naturwissenschaftliche Bildung zum völligen Verständnis des in Frage stehenden Problems gehöre, kann seiner Meinung nach „auch der schlichte Verstand und besonders der christlich erleuchtete [...] sehr wohl zu einem eigenen Urteil in der Streitfrage wegen der Relativitätstheorie kommen“4. Lettaus Urteil soll hier erwähnt werden, da es ein – ausgesprochen einfältiges – Beispiel darstellt sowohl für einen verbreiteten Typ früher theologischer „Rezeption“ der Relativitätstheorie als auch für ein bis heute geübtes Verfahren theologischer Reaktion auf gerade aktuelle und populäre naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Die „Wiedergabe“ der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie wird bei Lettau auf einen einzigen Satz komprimiert: 3 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 37. R. Lettau, Die Einsteinsche Relativitätstheorie im Verhältnis zur christlichen Weltanschauung, 153. 4 100 „Mathematisch ausgedrückt: die Zeit wird die vierte Raumkoordinate und die Lehre von der Kinematik wird zur vierdimensionalen Geometrie, und unsere gewöhnliche euklidische Geometrie ist nur ein Spezialfall vieler mögliche[r] Geometrien.“5 Nach den durch Kopernikus und Darwin provozierten Krisen für die christliche Weltanschauung bringe Einstein damit anscheinend auch die letzte der festen Landmarken an unserem geistigen Horizont ins Schwanken: „Hat er recht, dann ist für unsere Weltbetrachtung nirgends ein ruhender Pol in der Erscheinungen Fluß. Alles um uns flieht, wo wir es greifen und fest halten wollen. Wir müssen neben dem räumlich gedachten Himmel dann auch den zeitlich gedachten aufgeben. Und was bleibt uns als Christen dann z. B. auf dem Gebiet der Unsterblichkeitshoffnung?“ 6 Das Wesentliche bleibe, versichert Lettau und beruhigt: „Einstein sagt dem Christen nichts Seltsames, wenn Raum und Zeit relative Dinge sein sollen.“7 Gott stehe für den Christen ohnehin über Raum und Zeit und sei beiden darum auch nicht unterworfen. Zum Beleg zieht Lettau unter anderem Verse aus Psalm 90 („Ehe denn die Berge wurden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit“) und Psalm 102 („Du bleibest, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende“) hinzu. Für uns Menschen hingegen sei die Relativität von Raum und Zeit dazu angetan, „eine harte Nuß zu werden“8. So stelle sich das vulgärchristliche Bewußtsein das Jenseits als eine irgendwie zeitlich geordnete Fortsetzung unserer Weltzustände vor: „Und nun kommt Einstein und untersagt uns solche Vorstellungen im Namen der Wissenschaft. Wir sollen gezwungen sein, all die lieben Vorstellungen dahinten zu lassen, mit denen wir den Himmel uns schön machen. Können und müssen wir uns da fügen?“ 9 Wir können und müssen, ja wir sollen es, predigt Pastor Lettau: „Laß nur alle fromme Selbstsucht fahren, wenn es sich um das Jenseits handelt; und wenn Einstein dir zumutet, du sollst Raum und Zeit für diese Welt zurücklassen, so widerfährt dir im Grunde nichts Seltsames. Richte dich nur immer auf eine jetzt noch ganz unvorstellbare Welt ein, und siehe zu, wie du darin lebensfähig sein magst. Und Hinweise sind ja auch vorhanden, wie ein Wesen da auch ohne die Formen von Raum und Zeit ein Leben in sich hegen mag.“10 Einstein verlange, das Unvorstellbare zu denken, und Lettau kann es darum nur begrüßen, wenn weltliche Wissenschaft solcherart den Gläubigen nötige, sich beizeiten um den geistlichen Habitus zu bemühen, auf den wir angewiesen sind, wenn wir in einer anderen Welt bestehen wollen: „Wir stehen nicht an, auszusagen: Die stärksten Antriebe zur Heiligung können in dem für uns Christen niedergelegt sein, was uns Einstein in seiner Relativitätstheorie über Raum und Zeit zu bedenken gibt. Hat er recht, dann kann das in der Christenheit wie nie zuvor dienen zum Aufbau eines inwendigen Lebens.“11 5 6 7 8 9 10 11 A.a.O., 154, bei Lettau: „möglichen“. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 155. Ebd. Ebd. 101 Lettaus Aufsatz wäre nicht der Erwähnung wert, wenn er nur die kuriose Sicht eines einzelnen Landpfarrers darstellen würde. Nun ist diese Art theologischer „Rezeption“ der Relativitätstheorie in den zwanziger und dreißiger Jahren aber geradezu gängig. Die Mitherausgeberin der „Furche“, in der viele namhafte Theologen und Religionswissenschaftler zu Wort kommen, würdigt Lettaus Beitrag einer eigenen Erwiderung. Für den Christen, der in der Bibel wirklich lebe und forsche, schreibt Elisabet Riemeier in ihrer Antwort an Lettau, sei es immer eine ganz besondere Freude, wenn eine wissenschaftliche Entdeckung die biblischen Aussagen bestätige: „Lettau beweist, daß Einstein der biblischen Anschauung über die ‚Zeit‘ recht gibt, daß er uns damit von der Vorstellung eines an die Zeit gebundenen Jenseits befreit, und uns dadurch die stärksten Antriebe zur Heiligung, zur Loslösung vom Diesseits, geben kann.“12 Die Alternative sei nun nicht mehr nur „Zeit oder Nicht-Zeit“, sondern Einstein habe gezeigt, daß es „‚andere‘ Zeit“ gebe. „Könnte nicht dann die ‚Ewigkeit‘ einfach eine solche ‚andere‘ Zeit sein, aber doch ‚Zeit‘?“13 fragt Riemeier. Sie bemängelt ansonsten an Lettaus Darstellung nur, daß er Einstein und nicht schon Kant das Verdienst zukommen lasse, „im Namen der Wissenschaft“ uns von einer absoluten, wirklichen Zeit befreit zu haben. Jedenfalls aber kommen für Riemeier nunmehr geoffenbarter Glaube (Bibel), Philosophie (Kant), Mathematik (Einstein) und innere Erfahrung zu ein und demselben Resultat: „Den heiligen Männern Gottes ist es offenbart, der Philosoph und der Mathematiker beweisen es, unsere eigene innere Erfahrung gibt dem recht: Wer an ihn glaubt, der hat das ewige Leben.“14 Am Ende ihrer Erwiderung regt Riemeier eine Diskussion in ihrer Zeitschrift an: „Wird Einstein nicht ein ganz neues ‚Weltgefühl‘ (vgl. Spengler) in uns wachrufen, das auch für unser religiöses Leben von einschneidender Bedeutung sein wird, von größerer als man heute ahnt? Oder sind seine Beweise nicht stichhaltig und wird das, was er Neues bringen will, im Sande verrinnen? Ich glaube, das sind Fragen, die auch unser innerstes Leben angehen und berühren und die darum in der ‚Furche‘ besprochen werden könnten.“15 Der Versuch, die Relativitätstheorie unmittelbarer theologisch zu verwerten, findet sich auch bei dem systematischen Theologen Henry H. Riggs. In einem im „Hibbert Journal“ aus dem Jahr 1939 abgedruckten Artikel mit dem Titel „Immortality and the Fourth Dimension“ meint Riggs von der Relativitätstheorie Aufklärung über die Wirklichkeit des ewigen Lebens erhalten zu können: 12 13 14 15 E. Riemeier, Einstein und Kant, 156. Ebd. Ebd. (Hervorhebungen bei Riemeier). A.a.O., 157. 102 „The mathematical concept from which I think that we may find some light on the reality of eternal life is familiar to mathematicians as the Fourth Dimension; and this rather nebulous idea has been brought to the front and set to work in connection with the Theory of Relativity, in the proposition, built into the very foundations of that theory, that time is the fourth dimension.“16 Würden wir als „Flatlander“, so Riggs‘ Gedanke auf den folgenden Seiten, nur in zwei Dimensionen leben, könnten wir uns die dritte Dimension nicht vorstellen, sondern nur an sie glauben. Entsprechend verhalte sich unser gegenwärtiges Leben zum ewigen Leben, – mit dem Unterschied freilich, daß uns aus Sicht der Relativitätstheorie schon jetzt das sterbliche dreidimensionale Leben in der vierten Dimension als „ewiges Leben“ begreifbar werden kann: „If the idea of time as a fourth dimension is valid, then the difference between this mortal life and the ‚other life‘ is not a difference in the time nor the quality of the life. It is only a difference in our view of it – our ability to see it whole. While we are limited to threedimensional understanding, it is mortal life. When we perceive it in four dimensions, it is eternal life.“17 Fünf Merkmale kennzeichnet den in diesem Abschnitt vorgestellten Typ theologischer „Rezeption“ der Relativitätstheorie: w Erstes Merkmal ist das offensichtliche und meist auch ausdrücklich erklärte Bestreben, aus christlicher Sicht naturwissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich nicht (mehr) korrigieren zu wollen. Der folgenreiche Irrtum im Kampf gegen Galilei und Darwin soll nicht ein weiteres Mal wiederholt werden. Darum die vorbehaltlose Anerkennung gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis. w Das zweite Merkmal ist das fehlende Verständnis der akzeptierten naturwissenschaftlichen Theorie und ihrer Bedeutung. Dabei handelt es sich nicht um einen Verzicht des Verstehens, der sich aus grundsätzlichen Erwägungen rechtfertigen kann, sondern um ein Defizit mangels Kompetenz, das auch als ein solches empfunden und darum verschleiert wird. w Die notdürftige Verschleierung des mangelnden Verständnisses durch Verwendung einzelner zentraler physikalischer Begriffe ist damit das dritte Merkmal dieses Rezeptionstyps. Dadurch wird eine Kenntnis der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge vorgetäuscht. „Rezipiert“ werden aber nur einzelne aus ihrem Zusammenhang gerissene naturwissenschaftliche Begriffe oder Benennungen („vierte Dimension“, „Relativität von Raum und Zeit“ etc.), die dann in einen theologischen Kontext übernommen und hier ohne Ansehung ihres ursprünglich physikalischen Sinnes völlig neu gedeutet werden. w Viertes Merkmal ist die Hoffnung, daß sich die Anerkennung naturwissenschaftlicher Erkenntnis insofern bezahlt macht, als diese nun sogar zur Festigung, ja zum Bestätigung religiöser Überzeugung beitragen kann. 16 17 H. H. Riggs, Immortality and the Fourth Dimension, 264. A.a.O., 267. 103 Diese Hoffnung verbindet sich bezüglich der Einsteinschen Relativitätstheorie mit der irrigen Erwartung, diese Theorie könne belegen, wenn nicht gar beweisen, was bislang nur geglaubt werden konnte: ein Jenseits von Raum und Zeit, eine andere, uns vollkommen unvorstellbare Welt und Zeit und dergleichen mehr. w Es versteht sich von selbst, daß auf diesem Weg nur der flüchtige Schein einer Synthese von Naturwissenschaft und Glaube vorgespiegelt werden kann – um so mehr als im vorigen Kapitel gezeigt wurde, daß gerade die zentralen Benennungen in einer physikalischen Theorie, die für diese „Synthese“ aufgegriffen werden, deutende und unter Umständen irreführende Zutat zur Theorie selbst sein können (wie beispielsweise schon die Bezeichnung „Relativitätstheorie“). Gleichwohl ist die Behauptung einer gelungenen Synthese von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und christlichem Glauben das fünfte Merkmal derartiger theologischer Reaktionen. Aus heutiger Perspektive erscheint die Einsicht, daß Theologie und Kirche gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht korrigieren dürfen, begrüßenswert. Höchst fragwürdig dagegen ist es, wenn die jeweiligen Erkenntnisse, an die die Theologie „Anschluß“ sucht, noch nicht einmal in ihren Grundzügen verstanden werden. Eine derart oberflächliche „Aneignung“ aktueller Forschungsergebnisse kann den christlichen Glauben allenfalls kurzfristig als „zeitgemäß“ erscheinen lassen; auf Dauer stellt sie aber die Theologie als ernstzunehmenden Dialogpartner der Physik in Frage. Derartige theologische Anknüpfungen sind bis heute eine Begleiterscheinung von spektakulären oder auch nur populären naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geblieben. Zurecht qualifiziert Peter Brügge zum Beispiel gegenwärtige Versuche, die „Chaostheorie“ – und hier insbesondere wiederum die Benennung „Chaos“ – für eine „Chaos-Theologie“ nutzbar zu machen als populärwissenschaftliche Vermarktung eines Schlagwortes, als Schwärmerei und pseudoreligiöse Spekulation.18 18 Vgl. P. Brügge, Ausbreitung und Mißbrauch einer neuen Welterklärung (I–III); Brügge beurteilt des weiteren die Wissenschaft vom Chaos als „Nährboden für märchenhaft falsche Erwartungen und pseudoreligiöse Spekulationen“ (III, 246) und spricht diesbezüglich vom „Showbusiness für die Masse der mathematisch Unkundigen“ (III, 240). Dies gilt m. E. auch für die pseudotheologische Ausbeutung des „anthropischen Prinzips“ (vgl. die Einführung vorliegender Arbeit, Anm. 67 und 68); vgl. auch H.-D. Mutschler, Physik – Religion – New Age, insbes. 212–216, sowie K. Schmitz-Moormann, Materie – Leben – Geist, 17f, der darauf hinweist, daß sich auch „in neueren Handbüchern der Theologie der Schöpfung [...] Verallgemeinerungen [finden], die auf einem klaren Mißverständnis der naturwissenschaftlichen Aussagen über das Universum beruhen“. 104 II. Neuscholastische Apologetik Im folgenden Abschnitt wird zunächst die Ausgangssituation der katholischen Theologie um die Wende zum 20. Jahrhundert skizziert (1.). Diese ist bestimmt durch die kirchlich angeordnete Festlegung auf die scholastische Tradition (a) und ein rigoroses Vorgehen kirchlicher Autorität gegen „modernistische“ Tendenzen innerhalb der Theologie (b). Reformerische Ansätze und Versuche, den Gegensatz zwischen katholischer Kirche und modernen Wissenschaften zu überwinden, können sich demgegenüber nicht durchsetzen und berücksichtigen überdies kaum die modernen Naturwissenschaften (c). Vor diesem Hintergrund kann die reflexartige und polemische Ablehnung, die die Relativitätstheorie schon vergleichsweise früh von neuscholastischer Seite erfährt, kaum verwundern (2.); die wenigen sachlich etwas tiefer gehenden Auseinandersetzungen sind darüber hinaus lange Zeit durch eine tendenziöse oder sogar physikalisch falsche Darstellung der Relativitätstheorie gekennzeichnet (3.). Die Zurückweisung der Relativitätstheorie durch neuscholastische Theologen gipfelt in der Behauptung, diese Theorie sei „schlechte Metaphysik“ und eine rein hypothetische Konstruktion, die sich experimentell nicht überprüfen lasse (4.). Diese ablehnende Haltung und die Bevorzugung von physikalisch längst überholten Alternativtheorien kann aufgrund des dabei vorausgesetzten traditionellen Substanzbegriffs erklärt werden (5.). Solches Beharren auf einer den neuen physikalischen Erkenntnissen nicht mehr angemessenen Begrifflichkeit läßt nicht nur die theologische Reaktion auf die Relativitätstheorie kläglich scheitern, sondern blockiert auch lange Zeit das konstruktive Gespräch zwischen Theologie und moderner Physik (6.). 1. Ausgangssituation in der katholischen Theologie Im 19. Jahrhundert wurden denkbar schlechte Voraussetzungen für einen konstruktiven Dialog zwischen katholischer Theologie und modernen Naturwissenschaften gelegt. Seit dem Jahr 1835 erscheinen zwar die grundlegenden naturwissenschaftlichen Werke von Kopernikus, Kepler und Galilei nicht mehr auf dem kirchlichen Index verbotener Bücher,19 doch das Zerwürfnis zwischen neuzeitlicher Naturwissenschaft und Kirche ist damit noch nicht einmal im Ansatz aufgearbeitet und führt im Ergebnis zur „beinahe lautlosen Emigration der Naturwissenschaftler aus der Kirche“ und zum „permanenten Konflikt zwischen Naturwissenschaft und der herrschenden Normaltheologie“20. Die verhärtete Haltung zu den modernen Naturwissenschaften spiegelt sich exemplarisch in einer umfassenden Veröffentlichung über Galileo Galilei wider, die der Jesuit und Professor für Astro19 Vgl. L. Bieberbach, Galilei und die Inquisition, 121f; Newtons „Principia“ und später erschienene Bücher, die die kopernikanische Lehre behandeln, wurden nie verboten. 20 H. Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, 764. 105 nomie an der Gregoriana, Adolf Müller, im Jahr 1909 vorlegt. Die Verantwortung für den Konflikt um das kopernikanische Weltsystem sieht Müller darin vor allem bei Galilei selbst. Hätte dieser „ruhig abgewartet, bis er einen schlagenden Beweis für die ausschließliche Wahrheit dieser Hypothese hätte vorbringen können, so hätten sich die Theologen [...] vor diesem Beweise zurückgezogen, sie hätten ohne Zögern eingestanden, daß man bis dahin manche Stellen der Heiligen Schrift nicht richtig aufgefaßt habe“21. Entrüstet wird von Müller insbesondere Galileis Auftreten kritisiert, stand diesem doch „eine wirkliche geistliche Autorität gegenüber, ein mit Unfehlbarkeit in Glaubensentscheidungen ausgerüstetes, geordnetes Lehramt“22. An Galileis Charakter werden hervorgehoben seine „Sinnlichkeit, Streitsucht, Heftigkeit, ein unbändiger Ehrgeiz, eine unversöhnliche Rachsucht, verbunden mit einer Art Verfolgungswahn“23 und schließlich versucht Müller Galilei zu diskreditieren, indem er wiederholt auf die „wild[e] Ehe“ und das „unlauter[e] Verhältnis“24 Galileis mit der Venezianerin Gamba hinweist. Wo von einflußreicher kirchlicher Stelle derart uneinsichtige und polemische „Konfliktbewältigung“ vorgenommen wird, hat ein fruchtbarer Austausch zwischen Naturwissenschaft und kirchlicher Theologie von allem Anfang an wenig Aussicht auf Erfolg. Man wird dann in der Folge kaum noch darüber erstaunt sein, daß die neuscholastische Reaktion auf die Relativitätstheorie dem historischen Muster folgt und auch diese neue Theorie als Hypothese abtut, die experimentell gar nicht bewiesen sei, ja gar nicht bewiesen werden könne.25 In dieses Bild fügt sich desgleichen die despektierliche Rede von den „zahlreichen Freunde[n] und Anhänger[n]“ Einsteins, die „glauben in Einsteins Theorie die höchste Weisheit zu schauen, zu welcher sich je der Menschengeist emporgerungen“26. Da diese überdies „nicht müde [werden], in halbwissenschaftlichen Zeitschriften so gut wie in den Tagesblättern ihren Helden zu feiern und die ‚weltumwälzende‘ Bedeutung seiner Leistungen nicht bloß für die Physik und Astronomie, sondern für die gesamte Philosophie zu betonen“, sei es nicht verwunderlich, „wenn es ihnen selbst in wissenschaftlichen Zeitschriften zuweilen in Tönen zurückschallt, die für eine sachliche Erörterung so schwieriger Fragen nicht die geeignetsten sind“ 27. 21 A. Müller, Galileo Galilei und das kopernikanische Weltsystem, 176. A.a.O., 104. 23 A.a.O., 174. 24 A.a.O., 14, vgl. 53f. „Das Ärgernis war so offenkundig“, schreibt Müller, a.a.O., 14, „daß Galilei selbst nie den Versuch machte, seine Vaterschaft betreffs dieser illegitimen Kinder zu leugnen.“ – Nach dem Urteil von J. Brandmüller handelt es sich bei dieser Veröffentlichung Müllers um eine „nüchterne, sachliche, kritische Darstellung der Vorgänge um Galilei“ (J. Brandmüller, Galilei und die Kirche oder das Recht auf Irrtum, Regensburg 1982, 15f). 25 Vgl. S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 212. 26 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 107. 27 Ebd. 22 106 a) Kirchliche Festlegung auf die scholastische Tradition Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird durch verschiedene päpstliche Verlautbarungen systematisch versucht, die katholische Theologie und Philosophie auf die scholastische Überlieferung festzulegen.28 Die im Zusammenhang mit diesem Rückgriff auf die scholastische Tradition vor allem von Kritikern geprägten Begriffe „Neuscholastik“ und „Neuthomismus“ und ihre genauere inhaltliche Abgrenzung sind dabei allerdings umstritten.29 Im Jahr 1863 – kurz nach einer „Versammlung katholischer Gelehrter“ in München, bei der Ignaz von Döllinger die Freiheit der Wissenschaft in der Theologie unter Achtung der Glaubenssätze gefordert hatte – sieht sich Papst Pius IX. veranlaßt an „die alte Schule und [...] die Lehre jener hervorragenden Lehrer“ zu erinnern, „die die gesamte Kirche wegen ihrer wunderbaren Weisheit und Heiligkeit des Lebens verehrt“30. Durch Kritik an ihnen sieht Pius IX. „[...] die Autorität der Kirche selbst in Zweifel gezogen, da ja die Kirche selbst nicht nur durch so viele Jahrhunderte hindurch ununterbrochen gestattete, daß nach der Methode ebendieser Lehrer und nach Prinzipien, die in gemeinsamer Übereinstimmung aller katholischen Schulen festgelegt wurden, die theologische Wissenschaft ausgebildet werde, sondern ihre theologische Lehre auch sehr oft mit höchstem Lobe pries und sie als stärkstes Bollwerk des Glaubens 28 Die thomistische Renaissance begann sich bereits vor der Jahrhundertmitte insbesondere in Italien abzuzeichnen, vgl. dazu G. F. Rossi, Die Bedeutung des Collegio Alberoni in Piacenza für die Entstehung des Neuthomismus, 83–108, sowie H. M. Schmidinger, Der Streit um die Anfänge der italienischen Neuscholastik, 74–79. 29 In den damaligen päpstlichen Verlautbarungen findet sich weder der Begriff „Neuscholastik“ noch „Neuthomismus“ (allerdings spricht auch Papst Johannes Paul II. 1998 in seiner Enzyklika „Fides et ratio“, Nr. 59, im Rückblick auf diese Zeit von einer „thomistische[n] und neothomistische[n] Erneuerung“). Während sich nach der Enzyklika „Aeterni Patris“ aber viele katholische Gelehrte als „Neuscholastiker“ bezeichnen, wird der Begriff „Neuthomismus“ praktisch nie zur ausdrücklichen Selbstbezeichnung. Im Zusammenhang mit der stärker differenzierenden geschichtlichen Erforschung der Scholastik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, setzt die Auflösung des Begriffs „Neuscholastik“ ein, denn „mit der Zeit umfaßte er eine derartige Vielzahl von zum Teil kontrastierenden Richtungen, daß er seinen eindeutigen Inhalt verlor“ (H. M. Schmidinger, Art. Neuscholastik, Sp. 772). Unter sachlichen Aspekten hebt H. M. Schmidinger bezüglich der (frühen) Neuscholastik u. a. folgende charakteristischen Punkte hervor: die Philosophie ist dem kirchlichen Lehramt untergeordnet; im Rückgriff auf die klassische Tradition der Kirche, vor allem auf das 13. Jahrhundert, wird eine Form von „Philosophia perennis“ erhofft; darüber hinaus wird die neuzeitliche Philosophie und überhaupt das moderne Geistesleben als ein durch den Protestantismus verursachter Irrweg, den die kirchliche Wissenschaft ignorieren muß, abgelehnt (vgl. H. M. Schmidinger, „Scholastik“ und „Neuscholastik“, 50). Im Jahr 1920 nennt P. Jansen als „unvergänglich[e] Grundanschauungen“ der Neuscholastik: „der abbildende Charakter der höheren Erkenntnis, die Absolutheit und Unveränderlichkeit der Wahrheit, die Möglichkeit, das Ding an sich, die körperliche Außenwelt, die metaphysische Idealordnung, das Geistige und das Absolute, wenn auch unvollkommen, so doch wahrhaft mit dem Verstand zu erfassen, die objektive Geltung des Kausalgesetzes“ (P. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 259). 30 Brief „Tuas libenter“ an den Erzbischof von München-Freising, 21.12.1863, in: H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 2876 (=DH 2876). 107 und furchtbare Waffe gegen ihre Feinde nachdrücklich empfahl.“31 Im berühmten „Syllabus“ von 1864 nimmt Pius IX. dann in die Sammlung der dort aufgelisteten 80 Irrtümer auch ausdrücklich die Auffassung auf, wonach „die Methode und die Grundsätze, nach denen die alten scholastischen Lehrer die Theologie ausbildeten, [...] keineswegs den Erfordernissen unserer Zeiten und dem Fortschritt der Wissenschaften [entsprechen]“32. Sein Nachfolger Papst Leo XIII. setzt unter seinem Pontifikat (1878–1903) den Rückgriff auf die scholastische Tradition systematisch fort und verschafft ihm durch mehrere Verlautbarungen entsprechend nachhaltige Wirkung. Vor allem seine Enzyklika „Aeterni Patris“ (1879) wird als „entscheidend richtungsweisendes Dokument“33 für die Neuscholastik beurteilt. Leo XIII. ermahnt darin die Theologen und Philosophen mit Nachdruck „zum Schutz und zur Zierde des katholischen Glaubens, zum Wohle der Gesellschaft und zum Wachstum aller Wissenschaften die goldene Weisheit des heiligen Thomas wiederherzustellen und möglichst weit zu verbreiten“34. Die Absicht des Papstes ist unbestritten „eine Erneuerung des philosophischen Denkens überhaupt auf der Basis des Thomismus“35. Die Enzyklika „Aeterni Patris“ ist zwar bei weitem nicht das erste päpstliche Dokument zugunsten des Thomismus, aber „wohl mit Sicherheit das am meisten entfaltete, das ausschließlichste und außerdem jenes, das am meisten auf der philosophischen Bedeutung des Thomismus beharrte“36. Darüber hinaus wird durch eine Serie konkreter Maßnahmen die Restauration des Thomismus betrieben,37 wodurch sich die Neuscholastik und insbesondere der Neuthomismus mehr und mehr als offizielle katholische Schulphilosophie behaupten können.38 Im Jahr 1917 schließlich verlangt der „Codex Juris 31 Ebd. DH 2913. 33 E. Coreth, Einleitung, 9; vgl. dazu R. Aubert, Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur christlichen Philosophie, 310–332. – Dies wird bestätigt in der Würdigung dieser Enzyklika durch Papst Johannes Paul II.: „Nach über einem Jahrhundert haben viele in jenem Text enthaltene Hinweise sowohl unter praktischem wie unter pädagogischem Gesichtspunkt nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt; das gilt zuallererst für die Bedeutung in bezug auf den unvergleichlichen Wert der Philosophie des hl. Thomas“ (Fides et ratio, Nr. 57). 34 DH 3140. Diese Forderung wird ein wenig relativiert, wenn Leo XIII. unmittelbar im Anschluß daran erläutert: „Die Weisheit des heiligen Thomas sagen Wir: denn wenn etwas von den scholastischen Lehren entweder mit zu großer Spitzfindigkeit erörtert oder zu wenig überlegt gelehrt wurde, wenn etwas mit den Forschungsergebnissen der späteren Zeit weniger im Einklang steht oder schließlich in irgendeiner Weise nicht wahrscheinlich ist, so beabsichtigen Wir keineswegs, daß dies unserer Zeit zur Nachahmung vorgelegt werde.“ 35 R. Aubert, Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur christlichen Philosophie, 320. 36 A.a.O., 324. 37 U. a. wird im Jahr 1879 die Accademia Romana di S. Tommaso d’Aquino reorganisiert, ein Jahr später Thomas von Aquin zum Patron der katholischen Schulen erhoben und außerdem die kritische Neuausgabe der Werke des Thomas („Leonina“) begründet. 38 Im Jahr 1914 werden in einem Dekret der Studienkonkregation 24 Thesen der thomisti32 108 Canonici“ von allen Theologiestudenten ein vorausgehendes zweijähriges Philosophiestudium, das der Lehre und den Prinzipien des Thomas von Aquin entsprechen soll.39 In der katholischen Theologie kann sich die Neuscholastik im Jahr 1920 als „siegreiche Führerin“ feiern lassen, als „die überlegene Herrscherin, die edle Wahrheitsträgerin auf dem Gebiete der Philosophie“40. Die Neuscholastik wird damit „zur gesetzlich vorgeschriebenen römisch-katholischen Normaltheologie“41, bleibt „mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschend und wirkt bis in die Gegenwart nach“ 42. b) Abwehr „modernistischer“ Tendenzen43 Neben dieser Festlegung auf die scholastische Tradition werden vor allem unter Papst Pius X. (1903–1914) reformerische Tendenzen in der Theologie, die insbesondere von dem Exegeten Alfred Loisy und dem ehemaligen Jesuiten Georges Tyrell ausgehen und eine Vermittlung zwischen kirchlicher Lehre und moderner Wissenschaft anstreben, unnachsichtig unterdrückt. Nachdem Pius X. schon im Jahr 1903 fünf Schriften von Alfred Loisy auf den Index verbotener Bücher setzen ließ und sich in den folgenden Jahren verschiedentlich gegen die Neuerungen in der Theologie wandte, werden von ihm im Jahr 1907 zunächst in dem Dekret „Lamentabili“ 65 vornehmlich aus den Werken Loisys herausgegriffene Sätze „verworfen und geächtet“44. Explizit wird hier auch die Auffassung zurückgewiesen, der Fortschritt der Wissenschaften erfordere es, „daß die Vorstellungen [conceptus] der christlichen Lehre von Gott, von der Schöpfung, von der Offenbarung, von der Person des Fleischgewordenen Wortes und von der Erlösung umgebildet werden“45. Wenig später werden dann in der großen Enzyklika „Pascendi dominici schen Philosophie als bestätigt veröffentlicht (DH 3601–3624). In einer dieser Thesen heißt es, daß durch die Quantität bewirkt werde, „daß der Körper umschreibbar an einem Ort ist und auf diese Weise von jedweder Möglichkeit nur an einem Ort sein kann“ (DH 3612). Allein schon die Festlegung auf diese These muß neuscholastisch argumentierende Theologen im Zusammenhang mit der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation und dem quantenmechanischen Indeterminismus in größte Verlegenheit bringen. 39 Vgl. CIC (1917) can. 1365 §1 sowie can. 1366 §2. In der Enzyklika „Studiorum ducem“ (1923) weist Pius XI. (1922–1939) noch einmal nachdrücklich auf diesen Kanon hin (vgl. DH 3666). 40 B. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 266. 41 H. Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, 585. 42 E. Coreth, Einleitung, 9. – Pius XII. erinnert noch in der Enzyklika „Humani generis“ (1950) an die offizielle Haltung der Kirche bezüglich des Thomismus (vgl. DH 3894) und hält 1953 in einer Rede vor dem vierten internationalen Thomistenkongreß fest: „Wir zögern nicht zu sagen, daß die berühmte Enzyklika Aeterni Patris [...], in der Unser unsterblicher Vorgänger Leo XIII. die katholisch Gebildeten an die Einheit der Lehre im Unterricht des hl. Thomas erinnert hat, ihren vollständigen Wert behält“ (zit. in: R. Aubert, Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur christlichen Philosophie, 329). 43 Vgl. zum folgenden insbes. F. Padinger, Die Enzyklika „Pascendi“ und der Antimodernismus, 349–361. 44 DH 3466. 45 DH 3464 (Hervorhebung vom Verf.). 109 gregis“ die Irrtümer des biblischen und theologischen „Modernismus“ noch einmal aufgezählt und wieder in feierlicher Form verurteilt. Noch im gleichen Jahr 1907 verhängt Pius X. in einem Motuproprio die Exkommunikation über alle, die dem Dekret widersprechen und dem Dekret den Gehorsam verweigern.46 Loisy selbst wird im Jahr 1908 exkommuniziert. Im Jahr 1910 fordert Pius X. im Motuproprio „Sacrorum antistitum“ den „Antimodernisteneid“, den alle Priesteramtskandidaten vor der Weihe und alle in Seelsorge und Unterricht tätigen Geistlichen ablegen müssen. Nur Theologieprofessoren an staatlichen Universitäten sind von der Eidespflicht entbunden. An erster Stelle wird darin das Bekenntnis gefordert, „daß Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der Vernunft ‚durch das, was gemacht ist‘ (Röm 1,20), das heißt, durch die sichtbaren Werke der Schöpfung als Ursache vermittels der Wirkungen sicher erkannt und sogar auch bewiesen werden kann“47. Mit dem Zusatz, daß Gott nicht nur sicher erkannt, sondern auch bewiesen werden könne, wird die Definition des I. Vaticanum, wonach Gott mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann, noch ergänzt.48 Erst im Jahr 1967 wird die Eidesverpflichtung suspendiert. Der „Modernismus“, der innerhalb der katholischen Kirche und namentlich von Pius X. zu Beginn des 20. Jahrhunderts rigoros bekämpft wird, wird erst durch die kirchliche Reaktion – vor allem durch die Enzyklika „Pascendi“ – zu einer vermeintlich einheitlichen theologischen Richtung zusammengefaßt. Wenn man mit „Modernismus“ aber eine Einstellung bezeichnen will, die die verurteilten Theologen auch tatsächlich gemeinsam teilen, so liegt diese vor allem in dem Versuch, die katholische Theologie dem geistigen Leben ihrer Zeit wieder zu öffnen. Dazu zeigt sich eine konstruktive Auseinandersetzung mit den neuen Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft als unumgänglich. Von seinem ursprünglichen Anliegen her ist der Modernismus somit „eine Bewegung solcher, die in der Kirche bleiben wollten und dabei doch aus der modernen Welt alles das anzunehmen bereit waren, was sich im Bereich des Denkens als unwiderleglich und im institutionellen Bereich als heilsam zu erweisen schien, um so den Katholizismus einer gewandelten Welt anzupassen und von zufälligen und veraltet erscheinenden Elementen zu befreien“49. Durch die pauschale und kaum differenzierende Zurückweisung dieser Bewegung und durch die Tatsache, daß in diesem Zusammenhang katholische 46 Vgl. Acta Sanctae Sedis 40 (1907), 723. DH 3538 (Hervorhebung dort). 48 Vgl. die Dogmatische Konstitution „Dei Filius“, DH 3004. 49 R. Aubert, Art. Modernismus, 94. – Um so bedauerlicher ist es, daß auch Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Fides et ratio“ den Begriff „Modernismus“ und die von Pius X. vorgegebenen negativen Konnotationen undifferenziert übernimmt (vgl. Fides et ratio, Nr. 54). 47 110 Denker „denunziert, indiziert, exkommuniziert wurden“50, wird die notwendige Auseinandersetzung der katholischen Theologie mit den modernen Wissenschaften insgesamt schwer belastet und großenteils auch unterbunden. Der Modernismusstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweist sich innerhalb der katholischen Theologie als „traumatische Erfahrung“51 mit jahrzehntelangen Folgeerscheinungen. Das Unrecht, das katholischen Denkern und Forschern im Zusammenhang mit dem Modernismusstreit geschieht, wirkt nach dem Urteil von Emerich Coreth lähmend und erstarrend auf das gesamte philosophisch-theologische Denken und Forschen im katholischen Bereich: „Die Probleme wurden damals unterdrückt, nicht gelöst. Sie brechen später erst recht auf und sind der Gegenwart neu zur Bewältigung gestellt.“ 52 Der Kirchenhistoriker Karl Bihlmeyer beurteilt die gesellschaftliche Entwicklung ab Mitte des 19. Jahrhunderts als „organisierten Massenabfall von Christus“53, zeichnet aber mit seiner Beschreibung vor allem ein scharfes Bild vom damaligen Selbstverständnis der katholischen Kirche: „Es ist der größte und gefährlichste innere Umwälzungs- und Auflösungsprozeß, der die Menschheit seit dem Eintritt des Christentums in die Welt erfaßte. Auch die katholische Kirche, die mitten in die moderne Kulturentwicklung hineingestellt ist, blieb von seinen verderblichen Einflüssen nicht verschont. Zur Rettung der heiligsten Güter der Religion zog sie sich gleichsam in eine belagerte Festung zurück, um mit zusammengeballter Kraft und unter straffster Führung ihrer obersten Autorität dem Ansturm der zentrifugalen Mächte entgegenzutreten.“54 Unter den gegebenen Bedingungen ist für die katholische Theologie auch eine offene und unbefangene Auseinandersetzung mit neuen naturwissenschaftlichen Theorien kaum denkbar. Dies gilt für die Entwicklungslehre Charles Darwins genauso55 wie dann für die neuen physikalischen Erkenntnisse. Die katholische Theologie sieht sich einerseits durch die Erfolge der 50 E. Coreth, Rückblick und Ausblick, 882. – Um eine Vorstellung vom damaligen innerkirchlichen Klima zu vermitteln, sei auf die Tätigkeit des „Sodalitium Pianum“ verwiesen: Im Jahr 1906 wird Umberto Benigni, ehemaliger Professor für Kirchengeschichte, Unterstaatssekretär der Konkregation für außerordentliche Angelegenheiten. Er zeichnet unter zwölf verschiedenen Decknamen, benutzt einen Geheimcode für interne Briefe und baut eine Geheimorganisation mit ungefähr 1000 Mitarbeitern auf, die durch Bespitzelungen und Denunziationen eine weltweite Aktivität entfaltet. Pius X. weiß von den Tätigkeiten dieser Organisation und lobt sogar ihren Eifer. Als 1921 das „Sodalitium Pianum“ aufgelöst wird, schließt sich Benigni den Faschisten an (vgl. F. Padinger, Die „Enzyklika Pascendi“ und der Antimodernismus, 358f). 51 R. Schaeffler, Philosophie und katholische Theologie im 20. Jahrhundert, 50. 52 E. Coreth, Rückblick und Ausblick, 882. 53 K. Bihlmeyer, Kirchengeschichte, Bd. 3, 458. 54 Ebd. 55 K. Schmitz-Moormann, Herausgeber der kritischen Ausgabe der Schriften Teilhard de Chardins, erinnerte kürzlich daran, daß keiner der frühen theologischen Texte Teilhards „die Barriere der Zensoren zu überwinden vermochte. Mehr noch, als Teilhard 1922 auf die Bitte eines seiner Mitbrüder hin seine Vorstellungen über die Erbsündenlehre zu Papier brachte, fand dieser Text auf ungeklärte Weise den Weg nach Rom, wo er offensichtlich auf Mißfallen stieß“ (K. Schmitz-Moormann, Pierre Teilhard de Chardin. Evolution – die Schöpfung Gottes, 16). Teilhard war so „Zeit seines Lebens gezwungen, gewissermaßen im theologischen Untergrund zu arbeiten“ (a.a.O., 17). 111 Naturwissenschaften und die sich daran anschließenden oft religionskritischen Popularisierungen in die Ecke gedrängt und andererseits von der Kirche auf eine neuthomistische Interpretation dieser Erkenntnisse festgelegt. c) Versuch einer Neuorientierung: Die Görres-Gesellschaft Die modernistische Bewegung ist ein Versuch, in der katholischen Theologie durch neue Ansätze das Verhältnis zur „modernen Kultur“ insgesamt zu klären. Diese Bewegung vereinigt dabei ganz verschiedene Reformbestrebungen auf den Gebieten von Religionsphilosophie, Soziallehre, Apologetik, Bibelwissenschaft, Dogmengeschichte und politisch-sozialer Aktion. Allerdings spielt bei den bedeutendsten „Modernisten“ Alfred Loisy, Friedrich von Hügel, George Tyrell und Ernesto Buanaiuti eine explizite und grundlegende Auseinandersetzung mit den modernen Naturwissenschaften allenfalls eine marginale Rolle.56 Dies gilt zunächst auch für die Aktivitäten der im Jahr 1876 gegründeten „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland“, deren erklärtes Ziel insbesondere die Überwindung des Gegensatzes zwischen katholischer Kirche und intellektueller Elite darstellt. Unmittelbarer Hintergrund der Entstehung dieser Organisation ist die Kulturkampfszene, die katholischen Nachwuchskräften vielfach die wissenschaftliche Karriere erschwert. Die Gründung der Görres-Gesellschaft, die darum von Anfang an auch die wissenschaftliche Nachwuchsförderung zu ihren Aufgaben zählt, kann rückblickend verstanden werden „als eine Antwort auf die Herausforderungen des Katholizismus durch die moderne Welt“57. Mit Unterstützung von Seiten der Kirche kann aber auch diese „Laienorganisation von Gelehrten“, der auch Theologen als Mitglieder angehören können, damals nicht rechnen. Im Gegenteil, auch sie gerät vor dem Ersten Weltkrieg an der römischen Kurie in den Verdacht „modernistischer Häresie“.58 In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß der Schwerpunkt der Arbeiten der Görres-Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten fast ausschließlich im geisteswissenschaftlichen Bereich lag. So werden schon kurz nach der Gründung drei Fachsektionen für Rechts- und Sozialwissenschaft, Philosophie und Geschichte eingerichtet, die alsbald eigene Vereinsschriften und Jahrbücher vorlegen. Doch die geplante vierte Sektion für Naturwissenschaft kommt lange nicht richtig in Gang. Nach mehreren gescheiterten Gründungsversuchen wird diese Sektion erst im Jahr 1907 unter der Leitung des Mathematikers Wilhelm Killing neu konstituiert, allerdings ohne ein eigenes Publikationsorgan einzurichten. Eine Reihe interessanter Beiträge insbesondere zur Relativitätstheorie findet sich aber im seit dem Jahr 1888 von der Görres-Gesellschaft herausgegebenen „Philosophischen Jahrbuch“. Hier kommen allerdings fast ausnahmslos neuscholastisch argumentierende Kriti56 57 58 Vgl. dazu I. Böhm, Das Denken der bedeutendsten Modernisten, 333–348. L. Boehm, Begleitwort, 258. Vgl. R. Morsey, Art. Görres-Gesellschaft, Sp. 1084. 112 ker der Relativitätstheorie zu Wort, die gewiß nicht mehr des Modernismus verdächtigt werden können. Eine neuen und starken Impuls erhält in der Görres-Gesellschaft der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften erst, als im Jahr 1957 das „Internationale Institut zur Begegnung von Naturwissenschaften und Glauben“ gegründet wird. Dieses Institut nennt sich inzwischen „Institut für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft-Philosophie-Theologie)“ und gibt eine eigene Forschungsreihe „Naturwissenschaft und Theologie“ (seit 1972 „Grenzfragen“) heraus.59 Ein weiteres frühes Beispiel für den Versuch einer Neuorientierung der katholischen Kirche zu den modernen Wissenschaften mit ausdrücklichem Einschluß der modernen Naturwissenschaften sind die Schriften des Kirchenhistorikers Albert Ehrhard, der im Jahr 1901 „die wachsende Entfremdung der gebildeten Kreise von der katholischen Kirche“ beklagt und bedauert, „daß eine große Anzahl von Philosophen, Geschichtsschreibern, Naturforschern, Juristen, Medizinern, Litteraten, Künstlern u.s.w., die aus katholischen Familien stammen, sich nicht mehr als Katholiken fühlen“60. Für Ehrhard unterliegt es keinem Zweifel, daß „die Beilegung des Konflikts der modernen Welt mit der katholischen Kirche [...] bedeutsamste und wichtigste Aufgabe“61 des 20. Jahrhunderts bilden müsse. Dabei äußert sich Ehrhard deutlich skeptisch darüber, ob die im 19. Jahrhundert erstarkte neuscholastische Philosophie dieser Aufgabe gewachsen sein kann. Er erinnert daran, daß sich die katholische Kirche nicht „mit einer bestimmten philosophischen und theologischen Schule [...] identifizieren [kann]“62, beklagt den „theologische[n] Hyperkonservatismus, der sich von den überkommenen Naturanschauungen nicht frei machen konnte“63 und verweist ausdrücklich auch auf die verhängnisvolle Rolle, die „in der aristotelisch-scholastischen Naturtheorie festgebannt[e] Theologen“64 im Galileikonflikt und später in der Kirche gespielt haben. Sieht sich damals schon der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm bei Erteilung der kirchlichen Druckerlaubnis für Ehrhards Werk „Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert“ gedrängt, darauf hinzuweisen, daß er in manchen Punkten anderer Anschauung als der Verfasser sei, so folgt der Veröffentlichung ein Sturm kirchlicher Entrüstung.65 Auch Ehrhard wird nun des 59 Vgl. zur Geschichte der Sektion für Naturwissenschaft innerhalb der Görres-Gesellschaft H. E. Onnau, Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, 143f. – Im Zusammenhang mit der Thematik vorliegender Arbeit sei hier verwiesen auf folgende jüngere Veröffentlichungen des Instituts: N. A. Luyten (Hg.), Wirklichkeitsbezug wissenschaftlicher Begriffe: Gleichnis oder Gleichung? (Grenzfragen, Bd. 14), Freiburg/München 1986; L. Honnefelder (Hg.), Natur als Gegenstand der Wissenschaften (Grenzfragen, Bd. 19), Freiburg/München 1992; H. M. Baumgartner (Hg.), Zeitbegriffe und Zeiterfahrung (Grenzfragen, Bd. 21), Freiburg/München 1994. 60 A. Ehrhard, Der Katholizismus, 9, 11. 61 A.a.O., 339. 62 A.a.O., 251. 63 A.a.O., 298. 64 A.a.O., 299f. 65 Vgl. dazu die Dokumentation der Reaktionen in: A. Ehrhard, Liberaler Katholizismus? Ein 113 Modernismus verdächtigt und mit dem Entzug der Prälatenwürde diszipliniert. Wieder zeigt sich, daß einer grundlegenden Neuorientierung der katholischen Theologie gegenüber den modernen Wissenschaften zur damaligen Zeit innerhalb der Kirche kein Spielraum gewährt wird. Aber selbst dort, wo die Bereitschaft zu einer solchen Neuorientierung vorhanden ist, erweist sich der Versuch, mit den modernen Naturwissenschaften in einen fruchtbaren Austausch einzutreten, als besonders problematisch. Treffend zeichnet Karl Bihlmeyer das Bild eine Kirche, die sich ringsum von feindlichen Mächten umringt wähnt und sich schutzsuchend hinter ihren Mauern verschanzt. Entsprechend vermitteln auch die ersten Stellungnahmen katholischer Theologen auf die Relativitätstheorie den Eindruck „in der belagerten Festung“ geschrieben zu sein. Mit Polemik und unverhohlenem Vorbehalt reagieren sie auf die Einsteinschen Theorien, die vor allem zwischen den Jahren 1910 und 1924 die Welt bewegten. Die Relativitätstheorie wird – durchaus zurecht – als Infragestellung der scholastischen Begrifflichkeit verstanden und damit den feindlichen Mächten zugerechnet. Die Reaktionen neuscholastischer Autoren sind damit fast ausnahmslos apologetischer Natur. Neben einigen kürzeren Beiträgen in den Zeitschriften „Revue Néo-Scolastique de Philosophie“ und „Revue Thomiste“ sowie der wiederholten abfälligen Kommentierung der Relativitätstheorie durch Jacques Maritain findet sich eine Anzahl zum Teil ausführlicher Arbeiten neuscholastischer Autoren vor allem in den „Stimmen der Zeit“, einflußreiche „Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart“, und im „Philosophischen Jahrbuch“ der Görres-Gesellschaft.66 2. Erster Reflex: Polemische Zurückweisung der Relativitätstheorie Vergleichsweise früh bezieht Constantin Gutberlet im Jahr 1913 im „Philosophischen Jahrbuch“ Stellung im Streit um „das von Einstein so laut verkündete Relativitätsprinzip“67. Für Gutberlet, der eine eingehende Wort an meine Kritiker, Stuttgart und Wien 1902. Vgl. F. Renoirte, La critique einsteinienne des mesures d’espace et de temps; L. Mélizan, Théories einsteiniennes; J. Maritain, De la métaphysique des physiciens ou de la simultanéité selon Einstein; ders.; La mathématisation du temps (zu J. Maritain vgl. F. Dessauer, Naturwissenschaftliches Erkennen, 389, sowie H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 28–33); T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie; S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen; C. Gutberlet, Der Streit um die Relativitätstheorie; G. Kreuzberg, Über die Möglichkeit der mechanischen Naturerklärung nach Einstein; E. Hartmann, Raum und Zeit im Lichte der neuesten physikalischen Theorien; ders., Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie; A. Weber, Zur Relativitätstheorie; ders., Über Raum und Zeit; W. Böhm, Realismus und Idealismus in der Einsteinschen Relativitätstheorie; A. Ch. de Guttenberg, Das neue physikalische Weltbild und Einstein; G. Petry, Ist der „Äther“ als kosmologische Grundkonstante haltbar? A. Müller, Die Relativitätstheorie und die Struktur der physikalischen Erkenntnis. 67 C. Gutberlet, Der Streit um die Relativitätstheorie, 328. 66 114 Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie offensichtlich nicht für notwendig erachtet und nur einzelne kontroverse Zitate der Physiker Ernst Gehrke und Max Born gegeneinanderstellt, ist die Theorie „ganz evident widerspruchsvoll“, sie widerspreche „nicht nur ‚altgewohnten 68 Anschauungen‘, sondern den klarsten logischen Sätzen“ . Der von Einstein neu eingeführte Zeitbegriff sei „ganz und gar unsinnig“69. Auch lasse sich „ganz evident zeigen, 10 dass absolute Bewegung möglich und 20 tatsächlich ist“70. Mit Gehrke hält Gutberlet am Äther fest, der seines Erachtens auch von der Relativitätstheorie gefordert werden müsse.71 So bleibt für ihn schließlich nur die Frage zu beantworten, warum die offensichtlich so unsinnige und widersprüchliche Relativitätstheorie derart große Verbreitung finden konnte: den Grund dafür macht er – wiederum im Anschluß an Gehrke – in einer „Massensuggestion“ aus und fährt fort: „[...] es kann nicht geleugnet werden, dass die unsinnigsten philosophischen und religiösen Systeme ebenso wunderbare Propaganda machen, wie die abgeschmacktesten Moden der Frauenwelt. Ausser der psychischen Ansteckung liegen freilich auch geheime Motive solcher Verbreitung zu Grunde, bei den Damen die Eitelkeit, bei geistiger Suggestion der Reiz der Neuheit und regelmäßig die Weltanschauung, speziell die monistische, welcher die Neuheit dient.“72 Gutberlets Urteil hat Gewicht. Jahrzehntelang befaßt er sich mit christlicher Apologetik und beansprucht dabei, daß die apologetischen Beweise auf sicheren Tatsachen und streng logischen Schlüssen beruhen.73 Seiner allgemeinen Denkrichtung nach gehöre Gutberlet der Scholastik an, schreibt Eduard Hartmann in einem Nachruf aus dem Jahr 1928, rückt Gutberlet in die Nähe des spanischen Jesuitenphilosophen Franciscus Suárez und lobt vor allem seine „Vertrautheit mit der modernen Wissenschaft“74. Gutberlet ist Begründer des „Philosophischen Jahrbuches“ und bis 1925 auch dessen Herausgeber. Diese Zeitschrift trage den Stempel seines Geistes, bescheinigt ihm die GörresGesellschaft noch 1924.75 In der Tat verbindet fast alle Artikel, die im „Philosophischen Jahrbuch“ auch unter späteren Herausgebern über die Relativitätstheorie erscheinen, eine dezidiert kritische und oft auch polemisch ablehnende Einstellung. 68 A.a.O., 331. Ebd. 70 A.a.O., 332. 71 A.a.O., 329. 72 A.a.O., 334. 73 Vgl. C. Gutberlet, Glauben und Wissen, 119. 74 E. Hartmann, Constantin Gutberlet <, 261; vgl. zum Einfluß Gutberlets auch P. Walter, Die neuscholastische Philosophie im deutschsprachigen Raum, 182–184. 75 Vgl. E. Hartmann, Constantin Gutberlet <, 264. 69 115 3. Tendenziöse Darstellung der Relativitätstheorie Besondere Aufmerksamkeit verdient der Versuch des Jesuiten und Experimentalphysikers Theodor Wulf76 in den „Stimmen der Zeit“ im Jahr 1920 eine „vorurteilsfreie Darstellung des heutigen Standes der Relativitätstheorie zu geben“77. Dazu gestattet Wulf es sich, die Versuche zur Lichtausbreitung zunächst so zu beschreiben, „als ob es sich um die Ausbreitung des Schalls und nicht des Lichtes gehandelt hätte, da die Geschwindigkeit des Lichtes so über alle Vorstellung groß ist, daß dem weniger geübten Leser dadurch das Verständnis erschwert werden könnte“78. Doch mit diesem Vergleich führt Wulf den Leser gleich doppelt in die Irre, erstens weil er suggeriert, die hohe Lichtgeschwindigkeit sei für das Verständnis der Sache nicht wesentlich (was falsch ist, da für relativ kleine Geschwindigkeitsbeträge die klassische Physik nach wie vor eine sehr gute Näherung darstellt) und zweitens weil Wulf damit als Analogon zur Luft, die den Schallwellen als Träger dient, stillschweigend die von Einstein bestrittene Existenz des Äthers voraussetzt („ein solcher Freiballon im Äthermeer ist unsere Erde“79). Wulf wird an späterer Stelle darauf zurückkommen und gegen Einstein und die große Mehrheit der damaligen Physiker feststellen: „Das letzte Wort über den Äther ist noch nicht gesprochen.“80 Durch diese „anschauliche“ Einführung wird ein Verständnis der Relativitätstheorie nicht erleichtert, sondern von Grund auf verbaut. Noch seltsamer mutet freilich die Darstellung der Relativitätstheorie selbst an: Zunächst wird auf mehreren Seiten die spezielle Relativitätstheorie und ihre Vorgeschichte zusammengefaßt, anschließend zählt Wulf einige der Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie auf und wendet sich dann der Frage zu, was „von der ganzen Theorie zu halten [sei]“81. Als Test für die Richtigkeit der speziellen Relativitätstheorie fordert Wulf nun aber eine Bestätigung der drei Erscheinungen, die Einstein selbst als Möglichkeit zu Überprüfung der allgemeinen Relativitätstheorie angegeben hatte. Darüber hinaus anerkennt er entsprechende Ergebnisse – im Unterschied zur Royal Astronomical Society in London ein Jahr zuvor am 7.11.1919 – „nicht als Beweise für die Richtigkeit der Einsteinschen Theorie“82 an und erwartet, daß die Theorie „einen tödlichen Stoß“ erhalte, wenn die Versuche der nächsten 76 T. Wulf studiert unter W. H. Nernst in Göttingen Physik und lehrt von 1904 bis 1935 Physik und Naturphilosophie an der Ordenshochschule der Jesuiten in Valkenburg. 77 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 116. 78 A.a.O., 100. 79 A.a.O., 101. 80 A.a.O., 109. Wulf beruft sich in diesem Zusammenhang wiederholt auf den „Amerikaner Professor See“ bzw. den „amerikanischen Astronomen See“ – gemeint ist der Navy-Kapitain T. J. J. See, der in polemischen Zeitungsartikeln der New York Times und im San Francisco Journal Einstein des Plagiats bezichtigt und zahlreiche „Irrtümer“ der Relativitätstheorie festzustellen meint (vgl. dazu K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 150, 158f). 81 A.a.O., 107. 82 A.a.O., 112. 116 Zeit nicht wesentlich andere- Ergebnisse zutage fördern.83 Wer dem Autor bei seinem verschlungenen Argumentationsgang hier keine böswillige Irreführung der Leser unterstellen will, muß annehmen, daß hier noch nicht einmal die Grundgedanken der speziellen Relativitätstheorie verstanden sind. Naturphilosophisch besonders interessante Aspekte der allgemeinen Relativitätstheorie wie zum Beispiel die Zugrundelegung einer nichteuklidischen Geometrie werden nicht einmal erwähnt. Dieses peinliche Unverständnis ist kein Einzelfall. Den Vorwurf, die spezielle Relativitätstheorie nicht verstanden zu haben und schon darum falsch zu beurteilen, muß sich selbst noch im Jahr 1936 Aloys Müller gefallen lassen, Autor des Artikels, den das „Lexikon für Theologie und Kirche“ der Relativitätstheorie widmet. Auch hier ist wieder mit Bezug auf die allgemeine und spezielle Relativitätstheorie nur von den drei Folgerungen aus der allgemeinen Relativitätstheorie die Rede, „die an der Erfahrung geprüft werden können“84. Kritisch wird dabei von Müller hinzugefügt, daß die zahlenmäßigen Größen nur bei zwei dieser Erscheinungen „mit der R[elativitätstheorie] übereinzustimmen [scheinen]“, sich aber „auch aus anderen Theorien ableiten [lassen]“85. Erst in der zweiten Auflage des „Lexikon für Theologie und Kirche“ (1963) wird die irreführende Darstellung der Relativitätstheorie korrigiert und nunmehr korrekt zwischen spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie und den jeweiligen Nachweisen differenziert. Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie werden jetzt als experimentell bestätigt akzeptiert.86 – Wie ist dieser getrübte Blick sogar eines soliden Physikers wie Wulf, der sich freilich als Theologe zugleich der scholastischen Tradition verpflichtet weiß, schon bei dem Versuch einer angeblich vorurteilsfreien Darstellung der Relativitätstheorie zu erklären? Für Hans-Dieter Mutschler sind die von der scholastischen Philosophie bereitgestellten ontologischen Fundamente zu schmal, um die moderne Physik zu begründen. Er vertritt in einem im Jahr 1993 veröffentlichten Beitrag die These, daß „die Neuscholastik naturphilosophisch scheitern mußte, wenn sie an ihrem Substanzbegriff festhielt und zugleich beanspruchte, eine philosophische Fundierung der Physik zu leisten“87. Da Paradigma alles Existierenden für den Neuscholastiker „das sinnenfällige und sichtbare Ding“88 sei, führe dies auch zu einem „dinghaften Substanzbegriff“89. Physikalische Gesetze beziehen sich aber nicht auf eine dinghaft vorkommende Einzelsubstanz, sondern auf das mathematisch-funktionale Verhältnis metrisierbarer Eigenschaften des Seienden. Spätestens mit der Unanschaulichkeit der moder83 Vgl. a.a.O., 113. A. Müller, Art. Relativitätstheorie, Sp. 757. 85 Ebd; vgl. zu A. Müllers Vorbehalten gegenüber der Richtigkeit der speziellen Relativitätstheorie A. Müller, Die Relativitätstheorie und die Struktur der physikalischen Erkenntnis, 433–474, insbes. 460f, 469. 86 Vgl. H. Rollnik, Art. Relativitätstheorie, Sp. 1162f. 87 H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 28. 88 A.a.O., 29. 89 A.a.O., 33. Mutschler bezieht sich in seinem Beitrag vor allem auf die Substanzontologie von J. Maritain. 84 117 nen Physik ist darum nach Mutschler jede Möglichkeit geschwunden, „das Physikalisch-Reale mit dem Tastbaren zu identifizieren“90. Das klassische Substanzdenken stehe „quer [...] zum Fortschritt der Naturwissenschaft“91. Setzt man bei Theodor Wulfs Darstellung der Relativitätstheorie einen solchen dinghaften Substanzbegriff voraus, dann erklärt sich zwanglos die irreführende Darstellung: Die Relativitätstheorie wird ihm erst verständlich, wenn sie anschaulich und vorstellbar, das heißt für einen „dinghaften Substanzbegriff“ zugänglich gemacht wird. Aus Perspektive dieser alltäglichen Anschaulichkeit (kleine Geschwindigkeiten, Beibehaltung des Äthers als „Vergegenständlichung des absoluten Raumes“, dreidimensionaler Raum) muß die Relativitätstheorie dann paradox und widersprüchlich erscheinen. Auf das durch sie neu entworfene unanschauliche Bild der physikalischen Wirklichkeit, wo scheinbare Paradoxien und Widersprüche aufgehoben sind, läßt sich Wulf erst gar nicht ein. Dies geht nebenbei auch aus Wulfs Erwähnung einer der Erscheinungen, die aus der (allgemeinen) Relativitätstheorie folgen, hervor, und die bereits ein deutendes Element enthält. Wulf spricht in diesem Zusammenhang von der „Krümmung der Lichtstrahlen in der Nähe der Sonne“92 und beschreibt damit dieses Phänomen ganz selbstverständlich aus Sicht des euklidischen dreidimensionalen Raumes – daß der allgemeinen Relativitätstheorie eine ganz andere unanschauliche Geometrie zugrunde liegt, verschweigt er.93 Weiter oben wurde in vorliegender Arbeit ausgeführt, daß unter mathematischen Gesichtspunkten euklidische und nichteuklidische Darstellung gleichwertig ist, die nichteuklidische Geometrie aber die Darstellung der physikalischen Gesetze erheblich vereinfacht.94 Interessanterweise scheint dieser Sachverhalt aber für neuscholstisch denkende Autoren problematisch zu sein. Weil der dreidimensionale alltägliche Anschauungsraum, „Ausgangspunkt der scholastischen Seinslehre ist, muß sie eine mathematische Präponderanz der euklidischen gegenüber nichteuklidischen behaupten“95. Entsprechende Äußerungen finden sich denn auch bei späteren neuscholastischen Theologen wieder.96 Für 90 A.a.O., 34. A.a.O., 36f. 92 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 112. 93 Legt man wie Einstein eine nichteuklidische Geometrie zugrunde, dann folgt die Ausbreitung des Lichts hier der kürzesten Entfernung in der durch die Sonnenmasse strukturierten Raumzeit. 94 Vgl. 2. Kap. III. sowie 3. Kap. V. 3. vorliegender Arbeit. 95 H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 38. 96 Für J. Maritain haben die nichteuklidischen Entitäten die euklidischen Entitäten zur Grundlage ihrer logischen Existenz. Trotz ihrer Verwendung durch die Astronomie seien die nichteuklidischen Räume entia rationis, dagegen erscheine der euklidische Raum dem Philosophen als ens geometricum reale, vgl. J. Maritain, Die Stufen des Wissens, 193f. – Auch für C. Nink sind die nichteuklidischen Raumformen „bestimmte abstraktiv festgehaltene oder rein arithmetisch berechnete Gebilde im dreidimensionalen, homogenen, unbegrenzten euklidischen Raum“, vgl. C. Nink S.J., Ontologie. Versuch einer Grundlegung, 482, vgl. 146–148. 91 118 die modernen Physiker stellt sich die Neuscholastik mit derartigen Behauptungen allerdings selbst ins Abseits. Wulfs offensichtlich voreingenommene Wiedergabe der Relativitätstheorie erweist sich damit weder als Zufall noch als Böswilligkeit. Sie zeigt vielmehr das Unvermögen unter Voraussetzung der neuscholastischen Begrifflichkeit die Relativitätstheorie auch nur angemessen verstehen zu können. Schon ganz elementare Zusammenhänge der im 19. Jahrhundert entwickelten Feldphysik sind nicht mehr in die Sprache der neuscholastischen Philosophie übersetzbar,97 um wieviel weniger dann erst die unanschaulichen mathematischen Konstruktionen der modernen Physik, die gleichwohl erwiesenermaßen geeignet sind, die experimentell erfahrbare Wirklichkeit exakt zu beschreiben. Immerhin sieht Wulf durch die Relativitätstheorie die (neuscholastische) Philosophie herausgefordert. Ihre Aufgabe erkennt er allerdings in einer „eingehende[n] kritische[n] Nachprüfung der Grundprinzipien Einsteins“98. Er nimmt das Ergebnis dieser Überprüfung schon weitgehend vorweg, wenn er feststellt, daß der Kern der Einsteinschen Theorie in diesen „Grundhypothesen“ liege, „das spätere sind paradoxe Folgerungen aus paradoxen Grundannahmen“99. Wenn die philosophische „Nachprüfung“, die Möglichkeit der Ablehnung einer physikalischen Theorie beinhaltet, so ist bereits dies eine Verkennung dessen, was Einsteins Postulate – und überhaupt physikalische Theorien – leisten wollen und was die spezielle Relativitätstheorie auch tatsächlich leistet: eine möglichst einfache und überzeugende Klärung vorliegender Beobachtungen und Experimente sowie zugleich eine möglichst präzise Vorhersage künftiger Messungen und Versuchsergebnisse. Nur eine diesbezügliche „Nachprüfung“ kann die Ablehnung einer physikalischen Theorie zur Folge haben. Natürlich können und müssen sich Philosophen mit den Voraussetzungen und dem erkenntnistheoretischen Stellenwert dieser Postulate auseinandersetzen. Aber Probleme, die sich für eine bestimmte Ontologie bei der Auseinandersetzung mit einer bewährten physikalischen Theorie ergeben, berechtigen selbstverständlich nicht zur Zurückweisung einer sich physikalisch bewährenden Theorie. 4. Bestreitung von Richtigkeit und experimenteller Verifizierbarkeit der Relativitätstheorie Wurde im vorigen Abschnitt gezeigt, daß neuscholastische Begrifflichkeit schon eine angemessene Wiedergabe der Relativitätstheorie erschwert und im dargestellten Fall verhindert, so belegt ein Beitrag des Jesuiten und Spinozaforschers Stanislaus von Dunin-Borkowski aus dem Jahr 1921, daß von 97 Vgl. 4. Kap. II. 5. vorliegender Arbeit. T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 109. Wulf meint hier eine Überprüfung der beiden Postulate, die der speziellen Relativitätstheorie zugrunde liegen. 99 A.a.O., 110. 98 119 neuscholastischer Seite darüber hinaus aufgrund philosophischer Vorgaben die Richtigkeit der Relativitätstheorie bestritten wird. Einige philosophische Gedankengänge, die mit der Relativitätstheorie „zusammenfließen“, zählt Dunin-Borkowski „zu den wichtigsten Strömungen und Aufgaben der jetzigen Naturphilosophie“, und er will darum „auf einige philosophische Fragen, welche die neue Theorie aufruft, eingehen“100. Zunächst verweist Dunin-Borkowski dazu auf die sich aus der speziellen Relativitätstheorie ergebende Folgerung der Längenkontraktion und Zeitdilatation, wonach das Ergebnis der Messungen unterschiedlich ausfällt, je nachdem welches Bezugssystem zugrunde gelegt wird. Doch seinen knappen diesbezüglichen Ausführungen fügt Dunin-Borkowski sofort apodiktisch hinzu: „Diese Unterschiede lassen sich natürlich [sic] nicht experimentell nachweisen.“101 Sie werden von ihm ins Feld mathematischer Theorien verwiesen, die unter Umständen Wirklichkeit erklären, aber keine Erkenntnis über die Wirklichkeit vermitteln können. Die Folgerungen aus der speziellen Relativitätstheorie sind ihm „rein mathematische Ergebnisse, durch Einsetzung der Lorentzschen Gleichungen erzielt“102. In diesem Sinne räumt schon Gutberlet ein, daß sich die spezielle Relativitätstheorie mit der „noch abenteuerlicheren Fiktion“ einer vierdimensionalen Raumzeit vielleicht mathematisch beweisen lasse, betont aber im selben Satz: „[...] aber die Wirklichkeit richtet sich nicht darnach“103. Ganz entsprechend kommt auch L. Mélizan in einem Beitrag für die „Revue Thomiste“ bezüglich der speziellen Relativitätstheorie zu dem Urteil: „Il reste vrai néanmoins que le beau travail d’Einstein est de l’ordre purement mathématique. Il n’ajoute rien aux faits acquis de la science expérimentale [...].“104 Dunin-Borkowski kann gerade noch zugestehen, daß diese mathematischen Ergebnisse eine ganze Reihe physikalischer und astronomischer Tatsachen „einfach und sicher [erklären]“105 können. Insofern aber Physiker behaupten, daß die Relativitätstheorie nicht nur eine mathematische Konstruktion sei, sondern experimentell nachprüfbare Aussagen über die Wirklichkeit beinhalte, werden sie von neuscholastischen Autoren einer unhaltbaren „Metaphysik“ geziehen. So etwa von Anton Weber – eigentlich verdienter Priester und Katechet106 – dem im „Philosophischen Jahrbuch“ wiederholt Gelegenheit gegeben wird, sich zur Relativitätstheorie Einsteins zu äußern. Weber akzeptiert zwar ein „physikalisches Relativitätsprinzip“, hält Einstein aber vor, ein „metaphysisches 100 S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 211. A.a.O., 212. 102 Ebd. 103 C. Gutberlet, Der Streit um die Relativitätstheorie, 334. 104 L. Mélizan, Théories einsteiniennes, 438. 105 S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 212. 106 Vgl. A. Weber, Zur Relativitätstheorie (1920) sowie ders., Über Raum und Zeit (1922). Weber ist Mitbegründer des Münchener Katechetenvereins und von 1902 bis 1908 Herausgeber der „Katechetischen Blätter“. 101 120 Relativitätsprinzip“107 zu vertreten, indem er die „Existenz eines Weltäthers“ verneine. Auch Jacques Maritain argumentiert auf dieser Linie, wenn er Einstein zwar als guten Physiker aber als miserablen Metaphysiker beurteilt: „[...] et de nous rendre ainsi capables de regarder avec admiration Einstein pur physicien, et avec une entière aversion Einstein pseudométaphysicien“108. Aber weder die spezielle noch die allgemeine Relativitätstheorie sind Metaphysik, sondern bestätigte und bewährte physikalische Theorien, die aber offensichtlich die begrifflichen Voraussetzungen der neuscholastischen Metaphysik in arge Verlegenheit bringen. Der Versuch, die Relativitätstheorie als schlechte Metaphysik und experimentell grundsätzlich nicht verifizierbar darzustellen, erinnert in fast schon fataler Weise an die kirchliche Reaktion auf die Infragestellung des geozentrischen Weltbildes. Als mathematische Theorien und physikalische Hypothesen, die einfache Erklärungen und womöglich noch praktischen Nutzen gewähren, werden Einsteins „Berechnungen“ widerwillig akzeptiert (wie damals die kopernikanischen „Hypothesen“), als Aussagen über erfahrbare und experimentell nachweisbare Wirklichkeit aber strikt zurückgewiesen.109 Auch Theodor Wulf stößt sich offensichtlich daran, daß Einstein die Relativitätstheorie nicht nur als in sich widerspruchsfreie Theorie behauptet, sondern meint, „daß die Welt wirklich nach seiner Theorie eingerichtet sei“110. Noch einmal soll hier aufgrund kirchlich verordneter Philosophie der physikalisch erfahrbaren Wirklichkeit vorgeschrieben werden, wie sie sich zu zeigen habe. Für Dunin-Borkowski ist Einsteins Relativitätstheorie nichts weiter als „eine Lehre über das System relativer Bewegungen“111. Wo darum aus der Relativitätstheorie Schlüsse gezogen werden, die zwar paradox erscheinen, aber den Anspruch erheben, im Experiment überprüft werden zu können, spricht Dunin-Borkowski dementsprechend von einer „unerlaubten Vergegenständlichung eines bloßen Verhältnisses“ und kritisiert, daß auf diese Weise „objektive Veränderungen statt relativer Verschiebungen eingesetzt [werden]“112. Aus dieser grundsätzlichen philosophischen Erwägung leitet er 107 Ders., Über Raum und Zeit, 106. „Unter dem metaphysischen Relativitätsprinzip verstehe ich den Satz, dass kein Raum-Zeit-System vor dem übrigen irgendwie ausgezeichnet ist. Wer diesen Satz anerkennt muß beispielsweise die Existenz des Weltäthers leugnen [...]. Dagegen ist der Aether recht wohl vereinbar mit dem blossen physikalischen Relativitätsprinzip“. Zu den Gründen, warum neuscholastisch argumentierenden Autoren so viel am Äther gelegen ist vgl. 4. Kap. II. 5. vorliegender Arbeit. 108 J. Maritain, De la métaphysique des physiciens ou de la simultanéité selon Einstein, 301. 109 In einem unerbetenen Vorwort zu N. Kopernikus, De revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543, versucht A. Osiander den kopernikanischen Darlegungen die Spitze zu nehmen, indem er darauf hinweist, daß es nicht erforderlich ist, „daß diese Hypothesen wahr, ja nicht einmal, daß sie wahrscheinlich sind, sondern es reicht schon allein hin, wenn sie eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergeben“ (zit. in: K. v. Meyenn [Hg.], Triumph und Krise der Mechanik, 125). Entsprechend rät auch Kardinal Bellarmin Galilei dringend, die Bewegungsverhältnisse im Planetensystem nur hypothetisch vorzutragen, sie aber nicht als wirklich zu behaupten, vgl. dazu J. Hemleben, Galileo Galilei, 89. 110 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 107. 111 S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 213. 112 A.a.O., 214f. 121 im übrigen auch eine Lösung des „Zwillingsparadoxons“ ab, die aber inzwischen experimentell widerlegt ist.113 Dunin-Borkowski hält an der grundsätzlichen Möglichkeit einer Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit fest. In einer Laudatio auf die Neuscholastik zählt auch der Jesuit Bernhard Jansen zu deren „siegreich bewährten Grundanschauungen“ ausdrücklich „die Möglichkeit, das Ding an sich, die körperliche Außenwelt [...], wenn auch unvollkommen, so doch wahrhaft mit dem Verstand zu erfassen“114. Wie ein ragender unzerstörbarer Fels stehe die „Philosophia perennis da inmitten der gegen sie anstürmenden Wogen all der neuen Erkenntnistheorien, die die Möglichkeit sicherer, unveränderlicher, objektiv gültiger Erkenntnisse leugnen“115. Dunin-Borkowski bestreitet nun aber, daß die Relativitätstheorie solche objektiv gültige Erkenntnis über die körperliche Außenwelt aussage, ja auch nur aussagen wolle. Man dürfe Einstein nicht mißverstehen, schreibt Dunin-Borkowski, er „nimmt nicht an, daß die Länge eines starren Stabes durch die Bewegung objektiv kürzer wird“116. Allerdings macht er Einstein den Vorwurf, daß „er und manche seiner Anhänger [...] aber doch philosophische [sic] Folgerungen zu ziehen [scheinen], die sich aus den Vordersätzen nicht mit Notwendigkeit ergeben“117 und daß „verblüffende philosophische [sic] Schlüsse“ – darunter rechnet er auch das „Zwillingsparadoxon“ – „bei genauem Zusehen nicht [standhalten]“118 . Dunin-Borkowski verweigert Einstein immer dann die Zustimmung, wenn er die „Möglichkeit absoluter Bestimmungen“ bezüglich der körperlichen Außenwelt gefährdet sieht.119 Insbesondere hält er offensichtlich an der 113 Vgl. ebd. – Das „Zwillings-“ oder „Uhrenparadoxon“ besagt im allgemeinen, daß für zwei Uhren, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt am selben Ort befinden und die zu einem späteren Zeitpunkt wieder an einem Ort zusammentreffen, aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenzeit im allgemeinen unterschiedliche Zeitintervalle vergangen sind. 114 B. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 259. 115 Ebd. 116 S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 212 (Hervorhebung vom Verf.). 117 Ebd. 118 A.a.O., 215. 119 Vgl. dazu A. Müller, Die Relativitätstheorie und die Struktur des physikalischen Erkennens, 469. – Nach J. Geyser schließt die Relativitätstheorie „die Leugnung des absoluten Raumes ein. Sie ist die moderne Ausführung Protagoreischer Relativierungsgedanken des Platonischen Theätet“ (J. Geyser, Allgemeine Philosophie des Seins und der Natur, 353). Vgl. dazu J. Maritain, Stufen des Wissens, 180: „Der Philosoph weiß, daß die Körper absolute Dimensionen haben, daß es in der Welt absolute Bewegungen, eine absolute Zeit, absolute Gleichzeitigkeiten für Ereignisse gibt, wieweit sie auch im Raume voneinander entfernt sein mögen: Absolut bedeutet hier ganz und gar in sich determiniert, unabhängig von jedem Beobachter [...].“ Maritain gesteht nun aber zu, daß sich diese absoluten Bestimmungen physikalischer Messung entziehen. Dem Philosophen genüge es jedoch „daß sie für reine Geister feststellbar sind, welche erkennen, ohne von einem Punkte im Raum und einem Moment in der Zeit aus zu beobachten“ (ebd.). Ob Maritain dann wohl auch weiß, wie der quantentheoretische Indeterminismus aus der Perspektive reiner Geister aussieht? Dann muß er wohl – im Widerspruch zur heutigen Physik – seine Zuflucht zur Theorie „Verborgener 122 Vorstellung einer „absoluten Bewegung“ fest.120 Aus physikalischer Perspektive lassen sich die Deutungsversuche Dunin-Borkowskis damit am ehesten noch mit den Anstrengungen von Hendrik A. Lorentz vergleichen. Dieser deutet die Versuche zur Lichtausbreitung noch „klassisch“, indem er bei einem Bezugssystemwechsel zwar neben der Bewegung auch die Zeit transformiert, dabei aber an der Vorstellung einer „wahren“ oder „absoluten Zeit“ gegenüber den „Ortszeiten“ anderer Bezugssysteme festhält.121 Erst im Rahmen der Relativitätstheorie wird deutlich, daß physikalisch kein Inertialsystem Vorrang vor einem anderen genießt und darum von „absoluter Bewegung“ oder „absoluter Zeit“ in der Physik nicht begründet die Rede sein kann. Im Unterschied zu Einstein und der modernen Physik konstatiert DuninBorkowski aber schlicht, „daß man diese Folgerung nicht mitzumachen [brauche]“122. Entsprechend behauptet auch schon Wulf in seiner Darstellung, daß die Philosophie „mit aller Bestimmtheit [lehre], daß es absolute Bewegung gibt“123. Wenn man hinzunimmt, daß die Neuscholastik an der Möglichkeit festhält, die „körperliche Außenwelt [...] wahrhaft mit dem Verstand zu erfassen“124, dann muß diese absolute Bewegung nachweisbar sein. Dies wäre zum Beispiel möglich, wenn das gesamte Universum mit einem feinen Stoff, dem Äther, ausgefüllt wäre. Das Koordinatensystem, in dem dieser Äther ruht, wäre gegenüber den anderen Systemen ausgezeichnet; eine absolute Bewegung wäre eine Bewegung gegenüber diesem bevorzugten Koordinatensystem. Aber nicht allein aus diesem Grund setzen neuscholastische Autoren ihre Hoffnung auf eine „Ätherphysik“, sondern auch weil sich nur so der traditionelle Substanzbegriff noch unverändert auf die physikalischen Vorstellungen anwenden läßt. 5. Substanzbegriff und Ätherphysik „Um den Substanzbegriff zu bilden, bedurften die Scholastiker gar keiner Naturerkenntnis: er ist eine Denknotwendigkeit für das Sein überhaupt, wie immer es geartet sein mag“125, schreibt Constantin Gutberlet im Jahr 1907. Für ihn ist „die objektive Realität, die absolute Notwendigkeit und Wahrheit des Substanzbegriffes erwiesen“126. Betrachtet man aber Beharrlichkeit und Unzerstörbarkeit als notwendige Kennzeichen einer Substanz, so stellt die naturwissenschaftliche Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert die neuscholastische Philosophie vor die Frage, was in der objektiven Wirklichkeit denn noch rechtmäßig als Substanz angesprochen werden darf. Parameter“ nehmen; vgl. 6. Kap. IV. und V. vorliegender Arbeit. Vgl. S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 213f. 121 Vgl. 1. Kap. III. vorliegender Arbeit. 122 S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 214. 123 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 115. 124 P. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 259. 125 C. Gutberlet, Die Substanz als Bewegungsmelodie, 439. 126 A.a.O., 438. 120 123 Ist die Masse eine Substanz, wie der Jesuit und Physiker Ludwig Dressel noch im Jahr 1907 annimmt?127 Aber bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse und die Möglichkeit des radioaktiven Zerfalls bekannt geworden. Genügen die im Jahr 1897 entdeckten Elektronen dem traditionellen Substanzbegriff wie selbst der Atomphysiker Arnold Sommerfeld noch glauben kann? „Entweder haben [die Elektronen] Bestand in sich“, schreibt Gutberlet, „und dann sind es Substanzen, oder wenn dieses nicht der Fall ist, in einem anderen; ein drittes ist unmöglich.“128 Derart schlicht kann man allenfalls noch vor Entwicklung der Quantentheorie und insbesondere vor der Entdeckung von „Paarbildung“ und „Zerstrahlungsprozessen“ argumentieren.129 Doch schon lange zuvor ist der Substanzbegriff im Zusammenhang mit den Feldvorstellungen der Physik problematisch geworden. Im 19. Jahrhundert setzte sich gegen Newton und die von ihm vertretende „substantielle“ Korpuskulartheorie des Lichts mehr und mehr die auf Christian Huygens und Thomas Young zurückgehende Wellentheorie des Lichts durch.130 Nach James C. Maxwell kann Licht als eine elektromagnetische Welle verstanden werden, die sich im leeren Raum ausbreitet, ohne an einen materiellen Träger gebunden zu sein: „eine Bewegung ohne Bewegtes“, ein „fließend[es] Geschehen“131 ohne Beharrung, wie neuscholastische Autoren argwöhnten. Wer im Anschluß an Aristoteles und die Scholastik „den Begriff der Substanz [...] ontologisch aus der Tatsache der Veränderung, der ein letzter Träger zugrunde liegt, ableitet“132, muß in der Tat auf Schwierigkeiten stoßen, wenn er die Vorstellungen der elektromagnetischen Wellentheorie auch nur verstehen will. „Es kann überhaupt keine kontinuierliche Bewegung (Veränderung) geben, ohne etwas Unveränderliches, was derselben zu Grunde liegt“133, schreibt Felix Budde 1908, dessen Wunsch es ist, „den grossartigen Gedankenreichtum der peripatetischen Schule mit dem nicht minder grossen Reichtum der Erfahrungstatsachen, welche die Naturforscher im 19. Jahrhundert gesammelt haben, zu einem harmonischen Ganzen mehr und mehr zu verschmelzen“134. 127 Vgl. L. Dressel, Die neuere Entwickelung des Massenbegriffes, 142. C. Gutberlet, Die Substanz als Bewegungsmelodie, 438. 129 Unter dem Vorgang der Paarbildung oder Paarerzeugung versteht man die nach dem Einstein-Gesetz (Äquivalenz von Masse und Energie) erfolgende Umwandlung von Strahlungsenergie in Masse. Dabei entstehen jeweils zwei zusammengehörige Teilchen (z. B. negativ geladenes Elektron und positiv geladenes Positron), während das erzeugende Energiequant verschwindet. Unter einer Zerstrahlung versteht man umgekehrt die Umwandlung materieller Teilchen in elektromagnetische Strahlung, wobei die gesamte Masse der Teilchen in Strahlung übergeht; vgl. dazu z. B. O. Höfling, Physik, 990–996. 130 Vgl. 1. Kap. III. vorliegender Arbeit. 131 S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 215. 132 B. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 264. 133 F. Budde, Lässt sich die scholastische Lehre von Materie und Form [...], 324. 134 A.a.O., 482. 128 124 Die neue Feldtheorie führt darüber hinaus elektromagnetische Kräfte unmittelbar auf die Wirkung von Kraftfeldern zurück. Im „Lexikon der Physik“ heißt es heute darüber: „Nach moderner Auffassung ist die Ursache derartiger Kräfte ein besonderer physikalischer Zustand des leeren Raumes, nicht des möglicherweise anwesenden, den Raum ausfüllenden Stoffes. Dieser Zustand heißt Kraftfeld; er ist von Ort zu Ort veränderlich. Das Kraftfeld übt auf anwesende Körper aus der unmittelbaren Umgebung heraus eine Feldkraft [...] aus (Nahkraft, Nahewirkung).“ 135 Auch in diesem Zusammenhang erweist sich der traditionelle Substanzbegriff als schwerfälliges Instrument zum Verständnis des zugrunde liegenden physikalischen Sachverhalts, wenn beispielsweise Dunin-Borkowski von Substanzen fordert, daß sie „nicht dinglich [...] von ihren Kräften unterschieden werden“136. Müßte demnach das elektromagnetische Feld als Substanz verstanden werden, da dieses doch die unmittelbare Ursache der Kraftwirkung ist? Was wäre aber bei einem sich ändernden elektromagnetischen Feld im Vakuum das „Beharrende“, das Unveränderliche, das der Bewegung zugrunde liegt? Der Sender der elektromagnetischen Wellen? Aber die Maxwell-Gleichungen beschreiben die Ausbreitung „freier“ elektromagnetischer Wellen weit weg von allen elektrischen Ladungen und Strömen – für das Nahfeld gelten andere Gleichungen. Für Joseph Geyser läßt die elektromagnetische Lichttheorie „die sehr bedeutsame Frage offen, wie man sich die elektrischen und magnetischen Felder selbst zu denken habe. Bedeuten sie gewisse, im Raum sich fortpflanzende, in ihrem Ansich uns unbekannte quantitative und qualitative Zustandsänderungen des Äthers, oder bedeuten sie flüssigkeitsartige, periodisch auf- und abschwingende Bewegungen selbständiger Stoffe, wobei alsdann die Ätherannahme selbst überflüssig wäre?“ 137 Da die Wellentheorie eine „stoffartige Natur der elektrischen und magnetischen Felder“138 nicht nahelegt, bleibt neuscholastischen Autoren als Alternative einzig das Festhalten am Äther. Ihnen kommt dabei entgegen, daß auch viele Physiker im 19. Jahrhundert hypothetisch einen Äther als zugrundeliegenden Träger der elektromagnetischen Wellen voraussetzen. Doch die physikalische Äthervorstellung führt zu den bereits erwähnten Widersprüchen, und überdies schlagen alle Versuche, den Äther experimentell nachzuweisen, fehl.139 Mit der Relativitätstheorie verschwindet der Äther dann vollständig aus der modernen Physik – nur vereinzelte, zumeist der älteren Generation angehörende Physiker vertreten nach 1905 noch die Ätherhypothese. Die Ablehnung der Ätherhypothese durch Einstein hat massive Vorbehalte neuscholastischer Philosophen gegen die Relativitätstheorie zur Folge. Was kann ohne Äther noch als Träger der Lichtausbreitung angesprochen werden? Was kann noch als Bezugspunkt für eine absolute Bewegung gelten, wenn nicht ein das gesamte Universum ausfüllender Äther? Zwei Jahre nach Veröf135 W. Reidelbach, Art. Kraftfeld, 132. S. v. Dunin-Borkowski, Neue philosophische Strömungen, 215. 137 J. Geyser, Allgemeine Philosophie des Seins und der Natur, 339. 138 Ebd. 139 Vgl. 1. Kap. III. vorliegender Arbeit. 136 125 fentlichung der speziellen Relativitätstheorie hält es der oben zitierte Physiker und Jesuit Ludwig Dressel noch für denkbar, daß „auch der Aether aus Elektrizität bestehe und der ganze Weltraum mit Elektrizitätsteilchen erfüllt sei“140. Diese Teilchen wären dann „das ‚Etwas‘, welches Träger der Bewegung und der Kraft ist“141. Zehn Jahre später anerkennt Eduard Hartmann im „Philosophischen Jahrbuch“ die Relativitätstheorie zwar als widerspruchslos an und sieht sie „mit den Tatsachen im Einklange“142 stehen – aber dies beansprucht er genauso für die Lorentzsche Theorie, die am Äther, absoluter Zeit und absolutem Raum festhält. Es werde kaum möglich sein, so Hartmann, auf experimentellem Wege eine Entscheidung zwischen beiden Theorien zu gewinnen.143 Am Ende seines ansonsten kenntnisreichen Artikels über die spezielle Relativitätstheorie kommt Hartmann entgegen der Entwicklung der damaligen Physik „auf die Lorentzsche Theorie zurück, wonach die Abweichungen, die zwischen den absoluten Raum- und Zeitverhältnissen und den Feststellungen eines Beobachters bestehen, auf den Einfluss des Aetherwindes zurückzuführen sind“144. Das inzwischen nun schon krampfhafte Festhalten neuscholastisch geprägter Autoren am Äther setzt sich fort in der „Aether-Theorie“ Anton Webers. Zwar stellt Weber zutreffend fest, daß „viele Physiker mit Rücksicht auf die Relativitätstheorie die Aetherhypothese [haben] fallen lassen“145, aber er vermißt – gewiß nur als neuscholastischer Theologe, nicht als Physiker! – einen „brauchbare[n] Ersatz für den Aether“, und so bleibt ihm die Frage unbeantwortet, „wie sich im leeren Raum die Wirkungen von Punkt zu Punkt fortpflanzen können“146. Weber kreiert darum eine neue „Aether-Theorie“ derzufolge der Äther „der substanziierte Raum [ist]“147: „Wir betrachten jetzt den Raum als identisch mit dem Weltäther. Dieser Substanz haben die Physiker seit langem eine Reihe wichtiger Funktionen zuerteilt, und nun soll sie mit einer neuen Aufgabe betraut werden, sie soll den Raum verkörpern [...]. Jede Wechselwirkung wird durch den Aether vermittelt, ähnlich wie die Schallwirkung durch die Luft.“ 148 Auch wenn Weber am Ende urteilt, daß nur die Äthertheorie vollkommen befriedige,149 so bleibt er jeden physikalischen Beleg für seine Hypothese schuldig. Mehr als fünfzig Jahre nach Veröffentlichung der speziellen Relativitätstheorie erscheinen im Jahr 1956 im „Philosophischen Jahrbuch“ – wohl als eine 140 L. Dressel, Die neuere Entwickelung des Massenbegriffes, 305. Ebd. 142 E. Hartmann, Raum und Zeit im Lichte der neuesten physikalischen Theorien, 24. 143 Vgl. a.a.O., 16. 144 A.a.O., 24. 145 A. Weber, Über Raum und Zeit, 111. 146 Ebd. 147 A.a.O., 116. 148 A.a.O., 116f. 149 Vgl. a.a.O., 120. 141 126 Art Nachruf auf den im Jahr zuvor verstorbenen Einstein gedacht – noch einmal zwei Artikel, die sich mit der Relativitätstheorie und dem Substanzbegriff der modernen Physik befassen. Im ersten spricht Walter Böhm – im Anschluß an Lenard! – von der „Verworrenheit“150 der speziellen Relativitätstheorie und bekennt sich unbeirrt nicht nur zu einem experimentell nachweisbaren, sondern zu einem experimentell nachgewiesenen Äther. Die Ablenkung, die knapp an der Sonne vorbeilaufende Lichtstrahlen erfahren, „beweist“, so Böhm, „daß [...] der Lichtäther von einem Himmelskörper in seiner unmittelbaren Umgebung gewissermaßen mitgenommen wird“151. Böhm weiter: „Wie die Schallwellen bei Windstille sich nach allen Richtungen gleich schnell ausbreiten, weil die Luft von der Erde mitgenommen wird, so auch die Lichtwellen, weil der Äther in unmittelbarer Nähe der Erdoberfläche von der Erde mitgenommen wird, so daß hier kein ‚Ätherwind‘ nachweisbar ist.“152 Das ist ein Anachronismus sondergleichen, der in der Physik spätestens zu Beginn unseres Jahrhunderts aufgrund zahlreicher negativ ausgefallener Präzisionsversuche aufgegeben worden ist153 und der nur einmal mehr zeigt, mit welchem von jeder physikalischen Entwicklung unbeeindrucktem Starrsinn neuscholastische Autoren am Äther festhalten wollen. Im zweiten Artikel gelangt Lothar von Strauß und Torney zu „einer Art Erneuerung der Äther-Hypothese“154. Nachweisen oder messen lasse sich dieser Äther freilich nicht, gesteht von Strauß und Torney nun immerhin ein und zählt den Äther dem Bereich der Metaphysik zu, die er insgesamt „als den der physikalischen Erkenntnis zu Grunde liegenden irrationalen Rest [ansieht]“155. Der metaphysische Äther gehört damit zur „grundlosen Tiefe des Irrationalen“156, aus der für von Strauß und Torney jede Wissenschaft entspringt und ist somit Ausdruck davon, daß „die Physik ein Arbeiten über einem irrationalen Grund ist“157. Hier konnte dann Günther Petry im Jahr 1959 noch einmal anknüpfen und unbeirrt eine „in der Veränderung beharrende Äthersubstanz“158 voraussetzen, von „der absoluten Substanz Äther“159 sprechen und zugleich einräumen: „Der Äther ist jenseits seiner begrenzten und geformten Veränderungsvorgänge nicht größenbestimmt, nicht meßbar; er ist physikalisch leer, ein überempirisches Apeiron.“160 Das heißt, gerade das „Beharrende“ ist nicht nachweisbar. 150 W. Böhm, Realismus und Idealismus in der Einsteinschen Relativitätstheorie, 123. Ebd. 152 Ebd. 153 Am wichtigsten für die Ablehnung des Äthers wurde der Trouton-Noble-Versuch im Jahr 1903, der später im übrigen auch in großer Höhe wiederholt wurde. Der wohl ernstgemeinte Vorschlag Böhms, a.a.O., 123f, den Michelson-Versuch doch einmal „in einem Flugzeug mit verschwindender Masse“ durchzuführen, erscheint vor diesem Hintergrund reichlich naiv. 154 L. v. Strauß und Torney, Der Substanzbegriff in der neueren Physik und seine Grenzen, 105. 155 A.a.O., 109. 156 A.a.O., 111. 157 A.a.O., 104. 158 G. Petry, Ist der „Äther“ als kosmologische Grundkategorie haltbar? 387. 159 Ebd. 160 Ebd. 151 127 So ließ das Festhalten an einem Substanzbegriff, der die Existenz eines Äthers zu erfordern scheint, neuscholastische Autoren auf der Vorstellung dieses Äthers beharren: Erst jahrzehntelang unter Berufung auf überholte und widerlegte physikalische Theorien, dann unter Verzicht auf die Nachweisbarkeit des weiterhin behaupteten Äthers. Einen anderen Weg, der freilich mit der vollständigen Umwandlung vom substantiellen zum funktionalen Denken verbunden ist, weist demgegenüber schon Ernst Cassirer: „Das, wovon wahrhaft und endgültig ‚Beharrlichkeit‘ ausgesagt wird, ist kein Dasein mehr, das sich im Raume und in der Zeit ausbreitet, sondern es sind jene Größen und Größenbeziehungen, die die universellen Konstanten für jegliche Beschreibung des physikalischen Geschehens bilden. Die Invarianz solcher Beziehungen, nicht die Existenz irgendwelcher Einzelwesen, bildet die letzte Schicht der Objektivität.“161 6. Fazit Überblickt man die neuscholastische Reaktion auf die Relativitätstheorie, so lassen sich grob drei Phasen unterscheiden: w Die erste Phase (bis etwa 1920) ist gekennzeichnet durch polemische Ablehnung. Gegen die Relativitätstheorie wird behauptet, daß es in der objektiven Wirklichkeit absolute Bestimmungen gibt (absoluter Raum, absolute Zeit, absolute Bewegung) und daß diese physikalisch nachweisbar sind. Die Relativitätstheorie wird als mathematische Konstruktion und Fiktion abgetan, die sich experimentell nicht bestätigen lassen kann. w In der zweiten Phase (ab etwa 1920) wird versucht, die Relativitätstheorie physikalisch zu widerlegen oder zumindest gleichwertige Alternativkonzepte zu finden. Dies geschieht unter Rückgriff auf ältere physikalische Theorien, die aber alle von der modernen Physik wegen ihrer inneren Widersprüchlichkeit aufgegeben wurden. Diese Theorien zeichnen sich durch ein Festhalten an der „Äthervorstellung“ aus: Der Äther ist eine Substanz, die den Nachweis absoluter Bestimmungen von Raum, Zeit und Bewegung erlaubt. w Die dritte Phase (nach 1945) ist neben polemischen Rückfällen162 durch Rückzug und Korrektur bestimmt. Die Relativitätstheorie wird als physikalisch korrekte und bewährte Theorie akzeptiert. Wo noch an der Äthervorstellung festgehalten wird, wird auf deren physikalische Nachweisbarkeit verzichtet. Allerdings werden nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch Stellungnahmen von theologischer Seite zur Relativitätstheorie vorgelegt. 161 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 554; vgl. ders., Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, insbes. 4. und 7. Kap. 162 Vgl. A. Ch. de Guttenberg, Das neue physikalische Weltbild und Einstein, 380, 384, 392f sowie W. Böhm, Realismus und Idealismus in der Einsteinschen Relativitätstheorie, 123f. 128 Im Jahr 1990 veröffentlichte Klaus Hentschel eine umfassende Arbeit mit dem Titel „Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins“. Hentschel verfolgt darin das Ziel „zu zeigen, wie die von den Vertretern verschiedenster philosophischer Grundanschauungen bei der Interpretation der R[elativitäts]t[heorie] eingebrachten Voraussetzungen die jeweilige Interpretation prädeterminierten, wie groß also der ‚Denkzwang‘ war, dem die Fachphilosophen und die philosophisch vorbelasteten Fachwissenschaftler unterlagen.“163 Obwohl sich Hentschel mit mehr als zehn philosophischen Richtungen befaßt, die sich an einer Interpretation der Relativitätstheorie versuchen, widmet er der neuscholastischen Rezeption der Relativitätstheorie keinen eigenen Abschnitt. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, daß in den Jahren zwischen 1916 und 1933 eine ungeheure Fülle von Sekundärliteratur zur Relativitätstheorie veröffentlicht wird. Die Stellungnahmen neuscholastischer Autoren fallen darunter nicht weiter auf. Sie können gleichwohl Hentschels These besonders anschaulich bestätigen, denn der (äußere und innere) Denkzwang erweist sich in diesen Jahren in der katholischen Theologie als besonders ausgeprägt und gerade auch ontologische Voraussetzungen neuscholastischer Theologen prädeterminieren die äußerst skeptische oder offen ablehnende Haltung gegenüber der Relativitätstheorie. Die Ausführungen von neuscholastischer Seite zur Relativitätstheorie sagen so wohl einiges über die Schwierigkeiten der Neuscholastik, ein angemessenes Verhältnis zu der Entwicklung in der modernen Physik zu finden, aber sie können nichts mehr zu einem Verständnis geschweige denn zu einer fundierten Kritik der Relativitätstheorie beitragen. Schon bei dem neuscholastischen Theologen Bernhard Jansen wächst im Jahr 1920 die Erkenntnis, daß es mit der schlichten Anwendung scholastischer Terminologie auf moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse allein nicht mehr getan sein kann. Er verweist darauf, daß Aristoteles und das Mittelalter ihre Begriffe und Leitsätze durch eine Bearbeitung der vorwissenschaftlichen Beobachtungen und Erfahrungen gewonnen hätten, während sich die neuere Philosophie im engsten Zusammenhang mit den Ergebnissen und Methoden der modernen hochentwickelten Einzelwissenschaften entwickelt habe: „Infolgedessen genügen häufig die Beweisführungen und Ableitungen oder die philosophischen Methoden, welche die Vorzeit mit Recht angewandt hat und welche an sich auch heute noch nichts von ihrer Kraft eingebüßt haben, dem von den Einzelwissenschaften, von den Begriffen und Methoden der antischolastischen Philosophie herkommenden modernen Menschen nicht mehr. Darum sieht sich der Neuscholastiker, der der Wahrheit seiner überlegenen Weltanschauung bei der Jetztzeit siegreichen Eingang verschaffen will, häufig genötigt, gangbare Verbindungsbrücken zwischen der Anschauungsweise von heute und den aus der griechisch-mittelalterlichen Umwelt abgeleiteten Denkformen zu schlagen.“164 163 K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, XIII. 164 B. Jansen, Scholastische und moderne Philosophie, 264. 129 Jansen bemerkt in diesem Zusammenhang, daß dem „heutigen Sprachkenner und Naturforscher“ beispielsweise für ein Verständnis des zentralen scholastischen Begriffs Substanz „fast alle geschichtlichen und sachlichen Voraussetzungen fehlen“.165 Von hier aus wäre es naheliegend, auf diesen Begriff zumindest im Dialog mit den Naturwissenschaften überhaupt zu verzichten, und eine andere, beiden Seiten zugängliche Begrifflichkeit für das Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie zu suchen. Statt dessen erkennt Jansen die Aufgabe aber darin, Verbindungsfäden zu spannen, „die vom heutigen Denken zum scholastischen hinführen“166. Derart könnte freilich allenfalls ein Gespräch zwischen (Neu-)Scholastik und Naturwissenschaft in Gang kommen – woran heute wohl kaum mehr ein Naturwissenschaftler ernsthaft interessiert sein dürfte. Im beiderseitigen Interesse wäre aber ein philosophisch reflektierter Austausch zwischen moderner Naturwissenschaft und einer zeitgemäßen christlichen Theologie – einer Theologie, die nicht mehr an eine ganz bestimmte, geschichtlich bedingte und auf einen völlig anderen (natur)wissenschaftlichen Kontext bezogene Philosophie gebunden ist. Nach dem Urteil von Friedrich Dessauer, gibt es „sehr viele gesicherte Tatbestände der Physik und Biologie, die man in der Sprache der traditionellen scholastischen Naturphilosophie [...] nicht adäquat ausdrücken kann, weil ihre traditionellen Grundbegriffe dazu nicht ausreichen“167. Die angeführten Reaktionen katholischer Theologen auf die Relativitätstheorie können dies in aller Deutlichkeit illustrieren. Im „Sprachspiel“ der traditionellen Scholastik kann offensichtlich kein Dialog zwischen Theologie und moderner Naturwissenschaft in Gang kommen. Vielleicht könnten durch eine gründliche Revision des traditionellen Substanzbegriffs offene Widersprüche mit physikalischen Aussagen noch vermieden werden.168 Erfolgversprechender ist es, wenn heutige Theologie aus dem kläglichen Scheitern des „Dialogs“ von Neuscholastik und Relativitätstheorie die Konsequenz zieht, auf die für den Bereich der modernen Naturwissenschaft erwiesenermaßen unangemessene mittelalterliche Begrifflichkeit ganz zu verzichten. Das beharrliche Festhalten an der neuscholastischen Begrifflichkeit bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erweist sich im Rückblick jedenfalls als einer der maßgeblichen Gründe, warum der Dialog zwischen katholischer Theologie und moderner Physik erst jahrzehntelang blockiert war und bis heute nur stockend in Gang kommt. 165 Ebd. A.a.O., 265. 167 F. Dessauer, Naturwissenschaftliches Erkennen, 175. 168 H.-D. Mutschler, Physik und Neothomismus, 50, vertritt die Auffassung, daß ein „kräftig modifizierter Neothomismus“, der insbesondere den traditionellen Substanzbegriff verändert oder ersetzt, durchaus „als ontologische Basis und als metaphysischer Abschluß der modernen Physik“ dienen könnte. Er bedauert aber zugleich, daß diesbezügliche Ansätze nur rudimentär entwickelt worden seien. 166 130 III. Karl Heim: Neue Apologetik 1. Ausgangssituation in der protestantischen Theologie Schon Johannes Kepler ist der Meinung, daß die biblischen Schriften nicht beabsichtigen, die Menschen in natürlichen Dingen zu belehren, irrige Meinungen über die Welt zu korrigieren und menschliches Forschen damit überflüssig zu machen. Nach Kepler ist das Interesse der Verfasser des Bibeltextes vielmehr auf das Heil der Menschen gerichtet, und entsprechend zielen sie darauf, dem Menschen das für sein Heil Notwendige zu offenbaren.169 In diesem Sinne äußert sich auch Galileo Galilei in einem Brief an einen Freund und Schüler, den Benediktinermönch Benedetto Castelli: „Ich möchte annehmen, daß die Autorität der Heiligen Schrift einzig das Ziel hat, die Menschen von denjenigen Artikeln und Aussagen zu überzeugen, die, notwendig für das Seelenheil und alle menschliche Vernunft übersteigend, durch keine andere Wissenschaft einsichtig gemacht werden könnte[n], es sei denn durch den Mund des Heiligen Geistes selbst.“ Aber Galilei ist nicht der Meinung, daß es notwendig sei zu glauben, daß derselbe Gott, der uns unsere Sinne, Vernunft und Intelligenz gegeben habe, wünschen könnte, daß wir davon keinen Gebrauch machen sollen, weil er uns auf anderem Wege das Wissen vermittele, das wir durch sie erlangen können. Dies gilt für Galilei „besonders in Angelegenheiten, von denen man nur einen geringen Teil und nur sehr wenige Schlußfolgerungen in der Bibel lesen kann, denn solcherart ist die Astronomie, deren Anteil so gering ist, daß nicht einmal die Planeten benannt werden“170. Damit ist eine klare Grenze zwischen Naturwissenschaft und Theologie gezogen, die von der reformatorischen Theologie akzeptiert wird und die bis in die jüngste Gegenwart hinein für die protestantische Theologie prägend bleibt: Die Theologie konzentriert sich auf das „Heil der Person“, ihre Domäne wird die „seelische Heilsgewißheit im Reich der Innerlichkeit“171; im Gegenzug überläßt die Theologie den Naturwissenschaften die Erkenntnis und Bemächtigung von Welt und Natur. Auf diese Weise fallen freilich geoffenbarte Glaubenswahrheit und naturwissenschaftlich erkannte Vernunftwahrheit auseinander. Dies hat zur Folge, daß sich die protestantische Theologie von wenigen Ausnahmen abgesehen lange Zeit durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft nicht herausfordert sieht. Da nach Karl Barth die „Naturwissenschaft freien Raum jenseits 169 Vgl. dazu J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, 158–229, insbes. 220f.; sowie J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 47–54. 170 G. Galilei, Brief an Benedetto Castelli, 286f. 171 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 49. Allerdings verweist G. Altner, Schöpfungsglaube und Entwicklungsgedanke in der protestantischen Theologie zwischen Ernst Haeckel und Teilhard de Chardin, 2, auch zurecht darauf, daß man gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einer „sauberen Trennung zwischen Theologie und Naturwissenschaft weit entfernt [ist]“. 131 dessen [hat], was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat“172, scheint sich auch eine Auseinandersetzung mit neuen naturwissenschaftlichen Ergebnissen zu erübrigen – zumindest so lange, als der der Theologie vorbehaltene Bereich der Innerlichkeit unangetastet bleibt. 173 Karl Heim (1874–1958) hat schon im Jahr 1908 diese Dichotomie von Theologie und Naturwissenschaft, von Glauben und Vernunft, von Seele und Welt beschrieben und kritisiert. Die von ihm abgelehnte defensive Methode bestehe darin, so schreibt Heim, „daß die Religion sich darauf beschränkt, ihr Heiligtum gegen die Naturwissenschaft zu verteidigen, sich ein sturmfreies Gebiet abzustecken und einzuzäunen, in der sie frei atmen kann, mag die Naturwissenschaft auch alles, was außerhalb dieses heiligen Bezirkes liegt, in eine Sandwüste verwandeln“174. Das Sondergebiet, auf das sich die defensive Apologetik zurückgezogen habe, um es zum Sitz der Religion zu machen, sei „der Mensch, noch enger die menschliche Seele als das Organ der Religion, das Subjekt der Sünde und der Gegenstand der Erlösung“175. Doch gerade diesen Bereich und damit überhaupt die Methode der defensiven Apologetik sieht Heim durch die Entwicklung der Naturwissenschaft bedroht: „Mit dem Zerfall des ptolemäischen Weltbildes verlor die Menschenseele ihre zentrale Sonderstellung im Raum. Der Evolutionismus nahm ihr ihre Sonderstellung innerhalb der zeitlichen Entwicklung. Die heutige Physiologie endlich brachte sie in den Zustand einer belagerten Festung, um die sich der eiserne Ring immer enger zusammenzieht. Die Außenforts sind längst genommen; jetzt wird um die innere Burg gekämpft.“176 In unserem Zusammenhang ist festzuhalten, daß für Heim diese Entwicklung bereits mit der Behauptung eines unendlichen Kosmos durch Giordano Bruno in ein neues Stadium tritt. Denn waren erst einmal die Grenzen verwischt „zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen Ruhe und Bewegung, so war damit ein Relativierungsprozeß eingeleitet, der nach und nach alle absoluten Grenzen in Frage stellen mußte, auch die scheinbar unverrückbaren Grenzsteine, die das Gebiet der Menschenseele von der Natur schieden“177. Einige Jahre später wird Heim die Einsteinschen Theorien als konsequenten Endpunkt dieses Relativierungsprozesses interpretieren. 172 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Vorwort. J. Hübner, Die Welt als Gottes Schöpfung ehren, 9, beschreibt noch im Jahr 1982 die Situation zwischen Naturwissenschaft und Theologie „als schiedlich-friedliches Nebeneinander beider Gebiete“. – Vgl. auch H. Hafner, Gespräch... Selbstgespräch... Sendepause...? Orientierungen und Fragen zur Situation des Gesprächs zwischen Theologie und Naturwissenschaft vor 100 Jahren und heute, 47–77. 174 K. Heim, Der gegenwärtige Stand der Debatte zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 39. 175 A.a.O., 40. 176 A.a.O., 50. 177 A.a.O., 43. 173 132 2. Naturwissenschaft und Theologie als zentrales Thema in Karl Heims Werk Aufgrund des drohenden Scheiterns der defensiven Strategie sieht sich Heim gegenüber den Naturwissenschaften „zur Offensive gezwungen, zu einem glaubensmutigen Ringen mit den Rätseln der Natur“178. Heim will nun aber keine eigene, in apologetischer Absicht geschriebene christliche Naturphilosophie vorlegen, sondern er will sich unmittelbar mit den jeweiligen neuen Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften auseinandersetzen. Wirklichen apologetischen Wert haben für ihn dabei allerdings nur jene wissenschaftlichen Ergebnisse, die ohne jede direkte apologetische Absicht gewonnen wurden: „Das einzige, was wir tun können, ist darum dies: Wir können den Gang der heutigen Naturforschung mit aufmerksamen Auge[n] verfolgen und abwarten, ob sich in ihr wissenschaftliche Bewegungen anbahnen, die ganz unabsichtlich dem Glauben den Weg bereiten, ob noch einmal eine Flutwelle kommt, die, ohne es zu wollen, das Schiff des Glaubens wieder emporhebt.“179 Mit dieser zumindest zunächst eher abwartend als offensiv erscheinenden Strategie, die Heim als „neue Apologetik“180 bezeichnet, stellt sich Karl Heim eine Aufgabe, der er zeitlebens verbunden bleibt. Über Jahrzehnte hinweg äußert er sich zu den jeweils aktuellen Entwicklungen in den Naturwissenschaften und nimmt dabei insbesondere Bezug auf die Erkenntnisse der modernen Physik. Diese Bereitschaft wird auch in der Heim-Rezeption der vergangenen Jahre wiederholt gewürdigt. Heims vorrangiges Interesse ist für Rolf Hille „auf die geistige Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich begründeten Säkularismus gerichtet“181, und Manfred Büttner hebt hervor, daß es in Heims ganzem theologischen System „einzig und allein um die Beziehung zwischen Theologie und Naturwissenschaft geht“182. Für Büttner ist Heim sogar „tatsächlich der einzige Theologe des 20. Jahrhunderts [...], der dem Weltbild des Unglaubens ein wirklich alle naturwissenschaftlichen Bereiche umfassendes Weltbild des Glaubens gegenüberstellt“183. Nach Hermann Timm ist dabei Heims Denken aber nicht auf Konfrontation angelegt, sondern er sei zeitlebens „um ein positives Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft“184 bemüht gewesen. Heim habe sich mit Entschlossenheit auf „jedwedes relevante Gespräch zwischen Theologie, Naturwissenschaft, Philosophie, Ideologie und Religion“185 eingelassen, 178 A.a.O., 57. A.a.O., 58 (Heim: „aufmerksamen Auge“). 180 K. Heim, Eine neue Apologetik, 386–389. 181 R. Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen, 11. 182 M. Büttner, Das „physikotheologische“ System Karl Heims und seine Einordnung in die Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 269. 183 A.a.O., 279. 184 H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 11 (Hervorhebung vom Verf.). 185 R. Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen, 103. 179 133 bemerkt Rolf Hille, und Horst W. Beck stellt bei Heim bei allem Wandel der Themen doch „als bleibendes Rückgrat das Ziel und die Methode des SichEinlassens auf die Naturwissenschaften“186 fest. Auch in der Neuauflage des „Lexikon für Theologie und Kirche“ wird Heim als „intimer Kenner der Naturwissenschaften“ gelobt, der mit diesen einen „intensiven Dialog“187 geführt habe.188 Diese – späten – Würdigungen ändern nichts daran, daß Karl Heim innerhalb der protestantischen Theologie seiner Zeit ein Außenseiter bleibt. In mancher Hinsicht ist dabei seine Rolle durchaus mit derjenigen Teilhard de Chardins (1881–1955) innerhalb der katholischen Theologie vergleichbar. Heim konnte seine Schriften im Unterschied zu Teilhard zwar selbst veröffentlichen, aber „bei seinen Fachkollegen [...] fand er für seine Arbeit weder Zustimmung noch Unterstützung“189 und blieb „innerhalb der Universitätstheologie immer ein bedrängter Außenseiter“190. Als seine Schriften dann in den siebziger Jahren neu aufgelegt und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich werden, sind sie bereits „veraltet“, wenn auch nicht unbedingt überholt.191 Während Teilhard sich kompetent mit der biologischen Evolution beschäftigt und selbst zahlreiche geologische und paläontologische Arbeiten verfaßt, gilt Heims Interesse vorrangig den Erkenntnissen der modernen Physik. Dabei werden in der Entwicklung von Heims Theologie drei Phasen unterschieden, die jeweils auf bestimmte Entwicklungen in der Geschichte der modernen Physik bezogen sind: die erste Phase auf die Thermodynamik, die zweite auf die Relativitäts- und die dritte auf die Quantentheorie.192 Im hier gegebenen Zusammenhang beschränken wir uns zunächst auf die zweite Phase, die von Heims Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie geprägt ist. 3. Heims Rezeption und Deutung der Relativitätstheorie Karl Heim befaßt sich in mehreren Schriften mit den Einsteinschen Theorien: zuerst im Jahr 1921 in einem eigens der Relativitätstheorie gewidmeten 186 H. W. Beck, Zur Einführung, in: K. Heim, Weltschöpfung und Weltende, 10. H. Schwarz, Art. Heim, Karl, Sp. 1364. 188 Zur gegenwärtigen Rezeption K. Heims vgl. auch die Veröffentlichungen im jährlich erscheinenden Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft „Glaube und Denken“. Die Karl-HeimGesellschaft, die das Erbe Karl Heims bewahren und fortführen will, widmete ihre Jahrestagung 1995 dem Thema „Neu-Orientierungen im Gespräch zwischen christlicher Theologie und Naturwissenschaft. Anstöße Karl Heims für die heutige Gesprächssituation“. Beiträge dieser Tagung sind dokumentiert in: H. Schwarz (Hg.), Glaube und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft 9 (1996). 189 H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 11. 190 H. E. Tödt, Vorwort, in: H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 7. 191 Vgl. dazu M. Büttner, Das „physikotheologische“ System Karl Heims und seine Einordnung in die Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 270f. 192 Vgl. dazu H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 50. 187 134 Beitrag in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“193 sowie im Kontext der größeren Schrift „Glaubensgewißheit“194. Darüber hinaus weist Heim auf die Relativitätstheorie in mehreren Artikeln in unterschiedlichem Zusammenhang kurz hin195 und thematisiert schließlich auch noch einmal im Rahmen seines sechsbändigen Alterswerkes „Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart“ ausführlicher die spezielle196 und die allgemeine197 Relativitätstheorie. In seinem Beitrag aus dem Jahr 1921 „Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie“ vermittelt Heim zunächst den Eindruck, als halte er es keineswegs für ausgemacht, daß „die Einsteinsche Relativitätstheorie irgend etwas mit der Religion zu tun [habe]“198 und die Theologie darum Anlaß habe, sich in die „internen Angelegenheiten der Physik einzumischen“199. Allerdings gibt er zu bedenken, daß sich erfahrungsgemäß gewisse Grundgedanken, die auf einem Wissenschaftsgebiet aufgetreten sind, wie Wellen in einem Medium verbreiten. Es verhalte sich damit wie bei einer „Krankheitsinfektion, die, einmal in den Körper hineingekommen, im ganzen Körper herumzieht“200. Von dem Gedanken, den Einstein neu aufgenommen und bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt habe, gilt für Heim in besonderem Maß, daß er „über kurz oder lang alle anderen Wissenschaftsgebiete infizieren [werde]“201. Deutet schon dieser einführende Vergleich der Wirkung der Relativitätstheorie mit der einer ansteckenden Krankheit auf eine erstaunlich negative Qualifizierung der Relativitätstheorie hin, so verwundert auch die Darstellung der Relativitätstheorie, die Heim im Anschluß daran liefert. Nach dem Hinweis auf die bekannten Experimente zur Ausbreitung des Lichts im 19. Jahrhundert und die Widersprüche, die sich für die klassische Physik daraus ergeben hatten, fährt Heim fort: „Bei allen bisherigen Relativierungen hatte man das Zeitmaß als etwas Absolutes und Konstantes angesehen. Einstein kam der Gedanke: Wie, wenn auch die Zeit keine unveränderliche Größe wäre, wenn auch das Zeitmaß, wie alle anderen Maßstäbe, mit denen wir arbeiten, von der Wahl des Orientierungspunktes abhinge?“ 202 Damit behauptet Heim als Ausgangspunkt der Einsteinschen Theorie die Relativierung des Zeitmaßes – und stellt Einsteins Gedankengang damit auf 193 K. Heim, Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie. Ders., Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, 31923, insbes. 161–169. 195 Vgl. dazu u. a. K. Heim, Zeit und Ewigkeit, die Hauptfrage der heutigen Eschatologie, 547f, sowie ders., Der Schicksalsgedanke als Ausdruck für das Suchen der Zeit, 406ff. 196 Ders., Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, 75–94 („Die spezielle Relativitätstheorie als Frucht der Erschütterung des Glaubens an den festen Weltmittelpunkt“). 197 A.a.O., 94–107 („Die allgemeine Relativitätstheorie als letzte Konsequenz“). 198 Ders., Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, 330. 199 A.a.O., 331. 200 Ebd. 201 A.a.O., 331f. 202 A.a.O., 338. 194 135 den Kopf. Dieser war in der speziellen Relativitätstheorie von dem experimentell abgesicherten Postulat der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und dem Postulat der Gültigkeit der Naturgesetze in allen gleichförmig gegeneinander bewegten Bezugssystemen ausgegangen. Die Relativierung des Zeitmaßes hatte sich hingegen nur als Konsequenz aus diesen Postulaten ergeben. Auf die absolute Größe der Lichtgeschwindigkeit weist Heim hier überhaupt nicht hin. Statt dessen betont Heim, daß mit der Erkenntnis der Relativität des Zeitmaßes „die Lawine ins Rollen gekommen [sei]“ und eine „Umwälzung der physikalischen Grundbegriffe [...] begonnen [habe]“203. Erst die einseitige und dem physikalischen Gehalt der Relativitätstheorie in keiner Weise angemessene Betonung der relativierten Größen und das Verschweigen anderer absoluter Aspekte kann erklären, warum Heim in der Einsteinschen Relativitätstheorie nur noch eine „Relativierung der physikalischen Grundbegriffe“204 und der „raumzeitlichen Urmaße“205 ausmacht, die keine absoluten Maßstäbe mehr stehen lassen. Die diesbezügliche Behauptung Heims, daß „mit dem Zeitmaß vollends die letzten Maßstäbe der Wirklichkeitsbeschreibung ihre Konstanz verloren haben“206, ist im Hinblick auf die Relativitätstheorie einfach falsch und deutet auf ein völliges Mißverstehen dieser Theorie hin. Darauf weist im übrigen auch ein Beispiel hin, das Heim an anderer Stelle zur Veranschaulichung der Relativitätstheorie gibt, das sich aber ganz trivial und widerspruchslos mit Hilfe des Galileischen Relativitätsprinzips erklären läßt.207 Endgültig verläßt Heim den Boden der Relativitätstheorie, wenn er behauptet, „daß hier in der Schulsprache der exakten Wissenschaft die alte Menschheitsfrage nach dem Verhältnis von Geist und Natur, Seele und Welt verhandelt 203 A.a.O., 339. A.a.O., 336. 205 A.a.O., 341. 206 A.a.O., 344. 207 Vgl. K. Heim, Glaubensgewißheit, 163. Heim versucht hier „am Beispiel des Steins, den ein Reisender im schnell fahrenden D-Zug aus dem Fenster fallen läßt“ Inhalte der Relativitätstheorie „anschaulicher als an [den] astronomischen Verhältnissen“ zu verdeutlichen: „Vom Standpunkt des Reisenden aus gesehen fällt der Stein schnurgerade am Wagen herunter. Vom Standpunkt des Bahnwärters aus, der am Bahndamm stehend den Zug vorüberfahren sieht, [fiel der Stein] in einer langen nach der Lokomotive zu parabelförmig gebogenen Linie zur Erde.“ – Einen weiteren Hinweis darauf, daß Heim von Grund auf nicht verstand, um was es in der Relativitätstheorie geht, kann man dem autobiographischen Hinweis (1957) entnehmen, er habe bereits im Alter von 15 Jahren (das heißt im Jahr 1889!), während sich seine Kompromotionalen anderweitig vergnügt hätten, Gespräche „über Gedanken der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins“ geführt. Auch das einzige in diesem Zusammenhang geschilderte Problem verbleibt im Rahmen der klassischen Physik: „Wir sprachen davon, daß es nicht absolut feststellbar sei, ob ein Körper im Weltall ruht und welcher Körper sich im Verhältnis zu ihm bewegt, daß man einen Körper alpha als unbewegt annehmen müsse, um zu entscheiden, was sich im Weltall bewegt und in welcher Richtung das geschieht“ (K. Heim, Ich gedenke der vorigen Zeiten, 95f). Heim nennt diese Gedanken als Beispiel für „konsequenten Skeptizismus“ und für den „radikalen Zweifel an allem [...], was nach menschlicher Anschauung feststeht“ (95). 204 136 [werde]“208. Heim begründet dies damit, daß Einstein mit einer neuen Fragestellung an das Zeitproblem herantrete, die „von Anfang an den erkennenden Geist mit dem Gegenstand der Naturerkenntnis [zusammennehme]“209. Mit Bezug auf die spezielle Relativitätstheorie schreibt Heim: „Der erkennende Beobachter wird von vornherein in die Darstellung des physikalischen Tatbestands hineingenommen als ein Element, von dem nicht abstrahiert werden darf“210. Wir können also, so Heim weiter „das sehende Ich mit seiner perspektivischen Einstellung überhaupt nicht mehr aus der Natur herausnehmen“211. Damit gerate aber – und darin meint Heim die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie zu erkennen – „der ganze bisherige Begriff des objektiven Gegenstandes ins Schwanken“212, und es sei überhaupt kein anschauliches Bild des Weltprozesses mehr denkbar, das dem perspektivischen Standpunkt gegenüber neutral wäre: „Die wissenschaftliche Forschung jagt also einem Phantom nach, wenn sie feststellen will, wie die Welt aussieht, wie es bei irgendeinem Ereignis eigentlich zugegangen ist oder zugeht, wenn man die Dinge ganz ohne subjektive [sic] Beimischung unbefangen und vorurteilslos betrachtet. Das erkennende Ich, das die Wirklichkeit von einem bestimmten Standort aus betrachtet, gehört als zweiter konstituierender Faktor notwendig mit zur Wirklichkeit, kann also bei der Feststellung eines Tatbestandes nie außer acht gelassen werden.“213 In Anbetracht dieser Äußerungen Heims, die sich als Konsequenzen aus der Einsteinschen Theorie ausgeben, ist einmal mehr daran zu erinnern, daß es die Leistung der Relativitätstheorie ausmacht, die physikalischen Gesetzte wieder unabhängig vom Bezugssystem formulieren zu können, was im Rahmen der klassischen Physik nicht mehr möglich war. In diesem Sinne ist Arnold Sommerfelds Feststellung zu verstehen, daß nicht die Relativierung der Vorstellungen von Länge und Dauer die Hauptsache der Relativitätstheorie 208 K. Heim, Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, 342. Ebd. 210 Ebd. 211 A.a.O., 343. 212 Ebd. 213 A.a.O., 344. – Ähnlich formulierte Äußerungen begegnen einige Jahre später im Zusammenhang mit der Deutung der Quantentheorie, insbes. bei N. Bohr, W. Heisenberg und C. F. v. Weizsäcker. Letzterer vertritt die Ansicht, „vom Objekt [könne] hier nicht getrennt vom Subjekt geredet werden“ (Beziehungen der theoretischen Physik zum Denken Heideggers, 245) und meint, „die Subjekt-Objekt-Beziehung [werde] hier, zum erstenmal in der neuzeitlichen Physik, thematisch“ (Heidegger und die Naturwissenschaft, 313). Aber diese, im übrigen umstrittene Deutung gilt selbst bei v. Weizsäcker allenfalls für die Quantentheorie, ergibt aber bezüglich der Relativitätstheorie keinerlei nachvollziehbaren Sinn. Zumindest in diesem Zusammenhang erscheint es darum nicht angemessen, Heims Beitrag als „prophetisch“, „genial“ und „hellseherisch“ zu beurteilen (vgl. H. W. Beck, Einführung zu: K. Heim, Weltschöpfung und Weltende, 7f). Entsprechendes gilt für die Bemerkung, Heim habe „schon aus der Relativitätstheorie [...] diejenigen philosophischen Folgerungen gezogen, welche später Bohr und Heisenberg aus der Quantenmechanik gezogen haben“ (H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 66). Heims „Folgerungen“ können eben nicht aus der Relativitätstheorie gezogen werden. 209 137 sei, sondern gerade die „Unabhängigkeit der Naturgesetze [...] vom Standpunkt des Beobachters“214. Es bedeutet eine vollständige Verkennung der physikalischen Bedeutung der Relativitätstheorie, wenn man aus ihr eine „Standpunktphysik“ oder „Perspektivenlehre“ ableiten will und sie darüber hinaus – durch die willkürliche Gleichsetzung von „relativ“ mit „subjektiv“ – als eine Form des „Subjektivismus“ interpretiert. Für Heim kann die von Grund auf und restlos relativierte, standpunktabhängige Physik das Urdatum eines „primären Koordinatensystems als Grundlage der Weltorientierung “215, das Physik ermöglicht, nicht mehr erklären – und gerade deshalb führe „das Nachdenken über die letzten Voraussetzungen der Physik auf einen Weltgrund, der das geschlossene raumzeitliche Kontinuum trägt, in dem die Ursetzungen wurzeln, die alles andere erst möglich machen“216. Im ersten Gedankenschritt instrumentalisiert Heim demnach die Relativitätstheorie zum Erweis der völligen Relativität nicht nur naturwissenschaftlicher, sondern überhaupt menschlicher Erkenntnis, ja sogar menschlichen Daseins. In dieser Hinsicht kann Heim an anderer Stelle auch von der „Vollendung der relativistischen Bewegung durch Einstein und Spengler“ sprechen. Einstein und Spengler haben Heim zufolge „auch das Letzte, was uns Menschen trägt, die Wahrheit, die Denknotwendigkeit und das Gewissen [sic!], in den Strudel des Relativismus hineingerissen“217. Im zweiten Gedankenschritt verweist dieser Relativismus für Heim gerade auf die Notwendigkeit eines „Absoluten“. Die als Relativismus fehlinterpretierte Relativitätstheorie soll auf die schlechthinnige Angewiesenheit des Menschen auf ein Absolutum verweisen. Man kann mit Gründen prinzipielle Grenzen physikalischer Erkenntnis, ihr zugrunde liegende, von ihr selbst nicht zu klärende Voraussetzungen und damit eine so verstandene „Relativität“ der Physik belegen. Heim ist es auch unbenommen als Theologe von der „schlechthinnige[n] Abhängigkeit der ganzen Bewußtseinswirklichkeit von Gott“218 zu sprechen. Letzteres hat mit der Einsteinschen Theorie nichts zu tun, und ersteres hat mit ihr nicht mehr zu tun als mit jeder anderen physikalischen Theorie. Die zugegebenermaßen mißverständliche Namengebung als „Relativitätstheorie“ leistet allerdings der Fehlinterpretation Vorschub, als würden gerade in dieser Theorie der relative (und darum auf ein Absolutum bezogene) und unvollkommene (und darum ergänzungsbedürftige) Charakter physikalischer Erkenntnis besonders deutlich.219 Hätte sich der von mehreren Physikern bevorzugte Name „Absoluttheorie“ oder „Theorie der absoluten Welt“ durchgesetzt, hätten die Sätze, mit denen Heim die „Gedanken eines Theologen zur Relativitätstheorie“ abschließt, ihre suggestive Kraft eingebüßt: 214 A. Sommerfeld, Albert Einstein, 37. K. Heim, Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, 346. 216 A.a.O., 347. 217 Ders., Der Schicksalsgedanke als Ausdruck für das Suchen der Zeit, 406. 218 Ders., Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, 347. 219 Vgl. 3. Kap. III. vorliegender Arbeit. 215 138 „Die Relativierung der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe schließt uns also ein neues Verständnis auf für Empfänge aus der Sphäre des Absoluten, für die schlechthinnige Abhängigkeit der ganzen Bewußtseinswirklichkeit von Gott. Man könnte darum vom naturwissenschaftlichen Relativismus, der in einer langen Entwicklung von Ptolemäus bis zu Einstein die absoluten Fundamente des alten Weltbilds stückweise abgetragen hat, dasselbe sagen, was der Naturforscher Baco von Verulam von der Philosophie überhaupt gesagt hat: Philosophia obiter delibata deducit a Deo, penitus exhausta reducit ad Deum.“220 Für Karl Heim führt die Relativitätstheorie entgegen dem ersten Anschein bei tieferem Eindringen doch wieder zurück zu Gott. Mehr als 30 Jahre später korrigiert Heim zwar seine Darstellung der Relativitätstheorie in einigen Punkten und weist nun auch ausdrücklich darauf hin, daß mit der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit eine „tiefer liegende Objektivität ans Licht [kam]“221, aber dies bleibt ohne Auswirkung auf seine Argumentation. Nun bezeichnet er die Entwicklung, die mit der allgemeinen Relativitätstheorie endete „als die Geschichte aller der Versuche, die der Mensch gemacht hat, das Absolute, dessen er bedarf, in titanischer Weise selbst zu setzen“222. Doch die darauf aufgebauten Weltgebäude sind nacheinander eingestürzt: „Ihre Grundlagen erwiesen sich als relativ.“223 Wieder aber führt die physikalische Forschung auf einen „‚Urgrund‘, ‚Urschoß‘, ‚Urquell‘ alles Seins und Geschehens“224. Schließlich kann für Heim die Entwicklung der Physik vom ptolemäischen Weltbild bis hin zur allgemeinen Relativitätstheorie als negative Vorbereitung der positiven Erkenntnis Gottes dienen: „Der Einsturz aller dieser selbstaufgeführten Bauten des Menschengeistes war aber nur die negative Vorbereitung zu einer letzten, außerordentlich positiven Erkenntnis: Gott, der Schöpfer, der als der Ewige jenseits aller unserer Systeme steht, ist allein der Absolute. [...] In Gott allein ist im Wechsel der Erscheinungen unser ewiger Ruhepunkt. In der ganzen geschaffenen Welt gibt es aber nur relative Größen und relative Maßstäbe. [...] Nur wenn das Geschöpf in die Gemeinschaft mit dem Schöpfer zurückkehrt, findet es einen absoluten Mittelpunkt und ewigen Ruhepunkt.“225 Mit dieser Deutung – die Heim als „praktisches Schlußergebnis“226 seiner Ausführungen über den „Glaube[n] an die absolute Zeit und den absoluten Raum und seine Erschütterung durch die Relativitätstheorie“227 ankündigt – 220 K. Heim, Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, 347. Ders., Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, 79. 222 A.a.O., 117. 223 Ebd. 224 A.a.O., 112. 225 A.a.O., 117. Nur nebenbei sei angemerkt, daß Heim hier auch die Auffassung vertritt, daß das existenzialistische Denken Heideggers zu demselben Punkt führe, „zu dem die physikalische Erkenntnis gelangt, wenn man sie bis zu ihrer letzten Konsequenz verfolgt“ (a.a.O., 111, vgl. 109). Die Verbindung von Existenzphilosophie und Relativitätstheorie treibt Heim zu der Formulierung: „Es ist unser Schicksal, euklidische Wesen zu sein. Es ist ohne unser Zutun über uns entschieden worden“ (110). 226 A.a.O., 107. 227 A.a.O., 65. 221 139 nähert sich Heim den „Rezeptionen“ der Relativitätstheorie, die im ersten Abschnitt dieses Kapitels vorgestellt wurden. Waren es dort vor allem die „vierte Dimension“, die zu Spekulationen über das „Ewige Leben“ einlud, so nehmen Heims Überlegungen ihren Ausgang von dem angeblichen „Relativismus“ der Relativitätstheorie. Mit dem theologisch und philosophisch gebildeten Physiker Bernhard Bavink ist demgegenüber festzuhalten, daß alle Interpreten, die aus der Relativitätstheorie „einen Physik gewordenen ‚Relativismus‘ im philosophischen Sinne dieses Wortes herausdestillieren wollten, [...] an dem eigentlichen Sinne der Relativitätstheorie vollständig [vorbeigehen], indem sie sich an ein bloßes Wort klammern, das einen ganz anderen Sinn hat, als den sie ihm beilegen wollen“228. 4. Motiv und Methode Karl Heims bei der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften Karl Heim zählt zu den wenigen Theologen, die sich im 20. Jahrhundert überhaupt auf die Erkenntnisse der modernen Physik eingelassen haben. Seine lebenslange Bemühung wird heute verschiedentlich als Pionierarbeit gewürdigt, an die es sich – nach einer Phase der Vergessenheit Heims – wieder anzuknüpfen lohne.229 Für A. M. Klaus Müller ist Heim „als der große Anreger zu einem neuen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft“ auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts „eine Herausforderung geblieben und hat seine Bedeutung nicht eingebüßt“230. Der Theologe Hans-Rudolf Müller-Schwefe stellt Heim sogar als Genie in eine Reihe mit Planck, Einstein, Klee und Kandinsky.231 Andere Theologen erwarten für die Zukunft eine „Heim-Renaissance“ und prognostizieren, daß die Zeit komme, „da wir überhaupt erst anfangen werden, bei Karl Heim in die Schule zu gehen“232. Aus diesem Grund soll im folgenden untersucht werden, ob Heims Methode der Auseinandersetzung mit physikalischen Erkenntnissen ein heute noch 228 B. Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften (61940), 119f. – Zur Relativismusdebatte im Anschluß an die Relativitätstheorie vgl. K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 92–105. Hentschel weist darauf hin, daß gerade in polemischen und physikalisch unqualifizierten Artikeln (in vulgarisierenden „Quartärtexten“ zur Relativitätstheorie) „relativ“ oft synonym für „subjektiv“ gestanden habe; „umgekehrt wurde ‚absolut‘ als gleichbedeutend mit ‚objektiv‘ angesehen, woraus sich wiederum leicht ein Argument Vom Relativen zum Absoluten ableiten ließ“ (a.a.O., 95, vgl. 57f). 229 Vgl. H. W. Beck, Götzendämmerung in den Wissenschaften. Karl Heim – Prophet und Pionier, 70, der zuversichtlich ist, daß sich Heims Methode bei der Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft auch in neuen „Problemständen“ bewähren werde. 230 A. M. K. Müller, Wende der Wahrnehmung: Erwägungen zur Grundlagenkrise in Physik, Medizin, Pädagogik und Theologie, 157. 231 Vgl. R. Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen, 9. 232 F. Melzer, zit. in: R. Hille, a.a.O., 11. 140 tragfähiges Modell für den Dialog von Naturwissenschaft und Theologie abgeben kann. Um diese Methode zu verstehen, muß zunächst Heims Selbstverständnis berücksichtigt werden. Heim geht von der Überzeugung aus, daß auch die Existenz eines akademischen Theologen als Lehrer und Schriftsteller missionarisch motiviert und auf das praktische Christentum hin orientiert sein muß. Diese Überzeugung gründet sich bei Heim auf ein in seiner Autobiographie geschildertes Bekehrungserlebnis und auf die ihn prägenden Erfahrungen als Reisesekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung.233 So fühlt sich Heim persönlich dazu berufen „in missionarischer Absicht theologisches Neuland [zu] erschließen“234. Diese Absicht bestimmt nach Rolf Hille „nicht nur die Themen und Inhalte, sondern durchgehend den Stil und die Argumentationsstruktur der Veröffentlichungen Karl Heims“235. Mission setzt als Adressaten Un- oder Andersgläubige voraus. Nun stellt sich die Frage, wie es dazu kommen kann, daß bei einem Theologen, dessen erklärte Absicht die Mission darstellt, ausgerechnet die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und speziell mit der Physik zum zentralen Thema seines gesamten Lebenswerkes werden kann. Inwiefern können die Naturwissenschaften zum Feld missionarischer Absichten werden? Erst Heims Darstellung und Bewertung der Geschichte der Physik erlaubt darauf eine Antwort. Im fünften Band seines Spätwerkes (1954) fragt Heim, worin „von der Gottesfrage aus [gesehen]“ die Umwälzung bestehe, die sich in der Physik vor unseren Augen vollziehe, und antwortet selbst: „Sie besteht offenbar darin, daß in einer ‚Götzendämmerung‘ großen Ausmaßes eins ums andere dieser Absoluta, die jahrhundertelang als unumstößlich galten, zusammenstürzten, und zwar nicht durch irgendeine theoretische Reflexion, wie man sie auch schon früher in Zeiten des radikalen Relativismus und Skeptizismus angestellt hatte, sondern durch experimentell feststellbare Erfahrungstatsachen, die nicht geleugnet werden konnten [...].“236 Die drei Absoluta, die der klassischen Physik Heim zufolge als Götzen gedient haben sollen, sind das absolute Objekt, der absolute Raum und die absolute Zeit sowie die absolute Determination des Weltgeschehens. Für Heim gilt aber auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet das biblische Gebot: „‚Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine andern Götter neben mir haben‘, oder allgemeiner, universaler ausgedrückt: ‚Ich bin das Absolute, und du sollst kein Absolutum neben mir haben.‘“237 Wo in die Naturbeschreibung ein absoluter Faktor aufgenommen werden müsse, rage im Grunde „der religiöse Glaube in die wissenschaftliche Berechnung herein“238. Damit erhält die neuzeitliche Physikgeschichte für Heim notwendig pseudoreligiösen Charakter, ja die Physik muß bis ins 20. Jahrhundert hinein als Welt des Unglaubens 233 Vgl. K. Heim, Ich gedenke der vorigen Zeiten, 66–69. H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 111, vgl. 11f. 235 R. Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen, 101. 236 K. Heim, Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, 24. 237 A.a.O., 25, vgl. 23. 238 A.a.O., 22. 234 141 qualifiziert werden, da in ihr ja in titanenhafter Selbstüberschätzung des Menschen nur vermeintliche Absoluta als Götzen verehrt werden. Diese ungläubige Welt bedarf der Mission, und diese Mission kann sich glücklicherweise wieder die Grundlagenkrise in der Physik zu Nutze machen. Denn die Entwicklung, die Heim in der Relativitäts- und Quantentheorie miterlebt, relativiert die Absoluta der Physik, stürzt damit die Götzen der klassischen Physik in einer „gnädige[n] Katastrophe“239 von ihrem Sockel und ermöglicht so einen neuen Zugang zum Glauben an das einzige wahre Absolutum, Gott. Auf diese Weise erscheint aus Heims Perspektive die klassische Physik als anmaßender Unglaube und Götzenverehrung und die moderne Physik als Durchgangsstadium und „Götzendämmerung“, an deren Horizont sich der Glaube als einzig wahre Alternative abzeichnet. Heim erkennt demnach seine missionarische Aufgabe darin, die Naturwissenschaft über sich selbst aufzuklären, indem er sie auf die sich in ihr vollziehende Entwicklung hinweist. Die von Heim gewählte Methode, folgt dabei dem Vorgehen der traditionellen Mission: Der Missionar erwirbt sich Grundkenntnisse in der fremden Religion, versucht sich in ihre Welt hineinzudenken, macht in ihr einzelne Anknüpfungspunkte aus und führt davon ausgehend zur Wahrheit des christlichen Glaubens. Ausdrücklich orientiert sich Heim hier an der Struktur der paulinischen Missionspredigt, wie sie in der Apostelgeschichte geschildert wird.240 Entsprechend bemüht sich Heim für die naturwissenschaftliche Mission um physikalische Grundkenntnisse, beobachtet aufmerksam „den Gang der heutigen Naturforschung“ und wartet ab, „ob sich in ihr wissenschaftliche Bewegungen anbahnen, die ganz unabsichtlich dem Glauben den Weg bereiten“241. Hat Heim dann erst einmal eine derart günstige Bewegung in der naturwissenschaftlichen Entwicklung ausgemacht, dann versteht er seine Mission durchaus kämpferisch und offensiv: „Angreifen bedeutet feindlichen Boden betreten mit der Absicht, den Feind aus seinem Terrain zu verdrängen. Das bedeutet auf den Kampf mit den Waffen des Geistes übertragen: auf die Gedankengänge der atheistischen Gegner eingehen und zeigen, daß diese, sobald man sie in ihre eigenen Konsequenzen verfolgt, über den Atheismus hinausführen. [...] Ich dringe selbst in das Labyrinth des Relativismus ein und gebe den Verhältnischarakter aller räumlichen und zeitlichen Wirklichkeit ohne weiteres zu, suche aber zu zeigen, daß von jedem, auch dem entlegensten Gang dieses Labyrinths aus ein Weg nach dem Ausgang und der Welt des Lichtes führt.“ 242 239 A.a.O., 65. Vgl. K. Heim, Die Botschaft des Neuen Testaments an die Heidenwelt, 740: „Das erste Element ist nicht das, was Botschaft im eigentlichen Sinne ist, sondern mäeutischer Unterricht, durch den etwas ins Bewußtsein erhoben wird, was schon im Unterbewußtsein der Zuhörer schlummert: Ich verkündige euch den einen Gott, den ihr unwissend verehrt [...]. Dieser erste, sokratisch-mäeutische Teil der Predigt will also nur ein Frühlingsregen sein, der einen Samen aufkeimen läßt, der schon in der Erde liegt und zum Lichte drängt. Dieser Teil wird meist ruhig mit angehört und nicht durch Lärm oder Spott unterbrochen [...].“ 241 Ders., Der gegenwärtige Stand der Debatte zwischen Theologie u. Naturwissenschaft, 58. 242 Ders., Eine neue Apologetik, 387f. 240 142 Dabei zeigt sich Heim in der Wahl der Argumentation und in seiner Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Adressaten höchst flexibel. Rolf Hille zeigt, daß Heim „aus missionarischem Interesse [...] durch perspektivischen Wechsel der Argumente, durch die Bereitschaft, sich auf neue Themen einzustellen und flexibel mit seinen Begriffen umzugehen, auf das Verständnis seines Hörers bzw. Lesers [eingeht]“243 und daß dabei die Linienführung seines Denkweges „durch die unterschiedlichsten apologetischen Frontstellungen einen mitunter bizarren Verlauf genommen [hat]“244. Bei der Beschreibung der jeweiligen gegnerischen Position geht Heim bisweilen sehr großzügig vor. „Weil es ihm letztlich einzig um eine schroffe Gegenüberstellung von Glaube und Unglaube geht“, so Hille weiter, „verblassen ihm [...] die Unterschiede der säkularen Weltanschauungen.“245 Entscheidend ist, daß Heim die gesamte Physik bis hin zu dem Umbruch, der sich zu seinen Lebzeiten vollzieht, diesen säkularen Weltanschauungen und dem Unglauben zurechnet. Ohne sich auf weitere Differenzierungen einzulassen, beabsichtigt er, verschiedene Erkenntnisse der Physik bis zu ihren „äußersten Konsequenzen“ weiterzudenken, um dadurch vor die Alternative Glaube oder Nihilismus zu führen. Wer sich für die Wahrheit des Glaubens entscheidet, wird dann im Licht der Offenbarung die Konvergenz naturwissenschaftlicher und biblischer Aussagen erkennen.246 5. Kritik Heim will den Physikern ein Physiker werden, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Im folgenden soll davon abgesehen werden, daß Heim keineswegs die Höhe der Physik seiner Zeit zu erreichen vermag und er schon darum seine Absicht nicht realisieren kann. Angesichts der Komplexität der modernen Physik ist es auch kaum vorstellbar, ein Nichtphysiker könnte die notwenige Kompetenz erwerben, um auf dieser Ebene in einen fruchtbaren Dialog mit Physikern zu treten; aber die Tatsache, daß Heim entgegen seinem Anspruch auch als Physiker keineswegs überzeugen kann, könnte immerhin die höflich zurückhaltende Reaktion einiger Physiker erklären.247 Die folgenden Einwände sehen von den physikalischen Mißverständnissen Heims 243 R. Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen, 104. Ebd. 245 A.a.O., 108. 246 Zur apologetischen Methode Heims vgl. H. W. Beck, Götzendämmerung in den Wissenschaften, 54ff. 247 B. Bavink, Wesentliches und Unwesentliches im Christentum, 85, beurteilt Heims Ansatz kurz als „zu ‚theologisch‘ und zu wenig ‚realistisch‘“. Bei Heims Vortragsreise in die USA im Jahr 1935 bleibt Einstein einem Empfang, bei dem man Heim mit ihm bekannt machen will, fern. Heim, Ich gedenke der vorigen Zeiten, 291, hält es darum „für richtig, ihm am anderen Tage mit meiner Frau einen Besuch zu machen“. Über den Austausch von Freundlichkeiten scheint diese Begegnung nicht hinausgekommen zu sein. 244 143 weitgehend ab und beschränken sich im wesentlichen auf eine grundsätzliche Kritik der Methode Heims: w Der Physik wird kein positiver Eigenwert zuerkannt: Physik ist für Heim etwas, das überwunden werden muß. Zwar wagt er sich auf deren Terrain, aber es ist für ihn feindliches Terrain. Als positiv erscheint an der Physik allenfalls, daß sie selbst die Mittel zu ihrer Überwindung in sich trägt. Doch wie in der Mission kommt dem alten Glauben keine Funktion mehr zu, nachdem der neue Glaube angenommen ist. Er hat ausgedient und keinen berechtigten Eigenwert mehr aufzuweisen. Nach Hermann Timm ist für Heim „die Naturwissenschaft [...] die geistige Großmacht der modernen Welt – und mithin die Macht, an deren Überwindung [sic] heute die umfassende Wahrheit des christlichen Glaubens offenbar werden soll, wenn anders der neutestamentliche Missionsbefehl auch für unsere Welt bestehen bleibt“248. Wenn der Zusammensturz, die Zertrümmerung, die Götzendämmerung der Physik Voraussetzung ist, daß Gott „auf den Trümmern der menschlichen Weltenthrone“249 seinen Thron aufschlägt, ist auch ein positives Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft nicht mehr vorstellbar. w Die Dichotomie von Glaube und Naturwissenschaft wird bestätigt: Heim war angetreten, um die Zweiteilung von Glaube und Naturwissenschaft zu überwinden. Durch die negative Qualifizierung der Physik als Welt des Unglaubens, die in letzter Konsequenz vor die Entscheidung für das „ganz Andere“ stellt, verschärft Heim die Entgegensetzung von Naturwissenschaft und Glaube. w Die Charakterisierung der neuzeitlichen Physik entspricht nicht deren Selbstverständnis: Der pauschale Vorwurf, daß die klassische Physik ihre Absoluta als Götzen verehrt habe und als Alternative zum Glauben aufgetreten sei, ist nicht richtig. Es sind vor allem Theologen des 19. Jahrhunderts, die die Unvereinbarkeit von geoffenbartem Glauben und neuzeitlicher Naturwissenschaft behaupten. Johannes Kepler, Galileo Galilei, Isaac Newton und viele andere Physiker können die Vorstellung einer absoluten Zeit und eines absoluten Raumes durchaus mit dem Gottesglauben verbinden.250 w Die unterschiedliche theologische Beurteilung von klassischer und moderner Physik ist physikalisch nicht schlüssig: Richtig ist, daß die klassischen „Absoluta“ Raum, Zeit und strenge Determination physikalischer Abläufe durch die moderne Physik relativiert 248 H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, 109. Timm will in seiner Arbeit Heims Denken nur darstellen und interpretieren; für eine Würdigung oder Kritik sieht er im Jahr 1968 die Zeit noch nicht gekommen (vgl. a.a.O., 14). 249 K. Heim, Die Wandlung im naturwissenschaftlichen Weltbild, 21. 250 Vgl. dazu und zum folgenden die Einwände M. Büttners gegen Heims theologisches System, in: M. Büttner, Das „physikotheologische“ System Karl Heims, 279–284, hier 282. 144 werden. Aber an ihre Stelle rücken neue physikalische „Absoluta“, andere universelle Naturkonstanten wie die Lichtgeschwindigkeit oder das Plancksche Wirkungsquantum; aber weder die neuen noch die alten Absoluta treten als physikalische Erkenntnisse in Konkurrenz zum „Absolutum Gott“. w Heim unterscheidet nicht zwischen physikalischer Aussage und ihrer weltanschaulichen Deutung: Sowohl die Aussagen der neuzeitlichen wie der modernen Physik können als Aussagen interpretiert werden, die zusätzliche (Glaubens-)Aussagen als sinnlos erscheinen lassen. Man kann derartige Interpretationen mit guten Gründen als „Götzenverehrung“, als „Reduktionismus“ oder dergleichen zurückweisen und zugleich an invarianten physikalischen Größen festhalten. Erst Heim stellt physikalische Größen und theologische Aussagen auf dieselbe Ebene und konstruiert dadurch eine Konfrontation, die nicht in der Sache begründet ist. w Die selektive, von ganz spezifischen theologischen Motiven geleitete Wahrnehmung physikalischer Erkenntnisse macht die theologische Argumentation von jeweiligen Stand der Naturwissenschaft abhängig: Heim beobachtet die naturwissenschaftliche Entwicklung einzig im Hinblick darauf, ob nicht „noch einmal eine Flutwelle kommt, die, ohne es zu wollen, das Schiff des Glaubens wieder emporhebt“251. Er erhofft sich damit von der Physik „theologische Ausbeute“252. So knüpft Heim beispielsweise in seiner ersten Schaffensperiode an die Bestreitung der experimentellen Verifizierbarkeit der Atome (Ernst Mach) und an die Energetik (Wilhelm Ostwald) an und verweist den modernen Atomismus ins Reich des Mythos.253 Nachdem diese Positionen überholt und widerlegt sind,254 greift Heim die Relativitätstheorie auf – und mißversteht sie gründlich. Mit dem Aufkommen der Quantentheorie versucht Heim schließlich an diese anzuknüpfen. Auf dieses Weise liefert Heim seine Argumentation an die jeweilige aktuelle wissenschaftliche Welle aus, auf deren Höhe er sich im besten Fall solange zu halten vermag, bis ihr die nächste folgt.255 251 K. Heim, Der gegenwärtige Stand der Debatte zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 58. 252 K. Rahner, Zum grundsätzlichen Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, 40. 253 Vgl. K. Heim, Der gegenwärtige Stand der Debatte zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 58–65. Auch aus der vermeintlichen Widerlegung des Atomismus versucht Heim ein Argument für den christlichen Glauben zu schlagen: „Die Befreiung vom Atomismus bedeutet [...] eine Befreiung für das Christentum“ (a.a.O., 63). 254 Sowohl E. Mach als schließlich auch W. Ostwald wechseln nach der offensichtlichen experimentellen Verifikation der Atome (u.a. Crookes 1903, Einstein 1905) zurück ins Lager der Atomistik, vgl. K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 485. 255 Auch M. Büttner, Das „physikotheologische“ System Karl Heims und seine Einordnung in die Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, 270, muß sich in seinem Beitrag darauf beschränken zu zeigen, daß Heims „System solange völlig ungefährdet [ist], wie nur die augenblicklich herrschende Raumvorstellung, mit der man vor 145 Die hier genannten Einwände gegen Heims Methode der Auseinandersetzung mit der Physik lassen sich auf Heims „Missionsmodell“ zurückführen. Doch beim notwendigen Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft geht es nicht um „Mission“ – auch wenn der heutige interreligiöse Dialog von einem positiveren Verständnis der jeweils anderen Religionen ausgeht, als es in der ersten Hälfte unseres Jahrhundert üblich war. Der Dialog zwischen Theologen und Naturwissenschaftlern kann nicht in Analogie etwa zum Dialog zwischen Christen und Buddhisten gesehen werden, weil sich die Weltreligionen auch heute bei aller Gesprächsbereitschaft letztlich als Alternativen zueinander verstehen. Glaube und Naturwissenschaft aber von Anfang an als Alternativen aufzufassen, wie es Heims Missionsmodell impliziert, nimmt einseitig das Ergebnis eines „Dialogs“ zwischen Theologie und Naturwissenschaft schon vorweg. Wo Naturwissenschaftler von der Theologie als zu bekehrende Ungläubige betrachtet werden, ist weder die Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog gegeben noch die spezifische Eigenart dieses Dialoges erkannt. Der Dialog von Naturwissenschaft und Theologie muß geführt werden als ein Dialog zwischen Christen, die möglicherweise Naturwissenschaftler sind, und Naturwissenschaftlern, die Christen sein können. Dabei kann es hier nie um gegenseitige „Überwindung“, ja nicht einmal um bloßen gegenseitigen Respekt gehen, sondern tatsächlich um eine positive Verhältnisbestimmung. Gerade dafür bietet aber das Missionsmodell keinen Ansatzpunkt, da hier die Naturwissenschaften nur als negativ beurteilte Vorstufe der Entscheidung für den Glauben erscheinen. Wenngleich das an der paulinischen Missionspredigt orientierte Modell Heims demnach heute für einen Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft nicht mehr anwendbar ist, kommt Heim doch das Verdienst zu, nicht wie die Mehrzahl seiner evangelischen und katholischen Kollegen der Herausforderung durch die moderne Physik ausgewichen zu sein. Heim erkennt in der Begegnung mit der modernen Physik die Revisionsbedürftigkeit der traditionellen Zuordnungen von Naturwissenschaft und Theologie. Sein Lösungsversuch verweist überdies auf das Defizit eines befriedigenden Gesamtkonzepts, das theologische und naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Wirklichkeit weder konfrontiert, noch gegeneinander isoliert, sondern stimmig einander zuordnet. Ein solches Gesamtkonzept läßt sich aber nur erreichen, wenn man in einen philosophisch und naturwissenschaftlich kompetent geführten Diskurs über mögliche Deutungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse eintritt. Das theologische Interesse an diesem Diskurs besteht darin aufzuzeigen, daß es vernünftig begründete Interpretationsmöglichkeiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gibt, die in die christliche Sicht von Gott, Welt und Mensch integriert werden können. Der folgende Abschnitt zeigt, daß es fruchtbare Ansätze derartiger Integration bereits im Anschluß an die Diskussion um die Bedeutung der Relativitätstheorie gab. allem in der Relativitätstheorie arbeitet, in Geltung bleibt“. 146 IV. Ansätze zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Physik und Metaphysik 1. „Kampf der Weltanschauungen“: Monistenbund und Keplerbund Anstöße zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Physik und Theologie kommen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht zuerst von ausgewiesenen Theologen oder Philosophen. Gerade die Diskussionen im Anschluß an die Relativitätstheorie zeigen, daß viele Theologen den neuen physikalischen Fragestellungen nur mit Mühe und oft auch nicht in angemessener Weise folgen können. Neue Anstöße kommen in erster Linie – wenngleich auch nur vereinzelt – von theologisch interessierten und gebildeten Naturwissenschaftlern, die sich nicht nur weiterhin zu ihrem christlichen Glauben bekennen, sondern auch über die Vereinbarkeit von Glaube und Naturwissenschaft Rechenschaft abzulegen versuchen. Eine unmittelbare Herausforderung stellt dabei für diese Naturwissenschaftler eine Schrift des Zoologen Ernst Haeckel dar: „Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie“. In erster Auflage im Jahr 1899 erschienen findet sie große Resonanz nicht nur in Fachkreisen, sondern vor allem auch in der Öffentlichkeit. Bis zum Jahr 1922 wird Haeckels Buch dreizehnmal aufgelegt, in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und insgesamt in mehreren hunderttausend Exemplaren gedruckt. Erklärte Absicht Haeckels ist eine „naturgemäß[e] Weltanschauung“256, die über den „Weg der empirischen Naturforschung und der darauf gegründeten monistischen Philosophie“257 erreicht werden kann. Für Haeckel ist mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts in Physik, Chemie und Biologie „die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der sogenannten ‚Offenbarung‘ beugen wollten“258. Haeckel konstatiert somit einen „offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen Weltanschauung“259 und stellt die religiösen Glaubensvorstellungen der modernen Kulturvölker mit dem „erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen“260 in eine Linie. Anstelle 256 E. Haeckel, Die Welträthsel, 4. A.a.O., VIII. 258 A.a.O., 357. 259 Ebd. 260 A.a.O., 349. – Neben Polemik ist Haeckels Werk auch von antisemitischen und rassistischen Tönen durchsetzt. Die Behauptung, der römische Hauptmann Pandera sei der wahre Vater von Jesus gewesen, erscheint Haeckel „um so glaubhafter, wenn man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakter-Züge, die seine hohe und edle Persönlichkeit besonders auszeichnen, und welche seiner ‚Religion der Liebe‘ den Stempel aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch; vielmehr erscheinen sie als Grundzüge der 257 147 eines auf nur vermeintlicher Offenbarung gegründeten Glaubens fordert Haeckel eine monistische Weltanschauung, welche – im Gegensatz zum christlichen Dualismus von Natur und Geist – den Menschen in die Natur eingebettet sieht und Wahrheit allein auf die Erforschung dieser Natur gründet: „Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle vernünftiger Erkenntniß, ist nur in der Natur zu finden. Der reiche Schatz wahren Wissens, der den werthvollsten Theil der menschlichen Kultur darstellt, ist einzig und allein den Erfahrungen entsprungen, welche der forschende Verstand durch Natur-Erkenntniß gewonnen hat, und den Vernunft-Schlüssen, welche er durch richtige Associon dieser empirischen Vorstellungen gebildet hat.“ 261 Zur Verbreitung dieser einheitlichen, einzig auf Naturerkenntnis beruhenden monistischen Weltanschauung – Haeckel spricht auch von „monistische[r] Religion“262 – dringt Haeckel auf die Schaffung einer Organisation, die im Jahr 1906 dann als „Deutscher Monistenbund“ gegründet wird. Dieser findet zahlreiche Mitglieder unter bekannten Wissenschaftlern und Schriftstellern und entwickelt sich ab 1911 unter dem Vorsitz des Chemikers und Naturphilosophen Wilhelm Ostwald zu einem einflußreichen „Kulturbund für ‚wissenschaftlich begründete Weltanschauung und Lebensgestaltung‘“263 mit eigener Zeitschrift und reger Vortragstätigkeit in Deutschland und Österreich. Dabei versucht Ostwald in seinen naturphilosophischen Schriften – darunter „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft“ (1909) und regelmäßige „Monistische Sonntagspredigten“ (1911–1916) – Materie und Geist wie überhaupt alles Sein und Geschehen als Erscheinungsformen von Energie zu verstehen.264 Der durch Haeckels „Welträthsel“ und die Gründung des Monistenbundes verschärfte „Weltanschauungskampf“ führt unter den christlichen Naturwissenschaftlern zu ganz unterschiedlichen Reaktionen. Eine kleine Gruppe beabsichtigt, der monistischen Weltanschauung die Grundlage zu entziehen, höheren arischen Rasse und vor Allem ihres edelsten Zweiges, der Hellenen“ (a.a.O., 379). – D. Sobczynska und E. Czerwinska, Szientismus in der Praxis. Das Wirken Wilhelm Ostwalds im Deutschen Monistenbund, 191, verweisen darauf, daß viele Historiker „einen unmittelbaren, kontinuierlichen Zusammenhang [sehen], der vom Sozialdarwinismus Haeckels und des Deutschen Monistenbundes bis zum Nationalsozialismus reicht“ (vgl. a.a.O., 191). 261 A.a.O., 354 (131922: „Assoziation“ anstelle von „Associon“). 262 A.a.O., 381. 263 A. Ströle, Art. Monistenbund, 175. – Im Jahr 1913 zählte der Monistenbund in 45 Ortsgruppen 7000 Mitglieder, darunter der Physiker und Nobelpreisträger Svante Arrhenius sowie die Schriftsteller Wilhelm Bölsche, Carl Hauptmann und Bruno Wille. 264 Vgl. W. Ostwald, Monistische Sonntagspredigten. Dritte Reihe, 57–79. Ostwald will auf monistischer Grundlage auch eine moderne Ethik aufbauen, die auf dem „energetischen Imperativ: Vergeude keine Energie!“ (Monistische Sonntagspredigten, Erste Reihe, 97) gründen soll. Darüber hinaus versucht Ostwald „eine Grundlegung der Soziologie vom Gesichtspunkt der Energetik aus“ durch „Anwendung“ der in Physik und Chemie bewährten Energiegesetze „auf soziale Erscheinungen“ (Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, 3). – Eine Zusammenstellung weiterer Publikationen Ostwalds findet sich in: D. Sobczynska und E. Czerwinska, Szientismus in der Praxis, Das Wirken Wilhelm Ostwalds im Deutschen Monistenbund, 193f. 148 indem sie diese naturwissenschaftlich zu widerlegen versucht. So bestreitet etwa der Physiker Edmund Hoppe in einer Entgegnung auf die „Welträthsel“ grundsätzlich die Richtigkeit der Darwinschen Entwicklungstheorie und charakterisiert Haeckels Monismus insgesamt „als ein Phantasiegebilde, das mit naturwissenschaftlichen Ausdrücken und Redewendungen operiert, aber weder auf naturwissenschaftlicher Grundlage ruht, noch auch der naturwissenschaftlichen Methode gerecht wird, und welches endlich in seinen Konsequenzen zu einer Weltanschauung führt, die unsere Kultur, unser Geistesleben verneint“265. Da aber auch nach Hoppe Deszendenztheorie und religiöse Vorstellungen miteinander unvereinbar sind,266 ergibt sich für ihn im Gegenzug die Notwendigkeit, „eine Darstellung der biblischen Schöpfungsgeschichte in ihrer Bedeutung für die Gegenwart“267 zu geben. Hoppe kann dabei zwar noch zugestehen, daß der Zweck dieses „Schöpfungsberichts“ keine Belehrung über die Modalitäten der Schöpfung sei und daß darum in ihm „alles wegbleibt, was nur der naturwissenschaftlichen Belehrung dient“268 – aber zugleich hält Hoppe daran fest, daß uns nichts zwinge, „den Offenbarungscharakter von Gen. 1 auch nur in etwas zu bezweifeln“269. Wenn beispielsweise der Schöpfungsbericht tatsächlich die Vorstellung zugrunde liegen würde, daß die Erde eine Scheibe mit einem Gewölbe darüber sei und dergleichen mehr, dann wäre er nicht mehr „völlige Wahrheit“, hätte mithin für Hoppe keinen Offenbarungscharakter mehr. Alle Aussagen, die die biblische Schöpfungsgeschichte in dieser Weise naturwissenschaftlich falsch erscheinen lassen, führt Hoppe teils auf falsche Übersetzung und Erklärung, teils auf den Entstehungs- und Überlieferungsprozeß biblischer Schriften zurück.270 Für Hoppe dürfen somit naturwissenschaftliche Erkenntnisse biblischen Aussagen niemals widersprechen, sie können diese aber sehr wohl bestätigen. Anders argumentiert der Botaniker Eberhard Dennert gegenüber der Haeckelschen Herausforderung. Es dürfe nie und nimmer das Bestreben christlicher Apologetik sein, schreibt Dennert im Jahr 1903, „mit Hilfe der Naturwissenschaften und ihrer Ergebnisse Lehren oder Berichte der Bibel als wahr zu erweisen“271. Derartige Versuche zeugen ihm von einer „gänzlichen Verkennung des Charakters und der Bedeutung der Bibel“272. Dennerts Argumentation gegen Haeckel liegt die strenge Unterscheidung zwischen Weltbild und Weltanschauung zugrunde. Das Weltbild einer Zeit gibt die Vorstellung wieder, die man sich „auf Grund der gerade vorliegenden Tatsachen vom Bau 265 E. Hoppe, Der naturalistische Monismus Ernst Haeckels, 87. A.a.O., 4. 267 E. Hoppe, Glauben und Wissen. Antworten auf Weltanschauungsfragen, 189. 268 A.a.O., 193. 269 A.a.O., 188. 270 Vgl. ebd. 271 E. Dennert, Bibel und Naturwissenschaft, 318. 272 Ebd. 266 149 der Welt macht“273. Darum ist auch das moderne Weltbild „ein außerordentlich fließender und schwankender Begriff, der sich von heute auf morgen gewaltig ändern kann, und der auch gerade in der Gegenwart nichts weniger als feststehend ist“274. Die Weltanschauung geht demgegenüber weit über das „Tatsachenmaterial und die um und durch dasselbe gewobenen Hypothesen hinaus“275, hat „metaphysischen Charakter“276, ist „religiös-philosophisch“277. Für Dennert kann nun „dasselbe ‚moderne Weltbild‘ die Grundlage für grundverschiedene Weltanschauungen bilden [...], weil es sich ja bei den letzteren um die Verarbeitung der Tatsachen des Weltgeschehens mit metaphysischen Begriffen handelt“278. Es gibt demgemäß nicht nur eine „Weltanschau[u]ng des modernen Naturforschers“, sondern „viele Weltanschauungen, die sich auf der Grundlage der modernen Naturwissenschaft errichten lassen“279, – und dazu zählt eben auch die christliche Weltanschauung, zu der sich Dennert bekennt. Dennert zufolge können sich aufgrund moderner Naturwissenschaft das biblische Weltbild und verschiedene Einzelheiten biblischer Texte als „menschliche Zutat“280 erweisen, die Grund- und Heilswahrheiten der Bibel werden dadurch aber nicht betroffen. Dennert resümiert: „Die Naturwissenschaften können die Heilswahrheiten der Bibel überhaupt nicht antasten, weil sie außerhalb ihres Forschungsbereiches liegen.“281 Darum kann Dennert, der sich selbst als einen Naturforscher bezeichnet, „der sein Leben in den Dienst der Verteidigung der christlichen Weltanschauung gestellt hat“282, gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse, selbst wenn sie dem Wortlaut der Bibel widersprechen, ohne Vorbehalt bejahen. An der strikten Unterscheidung zwischen Weltbild und Weltanschauung hält Dennert gerade auch im Hinblick auf die Relativitätstheorie fest. Obgleich Dennert lange Zeit der Relativitätstheorie gegenüber sehr skeptisch bleibt, steht ihm außer Zweifel, daß über ihre Richtigkeit Physiker und Mathematiker zu entscheiden haben. Bezüglich der „tieferen Fragen der Weltanschauung“ erscheint es ihm dagegen „nebensächlich, was die exakte Forschung – mit 273 E. Dennert, Die Weltanschauung des modernen Naturforschers, 332. A.a.O., 338. 275 A.a.O., 332. 276 A.a.O., 333. 277 A.a.O., 334. Die Problematik der Unterscheidung zeigt sich, wenn Dennert andernorts feststellt, nichts „muß dem auch nur einigermaßen modern naturwissenschaftlich geschulten Menschen klarer sein, als daß es einen Zufall im Naturgeschehen nicht gibt und nichts muß so einem einigermaßen philosophisch geschulten Denker klarer sein, als daß die ganze Welt gesetzmäßig und zielstrebig gebaut ist und daß auch dies den Zufall ausschließt und einen das Ziel setzenden Gesetzgeber und Leiter fordert“ (E. Dennert, „Es werde!“ Ein Bild der Schöpfung, 73f). Spätestens mit dem „Indeterminismus der Quantentheorie“ sind diese Feststellungen Dennerts nicht mehr vereinbar. 278 A.a.O., 343. 279 Ebd. 280 E. Dennert, „Es werde!“ Ein Bild der Schöpfung, 74. 281 Ders., Bibel und Naturwissenschaft, 316, vgl. 308. 282 A.a.O., 4. 274 150 gutem Recht – über Materie, Raum und Zeit darlegt“283. Selbst wenn die Relativitätstheorie restlos zutreffen sollte – was freilich Dennert nicht annehmen kann – besteht Dennert darauf, daß die christliche Weltanschauung grundsätzlich durch keine physikalische Theorie erschüttert werden kann und darum insbesondere auch nicht durch die Relativitätstheorie. 284 Als Reaktion auf die Gründung des Monistenbundes ruft Dennert im Jahr 1907 den „Keplerbund“ ins Leben. In den ersten Jahren geht es diesem überkonfessionellen Verein neben der „Verbreitung der Naturwissenschaften in allgemein verständlicher Weise“285 vor allem um die Rechtfertigung der Verträglichkeit von Naturwissenschaft und Religion. Dabei verwahrt sich der Keplerbund ausdrücklich gegen die „Auffassung, daß die Naturwissenschaften irgend welche Rückschlüsse auf Weltanschauung oder Religion ausüben könnten“286. Insbesondere kritisiert wird dabei die „Behauptung der rein materialistisch gesinnten Naturwissenschaftler, die christliche Religion tue den Naturwissenschaften Abbruch“287. Defensive Apologetik auf Seiten des Keplerbundes und beidseitige Polemik bestimmen den „Kampf um die Weltanschauung“288 zwischen Kepler- und Monistenbund, der bis nach dem Ersten Weltkrieg andauert. Im Verlauf der zwanziger Jahre – nachdem „in den Kreisen der Gebildeten [...] eine allgemeine Hinwendung zu religiösen Strömungen“289 festgestellt wird – entwickelt sich der Keplerbund zunehmend zu einer Organisation die es sich nunmehr „zum ausdrücklichen Ziele setzt, die Beziehungen zwischen Naturerkenntnis und Weltanschauung zu pflegen“290. Der Physiker Bernhard Bavink, seit 1920 wissenschaftlicher Leiter des Keplerbundes, formuliert dessen Programm im Ton nun zwar gedämpfter, in der Sache aber deutlich offensiver. Es geht nun nicht mehr allein um die mögliche Verträglichkeit von Naturwissenschaft und christlichem Glauben, sondern darüber hinaus um die notwendige Verwiesenheit der Naturwissenschaft auf „letzte Fragen“, das heißt auf Metaphysik: „Wir bringen den Naturwissenschaftlern und allen, die ihres Geistes sind, die Notwendigkeit zum Bewußtsein, [...] zu den letzten Fragen vorzudringen und einzusehen, daß auch Philosophie und Religion 283 Ders., Einige Bemerkungen zur Relativitätstheorie und ihren Folgerungen, 48. Vgl. a.a.O., 50, 45. Seine ablehnende Haltung gegenüber der Relativitätstheorie begründet Dennert u. a. mit dem Hinweis auf Lenard: „Solange sich noch ein Mann von der Bedeutung Lenards auf die Seite der Gegner stellt, muß die Sache uns anderen noch als nicht spruchreif gelten“ (a.a.O., 46). 285 C. Schöning, Zweck und Ziel des Kepler-Bundes in der Gegenwart, 18. 286 A.a.O., 23. 287 A.a.O., 21. 288 Der Titel von Dennerts 1908 erschienener Programmschrift für den Keplerbund lautet: „Die Naturwissenschaft und der Kampf um die Weltanschauung“. 289 B. Bavink, Zweck und Ziel des Keplerbundes in der Gegenwart, 257. 290 Ebd. Der Keplerbund will sich dabei ausdrücklich nicht nur „von antikirchlicher und antireligiöser Agitation“ frei halten, sondern zugleich auch „von sog. ‚apologetischer‘ Tendenzmacherei“ (ebd.). 284 151 Urbedürfnisse des Menschengeistes eben so gut wie das wissenschaftliche Erkennen sind.“291 Die vom Keplerbund ab dem Jahr 1909 herausgegebene Monatsschrift „Unsere Welt“, die sich als „Zeitschrift für Naturwissenschaft und Weltanschauung“ versteht, widmet bis zu ihrem Verbot im Jahr 1941 zahlreiche Artikel dem Verhältnis von Religion und Naturwissenschaften im allgemeinen und der Rolle, die dabei der Relativitätstheorie zukommt, im besonderen. In einem Rückblick bezeichnet der Naturphilosoph Alois Wenzl die Beiträge dieser Zeitschrift als „zeitgeschichtlich ungemein wichtiges Zeugnis für die naturphilosophische Entwicklung“292 dieser Periode. Insbesondere die Beiträge von Bernhard Bavink, mit dem nach dem Urteil von Albrecht Ströle „wahrhaft wissenschaftlicher Geist“293 im Keplerbund Einzug hält, tragen wesentlich dazu bei, daß aus „Unsere Welt“ eine Plattform für eine niveauvolle Diskussion über das Verhältnis von Naturwissenschaft und christlichem Glauben wird.294 2. Bernhard Bavink I (1920–1928): Forderungen für das Verhältnis von Naturwissenschaft und christlicher Weltanschauung Bernhard Bavink (1879–1947) wächst in der Mennonitengemeinde der ostfriesischen Stadt Leer auf, tritt als Jugendlicher dem lutherischen Bekenntnis bei und bleibt zeitlebens dem protestantischen Glauben verbunden.295 Während seines Mathematik-, Chemie- und Physikstudiums macht er in Göttingen die Bekanntschaft des theoretischen Physikers Woldemar Voigt (1850–1919) und promoviert bei diesem im Jahr 1904. Dies ist in unserem Zusammenhang insofern von Interesse, als Voigt schon im Jahr 1887 die Frage theoretisch untersucht, welcher Zusammenhang zwischen den Koordinaten eines ruhenden und eines bewegten Koordinatensystems existieren muß, wenn vorausgesetzt wird, daß die Lichtgeschwindigkeit in beiden Syste291 A.a.O., 258. A. Wenzl, Gedenkrede, 6. 293 A. Ströle, Art. Keplerbund, Sp. 729. 294 W. Achtner, Physik, Mystik und Christentum. Eine Darstellung und Diskussion der natürlichen Theologie bei T. F. Torrance, 7, schreibt über die Literatur zum „Thema Physik – Theologie“: „Der Beginn einer sachlichen Auseinandersetzung läßt sich vielleicht [...] auf das Jahr 1934 festlegen“ und belegt damit einmal mehr, wie sehr die frühe seriöse Auseinandersetzung über das Verhältnis von Theologie und moderner Physik in Vergessenheit geraten ist. Achtner erwähnt a.a.O., 9, auch B. Bavinks Schrift „ Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion“ (datiert sie allerdings auf 1948 statt auf 1933), die gerade die Abkehr Bavinks von einer sachlichen Auseinandersetzung markiert (vgl. 4. Kap. IV. 4. vorliegender Arbeit). 295 A. Wenzl, Gedenkrede, 8: „Bernhard Bavink [...] hatte seinen religiösen Standort im Protestantismus, aber er fühlte sich solidarisch und einig auch mit katholischen Freunden in der Aufgabe, die Verträglichkeit des christlichen Glaubens mit der naturwissenschaftlichen Entwicklung bewußt zu machen, ja die aus der eigengesetzlichen Entwicklung entsprungenen Hinweise und Antworten, die freilich erst die Religion geben kann, aufzuzeigen.“ 292 152 men den gleichen Wert haben soll. Die von Voigt gefundenen Transformationsgleichungen unterscheiden sich nur noch durch einen Faktor von der richtigen Lorentz-Transformation der Einsteinschen Relativitätstheorie. Daraus ergibt sich dem Wissenschaftshistoriker Karl Simonyi zufolge erstmals in der Geschichte der Physik ein Hinweis darauf, daß der Begriff der absoluten Zeit sowohl experimentell als auch theoretisch in Frage gestellt werden kann.296 Die Vermutung liegt nahe, daß Bavink sich schon während seines Studiums bei Voigt mit der von Einstein schließlich gelösten Problematik befaßt, die sich aus den Experimenten von Michelson und Morley zur Lichtgeschwindigkeit ergibt. Später setzt sich Bavink jedenfalls eingehend und kompetent mit der Relativitätstheorie und ihren physikalischen und philosophischen Folgerungen auseinander. Bavink befaßt sich in seinen Veröffentlichungen zunächst vor allem mit der allgemeinverständlichen Darstellung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Darüber hinaus greift er aber auch zunehmend naturphilosophische Fragestellungen auf und thematisiert dabei insbesondere die Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und Religion. Von Physikern erfährt Bavink verschiedentlich Zustimmung. Namentlich Max Planck, mit dem er im Briefwechsel steht,297 Max von Laue298 und Arnold Sommerfeld würdigen Bavinks naturphilosophische Arbeiten. Sommerfeld sieht in ihm einen notwendigen Ergänzer und Fortsetzer seines eigenen Denkens. 299 Auf theologischer Seite hingegen werden Bavinks Anregungen für eine neue Verhältnisbestimmung von moderner Physik und Metaphysik nur vereinzelt wieder aufgegriffen.300 Neben überholten naturphilosophischen Vorstellungen – darunter der Gedanke eines Stufenbaues der Wirklichkeit im Anschluß an Max Scheler und den Neovitalisten Hans Driesch301 – finden sich bei Bavink bis ungefähr 1928 eine Reihe von Überlegungen und Forderungen zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Theologie, die bis heute unvermindert aktuell sind und an die möglicherweise angeknüpft werden könnte. Bavinks diesbezügliche Gedanken sind in mehreren Veröffentlichungen verstreut und werden im folgenden systematisch zusammengestellt. Im Anschluß daran wird sich die vorliegende Untersuchung mit der (vorübergehenden) Abkehr Bavinks von seinen ursprünglichen Forderungen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen befassen. 296 Vgl. K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 403. Vgl. B. Bavink, Briefe von und an Bernhard Bavink, 12–17. 298 M. v. Laue bezeichnete Bavink darüber hinaus „als den besten aller Popularisatoren der Naturwissenschaft, welche Deutschland in den letzten Jahrzehnten besaß“ (zit. in: Philosophisches Jahrbuch 61 [1951], 274). 299 Vgl. A. Wenzl, Gedenkrede, 10. 300 Vgl. z. B. G. Hennemann, Philosophie – Religion – moderne Naturwissenschaft, Witten 1955. 301 Vgl. B. Bavink, Das Weltbild der heutigen Naturwissenschaften und seine Beziehungen zu Philosophie und Religion, 9–12. 297 153 a) Kenntnis der wesentlichen naturwissenschaftlichen Ergebnisse Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Dialog und erst recht für eine tragfähige Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaft und Theologie ist nach Bavink die Kenntnis der wesentlichen naturwissenschaftlichen Ergebnisse. Diesbezügliche Kenntnis ist Voraussetzung, um zunächst einmal die naturwissenschaftliche Bedeutung der jeweiligen Erkenntnis in groben Zügen nachvollziehen zu können. Bereits auf dieser Stufe zeigt sich häufig, daß schon im Rahmen der Naturwissenschaft eine Theorie unterschiedlich interpretiert werden kann. Dies gilt bereits für die Relativitätstheorie, es wird sich aber erweisen, daß dies in noch ungleich stärkerem Ausmaß für die Quantentheorie zutrifft, die den Physikern einen weiten Spielraum für unterschiedliche Deutungen läßt, die gleichwohl alle in Einklang mit dem experimentellen Befund stehen können. Bavinks umfangreichstes und bekanntestes Werk ist der allgemeinverständlichen Vermittlung bedeutender naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gewidmet. Die „Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften“ – die erste Auflage erschien bereits im Jahr 1914, die neunte, erweiterte und aktualisierte Auflage kurz nach Bavinks Tod im Jahr 1948 – versuchen vor allem die wichtigsten Entwicklungen der modernen Physik und Biologie auch naturwissenschaftlichen Laien verständlich zu machen. In seiner ursprünglichen Zielsetzung und Darstellung könnte dieses Werk in seinen physikalischen Teilen beispielgebend für heutige populärwissenschaftliche Schriften sein, die allgemeinverständlich und zugleich wissenschaftlich seriös sein wollen. 302 Bavink bedauert wiederholt, daß gerade unter Theologen eine gewisse Überheblichkeit gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung festzustellen sei. Unkenntnis über wesentliche physikalische Sachverhalte führe dann zu Mißverständnissen und unangemessenen Deutungen. Darum betont Bavink gegenüber „den kirchlich und christlich Gesinnten die Notwendigkeit des Anschlusses an die heutige Welterkenntnis und Weltbeherrschung in Naturwissenschaft und Technik“ und hält es „für ein Unglück, daß kirchliche [...] Kreise oft so wenig Verständnis für die gewaltigen Ergebnisse der Naturwissenschaften haben, die sowohl theoretisch wie praktisch unser ganzes Leben auf eine neue Grundlage gestellt haben“303. Die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels veranschaulichen die Folgen dieses von Bavink erlebten und beklagten mangelnden Verständnisses. Trotz der angeblichen Bemühung, ihrer Auseinandersetzung mit der Einsteinschen Theorie eine „vorurteilsfreie 302 Für die biologischen Teile der späteren Auflagen von Bavinks Werk gilt dieses positive Urteil nicht; vgl. 4. Kap. IV. 5. vorliegender Arbeit. 303 B. Bavink, Ziel und Zweck des Keplerbundes in der Gegenwart, 258. „Am allergefährlichsten aber wäre es“, schreibt Bavink, Das neue physikalische Weltbild und seine weltanschaulich-religiöse Bedeutung, 64, einige Jahre später, „wenn das Wissen um die neue Physik die Theologen und Geisteswissenschaftler etwa veranlassen sollte, sich nunmehr der Mühe einer Vertiefung in naturwissenschaftliche Einsicht überhaupt überhoben zu glauben.“ 154 Darstellung des heutigen Standes der Relativitätstheorie“304 zugrunde zu legen, zeigt sich, daß auf theologischer Seite grundlegende Vorstellungen der Relativitätstheorie falsch oder überhaupt nicht verstanden werden. Auf diese Weise ist die Möglichkeit eines fruchtbaren Austausches zwischen Physik und Theologie schon im Ansatz verbaut. b) Unbedingte Freiheit naturwissenschaftlicher Forschung und Anerkennung gesicherter Erkenntnis Obgleich der Keplerbund auf die Verträglichkeit von Naturwissenschaft und christlicher Weltanschauung pocht, werden von ihm mit Nachdruck „jegliche Übergriffe der Religion wie der Kirchen in das Gebiet der Naturwissenschaften [zurückgewiesen]“305. „Religion kann niemals die Wissenschaft verbessern, denn diese bildet ein Gebiet für sich“306, schreibt im Jahr 1920 der Generalsekretär des Keplerbundes, Carl Schöning, in einem programmatischen Artikel. Die unbedingte Freiheit naturwissenschaftlicher Forschung und die vorbehaltlose Anerkennung ihrer gesicherten Ergebnisse wird auch von Bavink eingefordert. Der Versuch dogmatischer Korrektur wissenschaftlicher Erkenntnis disqualifiziert nur die jeweilige Weltanschauung selbst: „Jede Weltanschauung wird durch ihre Anhänger in den Augen naturwissenschaftlich denkender Menschen herabgesetzt oder unmöglich gemacht, wenn diese zum Zwecke ihrer Verteidigung die wissenschaftliche Bewegungsfreiheit auch nur von ferne einzuschränken scheinen.“307 Die grundsätzliche Bejahung naturwissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis entspringt bei Bavink keiner vordergründigen Wissenschaftsgläubigkeit und keineswegs der Hoffnung unbegrenzter Erkenntnisfähigkeit der Naturwissenschaften. Die zuversichtliche Freigabe der Naturwissenschaft als Voraussetzung für ein tragfähiges Verhältnis von Naturwissenschaft und Weltanschauung ist bei dem Physiker Bavink theologisch begründet: „Mag die Wissenschaft zusehen, was sie herausbringt. Je mehr, desto besser, denn desto klarer werden mir die Fußspuren des lebendigen Gottes in der Welt werden. Wir gewinnen so auch die Stellung zur Naturerkenntnis, die unser allein würdig ist: helle ungetrübte Freude am Erkennen, keinen Schatten mehr von dem halb ängstlichen, halb triumphierenden Gedanken: Gott sei Dank, noch wissen sie’s nicht.“ 308 Wo die gesamte Natur wie schon bei Eberhard Dennert „als Quelle der natürlichen Offenbarung Gottes“309 begriffen wird, hat die christliche Weltanschauung von den Erkenntnissen der Naturwissenschaft nichts zu befürchten. Diese können dann als schrittweise Aufdeckung der „Spuren Gottes in seiner Schöpfung“ verstanden werden, wie verblüffend und unerwartet dieses Erkenntnisse 304 T. Wulf, Der heutige Stand der Relativitätstheorie, 116. C. Schöning, Zweck und Ziel des Kepler-Bundes in der Gegenwart, 24. 306 Ebd. 307 B. Bavink, Naturwissenschaft und Weltanschauung, 44. 308 A.a.O., 48. 309 E. Dennert, Bibel und Naturwissenschaft, 5. 305 155 auch immer sein mögen. Bavink kann „in allem, was nun einmal geworden ist, den Willen dessen [erkennen], der es so werden ließ, der den ganzen Vorgang der Weltentwicklung in jedem Stadium nach seinem all unser Verstehen überragenden Willen lenkt“310. Diese Sicht entspricht dem Selbstverständnis Johannes Keplers, der seine naturwissenschaftliche Forschung geradezu als Offenbarungswerk, als Gottesdienst und Verherrlichung der göttlichen Schöpfung verstanden wissen will.311 Die im „Keplerbund“ vereinigten Naturwissenschaftler wollen zeigen, daß die gläubige Haltung, die Kepler gegenüber der neuzeitlichen Astronomie einnimmt, genauso noch im Hinblick auf die moderne Naturwissenschaft möglich ist. c) Ablehnung jeder „Anknüpfungs-“ und „Lückentheologie“ Wenn die Natur insgesamt als Werk Gottes begriffen wird, sind christliche Apologeten nicht mehr darauf angewiesen, einzelne naturwissenschaftliche Tatsachen als besonders deutliche Hinweise – oder gar Beweise – für das göttliche Schöpfungswerk suchen zu müssen. In allem, so Bavink, kann man Gott in gleichem Maße finden, dazu bedarf es nicht noch „besonderer, möglichst krasser Anknüpfungspunkte“312. „Gottesbeweise“ im Anschluß an die „fünf Wege zu Gott“ von Thomas von Aquin spielten innerhalb der katholischen Theologie im 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhundert eine große Rolle.313 Im Jahr 1887 stellt der Theologe und Mathematiker Caspar Theodor Isenkrahe in der Tübinger „Theologischen Quartalschrift“ fest, daß es sich dabei von selbst verstehe „daß nur wirklich solide Beweise uns dienen können, Beweise, die keinem vernünftigen Zweifel Raum lassen und die daher auch erst den Namen von Beweisen verdienen“.314 Im Hinblick auf den kosmologischen Gottesbeweis schreibt Isenkrahe, daß ihm zwar vieles, was Thomas von Aquin dazu vorbringe, unhaltbar erscheine, aber das Übrige reiche noch immer „zu einem völlig sicheren und unanfechtbaren Gottesbeweise“315. Es gibt zu dieser Zeit noch zahlreiche Naturwissenschaftler und Theologen, die beispielsweise im Kausalgesetz „das Sprungbrett zu Gott“316 erblicken, andere versuchen sich an einem „mechanischen“ oder auch – im Anschluß an den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre – an einem „entropologischen“ Gottesbeweis.317 In einem 310 B. Bavink, Entwicklungslehre und Religion, 28. Vgl. 1. Kap. I. vorliegender Arbeit. 312 B. Bavink, Naturwissenschaft und Weltanschauung, 48. 313 Vgl. dazu auch B. Weissmahr, Gottes Wirken in der Welt, 23f, der noch gegenwärtig die Notwendigkeit und die Möglichkeit von Gottesbeweisen verteidigt. 314 C. T. Isenkrahe, Der kosmologische Gottesbeweis 377.; vgl. ders., Über die Grundlegung eines bündigen kosmologischen Gottesbeweises, Kempten 1915. 315 Ders., Der kosmologische Gottesbeweis, 378. 316 Vgl. J. Geyser, Der kosmologische Gottesbeweis und seine begriffliche Grundlage, 52. 317 Vgl. z. B. J. Reinke, Naturwissenschaft, Weltanschauung, Religion. Bausteine für eine natürliche Grundlegung des Gottesglaubens, Freiburg 1924. 311 156 Dekret der päpstlichen Studienkonkregation aus dem Jahr 1914 wird noch einmal ausdrücklich die folgende These der thomistischen Philosophie bestätigt: „Daß Gott ist, [...] beweisen wir [...] a posteriori, das heißt, ‚durch das, was gemacht ist‘ (Röm. 1,20), wobei der Beweis von den Wirkungen zur Ursache geführt wird: nämlich von den Dingen, die bewegt werden und nicht das angemessene Prinzip ihrer Bewegung sein können, zum ersten unbeweglichen Beweger; vom Hervorgehen der weltlichen Dinge aus einander untergeordneten Ursachen zur ersten unverursachten Ursache, [...] schließlich von der Ordnung des Alls zur abgesonderten Vernunft, die die Dinge ordnete, einrichtete und zum Ziel lenkt.“318 Alle Versuche, Gott mit naturwissenschaftlichen Argumenten „a posteriori“ beweisen zu wollen, sind für Bavink „Versuche mit untauglichen Mitteln“319. Insbesondere wendet er sich gegen die „Methode der Ausbeutung einzelner bestimmter Ergebnisse oder Probleme zu apologetischen Zwecken“320 und weist die Gewohnheit zurück, „den Gottesglauben als Lösung ganz bestimmter ‚Welträtsel‘, also als theoretisches Mittel zu betrachten, das da noch brauchbar ist, wo unser Wissen zu Ende ist.“321 Weder läßt sich so Gott naturwissenschaftlich beweisen, noch entspricht das, was da bewiesen werden soll, einem angemessenen Gottesverständnis: „Gott ist nicht eine theoretische Lösung für dies oder jenes Welträtsel, nein, er ist die Antwort, die der ganze Mensch haben kann auf das Welträtsel.“322 Bavinks Motto „Los vom Einzelproblem!“323 gilt dabei positiv wie negativ: Weder darf die Theologie einzelne besonders seltsame oder unerwartete naturwissenschaftliche Erkenntnisse herausgreifen, um darauf einen unmittelbaren Beweis Gottes aufzubauen (seien es beispielsweise die besonders „zweckmäßigen“ Eigenschaften des Wassers oder die Entstehung des Lebens), noch darf sich die Theologie auf Lücken oder Unvollständigkeiten der naturwissenschaftlichen Erklärung berufen, indem sie etwa „auf den (einstweilen) hypothetischen Charakter irgendwelcher Naturerkenntnis hinweist“324. Es sei hier hinzugefügt, daß einige Jahre später der inhaftierte Dietrich Bonhoeffer bei der Beschäftigung mit der Entwicklung der modernen Physik zu demselben Ergebnis kommt. Bonhoeffer schreibt nach der Lektüre von Carl Friedrich von Weizsäckers Werk „Weltbild der Physik“ am 29. Mai 1944 an seinen Freund Eberhard Bethge: 318 H. Denzinger/P. Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 3622 (=DH 3622). Vgl. die ganz ähnliche, im „Antimodernisteneid“ (1910) verlangte Bekenntnisformel (DH 3538). 319 B. Bavink, Physikalische Gottesbeweise, 204. 320 Ebd. 321 Ebd. 322 A.a.O., 206. 323 Ders., Naturwissenschaft und Weltanschauung, 48. 324 A.a.O., 44. 157 „Es ist mir wieder ganz deutlich geworden, daß man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann – was sachlich zwangsläufig ist – sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter hinausschieben, wird mit ihnen auch Gott immer weiter weggeschoben und befindet sich demgemäß auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen [...].“325 d) Leitende Vorstellung einer harmonischen Einheit von Naturwissenschaft und Religion Schon im Jahr 1920 stellt Bavink fest, daß einer der wesentlichsten, wenn nicht der wesentlichste Faktor der gegenwärtigen „inneren Zerklüftung [...] der Mangel einer einheitlichen Weltanschauung [sei]“326. Die Ursache für die „ungeheuerliche Vielfältigkeit und Zersplitterung“ auf dem Gebiet der Weltanschauungen macht Bavink in dem Umstand aus, daß es im 19. Jahrhundert nicht gelungen sei, die rasante Entwicklung der Wissenschaften in Einklang und Ausgleich mit den überkommenen Gedankensystemen zu bringen.327 Bis in die Wortwahl hinein trifft sich diese Charakterisierung der damaligen Situation mit der anthropologisch zugespitzten Beschreibung, die Max Scheler in seiner bekannten Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ gibt. „So besitzen wir denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und auch eine theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander kümmern“, stellt Scheler im Jahr 1928 fest, „eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht“328. Wie Scheler in seinem anthropologischen Entwurf den Gegensatz von Natur und Geist überwinden will, so erhofft sich auch Bavink eine „durchgreifende Besserung“ erst von einer „wirkliche[n] Synthese“329. Der Begriff einer „Synthese“ von Geistes- und Naturwissenschaften, von naturwissenschaftlichem Weltbild und religiöser Weltanschauung hat bei Bavink die Funktion eines programmatischen Begriffs. Die „wahrhaft[e] Synthese“ oder „harmonisch[e] Einheit“ wird von ihm andernorts als bislang unerreichtes „sehr hohes Ziel“ bezeichnet, das erst „in stiller, langsamer Arbeit heranreifen muß“330. Bavink bezeichnet seine erkenntnistheoretische Position gelegentlich als die eines „kritischen Realismus“ im Anschluß an Eduard von Hartmann, Oswald Külpe und Erich Becher. Diese „Kritischen Realisten“ halten gegen Kant an der Möglichkeit der Erkenntnis des „Dinges an sich“ fest und fordern 325 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 162. Im Unterschied zu manch anderem Theologen dieser Zeit versucht Bonhoeffer sein „naturwissenschaftliches Defizit“ nicht theologisch zu rechtfertigen, sondern gesteht es offen ein: „Daß die naturwissenschaftliche Seite bei mir ganz ausfällt“, schreibt er an E. Bethge, a.a.O., 111, „empfinde ich als peinliche, aber nicht mehr aufzuholende Lücke“. 326 B. Bavink, Naturwissenschaft und Weltanschauung, 41. 327 Vgl. ebd. 328 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 9. 329 B. Bavink, Naturwissenschaft und Weltanschauung, 42. 330 Ders., Von Kepler zu Leibzig? 103. 158 ausdrücklich den Aufbau einer „induktiven Metaphysik“.331 Bavink deutet zwar verschiedentlich an, daß der Weg zu der von ihm gesuchten Synthese über die Aufgabenstellung einer „induktiven Metaphysik“ führen könnte332, äußert sich aber ansonsten ungleich skeptischer zu diesbezüglichen Versuchen als insbesondere Erich Becher, der die Metaphysik als „Gesamtrealwissenschaft“ versteht: „Die Metaphysik als Gesamtrealwissenschaft übergreift und krönt die beiden Gruppen der Einzelrealwissenschaften, die Geistes- und die Naturwissenschaften, indem sie deren Gegenstände im Gesamtwirklichen zusammenfaßt, deren Methode übernimmt und auf deren Ergebnisse sich stützt.“333 Bavinks spätere Äußerungen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion und die Abkehr von seinen hier zusammengestellten Forderungen (vgl. den folgenden Abschnitt: Bavink II) läßt sich mit dieser Sympathie für den „Kritischen Realismus“ und Külpes „induktiver Metaphysik“ erklären. So vehement Bavink aber eine „Naturwissenschaft nach metaphysischer Methode“ ablehnt, so zweifelhaft müßte ihm letztlich auch eine „Metaphysik nach naturwissenschaftlicher Methode“ à la Becher sein. Eine im Anschluß an die Naturwissenschaften entwickelte Metaphysik, die sich auf deren Ergebnisse zu stützen versucht, müßte von Bavink als „Anknüpfungsmetaphysik“ verworfen werden. Bis zum Jahr 1928 bedauert Bavink zwar das Fehlen einer tragfähigen Synthese, sieht sich ansonsten aber vor allem dazu herausgefordert, voreilige und unhaltbare Syntheseversuche zurückzuweisen. Die harmonische Einheit von Naturwissenschaft und Religion erweist sich somit bei Bavink zu dieser Zeit zwar als wichtige leitende Vorstellung – gegenüber allenthalben behaupteten Realisierungen dieser harmonischen Einheit zeigt sich Bavink damals aber aus guten Gründen sehr abweisend. e) Keine Naturwissenschaft nach metaphysischer Methode Anlaß, eine vermeintliche Synthese von Naturwissenschaft und christlicher Weltanschauung zu kritisieren, erhält Bavink durch die Veröffentlichung des Paläontologen Edgar Dacqué „Urwelt, Sage und Menschheit“ und die freundliche Aufnahme, die diese Schrift bei einigen christlichen Apologeten findet. Dacqué kommt dabei angeblich „in Konsequenz rein naturwissenschaftlichen Zuendedenkens“ zu dem „Beweis, daß eine andere Vorstellung vom Kommen und Werden des Menschen gar nicht vorhanden und wahrscheinlich 331 Vgl. ders., Vom Relativen zum Absoluten, 160, 187ff; ders., Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion (1933), 77. – Dies erklärt, warum die Arbeiten der „Kritischen Realisten“ von neuscholastischen Theologen mit Wohlwollen registriert wurden, vgl. z. B. Z. Bucher, Wandel im Weltbild der Naturphilosophie, 16, sowie K. Leidlmair, Induktive Metaphysik: Ostwald Külpe, Erich Becher und Aloys Wenzl, 147–158. 332 B. Bavink, Die Rolle der Naturwissenschaften und der Technik in der Kultur der Gegenwart, 104. 333 E. Becher, Der Zusammenhang von Metaphysik und Naturwissenschaften, 7. 159 überhaupt nicht möglich ist als die, welche uns als älteste und festgeschlossenste Lehre in allen Mythen und Religionen entgegentritt“334. Entsprechend sei der Mensch ein eigenes Wesen, ein eigener Stamm „uranfänglich gewesen, was er sein und werden sollte“335. Wohlmeinenden Kritikern erscheint Dacqués „Typenlehre“ nicht nur als Bestätigung der biblischen Schöpfungserzählungen, sondern als Hinweis darauf, „wie auch die moderne Naturwissenschaft in das Zeichen der Metaphysik tritt“ 336. Bavink bemängelt an Dacqués Theorie, daß dieser für seine Behauptungen keinerlei Beweise vorlege. Das ganze sei ein „genial konzipierter Entwurf, dessen Grundlagen aber von vornherein in der Luft schweben“337. Bavink erkennt darin einen Rückfall der Naturwissenschaft in „ungeklärte und vage metaphysische Spekulationen, Naturwissenschaft nach metaphysischer Methode“338. Was Bavink über die „Gefährlichkeit“ derartiger Veröffentlichungen schreibt, erweist sich bis heute als gültig: „Das Gefährliche an solchen Büchern ist nun, daß sie die Laien blenden, weil sie eine große Menge an sich richtiger und längst der Wissenschaft bekannter, dem Laien aber neuer Daten in fast unlöslicher Vermengung mit den gewagtesten neuen Thesen bringen [...]. Die Durchschlagskraft, die jenen Bestandteilen mit Recht zukommt, überträgt sich für den unkritischen Leser dann unvermerkt auf diese höchst angreifbaren Dinge mit, und so entsteht ein ganz falsches Bild von dem, was sicheres oder wahrscheinliches Ergebnis und dem, was kühnste, womöglich längst als undurchführbar erwiesene Hypothese ist.“ 339 Die von Dacqué vorgelegte „Synthese“ ist jedenfalls nicht die Lösung für die von Bavink gesuchte „einheitliche Weltanschauung“; Dacqué leistet gewiß keinen Beitrag zu dem von Bavink geforderten „Wiederaufbau einer wirklichen christlichen Seinslehre“340. Hinweise, in welcher Richtung diese zu finden sein könnte, gibt Bavink bei der Untersuchung, welche Konsequenzen sich aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen für die christliche Weltanschauung ergeben müssen. f) Rückwirkungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf die christliche Weltanschauung Zunächst greift Bavink Dennerts Unterscheidung von veränderlichem naturwissenschaftlichen Weltbild und davon unbeeinflußbarer christlicher Weltanschauung auf. Die Weltanschauung betrachtet, was die Naturwissenschaft ermittelt, unter einem ganz neuen Gesichtspunkt: „Ihr Grundproblem ist nicht die Frage: Was ist und wie ist die Welt und wie ist sie geworden, sondern die 334 E. Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, 95. Ebd. 336 Scherwatzky, Die moderne Naturwissenschaft auf dem Wege zur Metaphysik, 112; vgl. auch M. Müller, Naturwissenschaft und Weltanschauung, 60–64. 337 B. Bavink, Anmerkungen, 112. 338 Ebd. 339 Ebd. 340 B. Bavink, Wesentliches und Unwesentliches im Christentum, 78f. 335 160 Frage nach dem Sinn und Ziel der Welt: Was bedeutet die Welt, was soll sie und was soll ich mit ihr anfangen?“341 Doch mit der schlichten Behauptung einer „Neutralität der Naturwissenschaft in Weltanschauungsfragen“ ist es Bavink nicht getan. Im Gegensatz zu Dennert hält Bavink eine strikte Trennung zwischen naturwissenschaftlichem Weltbild und Weltanschauung für problematisch, da die Geschichte offensichtlich zeigt, daß naturwissenschaftliche Revolutionen nicht nur das Weltbild umstürzen, sondern auch eine Veränderung der jeweiligen Weltanschauung zur Folge haben. Mag eine Weltanschauung „im Kern“ eine naturwissenschaftliche Umwälzung überdauern, so verändert sich doch ihre jeweilige konkrete Ausgestaltung. Insofern vermag eine neue naturwissenschaftliche Erkenntnis, die mit bestimmten Zügen der christlichen Weltanschauung unvereinbar scheint, bei dieser eine Besinnung auf das Wesentliche auszulösen. In dieser Weise bewirkt zum Beispiel die neuzeitliche Astronomie zunächst, daß die seinerzeit noch durchaus gängige „naiv räumliche Anschauung vom Himmel droben über den goldenen Sternen“342 endgültig aufgegeben werden muß. Gehört demnach diese Anschauung gewiß nicht zum Wesentlichen des Christentums, so ergibt sich für Bavink aus der Aufgabe des geozentrischen Weltbildes noch eine weitaus grundsätzlichere Anfrage an die christliche Weltanschauung – die in der Theologie erst Jahrzehnte später aufgegriffen wird – wenn Bavink fragt, ob der christliche Anthropozentrismus, der im geozentrischen Weltbild eine anschauliche Stütze gefunden hatte, tatsächlich auch zum „Kern“ des Christentums zähle oder als verzichtbare menschliche Zutat anzusehen sei.343 Naturwissenschaftliche Erkenntnisse können auch für Bavink den christlichen Glauben niemals widerlegen, aber sie können unter Umständen eine Modifikation der konkreten Ausgestaltung dieses Glaubens notwendig machen. Dies mag ein schmerzlicher Vorgang sein, da es auch den Verzicht auf gewohnte Vorstellungen beinhalten kann, letztendlich kann es aber eine Konzentration des Glaubens auf seinen wesentlichen Kern bedeuten – sofern die christliche Theologie die Herausforderung der wissenschaftlicher Forschung annimmt. Das Christentum, das sich so Zug um Zug auf sein eigentliches Wesen besinnt, wäre für Bavink die gesuchte und von ihm geforderte „neue Form des Christentums, die die volle Breite moderner Welterkenntnis und moderner Weltbeherrschung vereinigt mit der ganzen Tiefe des alten Glaubens“344, mithin wäre dies ein weiterer Schritt hin auf die gesuchte Synthese. 341 Ders., Naturwissenschaft und Weltanschauung, 45. Ders., Philosophische Folgerungen der Einsteinschen Relativitätstheorie, 134. 343 Vgl. ders., Astronomie und Religion, 5. 344 Ders., Vom Relativen zum Absoluten, 190. 342 161 3. Vorläufiges Fazit Zumindest im Hinblick auf die Relativitätstheorie scheinen sich Bavinks hier systematisch zusammengestellte Forderungen zu bewähren. Bavinks vorzügliche Kenntnis und Darstellung der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie wird selbst von dem ansonsten mit Kritik wahrlich nicht zimperlichen Hans Reichenbach belobigt.345 Bavink kann – im Unterschied zu den Reaktionen auf neuscholastischer Seite – die Entwicklung der Relativitätstheorie vorbehaltlos als „eine der großartigsten Leistungen des Menschengeistes“346 anerkennen, und er widersteht – im Unterschied zu Karl Heim – der Versuchung, anknüpfend an die „Relativität“ der Einsteinschen Theorie die Notwendigkeit des „Absoluten“ erweisen zu wollen. Durch seine Kompetenz im Bereich der Physik und seinen Verzicht auf metaphysische Spekulationen im Anschluß an naturwissenschaftliche Erkenntnisse erwirbt sich Bavink in dieser Zeit den Ruf eines seriösen Gesprächspartners im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Wenn Bavink dennoch reichlich euphorisch schreibt, daß sich von der Höhe der Relativitätstheorie aus „ein großartiger Fernblick ins gelobte Land der Metaphysik“347 ergebe und in diesem Zusammenhang auch von „metaphysischen Folgerungen“348 aus der Relativitätstheorie die Rede ist, so verbleibt er auch mit seinen diesbezüglichen Ausführungen noch im Rahmen der oben genannten Forderungen. Wenn die Relativitätstheorie nachweise, daß weder Raum noch Zeit ohne Materie existieren könnten, so ergibt sich nach Bavink für die christliche Weltanschauung „einmal, daß der Begriff ‚Schöpfung‘ seines zeitlichen Sinnes als ‚Anfang‘ entkleidet werden muß, zum anderen, daß auch die ‚Ewigkeit‘ nicht mehr als die ins Unendliche fortgesetzte Zeit aufgefaßt werden darf“349. Entscheidend soll in diesem Zusammenhang nicht sein, daß man zu dieser Einsicht nicht der Relativitätstheorie bedurft hätte.350 Entscheidend ist, daß Bavink die Relativitätstheorie weder als ein Argument für noch gegen die christliche Weltanschauung benutzt, sondern als Anstoß, um sich über den „Kern“ des christlichen Glaubens Rechenschaft abzulegen. Naturwissenschaft kann keinen physikotheologischen Gottesbeweis erbringen, daran läßt Bavink in dieser Zeit keinen Zweifel. Aber – und dies ist das eigentliche Anliegen Bavinks – dem Naturwissenschaftler soll mit dem christlichen Glauben nichts zugemutet werden, was er mit seinem naturwissenschaftlichen Weltbild nicht 345 Vgl. K. Hentschel, Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie, 246. 346 B. Bavink, Philosophische Folgerungen der Einsteinschen Relativitätstheorie, 131 (dort Anm. 1). 347 A.a.O., 132. 348 A.a.O., 135. 349 A.a.O., 137. 350 Schon Augustinus verweist im 11. Buch seiner Confessiones auf die qualitative Verschiedenheit von „Zeit“ und „Ewigkeit“; vgl. A. Augustinus, Bekenntnisse, 309–312; vgl. auch M. Seckler, Was heißt eigentlich ‚Schöpfung‘? 183–204 (vgl. S. 20 vorliegender Arbeit). 162 vereinbaren kann und woran er, wenn er Naturwissenschaftler bleiben will, somit gar nicht glauben kann. Das Beispiel der theologischen Rezeption der Relativitätstheorie durch Bavink zeigt, was mit seinem „Modell“ erreicht werden kann: Zunächst Freiheit für die naturwissenschaftliche Forschung, dann „im Wesentlichen“ völlige Unangreifbarkeit der christlichen Weltanschauung, zugleich damit die Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und Glaube und schließlich die Zielvorstellung einer harmonischen Einheit von christlichem Glaube und Naturwissenschaft in einer neu zu formulierenden „christlichen Seinslehre“. Zwei Schwächen dieses Modells, das durch die Vereinbarkeit von Glaube und Naturwissenschaft bei vorläufigem Verzicht auf eine Synthese gekennzeichnet ist, sind augenscheinlich: Zunächst fragt sich, ab wann eine naturwissenschaftliche Erkenntnis als so gesichert zu gelten hat, daß eventuelle Rückwirkungen auf die konkrete Ausgestaltung des Glaubens bedacht werden müssen. Des weiteren bleibt aber auch fraglich, ob und wie sich unabhängig von der jeweiligen naturwissenschaftlichen Entwicklung entscheiden lassen soll, was zum „Wesentlichen“ des Christentums zählt und was nicht – oder bleibt die naturwissenschaftliche Verträglichkeit das letzte Kriterium für die wesentlichen Wahrheiten des Glaubens? Es wird sich zeigen, daß sich Bavink unter Zugrundelegung ihm sicher erscheinender rassebiologischer „Erkenntnisse“ zu antisemitischen und rassistischen „Folgerungen“ über „Wesentliches und Unwesentliches im Christentum“ versteigen wird. Doch noch ehe es dazu kommt, wendet sich Bavink in einem anderen Punkt von seinem eigenen Modell ab und verändert unter dem Eindruck der sich entwickelnden Quantentheorie seine Argumentation. 4. Bernhard Bavink II (1928–1933): Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion? Noch zu Beginn des Jahres 1925 erntet ein Beitrag mit dem Titel „Die moderne Naturwissenschaft auf dem Wege zur Metaphysik“, in dem der Verfasser sich bemüht zu zeigen „wie auch die moderne Naturwissenschaft in das Zeichen der Metaphysik tritt“351 Bavinks harsche Kritik. Wenige Jahre später (1933) veröffentlicht Bavink selbst ein mehrfach wiederaufgelegtes Buch mit dem fast gleichlautenden Titel „Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion“ – was ist in der Zwischenzeit geschehen? „Ich habe einfach“, so erläutert Bavink im Jahr 1936 seine nunmehr veränderte Auffassung, „eine große neue wissenschaftliche Entdeckung zur Kenntnis genommen, und daraus die mir ganz unvermeidlich erscheinenden philosophischen Konsequenzen gezogen [...].“352 351 352 Scherwatzky, Die moderne Naturwissenschaft auf dem Wege zur Metaphysik, 112. B. Bavink, Moderne Physik und Weltanschauung, 65. 163 Diese neue Entdeckung ist die Quantentheorie, insbesondere die von Heisenberg im Jahr 1927 veröffentlichte Unbestimmtheitsrelation. Bavink betont, daß er es bis dahin „konsequenter wie [sic] jeder Theologe [...] abgelehnt habe, in irgendeiner Form aus naturwissenschaftlichen Ergebnissen Kapital für die christliche Weltanschauung schlagen zu wollen“353. Angesichts der Quantentheorie befürchtet er nun aber „aus übergroßer Vorsicht und Zurückhaltung vielleicht die richtige Stunde [zu] verpassen“354. Ohne hier schon auf die Quantentheorie, die Gegenstand der folgenden Kapitel sein wird, näher einzugehen, sollen die theologischen Folgerungen, die Bavink aus der Quantentheorie meint ziehen zu können, hier kurz genannt werden. Zwar hält Bavink nach wie vor einen Gottesbeweis im alten physikotheologischen Sinne nicht für möglich, aber er spricht nun von der Tatsache, daß jedes einzelne Wirkungsquantum als eine völlig freie „Setzung Gottes“ zu gelten habe. Im Hinblick auf den quantenmechanischen Indeterminismus schreibt Bavink: „Es existiert im buchstäblichsten Sinne nicht ein einziges Wirkungsquant in der Welt, ohne daß es ganz direkt und unmittelbar aus Gott hervorginge. Kein Naturgesetz, auch kein statistisches, erzwingt sein Dasein [...]. In Wahrheit war ja doch für den Gläubigen auch bisher gerade der Zufall Gottes unmittelbarer Wille (Matth. 10, 29), das wird jetzt erst recht ganz evident, denn dieser Zufall der letzten Elementarakte des Daseins ist ja nichts anderes als eben die vollkommen freie Setzung seitens Gottes.“355 Wir werden sehen, daß Bavink hier nicht nur physikalische Erkenntnisse theologisch deutet, sondern daß darüber hinaus dieser Deutung bereits eine bestimmte und keinesfalls zwingende physikalische Interpretation der Quantentheorie zugrunde liegt.356 Wie nahe sich Bavink mit der Quantentheorie tatsächlich einem neuen physikalischen „Gottesbeweis“ wähnt, geht aus seiner Bemerkung hervor, er halte es angesichts des gegenwärtigen Standes des Wissens für gerechtfertigt zu sagen, es sei „zwar nicht gewiß, aber [...] doch sehr gut möglich und sogar schon einigermaßen wahrscheinlich, daß wirklich in absehbarer Zeit die gesamten bisherigen Kämpfe um ‚Glauben und Wissen‘ nur noch der Geschichte angehören werden“357. Als Physiker muß sich Bavink im klaren darüber sein, daß seine Folgerungen nicht den Rang eines naturwissenschaftlichen Schlusses haben können. Aber er scheint andererseits auch zu erwarten, daß die neue Physik ohne ihr Zutun dem Christentum günstige „gesamtweltanschauliche Wirkungen“ auslösen werde und daß es nur fraglich bleibe „bis wie weit diese de jure an sie angeknüpft werden“358. Entgegen seiner früheren Forderung, in der Natur als 353 Ders., Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion (1933), 75. A.a.O., 76. 355 A.a.O., 63 (Hervorhebungen von Bavink). 356 Gott fungiert bei Bavink gewissermaßen als „verborgener Parameter“; vgl. dazu 6. Kap. IV. und V. vorliegender Arbeit. 357 B. Bavink, Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion (1933), 77. 358 Ders., Moderne Physik und Weltanschauung, 35. 354 164 Ganzer die Spuren Gottes zu sehen, knüpft nun Bavink an ein – zugegebenermaßen grundlegendes – physikalisches Einzelproblem an. Ganz unverhohlen gesteht er, daß er sich die günstige Situation auszunutzen gedenke: „Soviel aber ist sicher, daß [Arthur] Titius recht hat, wenn er mir neulich schrieb: ‚es ist Saatzeit für uns.‘“359 Damit nähert sich Bavink der oben vorgestellten Methode, die Karl Heim bei der Auseinandersetzung mit den modernen Naturwissenschaften anwendete. Bavinks ursprüngliche Konzeption gibt sich somit nur als ein „Verlegenheitsmodell“ zu erkennen. Nicht aus grundsätzlichen Überlegungen verzichtete er ursprünglich auf eventuelle „Anknüpfungspunkte“ in der Physik, sondern weil er jetzt zugesteht, daß „mechanistische Biologie, materialistische Philosophie, strengster Determinismus und Atheismus oder höchstens ein unfruchtbarer Deismus [...] die unmittelbaren Folgen dieses mechanistischen Weltbildes zu sein [schienen]“360. Das weitgehende „Trennungsmodell“ Bavinks und sein Verzicht, aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Kapital für die Religion zu schlagen, entpuppt sich nun als eine Verlegenheitslösung für Zeiten, in denen die Naturwissenschaften keine günstigen Anknüpfungspunkte zu bieten haben und die christliche Weltanschauung im Gegenteil sogar in die Defensive drängen. Bavinks theologische Deutung der Quantentheorie trägt ihm die Kritik von Physikern ganz unterschiedlicher Provenienz ein. Der dem „Wiener Kreis“ nahe stehende Physiker Philipp Frank weist Bavinks „metaphysische Interpretation“ der Quantentheorie genauso zurück361 wie der Quantenphysiker Pascual Jordan, der Bavink vorhält, er wolle „durch die bohrende Vertiefung in die Geheimnisse der Natur auf geradem Wege zu einer positiven Gotteserkenntnis gelangen“362. Bavink sieht sich denn auch in einem späteren Nachwort zur Feststellung veranlaßt, er sei bei seinen Ausführungen von der Voraussetzung ausgegangen, „daß man i. a. schon auf dem Boden eines christlichen Gottesbegriffs [stehe]“363, er habe beabsichtigt, „für solche Gläubige, besonders für Theologen, die Dinge klarzulegen“364. 359 Ders., Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion (1933), 78. Ders., Der Grundlagenwandel in den Naturwissenschaften, 656. 361 Vgl. P. Frank, Philosophy of Science, 235–238, mit Bezug auf die amerikanische Ausgabe von „Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion“ (B. Bavink, Science and God, New York 1933). 362 P. Jordan, Die Physik des 20. Jahrhunderts, 132. 363 B. Bavink, Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion (61947), 147. 364 Ebd. Im Vorwort zur ersten Auflage (1933) gab Bavink freilich noch seiner Hoffnung Ausdruck, daß auch „mancher Naturwissenschaftler das Büchlein lesen wird“ (IV). 360 165 5. Bernhard Bavink III (1933–1945): Synthese von Realismus, Religion und Deutschtum? Bereits in Bavinks früheren Schriften wie auch in der Zielsetzung des Keplerbundes fallen nationalistische und rassistische Tendenzen auf.365 Eine Anfrage nach Zweck und Ziel des Keplerbundes beantwortet Bavink im Jahr 1928 mit dem Hinweis auf die von ihm angestrebte „Synthese“ und führt dazu dann weiter aus: „Die Leiter des Bundes sind zudem ihres Deutschtums bewußte Männer, denen es klar ist, daß eine Weltanschauung, wie wir sie heute brauchen, nicht nur auf dem Boden realer Welterkenntnis stehen, dabei den echten religiös-sittlichen Werten voll gerecht werden, sondern auch der deutschen Volksart gemäß sein muß. Wir sehen das Heil nur in einer Synthese dieser drei Elemente Realismus, Religion (Christentum) und Deutschtum, die sich in keiner Weise widersprechen, sondern nur ergänzen.“ 366 Schon im Jahr 1932 ist Bavink die Tatsache, daß „unter Hitlers Fahnen Katholiken, Protestanten und ‚Neuheiden‘ einträchtig nebeneinander für das deutsche Vaterland und Volkstum marschieren, ja bluten und sterben [...] eine so einzigartige, in der deutschen Geschichte fast unerhörte Leistung, daß auch der nicht zur N.S.D.A.P. gehörende national gesinnte Deutsche dies unbedingt bewundern und sich darüber freuen muß [...]“367. Die gesamte Grundanschauung der Nationalisten sei biologisch bedingt,368 weshalb auch die ganze völkische Bewegung „entweder biologisch, d. h. erbwissenschaftlich und ‚ganzheitsdenkend‘ unterbaut sein [werde] oder [...] überhaupt nicht sein [werde]“369. Diesen weltanschaulichen Unterbau nimmt nun Bavink ausdrücklich „als eine spezifische Aufgabe für den Keplerbund in Anspruch“370, was sich in zahlreichen in „Unsere Welt“ veröffentlichen Beiträgen zu „Fragen der Rasse“, der „Rassenhygiene“, zu „Rasse und Kultur“ usw. niederschlägt. Im August 1933 konstatiert Bavink eine „‚Duplizität der Ereignisse‘, die [...] fast an ein Wunder grenzt“371: Gemeint ist damit einerseits die angebliche Bereitschaft im Kreise der Naturwissenschaften „die Fäden von dieser Wissenschaft aus zu allen höheren Werten des Menschenlebens, zu Gott und Seele, Willensfreiheit und sittlicher Verantwortung usw. wieder ehrlich anzu365 Vgl. ders., Entwicklungslehre und Religion, 28; ders., Vom Relativen zum Absoluten, 169; ders., Die Naturwissenschaften im Dritten Reich, 245–236. – Im Zusammenhang mit der Umschreibung von „Wissenschaft“ findet sich beispielsweise bei C. Schöning, Generalsekretär des Keplerbundes, folgende Nebenbemerkung: „Ein Neger hat auch Kenntnis von manchen praktischen Tatsachen. Er oder seine Nachkommen können aber auf diesen Kenntnissen geistig nicht weiter bauen, weil er sie nicht zu einem System zusammengestellt hat, und weil er es nicht verstanden hat, daraus eine Wissenschaft zu machen“ (C. Schöning, Zweck und Ziel des Kepler-Bundes in der Gegenwart, 19). 366 B. Bavink, Zweck und Ziel des Keplerbundes in der Gegenwart, 258. 367 Ders., Zum 25. Geburtstage des Keplerbundes, 331. 368 Vgl. a.a.O., 333. 369 A.a.O., 334. 370 A.a.O., 332. 371 Ders., Die Naturwissenschaften im Dritten Reich, 231. 166 knüpfen“372 und andererseits die „fast als ein Wunder anmutende endliche Vereinigung der alten und der jungen volkserhaltenden Kräfte im Januar dieses Jahres“373. Bavink, dem es ein Anliegen ist, dem „neuen deutschen Staat“ zu zeigen, wie sehr er auf die naturwissenschaftlichen Fächer angewiesen ist, verweist darauf, daß „ein Zweig der Biologie, die Vererbungslehre, geradezu das Fundament auch der praktischen Politik dieses Staates bildet, denn diesem Staate ist es um das Leben des Volkes zu tun [...]; dieses Leben aber ruht in jener Erbmasse, die von einer Generation zur anderen weiter getragen wird, und diese wird nur dann sachgemäß gepflegt, wenn wir die Erkenntnisse der heutigen Vererbungswissenschaft uns zunutze machen“374; Biologie werde darum in Zukunft zum entscheidenden Bildungsgut jedes Deutschen gehören. Es kann aus diesem Grund nicht verwundern, daß sich Bavink in der folgenden Zeit verstärkt der Biologie zuwendet und im Jahr 1934 eine Schrift „Eugenik als Forschung und Forderung der Gegenwart“ veröffentlicht. Darin ist die Rede von der Bekämpfung gefährlicher Rassemischungen und dem dringlichen Problem der „riesenhaften und stark anwachsenden farbigen Bevölkerung“375 in den Vereinigten Staaten, der „Notwendigkeit eugenischen Handelns, und zwar raschen Handelns“376, da werden Statistiken bemüht über staatliche Aufwendungen für „Geisteskranke, Idioten, Krüppel usw.“ um vor dem drohenden „erbbiologischen Ruin“377 zu warnen, da werden Ehestandsbeihilfen, „die ja nur erbgesunden Brautpaaren zugute kommen sollen“ als „an sich höchst segensreiche Einrichtung“ beurteilt, die aber durch ungenügende Prüfung ihren Zweck verfehle und „zu einer neuen Verstärkung Minderwertiger führen [könne]“378, da wird der zwangsweisen Sterilisation das Wort geredet379 und bedauert, daß bisher noch alle wirksamen eugenischen Maßregeln daran gescheitert seien, daß „immer wieder das Mitleid mit der Vernunft [durchgehe]“380. 372 Ebd. A.a.O., 230. 374 A.a.O., 233. Nachdem Bavink in diesem Artikel erst feststellt, „daß die Naturwissenschaften selber die größte aller Leistungen eben des germanischen Geistes vorstellen“ (234), versucht er dann zu erklären, warum unter den führenden Naturwissenschaftlern so viele Juden zu finden sind und insbesondere die Relativitätstheorie nicht schon von seinem Lehrer W. Voigt („ein wahres Musterbild eines echten germanischen Recken“) entwickelt wurde: „Die dazu nötige Abstraktionskraft besaß er zehnmal, wie jeder seiner Schüler weiß. Richtig bleibt deshalb nur, daß dem jüdischen Geiste derart spitzfindige und abstrakte Unterscheidungen offenbar besondere Freude machen, während sie der Deutsche zwar auch machen kann, wenn’s not tut, aber im allgemeinen nicht besonders liebt“ (234). 375 B. Bavink, Eugenik als Forschung und Forderung der Gegenwart, 9. 376 A.a.O., 4. 377 A.a.O., 121. 378 A.a.O., 122. 379 Vgl. a.a.O., 128f. 380 A.a.O., 122. – Noch nach dem Zweiten Weltkrieg (Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften, 91948) behauptet Bavink eine Verschlechterung des Genotypus in Europa in den letzten 100 bis 150 Jahren, fordert darum einerseits eine „positive Auslese“ (661) und 373 167 Warum sind diese Äußerungen Bavinks in unserem Zusammenhang von Bedeutung? Bavink vertritt, wie oben gezeigt wurde, die Auffassung, daß naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Modifikation der (christlichen) Weltanschauung führen können und unter Umständen führen müssen. Bavink anerkennt nun offensichtlich auch Teile der nationalsozialistischen Rassenbiologie als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis381 und fordert entsprechende weltanschauliche Konsequenzen. In einem längeren Beitrag über „Rasse und Kultur“ widmet Bavink den zentralen Abschnitt dem Verhältnis von „Rasse und Religion“. In diesem Zusammenhang weist es Bavink zunächst zurück, „den Graben zwischen uns und dem Juden zu einem schlechthin unausfüllbaren zu machen“ und lehnt es ab, daß man „ohne weiteres den Juden mit dem Neger und Mongolen auf eine Stufe stellt“382, dann stellt er unumwunden fest, daß „jeglicher Judaismus [...] heute im Christentum, zum wenigsten im evangelischen Deutschland, nicht mehr tragbar [sei]“383. Bavink macht eine – „wohl rassisch mitbegründet[e]“384 – „grundsätzliche Naturfremdheit der jüdischen Religion“ aus und stellt ihr eine „in zahlreichen indogermanischen Völkern sich findende und daher auch in ihren Religionen zum Ausdruck kommende, innige Naturverbundenheit“385 gegenüber. Die Naturverbundenheit dieser indogermanischen Völker nennt Bavink ausdrücklich eine „irgendwie in ihrer Erbmasse verankerte Eigenschaft“ 386. In seinem im Jahr 1938 erschienenen Buch „Wesentliches und Unwesentliches im Christentum“ beabsichtigt Bavink, sein Programm einer Modifikation der christlichen Weltanschauung aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis konsequent durchzuführen. Wenngleich sich Bavink dabei vor allem auf einzelne Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung bezieht, so schlägt auch hier wieder sein vermeintlich biologisch begründeter Antijudaismus durch.387 andererseits die „Abstellung derjenigen Vorgänge, durch die eine fortgesetzte ‚negative Auslese‘ sich in unserem gegenwärtigen Kulturleben vollzieht. Dazu gehören außer den heutigen Kriegen – der moderne Krieg bedeutet [...] die schärfste nur denkbare negative Auslese, da er gerade die Besten am meisten dezimiert – vor allem die Tatsache, daß die minderwertigsten Schichten der Bevölkerung, insbesondere die sog. Asozialen, weitaus die höchsten Vermehrungsziffern, die Höherwertigen hingegen viel zu kleine Kinderzahlen aufweisen“ (662). 381 Im einzelnen geht Bavink durchaus auf Distanz zur nationalsozialistischen Rassenideologie, insbesondere wendet er sich gegen einen „Rassenrelativismus“, der „jeden gemeinsamen Wertbesitz mit den anderen Rassen oder Nationen [aufkündigt]“ (B. Bavink, Rasse und Kultur, 190, vgl. 164f). Andererseits kommt für Bavink im Christentum, das „sich wirklich allzu einseitig [...] an das Judentum gebunden [habe]“, „ein Stück der zeitgeschichtlichen und rassisch-völkischen Relativität, die jeder Religion anhaftet“ zu Tage (B. Bavink, Religion als Lebensfunktion, 261). 382 B. Bavink, Rasse und Kultur, 169. 383 A.a.O., 177. 384 A.a.O., 180. 385 A.a.O., 178. 386 Ebd. 387 Dies läßt Bavink, Wesentliches und Unwesentliches im Christentum, 83, unter anderem die Anerkennung eines „indogermanisch[en] Alt[en] Testament[s]“ fordern. Es macht die 168 V. Rückblick und Ausblick Bernhard Bavink gilt ohne Zweifel unter Theologen und Naturwissenschaftlern zwischen 1920 und 1947 über Deutschland hinaus als die Instanz für einen kompetenten Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Er steht im Austausch genauso mit führenden Naturwissenschaftlern wie mit katholischen und evangelischen Theologen. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg werden eine Reihe seiner Bücher in überarbeiteter Fassung mehrfach wiederaufgelegt, neue Veröffentlichungen kommen hinzu. Bavink versucht dabei wieder an seine ursprünglich zurückhaltende und vorsichtige Einstellung anzuknüpfen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf mögliche weltanschauliche Konsequenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse: „Das Bild der Welt, das uns die moderne Naturwissenschaft zeichnet, läßt uns den Zugang zu einer [...] Auffassung des Menschen als eines ‚Wanderers zwischen beiden Welten‘ durchaus offen. Daß sie uns direkt von sich aus dazu hinführte, m. a. W. daß es einen wirklichen ‚physikotheologischen Gottesbeweis‘ gäbe, das ist freilich ein Irrtum, der leicht zum Gegenteil dessen umschlagen kann, was er wollte.“388 Die Physik kommt auch mit der Quantentheorie nicht auf den Weg zur Religion (Bavink II), und der Versuch, aus einem Gemisch von Ideologie und Wissenschaft zum „Wesentlichen“ des Christentums zu finden, gerät Bavink zur intellektuellen Katastrophe (Bavink III). Bavinks Stellungnahmen insbesondere zwischen den Jahren 1933 und 1938 können erklären, warum seine Gedanken später fast nicht mehr rezipiert werden und damit auch sein ursprünglicher Ansatz für eine Zuordnung von Naturwissenschaft und Theologie (Bavink I) nicht mehr aufgegriffen und weitergeführt wird.389 Sache nicht besser, daß Bavink zweifellos die Intention hat, das Christentum gegenüber einem „nationalsozialistischem Neuheidentum“ zu verteidigen. Vgl. auch B. Bavink, Thesen zur religiösen Lage der Gegenwart, 213. 388 B. Bavink, Das Weltbild der heutigen Naturwissenschaften und seine Beziehungen zu Philosophie und Religion, 150. 389 Die verschiedenen Würdigungen, die Bavink nach dem Zweiten Weltkrieg erfährt, verschweigen allerdings seine rassistischen Tendenzen und sein Engagement innerhalb der nationalistischen Bewegung fast völlig. Zur Biographie von Bavink vgl.: Zenke, Bernhard Bavink – ein Lebensbild, in: B. Bavink. Seine Heimat, sein Leben und sein Werk (Festschrift anläßlich der Bavink-Gedächtnisfeier), hg. v. der Stadt Leer/Ostfr., Leer 1952, 5–11. Über Bavinks Haltung zum Nationalsozialismus schreibt Zenke: „Der nationalsozialistischen Bewegung hat er sich als Idealist früh angeschlossen, aber sehr bald und mit seltener Offenheit diesen Weg als einen Irrweg bekannt, den er als Christ und als Forscher nicht mitgehen konnte“ (10). 169 Blicken wir am Ende dieses Kapitels auf die verschiedenen ernstzunehmenden theologischen Reaktionen zurück, die durch die Relativitätstheorien ausgelöst werden, so ergibt sich ein ernüchterndes Bild: der katholischen Theologie ist durch die starre kirchliche Festlegung auf eine anachronistische ontologische Begrifflichkeit ein fruchtbarer Austausch mit der modernen Physik von Anbeginn an versperrt; die protestantische Theologie entzieht sich weitgehend der Auseinandersetzung mit der modernen Physik, ausgenommen Karl Heim, dessen Vorstellung der modernen Physik allerdings auf einer schlechten Karikatur derselben beruht; und die vorsichtigen, aber vielversprechenden Versuche einiger Naturwissenschaftler, die sich in Anbetracht des nahezu völligen Ausfalls der Theologie um deren Rechtfertigung bemühen, finden kaum Beachtung und verstrickten sich im Fall Bavinks später in kaum noch entwirrbarer Weise mit ideologisch verblendetem Wahn. Nur kurze Zeit bietet die Relativitätstheorie die Chance für einen Neubeginn im Dialog zwischen Theologie und Physik. Die ersten Ansätze einer theologischen Rezeption der Relativitätstheorie werden überholt durch immer neue physikalische Errungenschaften im Zusammenhang mit der sich rasant entwickelnden Quantentheorie. Mit ihr setzt sich der grundlegende Wandel im Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik fort. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Dialog zwischen Theologie und Physik wieder aufgenommen wird, werden fast ausschließlich Fragen im Zusammenhang mit der Quantentheorie thematisiert. Die folgende Auseinandersetzung mit der Quantentheorie, die die bis heute unbestrittene Grundlage der modernen Physik darstellt, ist für ein Verständnis der gegenwärtigen Gesprächssituation im Dialog zwischen Physik und Theologie unabdingbar, da nur so die unterschiedlichen philosophischen und theologischen Deutungen der Quantentheorie beurteilt werden können. Die folgenden Kapitel werden aber zugleich zeigen, daß die im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie formulierten Forderungen für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie (vgl. Bavink I) auch im Hinblick auf die Quantentheorie einen praktikablen Ausgangspunkt darstellen können. 170 Fünftes Kapitel: Die Quantentheorie Im folgenden Kapitel wird in allgemeinverständlicher Weise in die Grundgedanken der Quantenphysik eingeführt. Nach einleitenden Bemerkungen über die Bedeutung der Quantentheorie im Rahmen der modernen Physik (I.) werden kurz einige traditionelle naturphilosophische Problemstellungen skizziert, die mit der Entwicklung der Quantentheorie zumindest aus naturwissenschaftlicher Perspektive vorläufig gelöst werden (II.). Im Anschluß daran werden in zwei Schritten die zentralen Aussagen der Quantentheorie dargestellt: zunächst durch die physikgeschichtliche Darstellung der Entwicklung der Quantentheorie im 20. Jahrhundert (III.) und dann durch die Beschreibung eines Experiments, dessen Diskussion in der Geschichte der Quantentheorie eine exemplarische Bedeutung zukommt (IV.). Auf dieser Grundlage können dann wesentliche Aspekte der Quantentheorie und ihrer Interpretation verdeutlicht werden (6. Kapitel). Das sich in den Deutungen der Quantentheorie – wie im Ansatz schon in der Relativitätstheorie – äußernde gewandelte Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik bestimmt maßgeblich die veränderte Gesprächssituation im gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie (7. Kapitel). I. Die Bedeutung der Quantentheorie für die moderne Physik Relativitätstheorie und Quantentheorie sind die grundlegenden Theorien, die das Fundament der modernen Physik bilden und auf denen alle anderen physikalischen Disziplinen aufbauen. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Relativitätstheorie wurde allerdings darauf hingewiesen, daß die Rolle, die der Relativitätstheorie bei der Entwicklung zur modernen Physik zukommt, im einzelnen unterschiedlich beurteilt wird.1 Einerseits kann man in der Relativitätstheorie den entscheidenden Schritt zur modernen Physik erkennen, insofern als sie die klassischen Begriffe von Raum und Zeit einer radikalen Kritik unterzieht und durch neue, die Physik revolutionierende Begriffe ersetzt. Es gibt andererseits aber auch gute Gründe, Einsteins Theorie als den krönenden Abschluß der klassischen Physik zu betrachten, hat sie doch „den Charakter der physikalischen Gesetze in ihrem Wesen nicht verändert“2, sondern mit der Forderung nach Invarianz gegenüber den Lorentz-Transfor1 2 Vgl. 3. Kap. II. vorliegender Arbeit. K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 425. 171 mationen nur eine Bedingung genannt, der alle physikalischen Gesetze genügen müssen. Wie die Relativitätstheorie schafft aber auch die Quantentheorie die Gesetze der klassischen Physik nicht einfach ab, sondern bestimmt aus einer umfassenderen Perspektive deren Gültigkeitsbereich. Auch heute noch berechnet man etwa Satellitenumlaufbahnen genauso korrekt nach der Newtonschen Mechanik wie Radiowellen mit Hilfe der klassischen Gesetze von Michael Faraday und James Clerk Maxwell. Dennoch ist unter Physikern unbestritten, daß die Physik durch die Entwicklung der Quantentheorie revolutioniert wird. Victor Weisskopf, der als Schüler von Niels Bohr die Ausgestaltung der Quantentheorie unmittelbar miterlebt, spricht für die große Mehrheit seiner Kollegen, wenn er die Quantentheorie als die wissenschaftliche Entdeckung des 20. Jahrhunderts bezeichnet und feststellt, daß mit ihr ein Vorstoß in eine bis dahin unbekannte Welt von Phänomenen möglich geworden ist: „Durch sie erschloß sich der Einsicht des Menschen die Welt der Atome und Moleküle mit ihren diskreten Energiezuständen, charakteristischen Spektren und chemischen Bindungen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß sich die Physik zu Beginn dieses Jahrhunderts radikal verändert hat. Und diese Veränderung geht auf die Quantentheorie zurück.“3 Für die moderne Physik ist die Quantentheorie die allgemeinste physikalische Theorie, deren mathematischer Formalismus heute unangefochten als Rahmenbedingung der Mikrophysik dient. Insofern die Quantenphysik exakt das Verhalten der Elektronen, die die Atomhülle bilden, wiedergibt, beschreibt sie darüber hinaus zumindest grundsätzlich auch alle chemischen und physikalischen Eigenschaften der makrophysikalischen Objekte. Bis zur Gegenwart ist kein einziges Experiment bekannt geworden, das den Voraussagen der Quantentheorie widersprechen würde. Diese Voraussagen betreffen die heutige Hochenergiephysik genauso wie beispielsweise Kern- , Atom- und Festkörperphysik, Quantenoptik oder molekulare Quantenchemie. Viele der modernen Technologien wie beispielsweise im Zusammenhang mit Mikroelektronik, Laser, Kernenergie oder Supraleitfähigkeit wären ohne die Quantentheorie nicht vorstellbar. Angesichts der glänzenden experimentellen Bestätigung, die die Quantentheorie in den zurückliegenden Jahrzehnten erfährt, kann es nicht wundern, daß die große Mehrheit der Physiker die Quantentheorie mit uneingeschränktem Vertrauen anwendet. Was den Physikern noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erst undenkbar, dann revolutionär erscheint, ist längst Bestand des Standardwissens in den Naturwissenschaften geworden. Der theoretische Physiker Paul Davies schreibt im Jahr 1986 über die Selbstverständlichkeit, mit der die Quantentheorie in naturwissenschaftlicher Lehre und Forschung gehandhabt wird: „[Die Quantentheorie] hat inzwischen die Mehrzahl der Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung durchdrungen, besonders in der Physik ist sie seit zwei Generationen für die 3 V. Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, 18. 172 meisten Studenten naturwissenschaftlicher Fächer selbstverständlicher Unterrichtsstoff und wird routinemäßig auf mancherlei Weise in der Technik angewandt. Kurz gesagt, die Quantentheorie ist in ihrer alltäglichen Anwendung eine äußerst nüchterne Angelegenheit, deren Leistungsfähigkeit vielfach nachgewiesen ist [...].“4 Die von der Quantentheorie getragene moderne Physik besitzt damit derzeit genau die Kennzeichen, die Thomas S. Kuhn der zweiten Phase der wissenschaftsgeschichtlichen Entfaltung eines Paradigmas zuweist. Das heißt, die moderne Physik ist nach dem sie revolutionierenden Umbruch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts längst in die „normale Phase“ eingetreten, in der sie von einem Paradigma geprägt wird, das allgemeine Anerkennung genießt.5 Wer angesichts des heute selbstverständlichen Umgangs mit der Quantentheorie den tiefgreifenden Wandel, den die Physik durch sie erfahren hat, erfassen will, muß dazu einen Blick auf die Entwicklung dieser Theorie und auf ihre naturphilosophischen Wurzeln werfen. Dann wird verständlich, warum die Quantentheorie für die damaligen Physiker wie ein Schock wirken mußte. Niels Bohr soll einmal sogar gesagt haben, wer von der Quantentheorie nicht schockiert sei, habe sie nicht verstanden.6 II. Die naturphilosophische Grundfrage: Quantentheorie oder Theorie des Kontinuums Ist die Wirklichkeit aus diskreten Einheiten zusammengesetzt, oder bildet sie ein einziges zusammenhängendes Ganzes ohne Bruch und Sprung? Läßt sich die den Raum ausfüllende Materie beliebig oft teilen oder gibt es letzte unteilbare Materieelemente? Laufen energetische Veränderungen kontinuierlich oder in Sprüngen ab? Die alltägliche Wahrnehmung hilft bei diesen Fragen nicht weiter: einmal erweist sich das Getrennte bei genauerem Zusehen als kontinuierlicher Übergang, ein andermal entdecken wir Stufen, Teile oder Sprünge, wo uns der erste Eindruck ein kontinuierliches, bruchloses Bild vermittelt. Welcher Vorstellung ist der Vorzug zu geben? Ist der Wirklichkeit eine Theorie des Diskreten, eine „Quantentheorie“, oder eine „Theorie des Kontinuums“ angemessen? Kann aufgrund physikalischer Theorien überhaupt 4 P. Davies, Gott und die moderne Physik, 136. Vgl. T. S. Kuhns Ausführungen über das Wesen der normalen Wissenschaft (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 44–57). Der Paradigmenwechsel in der modernen Physik wird freilich erst mit reichlicher Verzögerung außerhalb der Naturwissenschaften zur Kenntnis genommen. Der Atomphysiker Hans-Peter Dürr äußerte in einem Brief an den Verf. sogar, daß selbst innerhalb der Physik zwar „das ganze Instrumentarium moderner Physik [...] wissenschaftlich akzeptiert wurde, aber eben nicht die dahinterliegenden Vorstellungen, um die sich heute ganz Wenige nur noch bemühen, soweit sie nicht schon ganz in der Vergessenheit versunken sind.“ 6 Vgl. P. Davies/J. R. Brown (Hg.), Der Geist im Atom, 7. 5 173 entschieden werden, ob eine Quanten- oder Kontinuumstheorie „die Wirklichkeit“ zutreffend wiedergibt? In welcher Beziehung stehen physikalische Vorstellungen zu dieser Wirklichkeit? Die Frage, ob die Welt „im Grunde“ aus getrennten Einheiten aufgebaut oder als zusammenhängendes Kontinuum gedacht werden muß, führt viele Physiker zu der erkenntnistheoretischen Frage, inwieweit physikalische Vorstellungen „Wirklichkeit“ erreichen, was physikalische Theorien überhaupt von der „Wirklichkeit“ aussagen können, ja was die Physik unter „ihrer Wirklichkeit“ eigentlich versteht. Die Diskussion um die Quantentheorie führt so zu einer Reflexion über das Wirklichkeitsverständnis der Physik. Die oben genannten Fragen, die der Auseinandersetzung um die Quantentheorie zugrunde liegen, und die von der modernen Physik unter naturwissenschaftlichem Aspekt neu aufgegriffen werden, lassen sich bis zu den Anfängen der abendländischen Philosophie zurückverfolgen. In der Philosophiegeschichte werden dabei schon früh sowohl Theorien des Kontinuums als auch Theorien des diskreten Aufbaus der Welt aufgestellt und mit guten Gründen vertreten. Die folgenden Ausführungen begnügen sich mit wenigen exemplarischen Hinweisen. Erwähnt werden dabei vor allem die Positionen, auf die einzelne Physiker bei der Diskussion um die moderne Quantenphysik ausdrücklich Bezug nehmen.7 1. Theorien des diskreten Aufbaus der Wirklichkeit Aristoteles zufolge ist Thales (624 bis 545) aus dem ionischen Milet der „Ahnherr“ der griechischen Philosophie und Wissenschaft, da er erstmals die Frage nach dem Urgrund der Welt, der DUFK, beantwortet habe, ohne auf übernatürliche Gründe zurückzugreifen:8 Für Thales ist der Ursprung aller Dinge, das heißt das Eine und alles Umfassende, das bewirkt, daß alles ist und wird und besteht, das Wasser. Die Frage nach dem Urstoff, aus dem alle Dinge bestehen, wird für die frühgriechische Philosophie zentral. Allein schon die unsichere Quellenlage bezüglich der Naturphilosophen im Anschluß an Thales sollte aber genügen, um hier keine „Vorwegnahmen“ moderner naturwissenschaftlicher Theorien entdecken zu wollen. Gleichwohl nehmen moderne Physiker gerne Bezug auf die Fragmente dieser „Vorsokratiker“ und stellen sich nicht selten in der einen oder anderen Weise in deren Tradition. Entsprechend beinhalten auch die meisten Darstellungen der Geschichte der Physik ein Kapitel über die frühgriechische Naturphilosophie. Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang die antike Atomistik, die auf Leukipp und seinen Schüler Demokrit (um 470 bis 360) aus Abdera in Thrakien zurückgeht. Deren Lehre wird zur Unterscheidung von ihrer Weiterentwicklung bei Epikur und Lukrez auch „ältere Atomistik“ genannt. Atom7 8 Vgl. dazu H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 127–133. Vgl. Aristoteles, Metaphysik I, 3 (983b). 174 lehre, mechanistische Weltanschauung und eine erkenntniskritische Haltung kennzeichnen die bekanntesten und wirkmächtigsten Teile von Demokrits Denken:9 Atomlehre: Alles Seiende ist für Demokrit in unendlich viele und kleinste, mit den Sinnen nicht mehr wahrnehmbare Körperchen geteilt, die von ihm „DWRPRL“ genannt werden, da er sie als nicht mehr weiter teilbar betrachtet. Sextus Empiricus zufolge bilden für Demokrit diese Atome die eigentliche Wirklichkeit, wohingegen das, was die Sinne vermitteln, nur durch Festsetzung (QRPZ bestimmt ist: „Durch Festsetzung süß, durch Festsetzung bitter, durch Festsetzung warm, durch Festsetzung kalt, durch Festsetzung Farbe, in Wirklichkeit aber Atome und Leeres.“10 Diese Atome sind ewig und unveränderlich, bestehen alle aus dem gleichen Stoff, sind aber von verschiedener Größe. Da für Demokrit im Unterschied zu Parmenides ein „leerer Raum“ denkbar ist, können sich die Atome trennen und hin- und herbewegen. Der Neuplatoniker Simplikios überliefert bezüglich Demokrits Quantentheorie der Materie und dessen Vorstellung von Atomen: „[...] diese Atome dagegen, im unbegrenzten Leeren eins vom anderen getrennt und wohlunterschieden durch ihre Gestalten und Größen, Lage und Ordnung, bewegten sich im Leeren, und wenn sie sich einholten, stießen sie zusammen; dabei würden die einen in eine beliebige Richtung abprallen und die anderen sich nach Maßgabe ihrer Gestalten, Größen, Lagen und Ordnungen miteinander verwickeln und zusammenbleiben und so zur Entstehung der zusammengesetzten Gebilde führen.“11 Alles Zusammengesetzte entsteht demnach durch Kombination ursprünglich getrennter Atome. Vergehen bedeutet entsprechend die Auflösung der Kombination bis dahin verbundener Atome. Mechanistische Weltanschauung: Die Atomlehre ist bei Leukipp und Demokrit mit einem mechanischen und kausalen Weltbild verbunden, das ganz auf Ursache und Wirkung aufbaut, jeden Zufall aber ausschließt. So jedenfalls läßt sich der einzige von Leukipp selbst erhaltene Ausspruch deuten: „Nichts geschieht aufs Geratewohl, sondern alles aufgrund eines Verhältnisses (sc. in begründeter Weise) und infolge von Notwendigkeit.“12 Jeder Gegenstand und jedes Ereignis ergibt sich zwangsläufig aus einer Folge von Stoßprozessen und Verbindungen, die jeweils der Gestalt und Lage der beteiligten Atome entsprechen. Erkenntniskritische Haltung: Demokrit leugnet mit seiner Atomlehre zwar nicht die sinnliche Erfahrung schlechthin, aber er betont deren Relativität und Subjektivität. Eigentlich wahr sind nicht die Eindrücke, die uns die Sinne 9 Vgl. dazu K. Vorländer, Philosophie des Altertums, Bd. 1, 45–49. Zu Demokrits Atombegriff vgl. A. G. M. van Melsen, Atom gestern und heute. Die Geschichte des Atombegriffs von der Antike bis zur Gegenwart (deutsche Ausgabe mit Quellentexten erweitert von H. Dolch), Freiburg und München 1957, insbes. 27f. 10 Zit. in: G. S. Kirk u. a., Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, 448f. 11 A.a.O., 464. 12 A.a.O., 457 (Anm. 17). 175 vermitteln, sondern die Begriffe, die das Denken bildet (die Gedankendinge, WD QRKWD: „Es gibt zwei Arten der Erkenntnis, die eine echt, die andere dunkel. Zur dunklen gehört alles dies: Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Geschmack- und Tastsinn. Die andere dagegen ist echt und von dieser verschieden.“13 Die „echte“ Erkenntnis wird durch das Denken gewonnen (GLD WK9 GLDQRLD9). Darüber hinaus scheint Demokrit das menschliche Erkenntnisvermögen aber durchaus skeptisch beurteilt zu haben, wenn er feststellt, „daß wir in Wirklichkeit nichts über irgend etwas wissen; vielmehr ist das, was jedem einzelnen von uns zufließt, die [bloße] Meinung.“15 „Freilich wird klar sein“, so zitiert Sextus Empiricus Demokrits Lehre weiter, „daß in Wirklichkeit, wie jedes Ding beschaffen ist, – das zu erkennen, eine unlösbare Aufgabe ist.“16 Wie ist Demokrits Atomlehre unter physikgeschichtlichem Aspekt zu beurteilen? Eröffnet diese Lehre vielleicht schon „die sogenannte quantitativmechanistische Naturbetrachtung, die den Grund legt für die moderne Naturwissenschaft und Technik und ihre Beherrschung der Welt“17? Nimmt diese Naturbetrachtung, die das Naturgeschehen auf Gesetzmäßigkeiten zurückführen will, tatsächlich schon „das Ideal der modernen Naturwissenschaft“18 vorweg? Gibt Demokrits Atomlehre „den Stimulus zur Entwicklung der modernen Atomtheorie“19, ist sie möglicherweise gar „ein Fundament der modernen Physik geworden“20? Schuf Demokrit „in seinem Atomismus jene Grundlagen, die in der Neuzeit zu den großartigen Entdeckungen und technischen Fortschritten geführt haben“21 – oder haben „Demokrit mit seinem Begriff des Unteilbaren und die Atomtheorie der modernen experimentellen Naturwissenschaft [...] nur das Wort ‚Atom‘ gemeinsam“22? Zu bedenken ist bei einer Beurteilung der antiken Atomistik jedenfalls der Hinweis Hans-Georg Gadamers, daß diese „keine Forschungshypothese einer mathematischphysikalischen Wissenschaft [ist], die sich an ihrer Leistung der exakten Erklärung der Erfahrungswirklichkeit ausweisen müßte“, sondern „ein Grundentwurf der wahren Wirklichkeit, wie er aus der philosophischen Frage nach dem Sein [...] erwächst“23. Entsprechend ist die antike Atomistik in erster Linie als eine ontologische Konzeption zu verstehen und zu beurteilen 13 A.a.O., 450. A.a.O., 449. 15 A.a.O., 448. 16 Ebd. 17 J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, 45. 18 Ders., Kleine Philosophiegeschichte, 19. 19 G. S. Kirk u. a., Die vorsokratischen Philosophen, 472. 20 K. Vorländer, Philosophie des Altertums, Bd. 1, 46. 21 J. Fischl, Geschichte der Philosophie, 37. 22 C. Helferich, Geschichte der Philosophie, 9. 23 H.-G. Gadamer, Antike Atomtheorie, in: H.-G. Gadamer (Hg.), Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, 517f. 14 176 und nicht als eine naturwissenschaftliche Theorie, die sich einzig durch ihre experimentelle Verifikation rechtfertigen könnte.24 Ob die Atomlehre der antiken Atomistik, die von Epikur und Lukrez weiterentwickelt wird, auch nur mittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung moderner physikalischer Theorien nimmt, sei dahingestellt. Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der Thematik der vorliegenden Arbeit allerdings, daß sich von nun ab die atomistischen Theorien – Theorien also, die einen diskreten Aufbau der Welt zugrunde legen – mit einer deutlich religionskritischen Haltung verbinden. Der Philosophiehistoriker Christoph Helferich sieht in der Weltsicht der Atomisten seit Demokrit einen Bezugspunkt für „kritische Denker“: „Für Philosophen, denen das unfaßbare Walten eines geheimnisvollen Gottes problematisch war bzw. die kirchliche Lehre ablehnten, stand die Atomistik als Bild einer in sich selbst begründeten Welt.“25 Aus diesem Grund kann auch die Inanspruchnahme der Atomistik durch das „Philosophische Wörterbuch“, das nach eigener Auskunft auf marxistisch-leninistischer Grundlage aufbaut, nicht verwundern: „Ihr Festhalten an der Auffassung von der diskreten Struktur der Materie macht sie [die Atomistik] zu einer der Hauptstützen des philosophischen Materialismus im Kampf gegen Idealismus und Religion und – nicht zuletzt – zum Vorläufer der Atomphysik.“26 Die religionskritische Wirkungsgeschichte der Atomlehre ist zu bedenken, wenn man sich mit modernen Interpreten der Quantentheorie und deren Aussagen über Religion und Metaphysik befaßt. Da sich die Quantentheorie der modernen Physik und der moderne Atomismus aber anders als bei Demokrit gerade nicht mehr mit mechanistischen und deterministischen Vorstellungen verbinden, ist diesen damit allerdings auch ihre religionskritische Spitze genommen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß im Gegenteil der Indeterminismus der modernen Quantentheorie von einzelnen Theologen und Physikern dazu benutzt wird, um im unmittelbaren Anschluß an die moderne Physik wieder religiöse Aussagen zu formulieren.27 Die antike Vorstellung eines diskreten Aufbaues der Materie wird erst im 18. Jahrhundert, nun aber auf experimenteller Grundlage weiterentwickelt. Die entscheidenden Entdeckungen liefert dabei die Chemie. Antoine Laurent Lavoisier (1743 bis 1794) nennt die Stoffe, die auf chemischem Weg nicht weiter zerlegt werden können, nach antikem Vorbild Elemente. John Dalton geht in seiner im Jahr 1808 erschienenen Abhandlung „A New System of 24 Vgl. dazu auch W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 1, 71, der betont, daß die antike Atomistik nicht naturwissenschaftlich, sondern naturphilosophisch bzw. metaphysisch motiviert ist, da Leukipp, Demokrit und ihre Nachfolger die Theorie der Atome nicht auf Beobachtungen beziehen können: „Der Begriff des Atoms wird nicht der Erfahrung entnommen, er wird auch nicht gebildet, um bestimmte Erfahrungstatsachen zu erklären, sondern er dient in erster Linie dazu, eine philosophische Theorie des Werdens zu formulieren. Mit Hilfe dieser Theorie sollte begreiflich gemacht werden, daß Dinge entstehen, sich wandeln und eines Tages zu bestehen aufhören.“ 25 C. Helferich, Geschichte der Philosophie, 9. 26 M. Buhr/G. Kröber, Art. Atomistik, 152. 27 So beispielsweise B. Bavink, Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion (1933), 63, oder noch jüngst J. Guitton/G. u. I. Bogdanov, Gott und die Wissenschaft, 118f. 177 Chemical Philosophy“ davon aus, daß Gase aus nicht mehr teilbaren Partikeln bestehen, die er wie Demokrit Atome nennt. Diese Atome (die kleinsten Bausteine chemischer Elemente) können sich zu Molekülen (kleinste Bausteine chemischer Verbindungen) vereinigen. Dalton erkennt die relativen Atomgewichte als charakteristische Eigenschaften der Elemente und stellt auf dieser Grundlage die erste Atomgewichtstabelle auf. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gibt es in der Chemie Versuche, auch die verschiedenen chemischen Elemente, das heißt die verschiedenen bekannten „Atomsorten“ als zusammengesetzt aus einer einzigen Urmaterie zu begreifen. Humphry Davy bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Thales und schreibt von „jener erhabenen Idee der alten Philosophen, die durch Newtons Zustimmung bekräftigt worden ist, [...] daß es nämlich nur eine Art von Materie gibt, deren verschiedene chemische und mechanische Eigenschaften auf die verschiedene Anordnung ihrer Teilchen zurückzuführen sind“28. Zwar erschüttert die Entdeckung der Radioaktivität von Henri Antoine Becquerel im Jahr 1896 die Vorstellung tatsächlich unteilbarer Atome, aber um die Jahrhundertwende hofft man in der Chemie immerhin, die bekannten Atomsorten aus allenfalls zwei Grundbausteinen zusammensetzen zu können. Als diese selbst nicht wieder teilbare Grundbausteine bieten sich den Naturwissenschaftlern der (positiv geladene) Wasserstoffkern und das (negativ geladene) Elektron an. 2. Theorien des kontinuierlichen Aufbaus der Wirklichkeit Man sollte erwarten, daß die Physik durch diese Entwicklung der Atomtheorie auf eine Theorie, die von einer diskreten Struktur auch der physikalischen Wirklichkeit ausgeht, gut vorbereitet ist. Daß dies in keiner Weise der Fall ist, hat mehrere Gründe: w Die „Atomtheorie“, die sich in der Chemie durchgesetzt und bewährt hatte, ist um die Wende zum 20. Jahrhundert unter Physikern keineswegs unumstritten. Zu den schärfsten Kritikern der Atomtheorie zählt auch hier wieder vor allem der einflußreiche Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach, der Atome als nützliche Konstrukte des Denkens zwar noch akzeptieren kann, die tatsächliche Existenz von Atomen aber vehement bestreitet, da sich diese nicht mit der von ihm geforderten Ökonomie der Wissenschaft vereinbaren läßt.29 „Wenn der Geometer die Form einer Kurve erfassen will“, schreibt Mach, „so zerlegt er sie zuvor in kleine geradlinige Elemente. Er weiß aber wohl, daß dieselben nur ein vorübergehendes willkürliches Mittel sind, stückweise zu erfassen, was auf einmal 28 29 Zit. in: S. F. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft, 537. Vgl. Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 457–471. 178 nicht gelingen will.“30 Ganz entsprechend beurteilt nun Mach auch die Atomvorstellung als vorläufiges Hilfsmittel und rein gedankliches Konstrukt zur besseren Erfassung der Wirklichkeit. Es zieme sich aber der Naturwissenschaft nicht, so Mach weiter, „in ihren selbstgeschaffenen, veränderlichen, ökonomischen Mitteln, den Molekülen und Atomen, Realitäten hinter den Erscheinungen zu sehen und eine mechanische Mythologie an die Stelle der animistischen und metaphysischen zu setzen“31. Mach zählt allerdings spätestens ab dem Jahr 1905, in dem Einstein eine Theorie der Brownschen Molekularbewegung vorlegt, zu den ganz wenigen Physikern, die die Realität der Atome noch eine Zeitlang zu leugnen versuchen. 32 w Es wurde schon darauf hingewiesen, daß im 19. Jahrhundert die klassische Physik newtonscher Prägung fast unangefochtene Gültigkeit besitzt. Gerade diese Physik geht aber von der Idee der Stetigkeit aller Naturereignisse aus. Diese Idee der Stetigkeit scheint zwar im Widerspruch zur newtonschen „Korpuskulartheorie des Lichts“ zu stehen, wonach „die Lichtstrahlen aus sehr kleinen Körpern [bestehen], die von den leuchtenden Substanzen ausgesandt werden“33. Doch gerade bezüglich der Lichtausbreitung setzt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Diskontinuitäten vermeidende Wellentheorie des Lichtes, die gegen Newton schon von Christian Huygens (1629 bis 1695) vertreten wird, durch. w Atomistische Vorstellungen legen – wie schon bei Demokrit – den Gedanken eines „leeren Raumes“ zwischen den einzelnen Teilchen nahe. Da aber im 19. Jahrhundert die mechanische Erklärbarkeit aller physikalischer Erscheinungen angestrebt wird, ist nur sehr schwer vorstellbar, wie eine kausale Wechselwirkung zwischen den diskreten Teilchen über den leeren Raum hinweg stattfinden könnte: atomistische (also „quantenhafte“) Vorstellungen in der Physik hätten damit nicht nur das mechanistische Weltbild der Physik, sondern auch das für unantastbar gehaltene Kausalgesetz in Frage gestellt. 30 Zit. in: H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 132. Ebd. – „Atome können wir nirgends wahrnehmen, sie sind wie alle Substanzen Gedankendinge. [...] Mögen die Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von Tatsachen darzustellen, die Naturforscher, welche Newtons Regeln des Philosophierens sich zu Herzen genommen haben, werden diese Theorien nur als provisorische Hilfsmittel gelten lassen und einen Ersatz durch eine natürlichere Anschauung anstreben. Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche Funktion wie gewisse mathematische Hilfsvorstellungen; sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung der Tatsachen“ (E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 466f). 32 Zu einer Meinungsänderung E. Machs bezüglich der Existenz von Atomen vgl. G. Wolters, Atome und Relativität – Was meinte Mach? in: R. Haller und F. Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1988, 484–507. 33 I. Newton, Optik, 244f. K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, 282, weist aber darauf hin, daß Newtons Vorstellungen nur in sehr simplifizierter Form weitergegeben wurden und daß „die ursprüngliche Newtonsche Vorstellung, in der der korpuskulare Aspekt der Erscheinung und die räumliche Periodizität gleichermaßen berücksichtigt werden“, der Auffassung des 20. Jahrhunderts vom Dualismus des Lichts am nächsten komme. 31 179 Die Kontinuumsphysik bewährt sich im Rahmen der Physik bis ins 19. Jahrhundert sehr gut, diskontinuierliche Vorstellungen begegnen hingegen massiven physikalischen Bedenken. Hans Sachsse skizziert die Situation im ausgehenden 19. Jahrhundert treffend, wenn er feststellt: „Vereinfachend kann man sagen: die Physik dachte kontinuierlich, die Chemie rechnete mit diskreten Einheiten, und beide Disziplinen hielten ihre Denkweisen für natürlich und selbstverständlich.“34 Darüber hinaus bewährt sich die Kontinuumstheorie nicht allein in der klassischen Physik, sondern sie wird auch durch einflußreiche naturphilosophische Gedanken gestützt. Dies gilt insbesondere für diesbezügliche Überlegungen von Gottfried Wilhelm Leibniz, dessen Gedanken auch in den Stellungnahmen späterer Interpreten und Kritiker der Quantentheorie nachwirken. In der lateinisch geschriebenen Abhandlung „Principium quoddam generale non in mathematicis tantum sed et physicis utile“ (1687) und in zwei im Jahr 1702 auf französisch verfaßten Briefen an den Mathematiker Pierre Varignon – einem der ersten Verteidiger des von Leibniz geschaffenen Infinitesimalkalküls – äußert sich Leibniz zum Kontinuitätsprinzip, das er „mon Principe de Continuité“35, „la loi de la Continuité“36 oder auch „Principium [...] Ordinis Generalis“37 nennt. Da für Leibniz Erkenntnisprinzipien immer auch Seinsprinzipien sind, gilt ihm auch dieses „Prinzip der allgemeinen Ordnung“ nicht nur als Fundamentalprinzip des Erkennens, sondern als ein Grundprinzip der Weltordnung: die ganze Welt ist ein kontinuierlicher Seins- und Sinnzusammenhang. Nachdem Leibniz ausführt, daß das Kontinuitätsprinzip überall in der Geometrie gültig sei, fährt er fort: „Die Allgemeingültigkeit dieses Prinzips [der Kontinuität] hat mich bald einsehen lassen, daß es auch in der Physik seinen Platz haben muß: sehe ich doch, daß, damit Regelmäßigkeit und Ordnung in der Natur herrsche, es notwendig ist, daß die Physik mit der Geometrie in andauernder Harmonie sein muß, und daß das Gegenteil einträte, wenn da, wo die Geometrie Kontinuität verlangt, die Physik eine plötzliche Unterbrechung zuließe.“38 Für Leibniz ist das metaphysische Prinzip der Kontinuität unvereinbar mit Zufall und Indeterminismus, mit Sprüngen und leeren Räumen. Er fordert darum sowohl eine Kontinuität in der Ordnung des zeitlich Aufeinanderfolgenden als auch eine Kontinuität in der Ordnung des Gleichzeitigen. Erstere garantiert nach Leibniz den kausalen Zusammenhang aller Ereignisse: „Nach meiner Ansicht ist kraft metaphysischer Gründe alles im Universum derart miteinander verbunden, daß die Gegenwart stets mit der Zukunft schwanger geht und daß jeder gegebene Zustand nur durch den ihm unmittelbar vorausgehenden auf natürliche Weise 34 H. Sachsse, Naturerkenntnis und Wirklichkeit, 133. G. W. Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. IV. Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, hg. v. H. Herring, Darmstadt 1992, 227–267, vgl. die Vorbemerkung des Hg., a.a.O., 260. 36 A.a.O., 264. 37 A.a.O., 230. 38 A.a.O., 261. 35 180 erklärbar ist. Leugnet man dies, dann wird es in der Welt Lücken geben, die das große Prinzip des zureichenden Grundes umstoßen und uns dazu zwingen werden, für die Erklärung der Phänomene zu Wundern oder zum bloßen Zufall Zuflucht zu nehmen.“ 39 Die Kontinuität in der Ordnung des Gleichzeitigen besagt, daß der Raum durchgehend von Materie erfüllt sein muß. In den gleichzeitig existierenden Dingen kann es nach Leibniz selbst dort Kontinuität geben, wo die sinnliche Anschauung nichts als Sprünge bemerkt, die leeren Räume sind darum „in das Reich der Träume verwiesen“40. Hier zeigt sich einmal mehr, wie bei Leibniz metaphysische und mathematisch-physikalische Anschauungen eng miteinander verbunden sind. Das metaphysische „Principe de Continuité“ spiegelt sich für Leibniz im geometrischen Begriff der Stetigkeit, zu dem er selbst Wesentliches beiträgt. Wie für Kant steht auch für Leibniz außer Frage, daß die (ihm bekannte) Geometrie wiederum den tatsächlichen physikalischen Verhältnissen und letztlich auch der Ordnung der Welt im Ganzen entspricht. Dies erklärt aber auch, daß es bei der Diskussion um das Kontinuitätsprinzip für Leibniz nicht nur um ein geometrisches oder physikalisches Problem geht, sondern daß zugleich damit sein gesamtes metaphysisches System auf dem Spiel steht. Das Prinzip des Kontinuums ist untrennbar mit dem Gedanken der „prästabilierten Harmonie“ der Welt und mit der leibnizschen „Theodizee“ verbunden. In unserer Zeit weist Carl Friedrich von Weizsäcker darauf hin, daß insbesondere der Gedankengang in der „Theodizee“ das „philosophische Abbild von Überlegungen ist, die in der Physik zu Hause und dort ohne Zweifel legitim sind“41. So wird die Theodizee bei Leibniz nach dem Muster mathematischer Extremalaufgaben angegangen. Extremalaufgaben sind aber im allgemeinen nur lösbar unter Voraussetzung der Stetigkeit, das heißt bei Gültigkeit des Kontinuitätsprinzips. Von dieser leibnizschen Tradition her wird verständlich, daß sich die Quantentheorie in unserem Jahrhundert nicht nur gegen physikalische Einwände und Bedenken durchsetzen muß, sondern daß sie auch eine starke naturphilosophische Tradition gegen sich hat und überwinden muß. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, daß bei den Diskussionen um die Quantentheorie nicht nur rein physikalische Argumente vorgetragen werden, sondern häufig auch weltanschauliche Positionen in die jeweiligen Überlegungen miteinfließen. So sind – um das bekannteste Beispiel zu zitieren – für Albert Einstein die Zumutungen der Quantentheorie an sein „naturphilosophisches Gesamtkonzept“ offensichtlich unerträglich. Nicht zufällig formuliert er darum seine Kritik an der Quantentheorie auch unter Bezugnahme auf bei Leibniz ausgeführte naturphilosophische Positionen.42 39 Ebd. (Hervorhebungen im Original). A.a.O., 263. 41 C. F. v. Weizsäcker, Naturgesetz und Theodizee, 161. 42 Vgl. A. Einstein/A. Sommerfeld, Briefwechsel, 109, 112, 121; vgl. auch R. Locqueneux, Kurze Geschichte der Physik, 123. 40 181 III. Zur Geschichte der Quantentheorie Die Relativitätstheorie ist bleibend mit dem Namen Albert Einsteins verbunden, selbst wenn immer wieder mehr oder weniger ernsthaft diskutiert wird, ob damit das Verdienst anderer Physiker nicht zu wenig gewürdigt wird. Die Quantentheorie verdankt demgegenüber ihre Entwicklung unbestreitbar den Beiträgen einer ganzen Reihe von Physikern, wobei diesen freilich in den physikgeschichtlichen Darstellungen je unterschiedliche Bedeutung zugemessen wird. Eine Beschreibung der Geschichte der Quantentheorie wird außerdem dadurch erschwert, daß in der Quantentheorie, wie sie um das Jahr 1927 vorliegt, verschiedene physikalische Entwicklungslinien zusammengeführt werden. Vereinfacht dargestellt lassen sich zwei zunächst voneinander unabhängige Linien verfolgen: w Die eine Entwicklungslinie führt über die Probleme, die die Beschreibung der sogenannten „Hohlraumstrahlung“ mit sich bringt: Darauf nimmt etwa George Trigg Bezug, wenn er schreibt, daß als Ausgangspunkt der Quantentheorie „der Versuch anzusehen [sei], die Strahlung aus einem kleinen Loch in einer Ofenwand vollständig zu beschreiben“43. Diese erste Linie führt über die Physiker Wilhelm Wien und John William Rayleigh zu Max Planck und dann über Albert Einstein weiter zu Louis de Broglie. Ins Zentrum rückt dabei zunehmend die Frage nach der physikalischen Natur von Strahlung und hier insbesondere die Frage, ob Licht angemessener als kontinuierlicher Wellenvorgang oder als diskrete Teilchenstrahlung zu verstehen ist (III. 1. a). w Die andere Entwicklungslinie, die schließlich in die Quantentheorie mündet, befaßt sich mit dem Bau der Atome: Nachdem sich auch in der Physik die Vorstellung vom atomaren Aufbau der Materie durchzusetzen beginnt, stellt sich die Frage nach der Struktur der Atome. Hier führt die Entwicklung über die Atommodelle von Joseph John Thomson und Ernest Rutherford zu Niels Bohr und Arnold Sommerfeld, wobei Bohr erstmals erfolgreich die Idee des Quants auf die Atomstruktur anwendet (III. 1. b). Zwischen den Jahren 1925 und 1927 formulieren dann Physiker in Dänemark (Bohr), Deutschland (Born, Heisenberg, Jordan und Pauli), England (Dirac) und Österreich (Schrödinger) jeweils gleichwertige mathematische Konzepte, in denen die bisherige „ältere“ Quantentheorie neu begründet und die oben genannten Entwicklungslinien zusammengeführt werden können (III. 2.). 43 G. L. Trigg, Experimente der modernen Physik, 4. 182 1. Die ältere Quantentheorie (1900 bis 1924) a) Was ist unter Licht physikalisch zu verstehen? Um die Wende zum 19. Jahrhundert gelingt es zunächst dem französischen Physiker Augustin Jean Fresnel und etwas später dem englischen Physiker und Arzt Thomas Young verschiedene optische Erscheinungen – darunter die Beugung am Doppelspalt44– mit Hilfe der Wellentheorie des Lichts überzeugend zu deuten. Wie unangefochten diese Theorie noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts vertreten wird, belegt eine Feststellung von Heinrich Hertz auf der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Heidelberg im Jahr 1889. Auf die von ihm selbst gestellte Frage, was unter „Licht“ physikalisch zu verstehen sei, antwortet er: „Seit den Zeiten Youngs und Fresnels wissen wir, daß es [sc. das Licht] eine Wellenbewegung ist. Wir kennen die Geschwindigkeit der Wellen, wie kennen ihre Länge, wir wissen, daß es Transversalwellen sind; wir kennen mit einem Wort die geometrischen Verhältnisse der Bewegung vollkommen. An diesen Dingen ist ein Zweifel nicht mehr möglich, eine Widerlegung dieser Anschauungen ist für den Physiker undenkbar. Die Wellentheorie des Lichtes ist, menschlich gesprochen, Gewißheit [...].“45 Neben dem sichtbaren Licht ist seit dem 18. Jahrhundert auch die Wärmestrahlung noch nicht leuchtender Körper bekannt, die wie das Licht spektral aufgefächert werden kann. Aber die Versuche – insbesondere von Wien (1896) und Rayleigh (1900) – die spektrale Energieverteilung dieser Strahlung korrekt wiederzugeben, führen zu offensichtlichen Widersprüchen. Dies scheint darauf hinzuweisen, daß der Ausstrahlungsmechanismus dieser Strahlung, mit den Mitteln der klassischen Physik nicht beschrieben werden kann. Der Physiker Hendrik Antoon Lorentz veranschaulicht die Widersprüche, zu der die damaligen Lösungsansätze führen, indem er scherzhaft feststellt: „Die Gleichungen der klassischen Physik sind unfähig zu erklären, weshalb ein erlöschender Ofen nicht auch neben der Wärmestrahlung gelbes Licht aussendet.“46 Der Tag, an dem Max Planck in einer Sitzung der Berliner Physikalischen Gesellschaft die korrekte Strahlungsformel vorstellt, der 14. Dezember 1900, wird oft als die Geburtsstunde der Quantentheorie bezeichnet. Der Grund dafür ist, daß Planck seine Formel nur unter Voraussetzung einer Konstanten h ableiten kann. Dieses „Wirkungsquantum h“, bezeichnet die kleinste Wirkung, die in einem mikroskopischen Prozeß auftreten kann, und bedeutet in Plancks Formel, daß die Strahlung in „Energiepaketen“ – also gequantelt – erfolgt. Damit ist das von Newton und Leibniz geforderte Kontinuitätsprinzip erstmals durchbrochen. Obzwar der Name der „Quantentheorie“ auf dieses 44 Vgl. 5. Kap. IV. vorliegender Arbeit. H. Hertz, Über sehr schnelle elektrische Schwingungen, 98. Hertz führt hier des weiteren aus, daß das, was aus der Wellentheorie mit Notwendigkeit folge, damit ebenfalls Gewißheit sei: „Es ist also auch gewiß, daß aller Raum, von dem wir Kunde haben, nicht leer ist, sondern erfüllt mit einem Stoffe, welcher fähig ist, Wellen zu schlagen, dem Äther“ (ebd.). 46 Zit. in: W. Schreier u. a., Geschichte der Physik, 333. 45 183 Wirkungsquantum zurückgeht, ist sich Planck damals noch keineswegs dieser Konsequenzen bewußt und versucht im Gegenteil die später nach ihm benannte Konstante auf der Grundlage der herkömmlichen Physik zu verstehen. Lange Zeit bleibt Planck gegenüber der Quantentheorie skeptisch eingestellt und schreibt später in seiner wissenschaftlichen Autobiographie: „Meine vergeblichen Versuche, das Wirkungsquantum irgendwie der klassischen Theorie einzugliedern, erstreckten sich auf eine Reihe von Jahren und kosteten mich viel Arbeit. Manche Fachgenossen haben darin eine Art Tragik erblickt. Ich bin darüber anderer Meinung. Denn für mich war der Gewinn, den ich durch solch gründliche Aufklärung davontrug, um so wertvoller. Nun wußte ich ja genau, daß das Wirkungsquantum in der Physik eine viel bedeutendere Rolle spielt, als ich anfangs geneigt war anzunehmen [...].“47 Zurecht bezeichnet Emilio Segrè Planck darum als einen „Revolutionär wider Willen“48. Das Scheitern aller Versuche, die neue Konstante in die klassische Theorie einzupassen, läßt aber schließlich auch für Planck keinen Zweifel mehr daran zu, daß die Physik auf eine neue Grundlage gestellt werden muß. Wenn seine Ableitung des Strahlungsgesetzes nicht nur „inhaltsleere Formelspielerei“ sein sollte, „dann mußte das Wirkungsquantum in der Physik eine fundamentale Rolle spielen, dann kündigte sich mit ihm etwas ganz Neues, bis dahin Unerhörtes an, das berufen schien, unser physikalisches Denken, welches seit der Begründung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton sich auf der Annahme der Stetigkeit aller ursächlichen Zusammenhänge aufbaut, von Grund aus umzugestalten“49. Ehe diese fundamentale Bedeutung des Wirkungsquantums voll erkannt wird, bedarf es noch weiterer Arbeiten. Wieder ist es Einstein, der einen wichtigen Schritt zur Entwicklung der Quantentheorie beiträgt, indem er 1905 – also im gleichen Jahr, in dem er auch die spezielle Relativitätstheorie vorlegt – eine Arbeit zur Deutung des „lichtelektrischen Effektes“ veröffentlicht. Ausgehend von Plancks Strahlungsformel untersucht Einstein „ob auch die Gesetze der Erzeugung und Verwandlung des Lichtes so beschaffen sind, wie wenn das Licht aus derartigen Energiequanten bestünde“50. Unter der Voraussetzung, daß bei Licht eine derartige korpuskulare oder gequantelte Struktur berücksichtigt wird, präsentiert Einstein in der genannten Arbeit ein einfaches Modell für die Wechselwirkung von Licht mit Atomen. Dafür – und nicht etwa für seine Relativitätstheorie! – verleiht die Schwedische Akademie Einstein im Jahr 1921 den Nobelpreis. Die Entwicklungslinie der Quantentheorie, die über die Frage nach der physikalischen Natur des Lichts läuft, tritt dann aber vorübergehend zurück. Entscheidende Impulse erhält die Quantentheorie nun im Zusammenhang mit der Frage nach der Atomstruktur. 47 48 49 50 M. Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, 18. E. Segrè, Die großen Physiker, Bd. 2, 71. M. Planck, Die Entstehung und bisherige Entwicklung der Quantentheorie, 131. Zit. in: E. Segrè, Die großen Physiker, Bd. 2, 99. 184 b) Wie ist das Atom gebaut? Nachdem sich die Atomhypothese in der Chemie bestens bewährt und allmählich auch von Physikern übernommen wird, bewegt um die Wende zum 20. Jahrhundert die Frage nach der Struktur dieser Atome die physikalische Forschung. Bekannt ist zunächst nur, daß ein Atom aus einem vergleichsweise schweren (positiv geladenem) Anteil und mehreren (negativ geladenen) Elektronen besteht. Über die innere Struktur der Atome gibt es zu dieser Zeit aber nur sehr vage und ganz unterschiedliche Vorstellungen. Joseph John Thomson präsentiert im Jahr 1902 beispielsweise ein Atommodell, bei dem im kugelförmigen Atom die positiv geladene Masse kontinuierlich verteilt ist und die Elektronen darin eingebettet sind. Experimentelle Untersuchungen lassen dagegen Ernest Rutherford im Jahr 1909 ein Atommodell favorisieren, das einem Planetensystem en miniature ähnelt. Die Elektronen umkreisen demnach einen sehr kleinen positiven Atomkern, in dem dennoch fast die gesamte Masse des Atoms vereinigt ist. Nach den Gesetzen der klassischen Physik wäre dieses Atommodell allerdings instabil, da die Elektronen auf ihren Bahnen Strahlungsenergie abgeben und darum nach kurzer Zeit in den Kern stürzen müßten. Im 19. Jahrhundert hatte sich die „Spektralanalyse“ als ein eigener Forschungsbereich etabliert: das Licht, genauer die Spektrallinien, die von verschiedenen Stoffen ausgesendet werden, dienen zur chemischen Analyse dieser Stoffe. Außerdem erhofft man sich zu dieser Zeit aus der Spektralanalyse auch Rückschlüsse auf die Struktur der Licht emittierenden Atome. Umgekehrt muß ein Atommodell die bei der Spektralanalyse beobachteten Lichtemissionen erklären können. Doch dies gelingt auf der Grundlage der bis dahin vorgelegten Atommodelle noch nicht einmal für den einfachsten Fall des Wasserstoffatoms. Im Jahr 1911 organisiert Walther Nernst, der selbst das Phänomen der spezifischen Wärme erfolgreich auf der Grundlage des Quantenkonzepts untersucht, eine internationale Konferenz, auf der die führenden Physiker über die fraglich gewordenen Grundlagen ihrer Wissenschaft diskutieren sollen. Auf diesem ersten „Solvay-Kongreß“ erregt die Quantenidee großes Aufsehen und scheint verschiedene Physiker dazu zu bewegen, das Wirkungsquantum nun auch in die Erklärung des Atombaus miteinzubeziehen. Nachdem sich Niels Bohr im Jahr 1912 während eines Studienaufenthaltes bei Rutherford mit dessen Atommodell auseinandergesetzt hat, legt er ein Jahr später eine eigenes Modell vor, das mit den bisherigen klassischen Vorstellungen radikal bricht. Bohr postuliert für die Struktur des Atoms: w Die Elektronen dürfen – anders als Planeten in unserem Sonnensystem – nur auf bestimmten Bahnen um den Atomkern kreisen. w Die Elektronen dürfen – in offenem Widerspruch zur klassischen Theorie – auf diesen Bahnen nicht strahlen. 185 w Elektronen können von einer äußeren zu einer weiter innen gelegenen Bahn springen. Mit der dabei frei werdenden Energie strahlen sie ein Lichtquant ab. In die Berechnung der Frequenz (Farbe) dieses Lichtquants geht das Wirkungsquantum h ein. Bohr wendet also die Plancksche Quantenidee auf die Struktur des Atoms an und kann so erstmals die Spektrallinien des Wasserstoffatoms korrekt berechnen. Bohr schreibt denn auch durchaus zuversichtlich: „Diese Postulate, die sich einer Deutung mittels der klassischen Vorstellungen entziehen, scheinen eine geeignete Grundlage für die allgemeine Beschreibung der physikalischen und chemischen Eigenschaften der Elemente darzubieten. Im besonderen findet durch sie ein grundsätzlicher Zug der empirischen Gesetzmäßigkeit der Spektren eine unmittelbare Deutung.“51 Doch obgleich Sommerfeld das Bohrsche Atommodell in den folgenden Jahren noch verbessert, kann damit die Struktur etwas komplizierter gebauter Atome nicht befriedigend erklärt werden. Zwar sind sich die meisten Atomphysiker darin einig, daß die Probleme des Atombaus mit Hilfe der klassischen Physik nicht mehr gelöst werden können, aber zugleich fehlt der Quantenphysik der damaligen Zeit offensichtlich noch ein theoretisches Gesamtkonzept, in das die bisherigen quantenphysikalischen Entdeckungen sinnvoll eingeordnet werden können: „Es festigte sich die Überzeugung, daß man in der Quantenphysik nicht über einen weiteren kontinuierlichen Ausbau der vorliegenden Theorien, sondern nur mit prinzipiell neuen theoretischen Ansätzen vorwärts kommen könne.“52 Dies gelang Werner Heisenberg im Jahr 1925. 2. Die neuere Quantentheorie a) Von den Materiewellen zur Wellenmechanik Aufgrund der anfänglichen Erfolge der Bohr-Sommerfeldschen-Atomtheorie konzentrierte sich die quantentheoretische Forschung zunächst vor allem auf Fragen im Zusammenhang mit dem Atombau; die Lichtquantenhypothese rückte demgegenüber vorübergehend in den Hintergrund. Um das Jahr 1923 beschäftigt die Physiker nach den Worten von Louis de Broglie aber wieder das Rätsel, „für das Licht zwei einander widersprechende Theorien gelten zu lassen“53: die nach wie vor unverzichtbare Wellentheorie des Lichts und die – im Jahr 1922 durch Arthur Compton erneut experimentell bestätigte – Lichtquantenhypothese. Licht sei lange Zeit zu unrecht als reine Wellenerscheinung gedeutet worden, denn jetzt zeige sich, daß sie auch als Teilchenstrahlung aufgefaßt werden müsse, resümiert der junge Physiker 51 52 53 N. Bohr, Atomtheorie und Mechanik, 694. W. Schreier u. a., Geschichte der Physik, 339. L. de Broglie, Die Wellennatur des Elektrons, 669. 186 Louis de Broglie in seiner Dissertation und fragt, warum sich nicht umgekehrt bei Materieteilchen der Wellenbegriff bewähren sollte. Rückblickend schreibt de Broglie über seine damalige Entdeckung: „So bin ich zu folgender Gesamtidee gelangt, die meine Forschungen geleitet hat: sowohl für die Materie wie für die Strahlungen, insbesondere für das Licht, ist es geboten, den Korpuskel- und den Wellenbegriff gleichzeitig einzuführen. Mit anderen Worten, man muß in beiden Fällen die Existenz von Korpuskeln annehmen, die von Wellen begleitet werden.“54 Im Jahr 1927 wird denn auch tatsächlich die Wellennatur von Elektronen experimentell bestätigt; darüber hinaus hatte Erwin Schrödinger schon ein Jahr zuvor anknüpfend an die Arbeiten von de Broglie eine Abhandlung veröffentlicht, die eine „Wellengleichung der Materie“ und damit eine Verallgemeinerung des de Broglieschen Materiewellenkonzepts enthält. Angewandt zum Beispiel auf das Wasserstoffatom ergibt diese „Schrödinger-Gleichung“ dieselben Ergebnisse für das Emissionsspektrum des Atoms wie das oben erwähnte Bohrsche Atommodell. Vielen Physikern scheint damals im Anschluß an die Wellenmechanik Schrödingers wieder eine Integration der bisherigen „Quantenphysik“ in klassische Vorstellungen denkbar. Wenn sich schon das Elektron als kontinuierlich über das ganze Atom verteilte Welle verstehen läßt, warum dann nicht auch die Strahlung, insbesondere Licht? Also doch keine „Quantentheorie“, nicht einmal ein „Welle-Teilchen-Dualismus“, sondern ein mit der bewährten klassischen Kontinuumsphysik vereinbarer Wellenmonismus? Schrödinger selbst leistet diesbezüglichen Deutungen seiner Gleichung Vorschub durch seine äußerst skeptische Einstellung gegenüber Vorstellungen, „daß im Naturlauf wirklich etwas Unstetiges, Sprunghaftes steckt, daß von dem alten Satze: natura non facit saltum das genaue Gegenteil wahr sei: natura facit nil nisi saltus – die Natur macht überhaupt gar nichts anderes als unstetige Sprünge.“55 Auch gegenüber allen dualistischen Überlegungen äußert sich Schrödinger zunehmend ablehnend, da „ehrliche Überzeugung lehrt, daß ein wirklich existierendes Ding unmöglich zugleich ein Massenpunkt und ein Wellenzug sein kann“56. Schrödinger verfolgt bis zu seinem Tod die Idee einer einheitlichen Wellentheorie, die als physikalische Realität nur Wellen anerkennt und zugleich damit behauptet, daß jeder Tatbestand in der Physik mit Hilfe der Wellenvorstellung beschrieben werden kann. – Gegen Schrödingers Mathematik ist nichts einzuwenden; doch bald erweist sich, daß seine sehr anschauliche Interpretation der „Wellengleichung der Materie“ keinen Bestand haben sollte.57 54 A.a.O., 670. E. Schrödinger, Die Wandlung des physikalischen Weltbegriffs, 606. 56 A.a.O., 601. 57 Zur Kritik der Interpretation E. Schrödingers vgl. M. Born, Die Interpretation der Quantenmechanik, 132–144. 55 187 b) Vorläufige Vollendung der Quantentheorie Obwohl Max Born „Schrödingers Wellenmechanik für eine der bewundernswertesten Leistungen in der Geschichte der theoretischen Physik“58 hält, arbeitet er gemeinsam mit Bohr, Heisenberg, Pauli, Jordan und Dirac in einer anderen Richtung. Für diese Physiker hat sich die bisherige Quantenphysik trotz ihrer inneren Widersprüche schon so gut bewährt, daß sie sich mit einer Wellentheorie à la Schrödinger nicht mehr zufriedengeben können. Aber sie erkennen, daß in der „atomaren Teilchenphysik“ grundsätzlich neue Gesetze gefunden werden müssen und nicht einfach nur die klassischen Gesetze verallgemeinert oder modifiziert werden dürfen. Im Zusammenhang mit dem klassischen Rutherfordschen Atommodell, aber auch noch beim „halbklassischen“ Bohrschen Atommodell spricht man durchaus unbekümmert von Bahnen, Örtern oder Umlauffrequenzen der Elektronen – obgleich diese Größen nicht beobachtet werden können. Im Unterschied dazu fordert Werner Heisenberg ganz im Sinne des Machschen Ökonomieprinzips nunmehr eine „Physik, in der nur die beobachtbaren Größen eine Rolle spielen sollten“59, das heißt, nur meßbare Folgen atomarer Prozesse sollen der Quantentheorie zugrundegelegt werden. Gemeinsam entwickeln nun Born, Heisenberg, Jordan und Pauli für die „Quantenmechanik“ im Atom neue Regeln, die sich grundlegend von der klassischen Mechanik unterscheiden. Die wenig später von Heisenberg vorgelegte „Unbestimmtheitsrelation“ liefert dann die theoretische Begründung dafür, warum die klassischen Begriffe (Bahn, Ort usw.) im atomaren Bereich keine beobachtbare Entsprechung mehr haben. Auf diese Weise werden innnerhalb kurzer Zeit und unabhängig voneinander zwei unterschiedliche Arten von „Mechanik im atomaren Bereich“ entwickelt: die Wellenmechanik (de Broglie, Schrödinger) und die Quantenmechanik. Über die mathematische Äquivalenz beider Theorien, die Schrödinger bereits im Jahr 1926 zeigen kann, sind sich die Physiker schnell einig. Die wichtigsten theoretischen Grundlagen der Quantentheorie, die ab dem Jahr 1927 eine Flut von Anwendungen ermöglichen, liegen damit vor. Nun leistet allerdings mit den Worten von Max Born „ein mathematischer Formalismus [...] ganz wunderbare Dienste in der Beschreibung komplizierter Dinge, ohne jedoch viel zu einem wirklichen Verständnis der Vorgänge beizutragen“60. Dieses „wirkliche Verständnis der Vorgänge“ betrifft die Interpretation des mathematischen Formalismus der Quantentheorie, und gerade diese ist bis heute unter Physikern umstritten – und gleichwohl in der Praxis der Forschung „kein Thema“. 58 59 60 M. Born, a.a.O., 135. W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 77. M. Born, Philosophische Betrachtungen zur modernen Physik, 46. 188 IV. Der experimentelle Befund: Versuche am Doppelspalt 1. Der exemplarische Charakter der Doppelspaltexperimente In der Geschichte der Quantentheorie spielt die Diskussion um die Deutung sogenannter „Doppelspaltexperimente“ eine wichtige Rolle. So erläutern etwa Bohr, Heisenberg und Jordan zentrale Gedanken der Quantentheorie mit Hilfe dieses Doppelspaltexperiments.61 Berühmt geworden ist insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Bohr, Ehrenfest, Einstein und anderen Physikern auf dem fünften Physikalischen Kongreß des Solvay-Institutes in Brüssel im Jahr 1927. Einstein tritt dabei als skeptischer Kritiker der Quantentheorie auf und gibt – wie Bohr berichtet – seiner „tiefen Besorgnis darüber Ausdruck, daß in der Quantenmechanik von einer kausalen Beschreibung in Raum und Zeit so weitgehend Abstand genommen wurde“62. Einstein vertritt im Gegensatz zur Mehrheit seiner Kollegen die Ansicht, daß die quantenmechanische Betrachtungsweise nicht vollständig sei und die Analyse darum weitergetrieben werden müsse.63 Da zentrale Aspekte der Quantentheorie und die dabei entstehenden erkenntnistheoretischen Probleme mit Hilfe der „Doppelspaltexperimente“ verdeutlicht werden können, sollen diese Versuche hier kurz vorgestellt werden. Zuerst werden dazu Doppelspaltexperimente mit klassischen Teilchen, daran anschließend mit klassischen Wellen (IV. 2. und 3.) und schließlich mit Quantenobjekten (IV. 4.) skizziert. Das unterschiedliche Verhalten von „klassischen Teilchen“ (wie zu Beispiel Tennisbällen, Gewehrkugeln, Farbtröpfchen ...) und „klassischen Wellen“ (wie etwa Wasser- oder Schallwellen) einerseits und Quantenobjekten (wie zum Beispiel Licht oder Elektronen) andererseits zeigt exemplarisch das grundsätzlich Neue der Quantentheorie gegenüber der klassischen Physik. 64 In diesem Abschnitt wird nur eine Beschreibung der entsprechenden Experimente gegeben und noch so weit als möglich auf eine Interpretation verzichtet. Wenn dann im folgenden Kapitel diese Experimente physikalisch gedeutet werden, zeigt sich, daß diese Interpretation keineswegs eindeutig ist, sondern einen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen läßt. 61 Vgl. W. Heisenberg, Physik und Philosophie, 34f; P. Jordan, Atom und Weltall, 82–85; N. Bohr, Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, 93–110. 62 N. Bohr, a.a.O., 93f. 63 Vgl. a.a.O., 95. 64 Vgl. dazu die übersichtlichen Darstellungen in F. Bader/F. Dorn, Physik, 296–325, insbes. 311f, und W. Kuhn, Physik, Bd. 2, 293–307, insbes. 295f. 189 2. Doppelspaltexperiment mit klassischen Teilchen65 Als Beispiel für den trivialen Fall klassischer Teilchen können kleine Farbtröpfchen dienen. Zur Durchführung des entsprechenden Experiments denke man sich eine Farbspraydose, eine Platte mit zwei schmalen Spaltöffnungen und dahinter eine Wand, auf der die Farbtröpfchen, die durch die Spalte gesprüht werden, aufgefangen werden und dort einen Farbfleck bilden. Ein Farbtröpfchen kann selbstverständlich nur durch den einen oder den anderen Spalt fliegen (vgl. Abbildung 3 unten). Im ersten Versuch wird nun der linke Spalt verdeckt, so daß nur durch den rechten Spalt Farbtröpfchen fliegen können. Im zweiten Versuch wird dagegen der rechte Spalt verdeckt, und im dritten Versuch bleiben schließlich beide Spalte geöffnet. Es ergibt sich folgendes Intensität Abbildung 3 (beide Spalte offen) Doppelspaltexperiment mit Resultat: Beim dritten klassischen Teilchen (schematisch) Versuch erhält man III erwartungsgemäß eine Farbverteilung auf der Intensität (je ein Spalt offen) Wand, die der ÜberlaII I gerung der Farbverteilung des ersten und Wand zweiten Versuch entspricht (vgl. Abbill r Platte mit 2 Spalten dung 3 oben). Offensichtlich ist es demnach Farbspraydose für den Bahnverlauf eines Farbtröpfchens, das durch den linken Spalt fliegt, gleichgültig, ob der andere Spalt geöffnet oder geschlossen ist. 3. Doppelspaltexperiment mit klassischen Wellen Als Beispiel für klassische Wellen eignen sich bei diesem Experiment Wasserwellen; die entsprechenden Versuche können leicht in einer Wellenwanne durchgeführt werden. Als Wellenerreger dient dabei ein Stift, der periodisch in die Wasseroberfläche eintaucht und dadurch kreisförmige Wellenberge und Wellentäler erzeugt, die von der Erregerstelle weglaufen. Diese Wellenberge und -täler treffen auf eine Trennplatte mit zwei schmalen Spalten. Hinter jeder Spaltöffnung bilden sich wieder neue, kreisförmig auseinanderlaufende Wellenberge und -täler (vgl. Abb. 4). Die an der Wand ankommenden Wellen haben dort eine unterschiedliche Amplitude, das heißt die Wellenberge sind an verschiedenen Stellen der Wand unterschiedlich hoch und haben damit auch eine unterschiedliche Inten65 Vgl. Bader/F. Dorn, a.a.O., 311, und W. Kuhn, a.a.O., 296. 190 sität. Kurve I gibt die ungefähre Intensitäts- Abbildung 4 Intensität (beide Spalte offen) mit verteilung wieder, Doppelspaltexperiment klassischen Wellen (schematisch) wenn nur der rechte III Spalt geöffnet ist (erster Intensität Versuch), Kurve II gibt (je ein Spalt offen) die Intensitätsverteilung II I an, sofern nur der linke Spalt geöffnet ist Wand (zweiter Versuch). l r Wenn beide Spalte Platte mit 2 Spalten geöffnet sind (dritter Versuch), ergibt sich Wellenerreger hier nicht die Summe der Intensitäten des ersten und des zweiten Versuchs, sondern die in Kurve III wiedergegebene Intensität. Der Grund dafür ist, daß sich die von den beiden Spalten ausgehenden Kreiswellen gegenseitig überlagern (Interferenz). Dadurch kommt es in einigen Richtungen zur Verstärkung (Wellenberge treffen auf Wellenberge, Wellentäler auf Wellentäler) in anderen Richtungen zur Schwächung oder gar zur Auslöschung (Wellentäler treffen auf Wellenberge, Wellenberge auf Wellentäler). Auf die hier beschriebene Art kann die klassische Physik das Verhalten von Teilchen (vgl. Abb. 3) beziehungsweise von Wellen (vgl. Abb. 4) am Doppelspalt erklären. Umgekehrt formuliert: was sich entsprechend Abbildung 3 verhält, wird im Rahmen der klassischen Physik als Teilchen, was sich dagegen entsprechend Abbildung 4 verhält, wird als Welle identifiziert. Wie schon erwähnt, gilt insbesondere Licht im 19. Jahrhundert als eine Wellenerscheinung. 4. Doppelspaltexperimente mit Licht und anderen Quantenobjekten Im folgenden Experiment trifft (Laser-)Licht66 auf einen Schirm mit zwei sehr schmalen parallelen Spalten. Jeder der beiden Spalte ist wieder einzeln abdeckbar. Hinter dem Schirm steht in einigem Abstand als Wand eine feinkörnige Photoplatte. Ganz entsprechend zu den bisherigen Versuchen ist im ersten Versuch wieder der linke und im zweiten Versuch der rechte Spalt verdeckt und sind im dritten Versuch beide Spalte geöffnet. Es ergeben sich folgende Resultate (vgl. Abb. 5): 66 Im Jahr 1961 kann C. Jönsonn nachweisen, daß sich die im folgenden mit Lichtquanten beschriebenen Versuche in entsprechender Weise mit Elektronen durchführen lassen. Inzwischen wird auch erfolgreich mit Neutronen am Doppelspalt experimentiert, vgl. A. Zeilinger, Fundamentale Experimente mit Materiewellen, 73–76. 191 w Die bei den drei Versuchen entstehende Verteilung auf der Photoplatte setzt sich jeweils aus einzelnen, unregelmäßig verteilten geschwärzten Punkten zusammen. w Die Verteilung, die beim dritten Versuch entsteht, entspricht nicht der Überlagerung der Verteilungen aus den beiden ersten Versuchen. w Die Verteilung der geschwärzten Punkte auf der Photoplatte beim dritten Versuch hat die gleiche Struktur, wie die Verteilung beim Doppelspaltversuch mit klassischen Wellen (vgl. Abb. 4). Dieses hier nur Intensität Abbildung 5 schematisch beschrie- Doppelspaltexperiment mit (beide Spalte offen) Laserlicht (schematisch!) bene Experiment wirft III verschiedene Fragen auf: Der dritte Versuch Intensität (je ein Spalt offen) beim DoppelspaltexpeII I riment mit Laserlicht scheint darauf hinzudeuten, daß es sich bei Photoplatte Licht um eine Welle l r Schirm mit 2 Spalten handelt. Wie klassische Wellen würden Laserquelle sich demnach die von den beiden Spalten ausgehenden Lichtwellen an einigen Stellen der Wand (Photoplatte) verstärken und an anderen schwächen, bzw. ganz auslöschen. Damit ließe sich zwanglos erklären, warum einzelne Stellen, auf die bei einem geöffneten Spalt Licht fallen konnte, bei beiden geöffneten Spalten dunkel bleiben. – Wie paßt die Vorstellung von Licht als Welle aber zu der Beobachtung, daß sich die Verteilung aus einzelnen Punkten zusammensetzt? Deutet dies nicht auf eine teilchenartige Natur des Lichts hin? Überlagern sich die „Lichtteilchen“ im dritten Versuch dann aber etwa mit sich selbst? Soll man sich denn vorstellen, daß ein Teilchen durch beide Spalte zugleich geht, sich dann mit sich selbst überlagert und so sich selbst verstärkt oder schwächt? Der erste und der zweite Versuch scheinen dagegen zunächst eher darauf hinzudeuten, daß es sich bei Licht doch – wie schon Newton geneigt ist anzunehmen – um einzelne Teilchen (Photonen, Quanten) handelt. Demnach zeigen die einzelnen geschwärzten Körner auf der Photoplatte die scharf lokalisierten Orte, wo ein einzelnes „Lichtteilchen“ aufgetroffen ist. – Aber warum verhalten sich diese Lichtquanten dann bei dritten Versuch nicht auch wie klassische Teichen? Warum ergibt sich als Gesamtverteilung nicht die Überlagerung der Verteilungen aus den ersten beiden Versuchen? Warum treffen insbesondere an einigen Stellen, an denen bei nur einem geöffneten Spalt Teilchen auftrafen, bei zwei geöffneten Spalten keine Teilchen mehr auf? Warum sollte es einem „Lichtteilchen“, das durch den linken Spalt fliegt, 192 nicht gleichgültig sein, ob der rechte Spalt geöffnet oder geschlossen ist? Wenn aber gar nicht zu klären sein sollte, ob ein Lichtteilchen durch einen oder beide Spalte zugleich fliegt – darf man dann überhaupt noch von einer „Bahn“ dieser „Teilchen“ sprechen? Und weiter: Ist das Auftreffen jedes einzelnen „Teilchens“ determiniert oder zufällig? Was determiniert die sich ergebende Struktur der gesamten Verteilung? Sind der Physik überhaupt alle Bedingungen und Voraussetzungen bekannt, die eine befriedigende Erklärung des beschriebenen experimentellen Befundes erlauben? Das Resultat der Doppelspaltversuche mit Licht, Elektronen, Neutronen oder anderen Quantenobjekten stellt eine Zumutung für unsere Vorstellungskraft dar. Man kann sich an das „Verhalten“ der Quantenobjekte nach und nach gewöhnen, so daß es einem mit der Zeit als selbstverständlich erscheint. Aber es ist unmöglich, damit anschauliche Vorstellungen zu verbinden. Eine „anschauliche“ Erklärung quantenphysikalischer Experimente gibt es nicht. In diesem Sinne heißt es in einem Lehrbuch zur Quantentheorie, der Schlüssel zum Verständnis dieser Experimente bestehe „in einer Abkehr von der verbreiteten Praxis, sich vom ‚gesunden Menschenverstand‘ auch außerhalb solcher Gebiete leiten zu lassen, in denen er sich herausgebildet [habe]“ 67. Die uns so anschaulich erscheinende Physik Newtons und Maxwells kann diese Experimente nicht mehr erklären. Jürgen Audretsch beschreibt die Konsequenz, die die Physiker im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aus diesem überraschenden Befund ziehen: „Da sich die massiven Quantenobjekte so manifest anders verhalten, als wir es von Punktteilchen gewohnt sind, werden wir uns dazu berechtigt fühlen, von völlig neuen theoretisch-physikalischen Konzepten auszugehen und eine Theorie zu diskutieren, die sowohl mathematisch wie in der Interpretation nur noch wenig Ähnlichkeit mit der Klassischen Mechanik aufweist. Diese neue Theorie für den Quantenbereich ist die Quantenmechanik.“68 67 68 G. L. Trigg, Experimente der modernen Physik. Schritte zur Quantenmechanik, 3. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 24. 193 Sechstes Kapitel: Aspekte der Quantentheorie und ihrer Deutung Im Anschluß an das im vorangegangenen Kapitel beschriebene Doppelspaltexperiment lassen sich nun zentrale Aspekte der Quantenphysik noch einmal verdeutlichen. Ausgehend vom sogenannten Welle-Teilchen-Dualismus (I.) werden dazu im folgenden kurz die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation und ihre Deutung erläutert (II.), die Eigenart des quantenmechanischen Meßprozesses skizziert (IV.) und der quantentheoretische Indeterminismus vorgestellt (IV.). Dabei ist zu berücksichtigen, daß die hier getrennt beschriebenen Aspekte aufeinander verweisen und im Zusammenhang miteinander zu betrachten sind. Darüber hinaus zeigt sich, daß der experimentell bewährte und in sich stimmige Formalismus der Quantentheorie gleichwohl einen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels befaßt sich mit der Diskussion um die Vollständigkeit der Quantentheorie und begründet, warum mit dieser Theorie trotz ihrer unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, eine Rückkehr zu der Wirklichkeitsvorstellung, die meist mit der klassischen Physik verbundenen wurde, heute definitiv ausschlossen werden muß (V.). I. Welle-Teilchen-Dualismus Der experimentelle Befund bei den Doppelspaltexperimenten zeigt, daß das Verhalten von Licht einmal dem von Wellen, ein andermal dem von Teilchen gleicht. Physiklehrbücher sprechen darum heute oft von einer „Doppelnatur“ des Lichts oder auch vom „Welle-Teilchen-Dualismus“. Bei der genaueren Beschreibung dieser Dualität finden sich in den gängigen Lehrbüchern allerdings erstaunliche Unterschiede: w Ein Teil der Autoren betont die Unentbehrlichkeit sowohl des Wellen- als auch des Teilchenmodells: „Beide Modelle sind unerläßlich, sie bedürfen der gegenseitigen Ergänzung.“1 Darum könne die Aufgabe „nicht eine Entscheidung zwischen ihnen, sondern nur deren Vereinigung sein“2: „Das Licht verhält sich wie eine Münze, die eine Vorder- und eine Rückseite hat. Erst beide Seiten zusammen ergeben ein Gesamtbild der Münze.“3 Licht sei ein Etwas, das sich der anschaulichen Beschreibung durch ein Modell 1 2 3 J. Schreiner, Physik, 212. A.a.O., 213. A.a.O., 212. 194 entziehe, darum müsse man „beide Modelle gleichzeitig nebeneinander benutzen“4. w Andere Autoren hingegen legen Wert darauf, daß Lichtquanten (Photonen) weder auf Bahnen fliegende klassische Korpuskeln noch Wellen mit kontinuierlicher Energieverteilung seien: „Photonen sind weder Welle noch Teilchen, sondern etwas Neues!“5 Dieses Neue wird dann verschiedentlich sogar mit einem eigenen Namen bedacht (Wavicle, Quanton).6 w Wieder andere Physiker kritisieren überhaupt das „Modelldenken“, wonach zur Beschreibung von Licht sich manchmal ein Teilchenmodell, manchmal dagegen ein Wellenmodell als zweckmäßig erweise, als eine „rudimentäre, simplifizierte Form“7 des Bohrschen Komplementaritätsgedankens (siehe unten). Bereits die hier zitierten unterschiedlichen Stellungnahmen deuten darauf hin, daß sich hinter dem Welle-Teilchen-Dualismus tatsächlich der „Kern des Interpretationsproblems der Quantenmechanik“8 verbirgt und daß die dadurch aufgeworfenen Probleme bis heute nicht abschließend gelöst sind. Bei den unterschiedlichen Deutungen des Welle-Teilchen-Dualismus zeigt sich insbesondere, daß die erkenntnistheoretische Frage nicht geklärt ist, worüber die Quantentheorie eigentlich spricht.9 Sind Welle und Teilchen ein mehr oder weniger angemessenes Modell der Wirklichkeit von Quantenobjekten? Sind sie nur eine verzichtbare Veranschaulichung eines unanschaulichen mathematischen Formalismus? Würde nicht eine in sich widerspruchsfreie mathematische Theorie genügen, in der alles enthalten ist, was mittels Experiment und Messung über die physikalische Wirklichkeit ausgesagt werden kann? Die gängigen (insbesondere auch die oben zitierten) Interpretationen des Dualismus gehen jedenfalls alle zurück auf die „Kopenhagener Deutung“10 der Quantentheorie, die Ende der zwanziger Jahre von Physikern um Niels Bohr entwickelt wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei der von Bohr eingebrachte und von Max Born und anderen aufgegriffene Gedanke der Komplementarität. Teilchen- und Wellenbild verhalten sich demnach komplementär zueinander: „Ebenso wie alle sichtbaren Farben in Paare von Komplementärfarben angeordnet werden können, die zusammen Weiß ergeben, so lassen sich alle physikalischen Vorgänge von zwei Standpunkten aus betrachten, deren einer der Partikelvorstellung, der andere der 4 O. Höfling, Physik, Bd. 2, 730. F. Dorn/F. Bader, Physik, 312; vgl. W. Kuhn, Physik, 298f. 6 Vgl. M. Stöckler, Neun Thesen zum Dualismus von Welle und Teilchen, 233. 7 K. Baumann/R. U. Sexl, Die Deutungen der Quantentheorie, 19, vgl. 6. 8 M. Stöckler, Neun Thesen zum Dualismus von Welle und Teilchen, 235. 9 Vgl. a.a.O., 235, 237. 10 Vgl. zur Interpretation der Kopenhagener Schule E. Scheibe, Die Kopenhagener Schule, 374–392, sowie ders., Die Kopenhagener Schule und ihre Gegner, 159–182. 5 195 Wellenvorstellung entspricht und die niemals miteinander in Widerspruch geraten, aber beide notwendig sind zum vollen Verständnis der Naturvorgänge.“ 11 Wellen- und Teilchenbild können nicht in Widerspruch geraten, weil ihre gleichzeitige Anwendung ausgeschlossen ist, sie also miteinander unvereinbar sind. Des weiteren bedürfen Wellen- und Teilchenbild aber nach der Kopenhagener Deutung der gegenseitigen Ergänzung „zum vollen Verständnis der Naturvorgänge“.12 Mit diesen Bildern will Bohr aber keineswegs simple Veranschaulichungen des mathematischen Formalismus geben; im Gegenteil ruft Bohr wiederholt in Erinnerung, „wie weit wir in der Quantentheorie außerhalb der Reichweite anschaulicher Bilder stehen“13. Die Tragweite der anschaulichen Vorstellungen, die mit dem Teilchen- und Wellenbild verbunden sind, läßt sich nur beurteilen, wenn man untersucht, inwieweit diese Bilder mit dem experimentellen Befund übereinstimmen und vom mathematischen Formalismus der Quantentheorie gedeckt sind. Dies führt weiter zur bekannten Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation. II. Die Unbestimmtheitsrelation 1. Im Experiment gleichzeitig unbeobachtbare Größen Läßt sich vielleicht durch ein Experiment entscheiden, ob das Lichtquant Welle oder Teilchen ist? Wenn das Lichtquant ein klassisches Teichen wäre, dann müßte sich beim Doppelspaltexperiment auch sein Weg durch die Versuchsanordnung – von der Lichtquelle bis zur Photoplatte – verfolgen lassen, das heißt, man müßte dem Lichtquant auch eine „Bahn“ zuschreiben können. Pascual Jordan diskutiert die Frage, auf welchem Weg das Lichtquant von der Lichtquelle auf die Photoplatte gelangt, und erläutert in diesem Zusammenhang, was mit der „Bahnvorstellung“ gefordert wäre: „Wir haben früher hervorgehoben, daß eine selbstverständliche Voraussetzung unserer klassischen Galilei-Newtonschen Mechanik in der Überzeugung liegt, daß ein physikalischer Körper nicht anders von einem Orte zu einem zweiten gelangen kann, als unter Durchlaufung einer stetig zusammenhängenden Bahn zwischen diesen Punkten.“ 14 11 M. Born, Philosophische Betrachtungen zur modernen Physik, 50. Demnach versteht die Kopenhagener Deutung die Quantentheorie als vollständige Theorie, das heißt: „1. Die Quantentheorie beschreibt die Wirklichkeit, nicht nur unsere Kenntnisse von ihr. [...] 2. Die Quantentheorie beschreibt die Wirklichkeit vollständig, eine kausale Ergänzung ist nicht möglich“ (H. Gärtner, Nicht-lokale Realität oder was ist Wirklichkeit? 69). – Vgl. dazu auch den 6. Kap. V. 13 N. Bohr, Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, 111. 14 P. Jordan, Atom und Weltall, 83. 12 196 Die exakte Beschreibung der Bahn eines Teilchens verlangt, daß man in jedem Ort zugleich auch einen Geschwindigkeits- und damit einen Impulsvektor exakt angeben kann. Ist dies nun bei einem Lichtquant möglich, kann man seinen individuellen Weg durch die Apparatur verfolgen? Kann man insbesondere entscheiden, ob ein Lichtquant durch den rechten oder durch den linken Spalt geflogen ist? Jordan schreibt dazu: „Wir können uns vornehmen, wirklich unbedingt erfahren zu wollen, durch welche Öffnung das Lichtquant hindurchgegangen ist. Dann aber müssen wir [...] darauf verzichten, eine Interferenz der beiden Strahlen zu erhalten. Denn wir können, wenn dies jetzt unsere Absicht ist, nichts wesentlich anderes machen, als etwa, daß wir ganz grob die eine der Schirmöffnungen zuschließen, um dann gewiß zu sein, daß ein durchgegangenes Lichtquant tatsächlich nur durch die andere Öffnung geflogen sein kann. Es gibt tatsächlich keine experimentelle Möglichkeit, uns irgendwie zu vergewissern, durch welche Öffnungen das Lichtquant hindurchgeflogen ist, ohne gleichzeitig die Bedingungen des Experimentes so abzuändern, daß die Interferenz der beiden Strahlen verhindert wird.“ 15 Zwingt man das Lichtquant, seinen Ort preiszugeben, indem man nur einen Spalt geöffnet hält, so ist zwar sein Durchgangsort bekannt, aber es verschwindet sofort das beim Doppelspaltexperiment typische Interferenzmuster auf dem Schirm, beziehungsweise auf der Photoplatte. Bleiben dagegen beide Spalte geöffnet, so bleibt zwar unbestimmt, wie das Lichtquant die Spalte passiert – welche „Bahn“ es durchläuft – aber es sind wieder die beschriebenen Interferenzmuster beobachtbar. Dies besagt aber, daß bei Doppelspaltexperimenten gerade die experimentellen Messungen nicht durchgeführt werden können, mit denen man nachweisen könnte, daß es sich bei einem Lichtquant um ein klassisches Teilchen handelt, das ein bestimmte nachvollziehbare Bahn durchläuft. Versucht man es dennoch, so ist es – wie von Jordan beschrieben – kein Doppelspaltexperiment mehr. Was Jordan hier für Lichtquanten feststellt, gilt grundsätzlich für alle Mikroobjekte, auch für Elektronen und für die vergleichsweise schweren Neutronen. Der Experimentalphysiker Anton Zeilinger schreibt bezüglich den im Jahr 1988 von ihm und anderen durchgeführten Experimenten mit Neutronen am Doppelspalt: „Wir haben [...] keinerlei Wissen darüber, welchen Spalt das Neutron passiert hat. Ja, wir können nicht einmal behaupten, daß wir wüßten, das Neutron sei mit Sicherheit nur durch einen der beiden Spalte oder durch beide Spalte gleichzeitig gegangen!“ 16 2. Begrenzte Anwendbarkeit anschaulicher Begriffe In eine Grundlegung der Quantentheorie, in der erklärtermaßen „nur die beobachtbaren Größen eine Rolle spielen sollten“17, darf aufgrund des gerade 15 16 17 A.a.O., 108. A. Zeilinger, Fundamentale Experimente mit Materiewellen und deren Interpretation, 74. W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 77. 197 beschriebenen experimentellen Befundes keine Kenntnis darüber eingehen, welchen der beiden Spalte das Quantenobjekt passiert hat. Sucht man das Phänomen der nicht gleichzeitigen Meßbarkeit bestimmter Observablen in der mathematischen Formulierung der Quantentheorie, so stößt man auf die Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation.18 Diese besagt insbesondere, daß es beispielsweise unmöglich ist, Ort und Impuls eines Teilchens gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit zu bestimmen. Mit Heisenbergs eigenen Worten in seiner berühmten Abhandlung aus dem Jahr 1927: „Im Augenblick der Ortsbestimmung [...] verändert das Elektron seinen Impuls unstetig. Diese Änderung ist um so größer, [...] je genauer die Ortsbestimmung ist. In dem Moment, in dem der Ort des Elektrons bekannt ist, kann daher sein Impuls nur bis auf Größen, die jener unstetigen Änderung entsprechen, bekannt sein; also je genauer der Ort bestimmt ist, desto ungenauer ist der Impuls bekannt und umgekehrt.“19 „Gäbe es Experimente“, so Heisenberg weiter, „die gleichzeitig eine ‚schärfere‘ Bestimmung vom p [Impuls] und q [Ort] ermöglichen [...], so wäre die Quantenmechanik unmöglich.“20 Nach Heisenbergs hier anklingender ursprünglichen Deutung der Unbestimmtheitsrelation wird das beobachtete System durch die Messung gestört („unstetige Änderung“), und die genaue Bestimmung der Lage eines Teilchens führt deshalb zu einer Unbestimmtheit seines Impulses. Demnach wäre der Impuls vor der Messung genauso bestimmt wie der Ort, nur wird er eben durch die Messung unstetig verändert. Die Deutung der Unbestimmtheitsrelation als Folge einer Störung des Systems durch Messung gibt Heisenberg später auf. Er betrachtet nunmehr die Unbestimmtheit – entsprechend der „Kopenhagener Deutung“ – als fundamentale Eigenschaft atomarer Systeme. Diese Unbestimmtheit gilt nicht nur für Elektronen sondern für alle Quantenobjekte, beispielsweise auch für Lichtquanten oder Neutronen. Mit herkömmlichen Meßfehlern hat die Unbestimmtheitsrelation nichts zu tun. Vielmehr gibt sie die mathematisch exakt bestimmten Grenzen an, die klassischen Begriffen wie zum Beispiel „Ort“, „Impuls“ oder „Bahn“, in der Mikrowelt gezogen sind. III. Quantenmechanischer Meßprozeß Beim klassischen Wurf eines Körpers kann durch eine geeignete Versuchsanordnung sowohl der Ort als auch die Geschwindigkeit des Körpers gleichzeitig exakt gemessen und damit die Bahn dieses Körpers beschrieben werden. Die Messungen selbst haben im Rahmen der klassischen Physik keinen 18 Vgl. dazu E. Scheibe, Die Kopenhagener Schule und ihre Gegner, 166–169. W. Heisenberg, Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, 481. 20 A.a.O., 485f. 19 198 Einfluß auf das jeweilige Versuchsergebnis. Dies gilt innerhalb der Quantentheorie nicht mehr. Entsprechend der Unbestimmtheitsrelation legt das jeweilige Experiment hier fest, ob Ort oder Geschwindigkeit (beziehungsweise Impuls) eines Quantenobjekts bestimmt werden kann. Bei einem Elektron können wir Ort und Geschwindigkeit nicht simultan beliebig genau bestimmen: „Je genauer wir den Ort bestimmen, desto ungenauer ist in diesem Augenblick die Geschwindigkeit bestimmbar und umgekehrt.“21 Damit kommt aber dem quantenmechanischen Meßprozeß selbst besondere Bedeutung zu: Sobald nach der Messung etwa der Ort des Quantenobjekts exakt bekannt ist, ist seine Geschwindigkeit (beziehungsweise sein Impuls) zu ebendiesem Zeitpunkt nicht exakt bekannt. Diese Aussage läßt sich – wie schon der Welle-Teilchen-Dualismus – bezüglich des Wirklichkeitsverständnisses der Physik unterschiedlich interpretieren: Sind vor der Messung Impuls und Ort nur unbekannt und zumindest für die heutige Quantentheorie unbestimmbar – oder sind sie tatsächlich unbestimmt, das heißt, ist der exakte Ort und Impuls nicht existent? Ist des weiteren nach der Messung des Ortes der Impuls nur unbekannt, weil er unbestimmbar – oder weil er unbestimmt ist? Sind alle diese Fragen für den Physiker überhaupt von Belang? Für Heisenberg und die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie findet während des Beobachtungsaktes ein Übergang vom Möglichen zum Faktischen statt. Man könne sagen, so schreibt Heisenberg, nachdem er seine „Störungstheorie“ aufgegeben hat, daß dieser „Übergang vom Möglichen zum Faktischen stattfindet, sobald die Wechselwirkung des Gegenstandes mit der Meßanordnung, und dadurch mit der übrigen Welt, ins Spiel gekommen ist. Der Übergang ist nicht verknüpft mit der Registrierung des Beobachtungsergebnisses im Geiste des Beobachters. Die unstetige Änderung [...] findet allerdings statt durch den Akt der Registrierung; denn hier handelt es sich um die unstetige Änderung unserer Kenntnis im Moment der Registrierung [...].“22 Für Jürgen Audretsch, der in seiner Darstellung der Quantentheorie strikt zwischen dem mathematischen Formalismus und seiner Deutung unterscheiden will, drückt die Unbestimmtheitsrelation in Bezug auf ein Quantenobjekt aus, „daß diesem Objekt vor einer Messung im allgemeinen weder die Eigenschaft Ort noch die Eigenschaft Impuls zugesprochen werden kann. Es handelt sich also – so werden wir interpretieren – um Unbestimmtheit im Sinne von Abwesenheit und nicht um die Unschärfe einer an sich vorhandenen Eigenschaft.“23 Audretsch betrachtet (interpretiert) es darum als eine Konsequenz aus der Unbestimmtheitsrelation, daß ein Quantenobjekt vor der Messung im allgemeinen weder einen definierten Ort noch einen definierten Impuls hat. Erst nach der Messung liegt dann eine dieser Eigenschaften fest, wohingegen die jeweils andere völlig unbestimmt, das heißt abwesend ist.24 21 22 23 24 W. Heisenberg, Über die Grundprinzipien der „Quantenmechanik“, 21. Ders., Physik und Philosophie, 38. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 33. Vgl. a.a.O., 38. 199 Diese heute gängige Interpretation führt aber unmittelbar zu weiteren Fragen: Was geschieht im Augenblick der Messung? Wie ist die plötzliche Veränderung, die zur Festlegung einer zuvor nicht existenten physikalischen Eigenschaft des Quantenobjekts führt, genauer zu verstehen? Was geschieht zwischen zwei Beobachtungen? Gerade die damit zusammenhängenden Fragen kann die Quantentheorie zumindest bis heute nicht beantworten. Weil diese Fragen nicht beantwortbar sind – oder weil die Quantentheorie noch nicht vollständig ist? Weil „die Wirklichkeit“ tatsächlich eine „Quantenwelt“ ist – oder weil die physikalische Wirklichkeit uns die möglicherweise ganz anders strukturierte „tatsächliche Wirklichkeit“ als Quantenwelt erscheinen läßt? Audretsch jedenfalls resümiert, daß wir „nur Aussagen über die Meßergebnisse [haben], aber [...] nicht viel darüber [wissen], wie sie zustande kommen“25. Trotz ihren großen Erfolgen habe darum die „Quantenmechanik noch keine endgültige Form angenommen“26. Genau an diesem Punkt gibt es in der heutigen Quantentheorie offensichtlich einen Spielraum für sehr unterschiedliche Interpretationen, die sich bislang in aller Regel aber einer experimentellen Überprüfung im Labor entziehen. Während Audretsch hier von einer „Lücke“ der Quantentheorie spricht und es als Aufgabe betrachtet, diese Lücke im Rahmen einer umfassenderen Theorie zu schließen,27 erachtet etwa der Physiker John Gribbin schon die Frage, was zwischen zwei Messungen liege, für „völlig sinnlos“ und für eine Verkennung der Quantentheorie: „Manchmal findet man Dinge im Zustand A, manchmal im Zustand B, und die Frage, was dazwischen liegt oder wie sie vom einen in den anderen Zustand gelangen, ist völlig sinnlos. Dies ist das wirklich fundamentale Merkmal der Quantenwelt. Es ist interessant, daß unsere Kenntnis davon, was ein Elektron tut, wenn wir es betrachten, begrenzt ist, aber es ist absolut umwerfend, festzustellen, daß wir überhaupt keine Ahnung davon haben, was es tut, wenn wir es nicht betrachten.“ 28 Sicher ist jedoch, daß die bei der Messung feststellbare Veränderung damit zu tun hat, daß das beobachtete System mit einem Meßgerät verbunden wird und mit diesem in Wechselwirkung tritt. Bei klassischen Systemen spielt diese Kopplung keine Rolle, die Messung kann als eine einseitige Einwirkung des Meßobjekts auf das Meßgerät verstanden werden. Bei Quantensystemen hingegen, bilden messende Apparatur und gemessenes Objekt eine neues „maßgebliches“ System. Das ursprüngliche Quantensystem, das gemessen werden soll, kann nicht mehr als abgeschlossen betrachtet werden. Aber was ist nun alles in das „Gesamtsystem“ miteinzubeziehen? Nur die Meßgeräte oder auch den das Meßgerät registrierenden Beobachter? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Meßobjekt, Meßgerät und Beobachter? Ist jede Grenzziehung weitgehend willkürlich?29 Bohr weist wiederholt darauf hin, daß in der 25 26 27 28 29 A.a.O., 41. Ebd. Vgl. a.a.O., 36, 42. J. Gribbin, Das Prinzip der Unbestimmtheit, 107. Diese Auffassung vertritt J. v. Neumann; vgl. dazu K. Baumann/R. U. Sexl, Deutungen 200 Quantenphysik „jede Beobachtung einen Eingriff in der Verlauf der Erscheinungen [fordere]“30, und er erinnert in diesem Zusammenhang „an die alte Wahrheit [...], daß wir sowohl Zuschauer als Teilnehmer in dem großen Schauspiel des Daseins [seien]“31. Wolfgang Pauli faßt demgemäß zusammen: „Die Beobachter oder Beobachtungsmittel, welche die moderne Mikrophysik in Betracht ziehen muß, unterscheiden sich demnach wesentlich von dem losgelösten Beobachter der klassischen Physik. Unter letzterem verstehe ich einen solchen, der zwar nicht notwendig ohne Wirkung auf das beobachtete System ist, dessen Einwirkung aber jedenfalls durch determinierbare Korrekturen eliminiert werden kann. In der Mikrophysik ist dagegen jede Beobachtung ein Eingriff von unbestimmbarem Umfang sowohl in das Beobachtungsmittel wie in das beobachtete System und unterbricht den kausalen Zusammenhang der ihr vorausgehenden mit den ihr nachfolgenden Erscheinungen.“ 32 Paulis Hinweis auf die Unterbrechung des kausalen Zusammenhanges führt uns weiter zum Indeterminismus in der Quantenphysik. IV. Der Indeterminismus der Quantentheorie 1. Reproduzierbarkeit und Determiniertheit innerhalb der klassischen Physik Das „Credo“ des in der klassischen Physik waltenden Determinismus ist in der berühmten Schrift von Pierre Simon de Laplace „Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit“ (1812) formuliert: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen.“33 Diese Konzeption der Welt übertrifft sogar noch das newtonsche mechanistische Weltbild, das von Zeit zu Zeit des Eingriffes Gottes bedurfte, um die gestörte Ordnung wiederherzustellen.34 Der Determinismus von Laplace stellt im 19. Jahrhundert für die Physik das angestrebte und zumindest für die Himmelsmechanik auch weitgehend realisierte Ideal dar. Wie der Eingriff Gottes, so soll auch jeglicher Zufall aus der Physik ausgeschlossen bleiben. der Quantentheorie, 19–22. N. Bohr, Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung, 697. 31 A.a.O., 699. 32 W. Pauli, Die philosophische Bedeutung der Idee der Komplementarität, 15. 33 P. S. de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, 1f. 34 Vgl. dazu E. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 548. 30 201 Zufall ist in dieser Perspektive nichts weiter als der „Ausdruck unserer Unkenntnis der wahren Ursachen“35. Bemerkenswerterweise nimmt Laplace in seiner Abhandlung auch ausdrücklich auf atomare Vorgänge Bezug – und wie noch bei Ernest Rutherford zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten für ihn im Großen wie im Kleinen, im Planetensystem wie im Atom selbstverständlich dieselben Gesetzmäßigkeiten: „Die von einem einfachen Luft- oder Gasmolekül beschriebene Kurve ist in eben so sicherer Weise geregelt wie die Planetenbahnen: es besteht zwischen beiden nur der Unterschied, der durch unsere Unwissenheit bewirkt wird.“ 36 Ist das physikalische Gesetz bekannt, das einem in der Natur sich abspielenden Vorgang zugrunde liegt, so kann der entsprechende physikalische Vorgang quantitativ vorausgesagt werden. Als exemplarischer Fall derartiger Prognosen gilt im 18. und 19. Jahrhundert die exakte Vorausberechnung der Wiederkehr des Kometen Halley, dessen plötzliches Erscheinen im 15. Jahrhundert noch Furcht und Schrecken ausgelöste. Darüber hinaus können nun aber in einem physikalischen Experiment „die Naturgesetze in den Dienst menschlicher Ziele“37 gestellt werden. Als ein wesentliches Element der klassischen Physik wird dabei die Reproduzierbarkeit der Experimente und der jeweiligen Versuchsergebnisse betrachtet. Das gleiche Experiment unter exakt gleichen Bedingungen ausgeführt, würde demnach exakt dasselbe Ergebnis ergeben. Die strenge Gültigkeit des Kausalgesetzes, wonach gleiche Ursachen unter ein und denselben Bedingungen stets exakt gleiche Wirkungen hervorrufen, hätte insbesondere zur Folge, daß der Ablauf physikalischer Vorgänge als vollständig determiniert betrachtet werden könnte. 2. Grenzen des Determinismus in der Quantentheorie Reproduzierbarkeit und Determiniertheit physikalischer Experimente aufgrund des Kausalgesetzes bilden eine wesentliche Grundlage der klassischen Physik. Werden durch die Quantentheorie Determinismus und Kausalgesetz beseitigt? Die verschiedenen Interpretatoren der Quantentheorie zeichnen hier – zumindest auf den ersten Blick – ein sehr widersprüchliches Bild. So meint beispielsweise Wolfgang Marx, die Beiträge von Physikern und Philosophen in einem dem Thema „Determinismus-Indeterminismus“ gewidmeten Sammelband dahingehend zusammenfassen zu können, daß in der physikalischen Wissenschaft „der Determinismus unumgänglich [sei]“38. Allerdings reiche der „traditionelle, reichlich simple Kasualismus“39 nicht 35 P. S. de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, 1. A.a.O., 3. 37 C. Gerthsen/H. O. Kneser/H. Vogel, Physik, 1f. 38 W. Marx (Hg.), Determinismus, Indeterminismus: philosophische Aspekte physikalischer Theoriebildung, 7. 39 Ebd. 36 202 mehr aus, der Überkomplexität der Phänomene, wie sie heute gegeben sind, zu entsprechen. Indessen stellt etwa Günther Ludwig in ebendieser Veröffentlichung fest, die moderne Physik habe sich „längst vom Determinismus gelöst und sich statistischen Naturgesetzen zugewandt“40. Für Peter Richter wiederum ist an anderer Stelle „die Quantenmechanik nicht weniger deterministisch als die Newtonsche Mechanik“41. Für Jürgen Audretsch dagegen liegt „im Quantenbereich charakteristischerweise kein deterministisches Verhalten mehr [vor]“, er erachtet es vielmehr als unvermeidliche Konsequenz, daß es im Quantenbereich den „absoluten Zufall“42 gibt. Peter Mittelstaedt vertritt die Auffassung, daß das Komplementaritätsprinzip und die Unbestimmtheitsrelation zu Folge haben, „daß für den Beobachter die Kausalität verloren geht“43; da Ort und Impuls bei Quantenobjekten nur gemeinsam unscharf bestimmt werden können, „gibt es keine strenge Kausalität [...] mehr“44. Dieses widersprüchliche Bild ergibt sich bereits aus den Aussagen der Begründer der Quantentheorie. Für Max Planck gilt, daß „die Physik [...] auf allen ihren Gebieten, die strenge Gültigkeit des Kausalgesetzes zugrundelegt“45, Louis de Broglie erkennt in der Quantenmechanik eine „Kausalität ohne Determinismus“46, für Johann von Neumann fällt im Rahmen der gegebenen Bedingungen die Entscheidung gegen Kausalität,47 und Werner Heisenberg macht in der Quantentheorie zumindest „ein gewisses Versagen des Kausalgesetzes“48 aus. Niels Bohr neigte dem Indeterminismus in der Quantentheorie zu und sprach von einer totalen Unterbrechung in der kausalen Beschreibung.49 Max Born lehnte zwar gleichfalls eine deterministische Deutung der Quantenmechanik ab, versuchte aber den Begriff der Kausalität auch für die moderne Physik zu retten.50 Die Beispiele für die hier skizzierte Begriffsverwirrung könnten beliebig vermehrt werden. Physiker nehmen sie in der Regel kaum wahr, fühlen sich jedenfalls durch sie nicht sonderlich gestört. Auch eine extreme diesbezügliche Ansicht macht Born zufolge „nicht viel aus bei Erörterungen zwischen 40 G. Ludwig, Ist der Determinismus eine Grundvoraussetzung für Physik? 69. P. Richter, Chaos: Das Weltbild der deterministischen Physik in der Krise, 118. Richter scheint hier allerdings nur die Schrödingerische Version (und Interpretation) der Quantentheorie im Blick zu haben. 42 J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 28. 43 P. Mittelstaedt, Objektivität und Realität in der Quantenphysik, 134. 44 Ebd. 45 M. Planck, Kausalgesetz und Willensfreiheit, 156; vgl. ders., Die Kausalität in der Natur, 256: „Zusammenfassend können wir sagen: Während in der Sinnenwelt die Voraussage eines Ereignisses immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist, verlaufen im physikalischen Weltbilde alle Ereignisse nach bestimmten angebbaren Gesetzen, sie sind kausal streng determiniert.“ 46 L. de Broglie, Die Elementarteilchen, 68. 47 Vgl. J. v. Neumann, Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik, 157–172, insbes. 170. 48 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 143. 49 Vgl. E. Scheibe, Die Kopenhagener Schule und ihre Gegner, 165f. 50 Vgl. M. Born, Physik und Metaphysik, 103f. 41 203 Gelehrten, die genau wissen, über was sie sprechen. Sie ist aber gefährlich, wenn sie gebraucht wird, um Nichtwissenschaftlern die jüngsten Ergebnisse der Naturwissenschaft zu erläutern.“51 Gestört, ja provoziert fühlen sich offensichtlich hier insbesondere auch Philosophen. Von Physikern vertretene „sehr merkwürdige Meinungen“ werden schnell als „absurd“52 bezeichnet. Dies alles zeigt nur einmal mehr, wie notwendig Physiker und Nichtphysiker auf gegenseitige Vermittlung angewiesen sind. Insbesondere wird deutlich, daß sich eine philosophische Interpretation der Physik zunächst um ein Verständnis des physikalischen Sachverhalts bemühen muß. Viele Mißverständnisse können dadurch vermieden beziehungsweise ausgeräumt werden. Im vorliegenden Fall ist wiederum ein Blick auf das beschriebene Doppelspaltexperiment nützlich, um zu klären, inwiefern sich die Quantentheorie von der klassischen Physik im Hinblick auf „Determinismus“ beziehungsweise „Indeterminismus“ unterscheidet. Das Bild auf der Photoplatte hinter den beiden Spalten baut sich aus einzelnen geschwärzten Körnern zusammen. Dadurch werden die scharf lokalisierten Stellen angezeigt, an denen ein einzelnes Lichtquant aufgetroffen ist. Der Auftreffpunkt eines einzelnen Lichtquants kann beim Doppelspaltversuch – in Übereinstimmung mit der Unbestimmtheitsrelation – nicht vorhergesagt werden. Das bedeutet aber, daß das Doppelspaltexperiment bezüglich der Auftreffpunkte einzelner Lichtquanten nicht reproduzierbar ist, daß mithin das Verhalten eines einzelnen Lichtquants nicht streng determiniert ist. Die sich beim Doppelspalt ergebende Gesamtstruktur der Verteilung ist hingegen durch die jeweilige Versuchsanordnung vorgegeben, das heißt determiniert. Damit ist beispielsweise auch vorgegeben, an welchen Stellen überhaupt keine und an welchen anderen Stellen Lichtquanten gehäuft auftreffen werden. Dies bedeutet aber, daß der Auftreffpunkt des Lichtquants zwar nicht streng determiniert, aber auch nicht einfach beliebig ist. Mit Hilfe des Formalismus der Quantentheorie läßt sich vielmehr exakt die Wahrscheinlichkeit für die einzelnen Auftreffpunkte des Lichtquants angeben: Die Gesamtverteilung ist streng determiniert, die einzelnen Quantenlokalisationen erfolgen stochastisch. Genau dies ist gemeint, wenn gesagt wird, daß wir „in der Quantenmechanik prinzipiell auf Wahrscheinlichkeitsaussagen angewiesen [sind]“53. Ein anderes sehr anschauliches Beispiel für diese Art des Indeterminismus der modernen Physik ist der radioaktive Zerfall. Für jedes radioaktive Nuklid gibt es eine charakteristische Zeit, nach deren Ablauf die Hälfte der vorhandenen Nuklide zerfallen ist (die Halbwertszeit). Obwohl sich das Zerfallsgesetz eines radioaktiven Nuklids in präziser mathematischer Form darstellen läßt, ist es unmöglich, auch eine Aussage über den exakten Zerfallszeitpunkt eines bestimmten Atomkerns zu machen. Darüber sind wieder nur Wahrscheinlich51 52 53 A.a.O., 104. A. Anzenbacher, Einführung in die Philosophie, 261. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 28. 204 keitsaussagen möglich. Dieses Beispiel wird auch von Werner Heisenberg im Zusammenhang mit der Diskussion des Kausalgesetzes beschrieben: „Nehmen wir an, wir hätten es mit einem einzelnen Atom der Sorte Radium B zu tun [...]. Dann wissen wir also, über kurz oder lang wird das Radium B-Atom in irgendeiner Richtung ein Elektron aussenden und damit in ein Radium C-Atom übergehen. Im Mittel wird das nach einer knappen halben Stunde geschehen, aber das Atom kann sich ebensogut schon nach Sekunden oder erst nach Tagen umwandeln. [...] Aber wir können, und darin äußert sich eben ein gewisses Versagen des Kausalgesetzes, beim einzelnen Radium B-Atom keine Ursache dafür angeben, daß es gerade jetzt und nicht früher oder später zerfällt, daß es gerade in dieser Richtung und nicht in einer anderen das Elektron aussendet.“54 Nun gibt es auch schon im Rahmen der klassischen Physik Fälle, bei denen man sich statistischer Gesetze bedient, da die genaueren Gesetzmäßigkeiten der beteiligten Objekte entweder noch nicht bekannt oder zu kompliziert zu berechnen sind. Heisenberg verdeutlicht, daß es sich in der Quantenphysik nicht um diese Art von Wahrscheinlichkeitsaussagen handelt, indem er unmittelbar im Anschluß an die eben zitierte Stelle betont, daß die Physiker aus vielen Gründen überzeugt seien, daß es eine Ursache für einen bestimmten Zeitpunkt des Zerfalls und eine bestimmte Richtung der Aussendung des Elektrons gar nicht gebe und sie deshalb grundsätzlich nicht gefunden werden könne. Heisenberg hält somit die Kenntnis vom Zustand des Radium B-Atoms vor der Aussendung des Elektrons für vollständig: „Denn aus anderen Experimenten, die wir auch mit diesem Radium B-Atom anstellen können, geht hervor, daß es keine weiteren Bestimmungsstücke dieses Atoms geben kann als jene, die wir schon kennen. [...] Die Natur teilt uns also mit, daß es die umstrittenen Bestimmungsstücke gar nicht gibt, daß unsere Kenntnis schon ohne neue Bestimmungsstücke vollständig ist.“55 Nach dem Gesagten erklären sich die widersprüchlichen Stellungnahmen zum Indeterminismus und zur Gültigkeit des Kausalgesetzes in der Quantenphysik zum größten Teil als Versuche, ein und denselben physikalischen Befund auszudrücken. Versteht man unter Kausalität das Prinzip, daß jede Wirkung eine ihr zeitlich vorausgehende Ursache haben muß, so bleibt dieses Kausalitätsprinzip auch in der Quantenphysik gewahrt. Aber die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung besteht nun nicht mehr in dem Sinn, daß eine bestimmte Ursache eine ganz bestimmte, streng determinierte Wirkung zur Folge hat. Insofern ist es berechtigt, vom Indeterminismus der Quantenphysik zu sprechen. Wo terminologische Unterschiede ausgeräumt sind, zeigt sich freilich, daß es tiefgreifende Unterschiede gibt, wie der beschriebene Indeterminismus der Quantentheorie zu beurteilen ist. Dies führt weiter auf die Frage nach der nun schon mehrfach angesprochenen Vollständigkeit der Quantentheorie. 54 55 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 143. A.a.O., 143f. 205 V. Diskussionen um die Vollständigkeit der Quantentheorie 1. Das EPR-Gedankenexperiment Auch als die Quantentheorie in den dreißiger Jahren immer neue experimentelle Bestätigungen aufweisen kann und sie sich unter der großen Mehrheit der Physiker durchzusetzen beginnt, stehen ihr einige angesehene Physiker weiterhin skeptisch gegenüber. Zu ihnen zählen Physiker der älteren Generation, insbesondere Albert Einstein. Dabei betont Einstein wiederholt, daß er an der „Richtigkeit“ von Unbestimmtheitsrelation und Quantentheorie nicht zweifele. Auch wird von ihm das Zutreffen der Unbestimmtheitsrelation „mit Recht als endgültig erwiesen betrachtet“56, und er qualifiziert die Quantentheorie sogar als „einzige gegenwärtige Theorie, welche die Erfahrungen über den Quantencharakter der mikromechanischen Vorgänge einheitlich zu begreifen gestattet“57. Einstein kritisiert aber die vermeintliche Gewißheit vieler Physiker, mit der Quantentheorie die „physikalische Realität“ bereits vollständig und endgültig beschrieben zu haben. In einem Brief an Max Born äußert Albert Einstein im Hinblick auf die Wechselwirkung von Licht mit einem Elektron sein Unbehagen an der Quantentheorie mit deutlichen Worten: „Der Gedanke, daß ein einem Strahl ausgesetztes Elektron aus freiem Entschluß den Augenblick und die Richtung wählt, in der es fortspringen will, ist mir unerträglich. Wenn schon, dann möchte ich lieber Schuster oder gar Angestellter in einer Spielbank sein als Physiker.“58 Dies zeigt, daß Einstein – und mit ihm bis heute eine Reihe weiterer Physiker – nicht gewillt ist, den Indeterminismus der Quantentheorie schon als endgültig hinzunehmen. Der „statistische Charakter der gegenwärtigen Theorie“, wie Einstein einmal etwas abfällig feststellt, ist für ihn damit – ganz im Sinne von Laplace – nur Ausdruck der „Unvollständigkeit der Beschreibung der Systeme in der Quantenmechanik“59. Einstein schätzt die Quantentheorie an anderer Stelle als „richtige Theorie statistischer Gesetze“ ein, die „aber eine unzutreffende Auffassung der einzelnen Elementarprozesse sein [dürfte]“60 – 56 A. Einstein, Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbeiten, 234. Ders., Autobiographisches, 30. 58 A. Einstein/H. und M. Born, Briefwechsel, 118. 59 A. Einstein, Autobiographisches, 32; vgl. ders., Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbeiten, 234: „Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß der grundsätzlich statistische Charakter der gegenwärtigen Quantentheorie einfach dem Umstande zuzuschreiben ist, daß diese mit einer unvollständigen Beschreibung der physikalischen Systeme operiert.“ 60 A. Einstein/A. Sommerfeld, Briefwechsel, 112. 57 206 gerade letztere gelten aber, wie wir gesehen haben, im Rahmen der Quantentheorie als indeterminiert. Zugleich mit dem Indeterminismus kann Einstein auch dem „anscheinend sprunghafte[n] Charakter der Elementarvorgänge“61 allenfalls vorläufigen Charakter zubilligen. Noch im Jahr 1946 schreibt er in einem Brief an Arnold Sommerfeld, daß er „allen Ernstes immer noch [glaube], daß schließlich die Klärung der Basis der Physik vom Kontinuum aus erfolgen [werde]“62, und offensichtlich rechnet er in der Tradition von Leibniz nach wie vor mit „einer erschöpfenden Darstellung der physischen [sic] Realität auf der Grundlage des Kontinuums“63. So ist Einstein schließlich „geneigt zu glauben, daß [...] die Beschreibung der Quanten-Mechanik als eine unvollständige und indirekte Beschreibung der Realität anzusehen sei, die später wieder durch eine vollständige und direkte ersetzt werden wird“ 64. Ein wichtiger Grund für Einsteins skeptische Beurteilung der Quantentheorie ist neben deren Indeterminismus, „daß die Physiker, welche die Beschreibungsweise der Quanten-Mechanik für prinzipiell definitiv halten, [...] die Forderung [...] von der unabhängigen Existenz des in verschiedenen RaumTeilen vorhandenen physikalisch-Realen fallen lassen“65. Einstein selbst findet freilich im Unterschied dazu „nirgends eine Tatsache, die es mir als wahrscheinlich erscheinen läßt, daß man die Forderung aufzugeben habe“66. Auf dieser Forderung beruht auch ein Gedankenexperiment, das im Jahr 1935 gemeinsam von Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen veröffentlicht wird (EPR-Experiment).67 Gemäß der Unbestimmtheitsrelation können an einem Quantenobjekt nur Ort oder Impuls in einem bestimmten Zeitpunkt exakt ermittelt werden. Dem EPR-Experiment liegt nun die Idee zugrunde, daß die Messung, die uns die Kenntnis von Ort oder Impuls des Quantenobjekts vermitteln soll, gar nicht unmittelbar an dem uns interessierenden Objekt selbst ausgeführt wird. Dazu stellt man sich vor, daß ein ruhendes Teilchen (der Gesamtimpuls ist damit Null) in zwei gleiche Teile S1 und S2 explodiert und auseinanderfliegt. Aus 61 A. Einstein, Autobiographisches, 33. A. Einstein/A. Sommerfeld, Briefwechsel, 121. 63 A. Einstein, Autobiographisches, 35 (Anm. 2). 64 A. Einstein/H. und M. Born, Briefwechsel, 234. Hier deutet sich auch an, daß Einstein die Quantentheorie für unvollständig und nicht für vervollständigbar hielt. An ihre Stelle würde eine ganz andere, umfassendere Theorie treten, die sich zur Quantentheorie vielleicht so verhielte, wie diese zur klassischen Physik. Andere Kritiker der gegenwärtigen Quantentheorie – die „Unorthodoxen“ wie z. B. David Bohm oder Franco Selleri – halten dagegen eine Ergänzung der Quantentheorie durch lokale oder nicht-lokale „verborgene Parameter“ für möglich; vgl. dazu W. Meißner, Wie tot ist Schrödingers Katze? 214–231, sowie C. F. v. Weizsäcker, Zeit und Wissen, 903–909. 65 A. Einstein/H. und M. Born, Briefwechsel, 234. 66 Ebd; vgl. A. Einstein, Autobiographisches, 4. 67 A. Einstein/B. Podolsky/N. Rosen, Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten? (1935), 80–86. In vorliegender Arbeit wird das EPR-Experiment in etwas abgewandelter und vereinfachter Form skizziert; vgl. zum folgenden auch A. Einstein, Autobiographisches, 30–33. 62 207 der Messung des Impulses von S1 läßt sich somit zunächst einmal der Impuls von S2 im Augenblick der Messung von S1 exakt berechnen, ohne daß an S2 direkt eine Messung durchgeführt werden würde. Einstein hält nun im folgenden an der erwähnten Forderung fest, daß „der reale Sachverhalt (Zustand) des Systems S2 ist unabhängig davon [ist], was mit dem von ihm räumlich getrennten System S1 vorgenommen wird.“68 Dies bedeutet nun insbesondere, daß eine Messung an S1 ohne Auswirkung auf eine Messung an S2 sein soll. Dies vorausgesetzt kann man im Augenblick der Impulsmessung von S1 zugleich den Ort von S2 exakt messen. Für S2 sind damit in einem Augenblick Ort und Impuls durch direkte Messung (Ort) beziehungsweise durch Berechnung (Impuls) exakt bestimmbar. Exakter Ort und exakter Impuls zur gleichen Zeit müssen darum nach Einstein als „ein Element der physikalischen Realität“69 betrachtet werden. Für die Vollständigkeit einer Theorie fordern Einstein, Podolsky und Rosen, daß nun auch „jedes Element der physikalischen Realität [...] seine Entsprechung in der physikalischen Theorie haben [muß]“70. Exakter Ort und exakter Impuls zur gleichen Zeit haben aber prinzipiell keine Entsprechung in der Quantentheorie. Damit ist für Einstein, Podolsky und Rosen erwiesen, daß es Elemente der physikalischen Realität gibt, die von der Quantentheorie nicht erfaßt werden können, mithin ist diese nicht vollständig. Für Einstein ist das programmatische Ziel aller Physik aber „die vollständige Beschreibung der naturgesetzlich möglichen realen Sachverhalte“71. Weil bei den quantentheoretischen Theorien diese Vollständigkeit nicht gegeben ist, zwingen sie Einstein „zwar zur Bewunderung, riechen [ihm] aber nicht nach der Wirklichkeit“72. Äußert sich in Einsteins Haltung nur ein naiver Realismus? Begegnet hier noch einmal in konzentrierter Form, die unbekümmerte Einstellung der Pioniere der klassischen Physik? Carl Friedrich von Weizsäkker jedenfalls mutmaßt, daß sich in einer derartigen Sicht nur „der Wunsch der Rückkehr zur einfachen klassischen Ontologie“73 ausspricht. 2. Bestätigung der Nicht-Lokalität der Quantentheorie Im Jahr 1982 von Alain Aspect und seinen Mitarbeitern realisierte „EPR-Experimente“ erbrachten nun inzwischen den Nachweis, daß die beiden (möglicherweise schon weit voneinander entfernten) Quantenobjekte S1 und S2, 68 A. Einstein, Autobiographisches, 32. A. Einstein/B. Podolsky/N. Rosen, Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten? 81. 70 Ebd. 71 A. Einstein, Bemerkungen zu den in diesem Bande vereinigten Arbeiten, 235. 72 A. Einstein/A. Sommerfeld, Briefwechsel, 108. Einsteins philosophisches Präjudiz sollte man aus diesem Grund weniger als „deterministisch“ bezeichnen, sondern als „realistisch“, wie Wolfgang Pauli zurecht feststellt; vgl. dazu W. Meißner, Wie tot ist Schrödingers Katze? 212. 73 C. F. v. Weizsäcker, Zeit und Wissen, 907. 69 208 obgleich sie über keinerlei Mechanismus miteinander wechselwirken, trotzdem miteinander in Beziehung stehen.74 Die beispielsweise an S1 vorgenommene Impulsmessung beeinflußt demnach im selben Augenblick das Ergebnis einer möglichen Messung an S2 und schließt vor allem auch eine gleichzeitige Ortsmessung an S2 aus. Die damit gegebene Korrelation von Meßergebnissen widerlegt die Voraussetzung des EPR-Experiments, daß die Messungen an S1 und S2 unabhängig voneinander durchgeführt werden können. Dieses von Aspect nachgewiesene nichtlokale Einflußnehmen – man spricht darum auch von der „Nicht-Lokalität“ der Quantentheorie – kann auf der Grundlage der klassischen Physik nicht erklärt werden, stimmt aber mit den theoretischen Voraussagen der Quantentheorie präzise überein.75 Im übrigen hat schon Niels Bohr in seiner Erwiderung auf das EPR-Experiment festgestellt, daß die gesamte Versuchsanordnung das jeweilige Objekt definiere. Da es sich bei einer Impulsmessung und einer Ortsmessung um verschiedene Versuchsanordnungen handle, handle es sich auch jeweils um Objekte mit anderen Eigenschaften: je nach Versuchsanordnung haben die beiden Objekte einmal nur einen exakten Ort ein andermal nur einen exakten Impuls.76 Zurecht werden die Experimente von Aspect heute als wiederum glänzende Bestätigung der Quantentheorie beurteilt – da sie aber nur bestätigen, wovon ohnehin die große Mehrheit der Physiker längst überzeugt ist, wurden diese Experimente in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Spätestens seit den Experimenten von Aspect ist jedenfalls einer einfachen Rückkehr zu den Vorstellungen der klassischen Physik der Weg abgeschnitten. Eine bessere Theorie als die Quantentheorie muß auch das nunmehr erwiesene und klassisch unerklärliche „nicht-lokale Einflußnehmen“ berücksichtigen. Vielleicht wird einmal noch eine derartige allen experimentellen Befunden genügende Alternative gefunden werden – wahrscheinlich erscheint dies gegenwärtig nicht. Eine einfache (lokale) Alternative zur Quantentheorie, wie sie Einstein fordert, muß heute ausgeschlossen werden.77 74 Vgl. A. Aspect/P. Grangier/G. Roger, Experimental Realization of Einstein-Podolsky-Rosen-Bohm Gedankenexperiment: A New Violation of Bell’s Inequalities, in: Physical Review Letters 49 (1982), 91–94; sowie A. Aspect/J. Dalibard/G. Roger, Experimental Test of Bell’s Inequalities Using Time-Varying Analyzers, in: Physical Review Letters 49 (1982), 1804–1807. 75 J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 51f, weist aber darauf hin, daß heutige EPR-Experimente keineswegs beweisen können, daß im Sinne eines populär gewordenen Holismusbegriffes „in der Welt alles mit allem zusammenhängt“, da es eines großen experimentellen Aufwandes bedarf, um Quantenobjekte in EPR-Experimenten entsprechend zu präparieren. Außerdem eigenen sich EPR-Experimente nicht zum Informationsaustausch. Die NichtLokalität der Quantentheorie steht damit nicht in Widerspruch zur Relativitätstheorie, vgl. dazu K. Mainzer, Naturphilosophie und Quantenmechanik, 270, sowie M. Lambeck, Physik und New Age (II), 19–22. Vgl. auch die deutlich andere Beurteilung von M. Esfeld, Der Holismus und die Quantenphysik: seine Bedeutung und seine Grenzen, 181, der eine „behutsame Einstellung in der Frage nach der Reichweite des Quanten-Holismus“ vorschlägt. 76 Vgl. N. Bohr, Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, 111–114. 77 Vgl. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 59, sowie K. Mainzer, Naturphilosophie und 209 Sind die quantenstatistischen Gesetze und die damit gegebene „Auflockerung der kausalen Zusammenhänge“ in der Mikrophysik, „das letzte, was es gibt“, da sie eine „in der Natur selbst liegende Unbestimmtheit“78 ausdrücken – oder stellen diese Gesetze nur einen vorübergehenden Behelf dar, bis es fundamentalere physikalische Gesetze einmal erlauben werden, zu einem „vollen kausalen Verständnis der physikalischen Vorgänge“79, das heißt zum strengen Determinismus der klassischen Physik zurückzukehren? Wird es im Rahmen einer alternativen nichtlokalen Theorie einmal möglich sein, die quantenphysikalischen Gesetze „deterministisch“ zu ergänzen oder zu überbieten? Obwohl dies immerhin denkbar ist, spricht Jürgen Audretsch für die ganz überwiegende Mehrheit der heutigen Physiker, wenn er feststellt, daß es zu den theoretischen Konzepten der Quantenmechanik auf lange Sicht keine Alternative gebe.80 Quantenmechanik, 252, 265f, 270. O. Höfling, Physik, 1024. 79 A.a.O., 1023. 80 Vgl. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 59. 78 210 Siebtes Kapitel: Ausgangssituation für den gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie Das sich gegenüber der klassischen Physik gewandelte Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik bestimmt maßgeblich die veränderte Gesprächssituation im gegenwärtigen Dialog zwischen Physik und Theologie. Im folgenden Kapitel wird zunächst im Rückblick auf die Relativitäts- und Quantentheorie die Veränderung in der physikalischen Vorstellung von Wirklichkeit noch einmal zusammenfassend dargestellt (I.). So wenig wie von der klassischen, so führt auch von der modernen Physik kein unmittelbarer und zwingender Weg zur Religion. Sofern sich aber Physiker der Religion zuwenden, prägt dieses veränderte Wirklichkeitsverständnis offensichtlich auch die Stellungnahmen zu religiösen Fragen in charakteristischer Weise. Dies wird in diesem Abschnitt anhand entsprechender Äußerungen von Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg aufgezeigt (II.). Der Rückgriff auf diese an der Entwicklung der modernen Physik maßgeblich beteiligten Physiker bietet sich an, da bei diesen Physikern noch ein feineres Gespür für die Tragweite des Umbruches von der klassischen zur modernen Physik feststellbar ist als bei der jüngeren Physikergeneration, für die Relativitäts- und Quantentheorie längst zum Standardwissen gehören. Darüber hinaus stehen Planck, Einstein und Heisenberg bis heute stellvertretend für die Physiker, die in wohltuendem Gegensatz zu den gegenwärtig den Dialog mit der Theologie dominierenden Physikern nie als Physiker zu religiösen Fragen Stellung nehmen, sondern nachdrücklich die Notwendigkeit einer „reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissenschaft“1 betonen. Ihre gleichwohl von ihrer Physik geprägten und nur vor dem Hintergrund dieser Physik verständlichen Fragen und Erwartungen an die Theologie bedeuten für den Dialog zwischen Theologie und moderner Physik eine noch nicht bewältigte Herausforderung (III.). Das Kapitel endet mit sechs Feststellungen, die von der Theologie vor dem Dialog mit der modernen Physik zu bedenken sind und die das Ergebnis der vorliegenden Arbeit zusammenfassen (IV.). 1 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 75. 211 I. Gewandeltes Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik „Die Vorstellung von der Wirklichkeit in der physikalischen Welt ist im Laufe der letzten 100 Jahre etwas problematisch geworden“2, schreibt Max Born im Jahr 1953 mit unverkennbarer ironischer Untertreibung. Im Rahmen der klassischen Physik gilt die physikalische Wirklichkeit als objektiv erfahrbar, meßbar, berechenbar und damit beherrschbar. Insbesondere die exakte Vorausberechnung der Planetenbahnen geben den Physikern bis ins 20. Jahrhundert hinein die Gewißheit, daß sie mit den Gesetzen der klassischen Physik eine von ihnen selbst unabhängig existierende Wirklichkeit beschreiben. Erkenntnistheoretische Fragen, die die Erkennbarkeit der „Außenwelt“ und eines „Dinges an sich“ problematisieren, treffen bei den meisten Physikern dieser Zeit weder auf Verständnis noch auf Interesse: Aufgrund von Beobachtung und Experiment gefundene physikalische Gesetze beschreiben für sie zweifellos die „Wirklichkeit an sich“. Erst recht ist den klassischen Physikern der Gedanke fremd, daß das jeweilige Experiment konstitutiv für die zu erkennende Wirklichkeit sein könnte. Weithin unbestritten ist dagegen die „Vorstellung einer objektiven, realen Welt, deren kleinste Teile in der gleichen Weise objektiv existieren wie Steine und Bäume, gleichgültig, ob wir sie beobachten oder nicht“3. Physik kann sich darum „die vollständige Beschreibung der naturgesetzlich möglichen realen Sachverhalte“4 zum Ziel setzen. Bereits mit der Relativitätstheorie, mehr aber noch mit der Quantentheorie beginnt sich dieses „unmittelbare“ Wirklichkeitsverständnis in der Physik zu wandeln. „Das naive Angreifen des Problems der Wirklichkeit, das während der klassischen oder Newtonschen Periode so erfolgreich gewesen war, hat sich als unzureichend erwiesen“5, konstatiert Born. Physiker machen die Erfahrung, daß sich fortschreitender physikalischer Erkenntnis zum Trotz die Wirklichkeit ihrem Zugriff entzieht. Unversehens sieht sich die Physik damit einem „Realismusproblem“6 konfrontiert. Vorliegende Arbeit zeigte, daß sich im Anschluß an die Relativitäts- und Quantentheorie eine Reihe von Anstößen ergibt, zu überdenken, was die Physik eigentlich meint, wenn sie von „Wirklichkeit“ spricht: w Die physikalische Wirklichkeit ist unanschaulich:7 Bereits die spezielle Relativitätstheorie demonstriert, daß anschauliche Vorstellungen der physikalischen Wirklichkeit immer weniger genügen können. Konstanz der Lichtgeschwindigkeit unabhängig vom Bezugssystem, relativistische 2 M. Born, Physikalische Wirklichkeit, 145. So charakterisiert W. Heisenberg, Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, 439, die Einstellung aller Gegner der Quantentheorie. 4 A. Einstein, Bemerkungen, 235. 5 M. Born, Physikalische Wirklichkeit, 146. 6 Vgl. dazu L. Arendes, Gibt die Physik Wissen über die Natur? Das Realismusproblem in der Quantenmechanik. 7 Vgl. 3. Kap. IV. 5. vorliegender Arbeit. 3 212 Massenveränderung, Bezugssystemabhängigkeit von Längen- und Zeitintervallen und damit auch die Relativierung der Gleichzeitigkeit sind anschaulich nicht vorstellbar. Darüber hinaus lassen die Relativitätstheorien und die Quantenmechanik keinen Zweifel mehr daran, daß physikalische Gesetze, die sich in „menschlichen“ (klassischen) Dimensionen bewähren, nicht unbesehen auf astronomische und atomare Dimensionen übertragen werden dürfen. Die Physiker sehen sich damit zu einer Abkehr von der verbreiteten Praxis veranlaßt, „sich vom ‚gesunden Menschenverstand‘ auch außerhalb solcher Gebiete leiten zu lassen, in denen er sich herausgebildet hat“8. Die Quantentheorie nötigt sie, sich von einem „Ding bzw. Dingbegriff zu lösen, der nach den Bedürfnissen der sinnlichen Anschauungsfähigkeit des Menschen konzipiert war“9. w Geometrische Aussagen erlauben keine notwendigen Rückschlüsse auf die Struktur der physikalischen Wirklichkeit: Bis zur allgemeinen Relativitätstheorie scheint die euklidische Geometrie gegenüber den im 19. Jahrhundert entwickelten nichteuklidischen Geometrien dadurch ausgezeichnet zu sein, daß sich ihre Aussagen mit der uns umgebenden physikalischen Wirklichkeit decken. Da Einstein in der allgemeinen Relativitätstheorie erfolgreich eine nichteuklidische Geometrie zugrunde legen kann, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von axiomatischen geometrischen Systemen und physikalischer Wirklichkeit völlig neu. Für Rudolf Carnap zeigt die allgemeine Relativitätstheorie, „daß Geometrie, im a-priori-Sinn genommen, uns nichts über die Realität sagt“, insbesondere nichts über die „geometrische Struktur der Welt“10. w Der Wirklichkeitsmodus der Eigenschaften von Quantenobjekten ist nicht geklärt: Im Zusammenhang mit der Quantentheorie stellt sich dann die Frage nach der Wirklichkeit der Eigenschaften eines Quantenobjekts vor der Messung. Es ist das Besondere der Quantentheorie, daß sie ein gemessenes Quantenobjekt ganz anders als ein ungemessenes beschreibt. Das gemessene Objekt hat einen bestimmten Wert für die gemessenen Eigenschaften wie Ort oder Impuls. Das ungemessene Quantenobjekt „besitzt“ dagegen in der der Quantentheorie zugrunde liegenden mathematischen Darstellung nicht einen bestimmten, sondern alle möglichen Werte für seine Eigenschaften. Quantenphysiker sehen sich dadurch vor die Frage gestellt, was diese Art der mathematischen Darstellung bezüglich der Wirklichkeit aussagt: „Sind die Attribute der ungemessenen Atome vielwertig, verwaschen, nicht-existent oder einfach unbekannt?“ 11 8 G. L. Trigg, Experimente der modernen Physik, 3. W. Marx, Determinismus, Indeterminismus: philosophische Aspekte physikalischer Theoriebildung, 8. 10 R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 183; vgl. dazu 3. Kap. V. 3. vorliegender Arbeit. 11 N. Herbert, Quantenrealität, 11. 9 213 w Die moderne Physik stößt auf eine Grenze der Objektivierbarkeit: Auch gemessene Objekte begegnen in der Quantenphysik anders als in der klassischen Physik: „In den atomphysikalischen Experimenten tritt niemals das Atom in dem Sinne als ein ganzes Ding in Erscheinung wie etwa ein Hammer.“12 Gemäß der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation kann beispielsweise nur der Ort oder der Impuls eines Quantenobjekts exakt bestimmt werden. In sich gegenseitig ausschließenden Experimenten wird darüber entschieden, welche Eigenschaften des Objekts in Erscheinung treten und welche nicht. Nach Niels Bohr bedeutet damit in der Quantenphysik „jede Beobachtung einen Eingriff in den Verlauf der Erscheinungen“13. In der Bewertung gerade dieses letzten Punktes gehen die Meinungen der Physiker freilich weit auseinander. Carl Friedrich von Weizsäcker sieht infolge der Unbestimmtheitsrelation eine „Modifikation des Realitätsbegriffes“ mit „revolutionäre[m] Charakter“14, weil damit die absolute Trennung von Subjekt und Objekt, auf der die klassische Physik beruhe, nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Gerade die moderne Physik überwinde damit den im 20. Jahrhundert von Philosophen so vehement kritisierten Ansatz der dualistischen Ontologie René Descartes‘.15 „[Der] Verzicht auf die Cartesische Ontologie [ist] Vorbedingung des Verständnisses der modernen Physik“16, schreibt Weizsäcker, denn „[vom] Objekt kann hier nicht getrennt vom Subjekt geredet werden“17. In einem Sri Chandrasekharendra Sarasvati gewidmeten Aufsatz zieht Weizsäcker weitreichende Schlüsse aus der so veränderten Wirklichkeitsvorstellung der Quantentheorie: „Ich werde die Behauptung aufstellen, die heutige Physik habe eine Philosophie zur Konsequenz, die der neuzeitlichen 12 C. F. v. Weizsäcker, Einstein und Bohr. Der Streit um den Realitätsbegriff des Physikers, 209. 13 N. Bohr, Die Atomtheorie und die Prinzipien der Naturbeschreibung, 697, vgl. dazu 6. Kap. III. vorliegender Arbeit. 14 C. F. v. Weizsäcker, Einstein und Bohr. Der Streit um den Realitätsbegriff des Physikers, 209. 15 Ders., Beziehungen der theoretischen Physik zum Denken Heideggers, 243–245, stellt insbesondere eine Beziehung zwischen der „Denkbewegung“ Martin Heideggers in „Sein und Zeit“ und der modernen theoretischen Physik fest, wenn es auch keine sichtbare Wechselwirkung zwischen beiden gebe. Gemeinsam sei aber beiden „die entschiedene Abwendung von demjenigen Bilde der Wirklichkeit, das in der ‚klassischen Physik‘ seine vielleicht geschlossenste Gestalt angenommen hatte“ (243f). Heidegger kritisiert die cartesische Ontologie und sieht in deren Destruktion eine Vorbedingung für seine Fundamentalontologie. Die cartesische Ontologie ist nach Weizsäcker zugleich auch Grundlage der gesamten klassischen Naturwissenschaft; eine Vorbedingung des Verständnisses der modernen Physik ist damit gleichfalls der Verzicht auf die dualistische cartesische Ontologie (vgl. dazu auch C. F. v. Weizsäcker, Heidegger und die Naturwissenschaft, 308–322; ders., Wer ist das Subjekt in der modernen Physik? 125–138). 16 Ders., Beziehungen der theoretischen Physik zum Denken Heideggers, 245. 17 Ebd.; vgl. ders, Heidegger und die Naturwissenschaft, 313: „Man kann in der Quantentheorie ein mögliches Ereignis nur noch in bezug auf einen möglichen Beobachter definieren. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wird hier, zum erstenmal in der neuzeitlichen Physik, thematisch.“ 214 westlichen Tradition des Denkens in Vielheiten entgegengesetzt ist, und diese Philosophie sei die einzige mögliche Auflösung der scheinbaren Paradoxien der Quantentheorie.“18 Diese aus quantentheoretischen Vorstellungen folgende Philosophie sieht Weizsäcker in großer Nähe zur indischen Vedanta-Philosophie.19 David Bohm geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er feststellt, daß die Relativitätstheorie und die Quantentheorie in der Notwendigkeit übereinstimmen, „die Welt als ein ungeteiltes Ganzes anzuschauen, worin alle Teile des Universums einschließlich dem Beobachter und seiner Instrumente zu einer einzigen Totalität verschmelzen und sich darin vereinigen“20. Andere Physiker sind gegenüber derart weitreichenden Schlußfolgerungen ungleich zurückhaltender und keineswegs geneigt, in der Wechselwirkung von Meßgerät und Quantenobjekt bereits das Subjekt-Objekt-Verhältnis der philosophischen Tradition thematisiert zu sehen. Wolfgang Pauli hält sogar die „Zielvorstellung einer Überwindung der Gegensätze, zu der auch eine sowohl das rationale Verstehen wie das mystische Einheitserlebnis umfassende Synthese gehört, für den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Mythos unserer eigenen, heutigen Zeit“21. Der Hinweis auf derart unterschiedliche Ausdeutungen der Quantentheorie erfordert eine kurze grundsätzliche Besinnung auf das Verhältnis der zweifellos bewährten und bestätigten modernen Physik zu ihren möglichen Interpretationen. Wie verhält sich die fast unumstrittene und erfolgreiche Physik zu ihren teils äußerst umstrittenen Interpretationen? 22 Eine physikalische Theorie ist als ein interpretierter mathematischer Formalismus zu verstehen und besteht dementsprechend aus mathematischem Formalismus und dessen Interpretation. Die mathematische Formulierung der physikalischen Theorie kann beschrieben werden als ein System formaler Symbole, das den Regeln der Mathematik folgt. Insbesondere bezüglich der Quantenmechanik gibt es unterschiedliche mathematische Formulierungen, die aber einander äquivalent sind. 18 Ders., Wer ist das Subjekt in der Physik? 126. „Objekte und endliche Subjekte sind, was sie sind, nur für endliche Subjekte. Dies scheint nicht weit entfernt zu sein von dem, was die Advaita-Lehre Maya nennt“ (a.a.O., 137). Die monistische Advaita-Lehre, wonach alle Wirklichkeit eins und göttlich ist, geht auf den Hindu-Philosophen Shankara (788–820 n. Chr.) zurück. Nur brahman, das Absolute, gilt hier als real; die Welt der Sinne wird dagegen als widersprüchlich und traumhaft bezeichnet, weil sie maya, d. h. Illusion und Täuschung ist. 20 D. Bohm, Fragmentierung und Ganzheit, 275. 21 W. Pauli, Die Wissenschaft und das abendländische Denken, 205. Im Unterschied zu C. F. v. Weizsäcker ist W. Pauli, Die philosophische Bedeutung der Idee der Komplementarität, 16, davon überzeugt, daß die „Extrapolation [...] der Hindu-Metaphysik vom reinen Subjekt des Erkennens, dem kein Objekt mehr gegenübersteht, [...] als unhaltbare Extrapolation erkannt werden muß“. 22 Vgl. zum folgenden J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 17–19, sowie M. Wolff, Naturwissenschaftliche Erkenntnis – Basis für ethische Entscheidungen? 3–14. 19 215 Ein mathematischer Formalismus leistet mit den Worten von Max Born „ganz wunderbare Dienste in der Beschreibung komplizierter Dinge, ohne jedoch viel zu einem wirklichen Verständnis der Vorgänge beizutragen“23. Das gewünschte „wirkliche Verständnis der Dinge“ soll eben die Interpretation ermöglichen. Unter der Interpretation des Formalismus versteht man in der Physik „seine Abbildung in die Wirklichkeit durch Angabe dessen, was zumindest einigen Symbolen in der Natur bzw. im Experiment jeweils entsprechen soll, wie also die mathematischen Endergebnisse der Theorie physikalisch ‚zu lesen‘ sind“24. Gerade die moderne Physik und hier insbesondere wieder die Quantentheorie zeigen, daß diese Interpretation auf unterschiedliche Weise geleistet werden kann. Der Formalismus läßt sich mit unterschiedlichen Bildern und Vorstellungen von Wirklichkeit verbinden. Diese Ausgestaltung kann sehr sparsam vorgehen, möglichst eng auf den mathematischen Ausdruck bezogen bleiben und auf Modelldenken weitgehend verzichten; die Ausgestaltung kann aber auch phantasievoll und geradezu verschwenderisch geschehen, wobei dann im einzelnen freilich zu untersuchen ist, inwieweit die jeweiligen Vorstellungen, Bilder und Modelle noch vom zugrunde liegenden Formalismus getragen werden und inwieweit sie zu Lasten der Interpretation gehen. Solange diese Interpretationen jedenfalls in Einklang mit dem mathematischen Formalismus und mit den experimentellen Daten stehen und in sich widerspruchsfrei bleiben, sind sie aus physikalischer Perspektive alle möglich. Es gibt somit unterschiedliche „Modelle der Welt, die mit der Quantentheorie verträglich sind“25, es gibt „unterschiedlich[e] physikalisch[e] Weltbilder“26. Nach Gerhard Vollmer geht es bei diesem Interpretationsstreit letztlich darum, ob es eine vom Menschen unabhängige Welt gibt und ob und inwieweit die Physik diese Welt erkennen kann.27 Entsprechend stellt sich für Günther Ludwig in diesem Zusammenhang die Frage, was in einer physikalischen Theorie reine Fiktion ist und was reale Strukturen der Welt widerspiegelt: „Bei der Beantwortung dieser Frage unterscheiden sich die Geister trotz desselben Urteils über die ‚Brauchbarkeit‘ einer physikalischen Theorie. Die Spanne der Meinungen reicht vom Positivismus, der keine ‚Realitätsansprüche‘ an eine physikalische Theorie stellt bis hin zu einem ‚naiven Realismus‘, der unkritisch ein realistisches Weltbild der Physik meint ausmalen zu können.“28 In einer Arbeit über das „Realismusproblem in der Quantenmechanik“ unterscheidet Lothar Arendes als Extrempole zwischen Instrumentalisten, die den 23 M. Born, Philosophische Betrachtungen zur modernen Physik, 46. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 18. 25 N. Herbert, Quantenrealität, 13. 26 J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 18. J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 21–25, spricht auch von einer legitimen „Theorienpluralität“ (24) in der Physik und der Freiheit in der Konstruktion physikalischer Theorien: „Tatsächlich bedingen Experimente nur, daß eine zu entwerfende Theorie nicht mit ihnen in Widerspruch steht. Darüber hinaus herrscht Freiheit in der Theorienkonstruktion.“ 27 Vgl. G. Vollmer, Geleitwort, X–XII. 28 G. Ludwig, Ist der Determinismus eine Grundvoraussetzung für Physik? 63. 24 216 theoretischen Termen in einer physikalischen Theorie generell den Bezug auf reale Objekte absprechen und Realisten, die „eine vom menschlichen Bewußtsein unabhängig existierende Welt [postulieren], über welche sie mittels experimentell getesteter Theorien objektive Erkenntnisse zu geben beanspruchen“29. Da ein mathematischer Formalismus erst durch Interpretation zur physikalischen Theorie wird, kann beim Umgang mit den Theorien der modernen Physik auf Interpretation gar nicht verzichtet werden. Damit ist aber immer auch eine erkenntnistheoretische Stellungnahme impliziert. Zurecht weist Klaus Mainzer darauf hin, daß jeder Physiker bei seiner alltäglichen Arbeit im Labor, Hörsaal oder Schreibtisch einen philosophischen Hintergrund habe: „Die schlechteste Position ist diejenige, die sich dessen nicht bewußt ist.“30 Obgleich die zumindest implizite Bewertung verschiedener Interpretationen damit unverzichtbarer Teil des Umganges mit Physik ist, betont Jürgen Audretsch, daß diese Bewertung nicht Teil der Physik selber ist: „Kriterien für eine Bewertung gibt es in großer Zahl. Ihre systematische Ausarbeitung und Gewichtung ist Aufgabe einer Meta-Physik, die heute ihren Platz in Wissenschaftstheorie bzw. Naturphilosophie gefunden hat.“ 31 Der Mathematiker Manfred Wolff nennt beispielsweise (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) sieben solche Bewertungskriterien für naturwissenschaftliche Theorien, „die heute mehr oder weniger bewußt angewendet werden“32. In unserem Zusammenhang kann es nicht darum gehen, in diesem „quantentheoretischen Universalienstreit“33 Stellung zu beziehen. Aber es soll noch einmal kurz zusammengefaßt werden, was nach jahrzehntelangen Diskussionen über Deutungen der modernen Physik und insbesondere der Quantentheorie als fast einhelliger Konsens unter Physikern festgehalten werden kann: w Spätestens mit der Quantentheorie ist der selbstverständliche „naive“ anschauliche Wirklichkeitsbezug physikalischer Theorien zerbrochen; die Wirklichkeit der Physik wird als problematisch erkannt, es gibt in der Physik ein „Realismusproblem“. 29 L. Arendes, Gibt die Physik Wissen über die Natur? 1; vgl. H. Römer, Naturgegeben oder frei erfunden? Wieviel Freiheit gibt es in der Physik? 220–232. 30 K. Mainzer, Naturphilosophie und Quantenmechanik, 251 31 J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 19. 32 M. Wolff, Naturwissenschaftliche Erkenntnis – Basis für ethische Entscheidungen? 13. Als diese sieben Kriterien zählt Wolff auf: „1. Tatsachenkonformität 2. Rationalität 3. Einfachheit 4. Experimenteller Gehalt, Reichweite 5. Sinnstiftungsgehalt, Erklärungsgehalt 6. Theoretischer Gesamtüberhang 7. Fruchtbarkeit“ (a.a.O., 14). Wolff betont ebd., daß die Reihenfolge dieser Kriterien zufällig sei und kein Kriterium vollständig präzisiert werden könne. Vgl. dazu auch die im einzelnen etwas veränderte Kriterienliste, die Wolff anderenorts vorlegt (Das Naturverständnis des Naturwissenschaftlers und seine Verwendung im ethischen Argument, 49). 33 E. Rudolph, Naturgesetz und gegenständliche Realität, 12. 217 w Lokal realistische Interpretationen der Quantentheorie sind inzwischen experimentell widerlegt. Eine Rückkehr zu den der klassischen Physik zugrunde liegenden Vorstellungen ist damit ausgeschlossen. w Abgesehen davon gibt es eine breite Skala möglicher Deutungen der Quantentheorie. Spricht man noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Verlängerung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse von dem naturwissenschaftlichen Weltbild oder der wissenschaftlichen Weltauffassung,34 so zeigt sich mittlerweile, daß die allgemeinste physikalische Theorie (die Quantentheorie) Raum läßt für ganz unterschiedliche „physikalische Weltbilder“. Weniger denn je kann heute von dem physikalischen Weltbild oder der naturwissenschaftlichen Weltanschauung die Rede sein. w Alle gängigen Deutungen der Quantentheorie treffen dieselben physikalisch nachprüfbaren Aussagen;35 experimentell kann darum nicht über ihre Richtigkeit entschieden werden. Im Alltag gemeinsamer physikalischer Arbeit können unterschiedliche Deutungen problemlos miteinander koexistieren, da der jeweilige mathematische Formalismus als gemeinsame Kommunikationsbasis dienen kann. Es erscheint darum angemessener im Rahmen der Physik anstatt von einem Interpretationsstreit einem im Vollzug der Physik nicht mehr als problematisch empfundenen Interpretationspluralismus oder sogar von einem Interpretationsrelativismus zu sprechen. In abgewandelter Form läßt sich hier Borns bereits im vorigen Kapitel erwähntes Diktum anwenden: auch eine extreme Deutung der Quantentheorie stört kaum bei Erörterungen unter Fachphysikern, die genau wissen, über was sie sprechen. Sie kann aber gefährlich werden, wenn sie Nichtphysikern als jüngstes Resultat der Naturwissenschaft präsentiert wird.36 Im Hinblick auf den Dialog von Theologie und Physik ist festzuhalten, daß es in diesem Dialog selbstverständlich nicht darum gehen kann, in irgendeiner Weise den bewährten mathematischen Formalismus der Quantentheorie in Zweifel zu ziehen. Auch die gängigen physikalischen Interpretationen der Quantentheorie sind ohne unmittelbare Bedeutung für die Theologie. Ob ein Physiker beispielsweise die Eigenschaften eines Quantenobjekts vor der Messung als unbestimmt, unbekannt, vielwertig, verwaschen oder was auch immer betrachtet, ist aus theologischer Perspektive ohne direkten Belang. Es gibt nun allerdings auch einige mögliche, in sich widerspruchsfreie Interpretationen der Quantentheorie „mit sehr hohen ontologischen Kosten“37. 34 E. Haeckel, Die Welträthsel, 384, will der „vernünftigen Weltanschauung Ausdruck geben, welche uns durch die neueren Fortschritte der einheitlichen Naturerkenntniß mit logischer Nothwendigkeit aufgedrungen wird“; vgl. auch 3. Kap. V. vorliegender Arbeit. 35 Vgl. J. Audretsch, Eine andere Wirklichkeit, 18. Selbst D. Bohm, Vorschlag einer Deutung der Quantentheorie durch „verborgene“ Variable, 163, stellt fest, daß die von ihm vorgeschlagene, höchst ungewöhnliche Deutung der Quantentheorie „zu genau denselben Ergebnissen für alle physikalischen Prozesse führt wie die übliche Deutung“. 36 Vgl. M. Born, Physik und Metaphysik, 104 37 K. Mainzer, Naturphilosophie und Quantenmechanik, 253. 218 Dazu zählt beispielsweise die von Hugh Everett entwickelte „Mehrfachwelten-Interpretation“.38 Diese Interpretation nimmt eine unendliche Zahl paralleler, aber nicht beobachtbarer Welten an, die wiederum von unendlich vielen Individuen bewohnt werden, die mit uns jeweils mehr oder weniger identisch sind. Möglicherweise könnte diese Deutung – ihr Zutreffen vorausgesetzt – unmittelbar einige problematische theologische Fragen aufwerfen. Im Dialog zwischen Theologie und Physik ist aber auch hier zunächst die Bewertung dieser Deutung von Interesse. Dabei dürfte der Hinweis genügen, daß diese wie manch andere hypertrophe Deutung moderner physikalischer Theorien zwar in der Öffentlichkeit großes Interesse erregt, aber unter Physikern als „mit überflüssigem metaphysischen Ballast befrachtet“39 und schlicht als „nicht überprüfbar“40 gilt und sich darum in der Physik schon aufgrund pragmatischer Kriterien (sparsame Verwendung physikalisch nicht verifizierbarer Annahmen) nicht als besonders plausible Deutung aufdrängt. Wichtiger sind die mittelbaren Auswirkungen der modernen Physik auf den Dialog von Theologie und Physik. Hier zeigt sich, daß die veränderte Sicht der Wirklichkeit die Stellungnahmen der Physiker zu Fragen der Religion nachhaltig beeinflußt. II. Physiker des Umbruches zu Fragen der Religion 1. Vorbemerkung: Kein apologetischer Mißbrauch bedeutender Physiker „Tatsächlich kann bisher kein christlicher Naturwissenschaftler sagen, was sein Glauben mit seiner Wissenschaft zu tun hat. Es gibt keine Brücke zwischen beidem und schon gar keine Bestätigung des Glaubens. Es gibt aber um so reichlicher den apologetischen Mißbrauch der Wissenschaftler als Glaubenszeugen, die sie nicht sein können und meist auch gar nicht sein wollen.“41 Dieser Feststellung von Eike Christian Hirsch ist in mehrfacher Hinsicht zuzustimmen: Die beliebte Aufzählung bedeutender Naturwissenschaftler, die zugleich Christen sind, weckt allenfalls die Frage, warum andere bedeutende Naturwissenschaftler dann keine Christen sind.42 Eine Zusammenstellung 38 Vgl. dazu P. Mittelstaedt, Objektivität und Realität in der Quantenphysik, 153f; C. F. v. Weizsäcker, Zeit und Wissen, 905–907; A. Bartels, Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, 92f. 39 P. Davies, Der Geist im Atom, 50. 40 A.a.O., 51. 41 E. C. Hirsch, Das Ende aller Gottesbeweise? Naturwissenschaftler antworten auf die religiöse Frage, 24. 42 Vgl. W. Trillhaas, Evangelische Predigtlehre. Vierte, durchgesehene Auflage, München 1955, 159. 219 gläubiger Naturwissenschaftler mitsamt ihren Biographien, Bekehrungserlebnissen und Bekenntnissen mag Christen das Gefühl guter Gesellschaft vermitteln, ist aber ohne Beweiskraft.43 Es gibt darüber hinaus keine zwingende naturwissenschaftliche Bestätigung des christlichen Glaubens, es gibt nicht die eine Brücke, die unmittelbar und notwendig von der Naturwissenschaft zum Glauben führt. Es gibt aber – um im vorgegebenen Bild zu bleiben – sehr viele verschiedene Brücken, die gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnis mit ganz unterschiedlichen Weltbildern, Weltanschauungen und auch religiösen Überzeugungen verbinden können. Wenn sich nun ein Naturwissenschaftler Fragen der Religion zuwendet, dann läßt sich sehr wohl fragen und feststellen, was seine Sicht des Glaubens mit seiner Wissenschaft zu tun hat und wie sich in naturwissenschaftlicher Forschung herausgebildete Denkweisen auswirken, wenn sie sich mit religiösen Vorstellungen auseinandersetzen. Der Mathematiker und Astrophysiker Hermann Bondi betont beispielsweise, daß seine „Haltung zur Religion etwas mit der kritischen, analytischen, ja, skeptischen Einstellung zu tun hat, die man lernt, wenn man Naturwissenschaftler wird“44. Auch für Niels Bohr bedeutet die intensive Beschäftigung mit der Atomphysik eine „Belehrung“, die nicht folgenlos bleibt, wenn man sich Fragen jenseits der Physik zuwendet. Am Ende eines Vortrages über die „Einheit des Wissens“ rechtfertigt er sich, warum er bei der Besprechung derart allgemeiner Fragen so häufig auf das begrenzte Wissensgebiet der Physik hingewiesen habe. Er habe damit versucht, „eine allgemeine Einstellung anzudeuten, die uns durch die eindringliche Belehrung, die wir in unseren Tagen auf diesem Gebiete empfangen haben, nahegelegt wird“45. Bohr drückt sich hier angemessen vorsichtig aus. Der Umgang mit moderner Physik nötigt gewiß nicht zu konkreten Antworten, die Gebiete jenseits der Physik betreffen. Aber er legt Bohr eine allgemeine Einstellung nahe, die sich beispielsweise auch in der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen widerspiegeln kann. Wenn im folgenden die Einstellungen der drei Physiker Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg zur Religion skizziert werden, geschieht dies nicht in irgendeiner apologetischen Absicht, sondern um zu verdeutlichen, daß sich aus den Stellungnahmen dieser Physiker Anfragen und Erwartungen an die Theologie ergeben, die im Dialog zwischen Physik und Theologie aufgegriffen werden müssen. Entgegen ihrem verbreiteten Ruf als „Glaubens- 43 Vgl. z. B. nachfolgende Zusammenstellungen: O. Zöckler, Gottes Zeugen im Reiche der Natur. Biographien und Bekenntnisse großer Naturforscher aus alter und neuer Zeit, Gütersloh ²1906; K. A. Kneller, Das Christentum und die Vertreter der neueren Naturwissenschaft. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, 41912; E. Dennert, Die Religion der Naturforscher. Auch eine Antwort auf Häckels „Welträtsel“, Leipzig 91925; H. Muschalek, Gottesbekenntnisse moderner Naturforscher, Berlin ³1960; vgl. dazu auch H.-H. Jenssen, Naturforscher und ihr Glaube. Sinn und Wert der Berufung auf die Glaubenszeugnisse moderner Naturforscher, in: Die Christenlehre. Zeitschrift für den katechetischen Dienst 36 (1983), Heft 10. 44 H. Bondi, Wissenschaft als kritisches Kooperationsmodell, 57. 45 N. Bohr, Einheit des Wissens, 83. 220 zeugen“, erweisen sich diese Physiker somit bei genauerem Zusehen als Herausforderer der Theologie. Die hier getroffene kleine Auswahl der Physiker ist gewiß nicht repräsentativ für die religiöse Einstellung heutiger Physiker insgesamt. Wie bereits in der Einführung erwähnt, sehen sich gegenwärtig nur sehr wenige Physiker veranlaßt, zu religiösen Fragen überhaupt Stellung zu nehmen. Die folgende Darstellung erhebt darum nur den Anspruch, charakteristische Einstellungen unter Physikern wiederzugeben, wenn sie sich Fragen der Religion zuwenden. Bewußt werden zudem mit Planck, Einstein und Heisenberg Physiker ausgewählt, die maßgeblich an der Grundlegung der modernen Physik beteiligt sind und deren wissenschaftliche Arbeit aus den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Arbeit bekannt ist. Diesen Physikern des Umbruches sind die Folgen des revolutionären Wandels in der modernen Physik deutlicher bewußt, als den jüngeren Physikern, für die die Relativitäts- und die Quantentheorie bereits zum selbstverständlichen Bestand der Physik zählen.46 Dabei kann auch deutlich werden, wie sich bestimmte Einstellungen im Wirklichkeitsverständnis der Physik von Planck und Einstein, die beide noch gewisse Vorbehalte gegen bestimmte Deutungen der Quantentheorie anmelden, bis hin zu Heisenberg allmählich entwickeln und sich dabei zugleich der Akzent in der Beurteilung von Religion verschiebt. 2. Max Planck: Gott als naturgesetzliche Macht Max Planck (1858–1947) zählt einerseits zur letzten Generation der klassischen Physiker: So vertritt er noch bei seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1894 die Ansicht, daß sich die angestrebte Vereinheitlichung der Physik auf keinem Gebiet besser durchführen lasse als in der Mechanik.47 Andererseits gibt Planck im Jahr 1900 durch die Einführung des elementaren Wirkungsquantums den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der Quantenphysik. Deren indeterministische Wahrscheinlichkeitsinterpretation kann Planck allerdings nur als etwas Vorläufiges akzeptieren. „Der Gedanke, daß die Welt wie ein Uhrwerk gesetzmäßig abschnurrt, hat auch für mich etwas Abstoßendes“, schreibt Planck 1941 an Bernhard Bavink, „aber nicht weniger, ja viel mehr abstoßend ist mir der entgegengesetzte Gedanke, daß in letzter Linie der blinde Zufall regiert“ 48. Erst in seinen späteren Jahren wendet sich Planck in seinen Veröffentlichungen naturphilosophischen Fragestellungen zu. In diesem Zusammenhang befaßt er sich am Rande auch mit dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion. Aufschlußreich sind hier vor allem seine Vorträge über „Religion und Naturwissenschaft“ (1937), „Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft“ (1941) und „Scheinprobleme der Wissenschaft“ (1946). 46 47 48 Vgl. dazu auch C. F. v. Weizsäcker, Einstein und Bohr, 210. Vgl. dazu Max Planck in seinen Akademie-Ansprachen, 3f. B. Bavink, Briefe von und an Bernhard Bavink, 13. 221 Plancks Ausführungen zur Religion werden aber nur vor dem Hintergrund seiner Sicht der Naturwissenschaften angemessen verständlich. a) Ziel der Naturwissenschaft: das endgültig Reale Es ist für Planck die Aufgabe naturwissenschaftlicher Arbeit, „in die bunte Fülle der uns durch die verschiedenen Gebiete der Sinnenwelt übermittelten Erlebnisse Ordnung und Gesetzlichkeit hineinzubringen“49. Auf diese Weise entsteht ein wissenschaftliches Weltbild, das in permanenter Wandlung und Verbesserung begriffen ist. Der ständige Wechsel des Weltbildes bedeutet für Planck aber kein „regelloses Hin- und Herschwanken im Zickzack, sondern [...] ein Fortschreiten, ein Verbessern, ein Vervollkommnen“50. Ziel naturwissenschaftlicher Erforschung ist im Verlauf dieser Entwicklung schließlich „die Schaffung eines Weltbildes, dessen Realitäten keinerlei Verbesserung mehr bedürftig sind und die daher das endgültig Reale darstellen“51. Mit dem „endgültig Realen“ verweist Planck hier auf etwas, das er andernorts zugleich als eine notwendige Voraussetzung der Physik bezeichnet. Die physikalische Wissenschaft fordere „die Annahme einer realen, von uns unabhängigen Welt [...], die wir allerdings niemals direkt erkennen, sondern immer nur durch die Brille unserer Sinnesempfindungen und der durch sie vermittelten Messungen wahrnehmen können“52. Das naturwissenschaftliche Weltbild kann sich freilich an das „endgültig Reale“ – Planck spricht auch vom „metaphysisch Reale[n]“, von der „reale[n] Welt im absoluten, metaphysischen Sinn“53 oder kurz vom „Absoluten“54 – nur immer weiter annähern, es aber niemals nachweislich erreichen; es bleibt somit „das in unerreichbarer Ferne winkende und richtungsweisende Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit“55. Die Voraussetzung einer „unabhängigen Welt“ kann sich für Planck in dem unbezweifelbaren Ergebnis physikalischer Forschung bestätigt sehen, „daß in allen Vorgängen der Natur eine universale, uns bis zu einem gewissen Grad erkennbare Gesetzlichkeit herrscht“56 und die Physiker dabei die Erfahrung machen, „daß die Naturgesetze nicht von den Menschen erfunden worden sind, sondern daß ihre Anerkennung ihnen von außen aufgezwungen wird“57. Insbesondere die universellen Konstanten – Planck erwähnt in diesem Zusammenhang die Vakuumlichtgeschwindigkeit und das elementare Wirkungs49 M. Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 10. A.a.O., 17. 51 Ebd. 52 M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 32. 53 Ders., Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 18. 54 „Indem wir bei jeglichem Naturgeschehen von dem Einzelnen, Konventionellen und Zufälligen dem Allgemeinen, Sachlichen und Notwendigen zustreben, suchen wir hinter dem Abhängigen das Unabhängige, hinter dem Relativen das Absolute, hinter dem Vergänglichen das Unvergängliche“ (M. Planck, Vom Relativen zum Absoluten, 181). 55 Ders., Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 21f. 56 Ders., Religion und Naturwissenschaft, 33. 57 Ebd. 50 222 quantum – sind nicht nur die „unveränderlich gegebenen Bausteine, aus denen sich das Lehrgebäude der theoretischen Physik zusammensetzt“58, sondern sie sind auch ein „greifbarer Beweis für das Vorhandensein einer Realität in der Natur, die unabhängig ist von jeder menschlichen Messung“59. Wiederholt rechtfertigt Planck die Unanschaulichkeit der modernen Physik im Vergleich zu den Vorstellungen der klassischen Physik. Es sei eine unerfüllbare Forderung, daß die metaphysisch reale Welt mit den Anschauungen, die dem bisherigen naiven Weltbild entnommen sind, vollkommen faßbar und verständlich sein solle: „Die mit den verfeinerten Meßinstrumenten gemachten Erfahrungen verlangen es unerbittlich, daß alteingewurzelte anschauliche Vorstellungen aufgegeben und durch neuartige, mehr abstrakte Begriffsbildungen ersetzt werden, für welche die entsprechenden Anschauungen erst noch gesucht und ausgebildet werden müssen. Damit zeigen sie der theoretischen Forschung ihren Weg in der Richtung vom naiven zum metaphysisch Realen.“60 Planck deutet hier an, daß Physik seines Erachtens zwar kaum auf Anschauungen wird verzichten können, daß aber die der modernen Physik „entsprechenden Anschauungen“ noch nicht entwickelt sind. Doch dies ist für die Richtigkeit dieser Physik belanglos: für den Wert einer neuen Idee, so schreibt Planck einige Seiten weiter, sei nicht der Grad der Anschaulichkeit maßgebend, sondern der Umfang und die Genauigkeit der einzelnen gesetzlichen Zusammenhänge, zu deren Entdeckung diese Idee führe. Anschaulichkeit beruhe ohnehin zu ihrem wesentlichen Teil nur auf Übung und Gewohnheit.61 b) Inhalt und Formen der Religion Nur sehr behutsam und vorsichtig äußert sich Planck zu Fragen der Religion. Es liegt ihm „auch der leiseste Versuch fern, denjenigen [...], die mit ihrem Gewissen im reinen sind und die bereits den festen Halt besitzen, der uns für unsere Lebensführung vor allem nötig ist, den Boden unter den Füßen zu lockern. Das wäre ein unverantwortliches Beginnen [...].“62 Plancks Aussagen zur Religion liegt die Unterscheidung zwischen Inhalt und Formen der Religion zugrunde. Religion begegnet zwar in unterschiedlichen, vielleicht sogar einander widersprechenden Formen, doch nur der Inhalt macht das Wesen der Religion aus. Zum „wesentliche[n] Inhalt der Sätze, 58 A.a.O., 30. A.a.O., 32. „Daß nicht wir uns aus Zweckmäßigkeitsgründen die Außenwelt schaffen, sondern daß umgekehrt sich uns die Außenwelt mit elementarer Gewalt aufzwingt, ist ein Punkt, welcher in unserer stark von positivistischen Strömungen durchsetzten Zeit nicht als selbstverständlich unausgesprochen bleiben darf“ (M. Planck, Vom Relativen zum Absoluten, 181). 60 Ders., Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 20. 61 Vgl. a.a.O., 23. 62 Ders., Religion und Naturwissenschaft, 22. 59 223 deren Anerkennung die Religion von ihren Anhängern fordert“, zählt Planck vor allem, „daß Gott existiert, ehe es überhaupt Menschen auf der Erde gab, daß er von Ewigkeit her die ganze Welt, Gläubige und Ungläubige, in seiner allmächtigen Hand hält und daß er auf seiner aller menschlichen Fassungskraft unzugänglichen Höhe unveränderlich thronen bleibt, auch wenn die Erde mit allem, was auf ihr ist, längst in Trümmer gegangen sein wird.“63 Dies ist für Planck damit der Inhalt „echter Religion“64 und „wahrhaft religiöse[r] Gesinnung“65. In letzter Linie fordert nach Planck Religion Gültigkeit und Bedeutung nicht nur für den einzelnen, sondern für die gesamte Menschheit, sie beansprucht universelle Geltung. Um sich aber über den Glauben austauschen und ihm einen gemeinsamen Ausdruck geben zu können, muß „der Inhalt der Religion in eine bestimmte äußere Form gefaßt [werden], die sich durch ihre Anschaulichkeit für die gegenseitige Verständigung eignet“66. Diese „anschauliche Form“ der Religion variiert in den verschiedenen Kulturen stark – daher sind viele Arten von Religionen entstanden. Insbesondere prägten sich im Kult „anschauliche Symbole“ aus. Ein religiöses Symbol stellt aber „niemals einen absoluten Wert [dar], sondern immer nur einen mehr oder weniger unvollkommenen Hinweis auf ein Höheres, das den Sinnen nicht direkt zugänglich ist“67. Symbole sind zwar für die religiöse Kommunikation genauso unentbehrlich wie die Sprache, aber es „darf niemals vergessen werden, daß auch das heiligste Symbol menschlichen Ursprungs ist“68 – dies gilt ausdrücklich bei Planck auch für die nicht übereinstimmenden kirchlichen Bekenntnisse. „Der tiefreligiöse Mensch, der seinen Glauben an Gott durch die Verehrung der ihm vertrauten heiligen Symbole betätigt“, so Planck weiter, „klebt gleichwohl nicht an den Symbolen fest, sondern hat Verständnis dafür, daß es auch andere, ebenso religiöse Menschen geben kann, denen andere Symbole vertraut und heilig sind, ebenso wie irgendein bestimmter Begriff der nämliche bleibt, ob er durch dieses oder jenes Wort, in dieser oder jener Sprache ausgedrückt wird.“69 Die verschiedenen Konfessionen und Religionen bringen damit jeweils „echte Religion“ durch unterschiedliche anschauliche Formen zum Ausdruck. Die Anschaulichkeit der Religion hat für Planck ganz offensichtlich den gleichen Rang wie die Anschaulichkeit im Rahmen der Physik: sie beruht vor allem auf Übung und Gewohnheit und berührt nicht das Wesen, die Richtigkeit oder Wahrheit der Religion. 63 64 65 66 67 68 69 A.a.O., 29. A.a.O., 24. Ebd. A.a.O., 25. A.a.O., 27. A.a.O., 28. Ebd. 224 c) Religion und Naturwissenschaft Planck verbindet mit dem von der Physik angestrebten metaphysisch Realen die Vorstellung von etwas absolut Beständigem, Unveränderlichem und Konstantem.70 Religion wiederum beinhaltet für ihn im Kern den Glauben an einen ewigen, allmächtigen, unveränderlichen und universalen Gott, wie auch immer er anschaulich vorgestellt werden mag. Von daher kann es nicht verwundern, wenn Planck zu dem Ergebnis kommt, daß sich Religion und Naturwissenschaft „in der Frage nach der Existenz und nach dem Wesen einer höchsten über die Welt regierenden Macht“71 begegnen und darin übereinstimmen, „daß erstens eine von den Menschen unabhängige vernünftige Weltordnung existiert und daß zweitens das Wesen dieser Weltordnung niemals direkt erkennbar ist, sondern nur indirekt erfaßt beziehungsweise geahnt werden kann.“72 Religion verweist durch verschiedene, sich möglicherweise vordergründig widersprechende anschauliche Symbole auf die Wirklichkeit des ewigen, unveränderlichen und allmächtigen Gottes. Naturwissenschaft nähert sich mehr und mehr dem endgültig Realen, erkennt, daß die „elementaren Bausteine des Weltgebäudes [...] nach einem einzigen Plan aneinandergefügt sind“73, – ja das physikalische „Prinzip der kleinsten Wirkung“ vermag für Planck sogar den Eindruck zu erwecken „als ob die Natur von einem vernünftigen, zweckbewußten Willen regiert würde“74. Es bedürfe nur eines kleinen Gedankenschritts, so sagt Planck an anderer Stelle, um in der Bevorzugung der kleinsten Wirkungsgröße das Walten der göttlichen Vernunft zu erkennen.75 Dies führt Planck schließlich zur Gleichsetzung von dem Gott der Religion und der von den Naturwissenschaften gesuchten und teils schon gefundenen naturgesetzlichen Ordnung: „Nichts hindert uns also, und unser nach einer einheitlichen Weltanschauung verlangender Erkenntnistrieb fordert es, die beiden überall wirksamen und doch geheimnisvollen Mächte, die Weltordnung der Naturwissenschaft und den Gott der Religion, miteinander zu identifizieren. Danach ist die Gottheit, die der religiöse Mensch mit seinen anschaulichen Symbolen sich nahezubringen sucht, wesensgleich mit der naturgesetzlichen Macht, von der dem forschenden Menschen die Sinnesempfindungen bis zu einem gewissen Grade Kunde geben.“76 Aufgrund dieser Gleichsetzung sieht Planck keinen Widerspruch zwischen Religion und Naturwissenschaft, sondern „gerade in den entscheidenden 70 Vgl. ders., Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 14. Ders., Religion und Naturwissenschaft, 37. 72 Ebd. 73 A.a.O., 32f. 74 A.a.O., 34. Das Prinzip der kleinsten Wirkung besagt kurz gefaßt, „daß unter gewissen als möglich gedachten Vorgängen stets gerade derjenige in Wirklichkeit stattfindet, welcher mit dem Mindestaufwand von Aktion oder Wirkungsgröße verbunden ist“ (M. Planck in seinen Akademie-Ansprachen, 43). 75 Vgl. M. Planck in seinen Akademie-Ansprachen, 43. 76 Ders., Religion und Naturwissenschaft, 37. 71 225 Punkten volle Übereinstimmung“77. Obgleich aber damit „Wissenschaft und Religion in ihren letzten Auswirkungen in dem nämlichen Endziel ausmünden, nämlich in der Anerkennung einer die Welt beherrschenden allmächtigen Vernunft“, betont Planck in einem seiner letzten Vorträge, „so sind doch sowohl ihre Ausgangspunkte als auch ihre Methoden grundverschieden“78. Wiederholt warnt Planck vor einer „Verwechslung der wissenschaftlichen mit der religiösen Betrachtungsweise“79 und einer „Verwischung des Gegensatzes der Aufgaben von Wissenschaft und Religion“80. Insbesondere zählt Planck Fragen der Ethik zum Zuständigkeitsbereich der Religion: „Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, die Religion aber braucht er zum Handeln“81. d) Grenzen der Religion Die Verträglichkeit von Religion und Naturwissenschaft gilt bei Planck freilich nur für das von ihm skizzierte Verständnis von „echter Religion“, das heißt für den von ihm herausgestellten wesentlichen Inhalt von Religion. Wo die Anerkennung darüber hinausgehender Glaubensinhalte gefordert wird, kann Naturwissenschaft durchaus berechtigten Einspruch erheben.82 Insbesondere gilt dies aus Sicht der modernen Naturwissenschaft im Hinblick auf den Glauben an Naturwunder. Hier verläuft für Planck offensichtlich eine der „Grenzen“, welche „eventuell dem religiösen Glauben durch sie [d. h. durch die Erkenntnisse der physikalischen Wissenschaft] vorgeschrieben werden“83. Plancks Stellungnahme zum Thema Naturwunder ist jedenfalls unmißverständlich: „[Die] unablässig auf unanfechtbar sicheren Pfaden fortschreitende Naturerkenntnis hat dahin geführt, daß es für einen naturwissenschaftlich einigermaßen Gebildeten schlechterdings unmöglich ist, die vielen Berichte von außerordentlichen, den Naturgesetzen widersprechenden Begebenheiten, von Naturwundern, die gemeinhin als wesentliche Stützen und Bekräftigungen religiöser Lehren gelten und die man früher ohne kritische Bedenken einfach als Tatsachen hinnahm, heute noch als auf Wirklichkeit beruhend anzuerkennen. [...] Schritt für Schritt muß der Glaube an Naturwunder vor der stetig und sicher voranschreitenden Wissenschaft zurückweichen, und wir dürfen nicht daran zweifeln, daß es mit ihm über kurz oder lang zu Ende gehen muß.“84 Einen Naturwissenschaftler, der es also mit seinem Glauben wirklich ernst meine und es nicht ertragen könne, wenn dieser mit seinem Wissen in Widerspruch gerät, sieht Planck vor der Gretchenfrage stehen, „ob er sich überhaupt 77 A.a.O., 38. Ders., Scheinprobleme der Wissenschaft, 360. 79 Ebd. 80 M. Planck in seinen Akademie-Ansprachen, 47. 81 Ders., Religion und Naturwissenschaft, 38. 82 Dieser Gedanke Plancks erinnert an die ganz entsprechende Forderung B. Bavinks (vgl. S. 160f vorliegender Arbeit). Nach dem Tod Bavinks äußert Planck, daß er keinen einzigen Menschen wisse, mit dem er „in allen weltanschaulichen Fragen eine solche Übereinstimmung fühlte“ (B. Bavink, Briefe von und an Bernhard Bavink, 17). 83 M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 30. 84 A.a.O., 22f. 78 226 noch ehrlich zu einer Religionsgemeinschaft zählen darf, welche in ihrem Bekenntnis den Glauben an Naturwunder einschließt“85. 3. Albert Einstein: Kosmische Religiosität Religiöse Implikationen der Relativitätstheorie weist Albert Einstein mit Entschiedenheit zurück. Nichtsdestotrotz äußert er sich in mehreren Interviews, Briefen, Zeitungsartikeln, Vorträgen, ja sogar auf einer Schallplatte und in einem Telegramm auf entsprechende Anfragen bereitwillig zum Themenbereich „Religion“ und insbesondere auch zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion.86 Im folgenden werden die diesbezüglichen Äußerungen Einsteins kurz zusammengestellt. a) Kritik an der Gottesvorstellung Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Einstein die Quantentheorie wegen ihres indeterministischen Charakters nur als vorläufige und letztlich unvollständige statistische Theorie anerkennen kann.87 Einsteins Vorstellung von den in der Natur wirkenden Gesetzen steht in diesem Punkt noch derjenigen der Physiker des 19. Jahrhunderts nahe – und wie für viele Naturforscher dieser Zeit ist auch für Einstein das streng determinierte Naturgeschehen mit einem in die Weltgeschichte eingreifenden Gott unvereinbar: „Wer von der kausalen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens durchdrungen ist, für den ist die Idee eines Wesens, welches in den Gang des Weltgeschehens eingreift, ganz unmöglich – vorausgesetzt allerdings, daß er es mit der Hypothese der Kausalität wirklich ernst nimmt. [...] Ein Gott, der belohnt und bestraft, ist für ihn schon darum undenkbar, weil der Mensch nach äußerer und innerer gesetzlicher Notwendigkeit handelt, vom Standpunkt Gottes also nicht verantwortlich wäre, sowenig wie ein lebloser Gegenstand für die von ihm ausgeführten Bewegungen.“88 Aufgrund der allgemeingültigen naturwissenschaftlichen Gesetze können wir auf bestimmten Gebieten das jeweilige Verhalten von Phänomenen mit großer Präzision und Bestimmtheit vorhersagen. Einstein beansprucht diese Vorhersagbarkeit nicht allein für physikalische Erscheinungen, sondern er spürt auch 85 A.a.O., 23. Vgl. A. Einstein, Religion und Wissenschaft (1930); ders., Jüdische Gemeinschaft (1930); ders. Christentum und Judentum; ders., Gibt es eine jüdische Weltanschauung?; ders., Wie ich die Welt sehe (1931); ders., Die Religiosität der Forschung; ders., Naturwissenschaft und Religion I (1939); ders., Naturwissenschaft und Religion II (1941); ders., Autobiographisches (1946); ders., Die Notwendigkeit der ethischen Kultur (1951); vgl. ferner Albert Einsteins gesprochenes Glaubensbekenntnis, in: F. Herneck, Einstein und sein Weltbild, 98–102, sowie Einsteins telegraphische Nachricht an Herbert S. Goldstein (1929), in: M. Jammer, Einstein und die Religion, 31. 87 Vgl. 6. Kap. V. vorliegender Arbeit. 88 A. Einstein, Religion und Wissenschaft, 26. 86 227 in der Biologie „die Gesetze einer festen Notwendigkeit“89. Infolgedessen bleibt bei Einstein selbst für menschliche und göttliche Willensfreiheit kein Raum mehr: „Je mehr der Mensch von der gesetzmäßigen Ordnung der Ereignisse durchdrungen ist, um so fester wird seine Überzeugung, daß neben dieser gesetzmäßigen Ordnung für andersartige Ursachen kein Platz mehr ist. Er erkennt weder einen menschlichen noch einen göttlichen Willen als unabhängige Ursache von Naturereignissen an.“ 90 Wiederholt kritisiert Einstein den anthropomorphen Charakter der „Gottesidee in den gegenwärtig gelehrten Religionen“91 und sieht darin ein Relikt der „jugendlichen Periode der geistigen Menschheitsentwicklung“92. Dieser Anthropomorphismus äußert sich nicht nur in der Vorstellung eines strafenden und belohnenden Gottes, sondern auch „in der Tatsache, daß die Menschen das göttliche Wesen im Gebet angehen und von ihm die Erfüllung ihrer Wünsche erflehen“93. Einsteins Religionskritik, die sich im wesentlichen von Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer und Sigmund Freund beeinflußt zeigt, mündet nun freilich nicht in eine grundsätzliche Zurückweisung von Religion und Religiosität, sondern in die Forderung nach einem „Läuterungsprozeß“, in dem „die Religiosität von den Schlacken ihres Anthropomorphismus“94 gereinigt werden muß. Dies kann neben Einsteins Äußerungen zur Gottesvorstellung auch verdeutlicht werden an seinen Bemerkungen zum Verhältnis von Religion und Ethik (b), zur kosmischen Religiosität (c) und schließlich zur Zuordnung von kosmischer Religiosität und Naturwissenschaft (d). Der geforderte Läuterungsprozeß beinhaltet für Einstein freilich zuerst den Verzicht auf die Vorstellung eines persönlichen Gottes: „In ihrem Kampf um das Gute müßten die Lehrer der Religion die innere Größe haben und die Lehre von einem persönlichen Gott fahren lassen, das heißt auf jene Quelle von Furcht und Hoffnung verzichten, aus der die Priester in der Vergangenheit so riesige Macht geschöpft haben.“95 Dieser Forderung kommt bei Einstein besonderes Gewicht zu, da er die gegenwärtige Spannung zwischen Religion und Naturwissenschaft hauptsächlich auf diese Auffassung eines persönlichen Gottes zurückführt.96 In diesem Zusammenhang empfiehlt Einstein den Theologen, sie sollten „ihre Bemühungen lieber auf jene Kräfte richten, die das Gute, Wahre und Schöne im Menschen selbst fördern“97. 89 Ders., Naturwissenschaft und Religion II, 77. Ebd.; vgl. dazu ders., Wie ich die Welt sehe, 10: „An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit.“ 91 Ders., Naturwissenschaft und Religion II, 76. 92 A.a.O., 75. 93 A.a.O., 76. 94 A.a.O., 78. 95 A.a.O., 77. 96 Vgl. a.a.O., 76. 97 A.a.O., 77. 90 228 b) Religion und Ethik Mit dem zuletzt angeführten Zitat deutet sich zugleich an, daß Einstein die wesentliche Aufgabe der geläuterten Religion in einer Begründung der Ethik erkennt. Naturwissenschaftliche Erkenntnis kann stets nur feststellen, was ist, aber sie kann grundsätzlich keine Auskunft über Werte und Ziele menschlichen Handelns geben. Es sei klar, stellt Einstein fest, „daß von dem, was ist, kein Weg führt zu dem, was sein soll. Aus der noch so klaren und vollkommenen Erkenntnis des Seienden kann kein Ziel unseres menschlichen Strebens abgeleitet werden. [...] Das allerletzte Ziel und das Verlangen nach seiner Verwirklichung muß aus anderen Regionen stammen.“98 Es sei die wichtigste Funktion der Religion, so schreibt Einstein hier weiter, „uns diese fundamentalen Ziele und Werte aufzustellen und sie im täglichen Leben des einzelnen zu befestigen“99. In diesem Sinn beschreibt Einstein an anderer Stelle Wesen und Aufgabe der Religion als „das uralte Bemühen der Menschheit, sich dieser Werte und Ziele klar und vollständig bewußt zu werden und deren Wirkung beständig zu vertiefen und zu erweitern“100. Für Einstein liegt der wesentliche Kern von Judentum und Christentum darum auch in deren ethischem Gehalt. „Wenn man das Judentum der Propheten und das Christentum, wie es Jesus Christus gelehrt hat“, schreibt Einstein einmal, „von allen Zutaten der Späteren, insbesondere der Priester, loslöst, so bleibt eine Lehre übrig, die die Menschheit von allen sozialen Krankheiten zu heilen imstande wäre“101, eine „Lehre der reinen Menschlichkeit“102. Ganz entsprechend bezeichnet Einstein einige Jahre später die Pflege der „wichtigsten Triebfedern moralischen Handelns“ als das, „was von der Religion übrigbleibt, wenn man sie von der Komponente des Aberglaubens gereinigt hat“103. In diesem Sinne bildet die Religion für Einstein auch einen wichtigen Teil der Erziehung. Auch die Form des Judentums, zu der sich Einstein bekennt, ist „keine transzendente Religion“104, es scheint ihm „fast ausschließlich die moralische Einstellung im und zum Leben zu betreffen“105. Als 98 Ders., Naturwissenschaft und Religion I, 72. Ebd. Der hier zitierte Aufsatz geht zurück auf eine Ansprache Einsteins, die er im Jahr 1939 in einem Beitrag für die Konferenz der American Association of Theological Schools in Princeton hielt. Neun Jahre zuvor hatte er sich am 9.11.1930 in einem Zeitungsbeitrag für das New York Times Magazine (zwei Tage später im Berliner Tagblatt veröffentlicht) bezüglich des Verhältnisse von Religion und Ethik noch anders geäußert. „Das ethische Verhalten der Menschen“, so schrieb er damals, Religion und Wissenschaft, 26, „ist wirksam auf Mitgefühl, Erziehung und soziale Bindung zu gründen und bedarf keiner religiösen Grundlage“. 100 Ders., Naturwissenschaft und Religion II, 74. 101 Ders., Christentum und Judentum, 148 102 Ebd. 103 Ders., Die Notwendigkeit der ethischen Kultur, 31. 104 Ders., Gibt es eine jüdische Weltanschauung? 147. 105 A.a.O., 146 99 229 Wesen dieser Lebensauffassung nennt Einstein die „Bejahung des Lebens aller Geschöpfe.“106 Dennoch reduziert Einstein Religion nicht auf ihren ethischen Gehalt: „Es steckt aber noch etwas anderes in der jüdischen Tradition, was sich in manchen Psalmen so herrlich offenbart, nämlich eine Art trunkener Freude und Verwunderung über die Schönheit und Erhabenheit dieser Welt, von welcher der Mensch eben noch eine schwache Ahnung erlangen kann. Es ist das Gefühl, aus welchem auch die wahre Forschung ihre geistige Kraft schöpft [...].“ 107 Das „Gefühl“, von dem hier die Rede ist, beschreibt Einstein an anderen Stellen als „kosmische Religiosität“108. Diese steht ohne Zweifel im Zentrum von Einsteins Äußerungen zur Religion. c) Kosmische Religiosität Einstein sieht grundsätzlich zwei Quellen religiösen Denkens und Gestaltens: zum einen Furcht vor Hunger, Krankheit und Tod, zum anderen soziale Gefühle gegenüber nahestehenden Menschen. Die erste Quelle führe zur „Furcht-Religion“, die zweite zur „moralischen Religion“. Obwohl Einstein in der – insbesondere im Juden- und Christentum aufweisbaren – Entwicklung von der Furcht-Religion zur moralischen Religion „einen wichtigen Fortschritt im Leben der Völker“109 ausmacht, ist beiden „Stufe[n] religiösen Erlebens“110 noch der von Einstein kritisierte „anthropomorphe Charakter der Gottesidee“111 gemeinsam. Dieser Anthropomorphismus ist erst auf der „dritten Stufe“ überwunden, die von Einstein als „wahre Religiosität“112, „kosmische Religiosität“113, „höchste Religiosität“114 oder auch als „Erlebnis des Geheimnisvollen“115 bezeichnet wird: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.“ 116 Einstein findet diese Form der Religiosität auch bei Buddha,117 in manchen Psalmen Davids, bei einigen Propheten und bei den „religiösen Genies aller 106 Ebd. A.a.O., 147. 108 Ders., Religion und Wissenschaft, 25. 109 A.a.O., 24. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ders., Wie ich die Welt sehe, 14. 113 Ders., Religion und Wissenschaft, 24. 114 A.a.O., 25. 115 Ders., Wie ich die Welt sehe, 14. 116 Ebd.; vgl. dazu die ganz ähnlich lautenden Äußerungen Einsteins zit. in: F. Herneck, Albert Einsteins gesprochenes Glaubensbekenntnis, in: ders., Einstein und sein Weltbild, 100f. 117 Vgl. ders., Naturwissenschaft und Religion II, 74; ders., Religion und Wissenschaft, 25. 107 230 Zeiten“118, ferner bei Demokrit, Franziskus von Assisi und Spinoza,119 Kepler und Newton120 und überhaupt bei den „ernsthaften Forscher[n] in unserer im allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit“121. Die Religiosität des Forschers liegt für Einstein „im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist“122. Wiederholt spricht Einstein von dem „ergebene[n] Streben nach dem Begreifen eines noch so winzigen Teiles der in der Natur sich manifestierenden Vernunft“123, von einem „tiefe[n] Glaube[n] an die Vernunft des Weltenbaues“124, von der „tiefe[n] Ehrfurcht vor der Vernunft [...], die sich in der Wirklichkeit offenbart“125 und einer „demütige[n] Geisteshaltung gegenüber der Erhabenheit der Vernunft, die sich in der Wirklichkeit verkörpert und [dem Menschen] in ihren letzten Tiefen unzugänglich ist“126. Die hier mit verzücktem Staunen, ergebenem Streben, tiefem Glauben, tiefer Ehrfurcht und demütiger Geisteshaltung beschriebene Einstellung des Naturforschers bezeichnet Einstein als „im höchsten Sinne des Wortes religiös“127. Dieser Religiosität entspricht aber „kein menschartiger Gottesbegriff“128, sie führt zu „keinem geformten Gottesbegriff und zu keiner Theologie“129, sie kennt keine Dogmen und entzieht sich jeder Institutionalisierung. 130 d) Kosmische Religiosität und Naturwissenschaft Nur wenn man Religion im Sinn dieser „kosmischen Religiosität“ versteht, erscheint Einstein ein Gegensatz zwischen Religion und Naturwissenschaft „ganz unmöglich“131. Darüber hinaus bleiben für Einstein „selbst bei einer reinlichen Scheidung zwischen Religion und Naturwissenschaft [...] starke wechselseitige Beziehungen und Abhängigkeiten bestehen“132. Da sich Einstein einerseits einen echten Wissenschaftler ohne die von ihm als religiös bezeichnete Einstellung nicht vorstellen kann, ist Naturwissenschaft auf diese Religiosität angewiesen. Andererseits kann aber Wissenschaft zur Überwin118 Vgl. ders., Religion und Wissenschaft, 25. Vgl. ebd. 120 Vgl. a.a.O., 27. 121 A.a.O., 28. 122 Ders., Die Religiosität der Forschung, 28. 123 Ders., Wie ich die Welt sehe, 14. 124 Ders., Religion und Wissenschaft, 27. 125 Ders., Naturwissenschaft und Religion II, 78. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ders., Religion und Wissenschaft, 24. 129 A.a.O., 25. 130 Vgl. ebd.; C. F. v. Weizsäcker, Brief an M. Jammer, 125, rechnet Einstein zwar nicht zu den Mystikern, beurteilt „seine Erlebnisweise derjenigen der wahren Mystik doch recht nahe“. 131 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion I, 74. 132 A.a.O., 75. 119 231 dung anthropomorpher religiöser Vorstellungen und damit zur Läuterung der Religion beitragen – dies drückt Einstein mit der Bemerkung aus, daß „wissenschaftliche Erkenntnis die wahre Religion adelt und vertieft“133. Die wechselseitige Beziehung zwischen Religion und Naturwissenschaft bringt Einstein auf die bekannte Formel: „Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Naturwissenschaft ist blind.“134 Dieser gerade von Theologen gern zitierte Ausspruch bezieht sich bei Einstein freilich einzig auf die durch wissenschaftliche Erkenntnis geläuterte, von anthropomorphen Vorstellungen befreite Religion. Ein Christentum, das etwa an einer persönlichen Gottesvorstellung, an einem belohnenden und strafenden Gott festhält, zählt für Einstein nicht dazu. Dies geht auch aus Einsteins kurzem „religiösen Credo“ hervor, in dem es heißt: „Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.“135 Aus der Perspektive dieses Glaubens beurteilt Einstein die „gegenwärtige Spannung zwischen Religion und Naturwissenschaft“136 (die vor allem von der Auffassung eines persönlichen Gottes herrührt), die historischen Konflikte zwischen Religion und Naturwissenschaft (die auf einem verhängnisvollen Irrtum beruhen137) und die „wahre Frömmigkeit“, die „nur durch das Streben nach rationaler Erkenntnis“138 erreicht werden kann. 4. Werner Heisenberg: Gott als zentrale Ordnung Werner Heisenberg (1901–1976) sei in religiösen Äußerungen sehr scheu gewesen, schreibt sein Schüler und Freund Carl Friedrich von Weizsäcker.139 Gleichwohl nimmt Heisenberg in unterschiedlichem Zusammenhang dezidiert Stellung zu religiösen Fragen und vor allem zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion. Dies gilt insbesondere für einige Vorlesungen über die Auswirkungen der modernen Physik auf das heutige Weltbild und mehrere, 133 Ders., Naturwissenschaft und Religion II, 78. A.a.O., 75. 135 So schreibt Einstein in dem Telegramm, mit dem er 1929 auf die Anfrage des New Yorker Rabbiners H. S. Goldstein „Glauben Sie an Gott? Bezahlte Antwort 50 Worte“ reagiert (zit. in: M. Jammer, Einstein und die Religion, 31). Einstein verweist im Zusammenhang mit seiner Religiosität wiederholt auf Spinoza, vgl. F. Herneck, Einstein und sein Weltbild 34f. – Einstein könnte auch in seinen deterministischen Vorstellungen und insbesondere in der Ablehnung von Willensfreiheit durch die Lektüre Spinozas beeinflußt sein (vgl. Spinozas um 1660 entstandene Frühschrift „Kurze Abhandlung vom Menschen und seinem Glück“). Einsteins Forderung nach einer „reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissenschaft“ erinnert an Spinozas Trennung von Theologie und Philosophie in seinem „Tractatus theologico-politicus“ (1670). 136 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 76. 137 Vgl. ders., Naturwissenschaft und Religion II, 75. 138 A.a.O., 78. 139 Vgl. C. F. v. Weizsäcker, Heisenbergs Entwicklung seit 1927, 31. 134 232 später veröffentlichte Gespräche in seinem letzten Lebensjahrzehnt.140 In einer Rede vor der katholischen Akademie in Bayern aus Anlaß der Entgegennahme des Guardini-Preises im Jahr 1973 befaßt sich Heisenberg explizit mit naturwissenschaftlicher und religiöser Wahrheit.141 Darüber hinaus enthält Heisenbergs bekannte autobiographische Schrift „Der Teil und das Ganze“ zwei Kapitel, die der genannten Thematik gewidmet sind.142 Schließlich findet sich in den Gesammelten Werken noch zusätzlich eine in unserem Zusammenhang aufschlußreiche, von Heisenberg selbst aber nicht publizierte Schrift. 143 Allen hier aufgeführten allgemeinverständlichen Schriften, Vorlesungen und Gesprächen liegt Heisenbergs Überzeugung zugrunde, daß die Konsequenzen der Atomphysik – und dabei denkt Heisenberg vor allem an die Konsequenzen der von ihm maßgeblich entwickelten Quantenphysik – an vielen Stellen das Bild der Welt verändert haben: „Sie zwingen zum Umdenken und gehen daher einen weiteren Kreis vom Menschen an.“144 Insbesondere ist Heisenberg der Auffassung, daß man auch die Zusammenhänge im Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft sehr viel besser denken könne, seit man die Quantentheorie verstanden habe.145 a) Die „Schichtentheorie“ der Wirklichkeit Ausgangspunkt von Heisenbergs Reflexionen über sein Verständnis naturwissenschaftlicher Erkenntnis ist die Frage nach dem Verhältnis des Wirklichkeitsbereiches, der sich über die Atomphysik erschließt, zum Ganzen der Wirklichkeit. Wie verhält sich der naturwissenschaftlich erkennbare Teil der Wirklichkeit zu dem Ganzen oder Einen, als das uns die Wirklichkeit be140 W. Heisenberg, Über das Weltbild der Naturwissenschaft, in: ders., Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. I, 207–215 (ein wohl schon 1942 in Zürich gehaltener Vortrag); ders., Physik und Philosophie, in: ders., Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. II, 3–201 (veröffentlichte Fassung von Heisenbergs Gifford-Vorlesungen an der schottischen Universität St. Andrews im Wintersemester 1955/56, „die nach dem testamentarischen Willen ihres Stifters eigentlich die natürliche Theologie zum Gegenstand haben sollen, d. h. jene Einstellung zu den letzten Fragen, die sich ergibt, wenn man von der Bindung an irgendeine spezielle Religion oder Weltanschauung absieht“, a.a.O., 5); ders., Double dialogue with Werner Heisenberg, in: ders., Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. III, 464–471 und 472–486 (der erste Teil dieses Interviews wurde 1969 durchgeführt, der zweite 1973); vgl. auch E. C. Hirsch, Das Ende aller Gottesbeweise? 28–42. 141 Ders., Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, in: ders., Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. III, 422–439. 142 Die jeweiligen Kapitelüberschriften lauten: „Erste Gespräche über das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion“ und „Positivismus, Metaphysik und Religion“, in: W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 101–113 und 241–255 (wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. III, 116–130 und 279–295). 143 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, in: ders., Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. I, 217–306 (nach Angaben der Herausgeber wurde das Manuskript im Herbst 1942 beendet; einige Schreibmaschinenkopien verschickte Heisenberg an Freunde; vgl. a.a.O., 217). 144 Ders., Physik und Philosophie, 6. 145 Vgl. ders., Der Teil und das Ganze, 252. 233 gegnet? Immer wieder befaßt sich Heisenberg mit dieser Fragestellung, am ausführlichsten in „Der Teil und das Ganze“, aber auch schon in der früheren, aber erst postum veröffentlichten Manuskript „Ordnung der Wirklichkeit“: „Wer sein Leben für die Aufgabe bestimmt, einzelnen Zusammenhängen der Natur nachzugehen, der wird von selbst immer wieder vor die Frage gestellt, wie sich jene einzelnen Zusammenhänge harmonisch dem Ganzen einordnen, als das sich uns das Leben oder die Welt darbietet. [...] So kreisen die Gedanken immer wieder um das Problem, wie jenes Ganze zusammenhängt, das wir Welt oder Leben nennen (– je nachdem wir uns ausoder eingeschlossen denken –) und an welcher Stelle in diesem Ganzen die besonderen Zusammenhänge stehen, denen etwa ein großer Teil der Lebensarbeit gilt.“146 Heisenberg geht davon aus, daß in den zurückliegenden Epochen „Wirklichkeit“ jeweils unterschiedlich begriffen wurde und daß im 20. Jahrhundert „in der Quantentheorie die stärksten Veränderungen hinsichtlich der Wirklichkeitsvorstellung stattgefunden haben“147. Für die moderne Naturwissenschaft zerfalle die Wirklichkeit in verschiedene, zunächst voneinander getrennte Bereiche, die sie jeweils mit verschiedenen Begriffssystemen beschreiben und möglichst vollständig zu analysieren versuche. Es sei ein charakteristischer Zug des modernen Weltbildes, schreibt Heisenberg, daß die Naturwissenschaftler, die von ihnen untersuchten Wirklichkeitsbereiche – diese „Gruppen von Zusammenhängen“148, wie er auch sagt – nebeneinander bestehen lassen und nicht von Anfang an versuchen, sie alle auf einen von ihnen zurückzuführen.149 Durch den Wandel in der Wirklichkeitsvorstellung ergibt sich für Heisenberg nun abermals die Aufgabe, „die verschiedenen Zusammenhänge oder ‚Bereiche der Wirklichkeit‘ zu ordnen, zu verstehen und in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu bestimmen“150. Bei einem tieferen Eindringen in einem Wirklichkeitsbereich eröffnen sich dabei Zusammenhänge zu anderen Bereichen, und es zeigen sich viele Probleme, „die man gar nicht in einer Schicht von Zusammenhängen lösen kann, sondern die man von den verschiedenen Schichten aus diskutieren muß und deren Lösung erst gefunden werden kann, wenn das Aufeinanderpassen der verschiedenen Schichten richtig verstanden ist“151. Erklärtes Ziel ist es, schließlich „zu einem Verständnis der Wirklichkeit vorzudringen, das die verschiedenen Zusammenhänge als Teile einer einzigen sinnvoll geordneten Welt begreift“152. Neben den Wirklichkeitsbereichen, die von der modernen Naturwissenschaft untersucht werden, spricht Heisenberg auch von „Gruppen von Zusammenhängen in der Wirklichkeit, die wir mit den Begriffen Bewußtsein und Geist charakterisieren“153 und die für ihn „gleichberechtigt neben den verschiedenen 146 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 218. Ders., Physik und Philosophie, 10f; vgl. dazu: ders., Über das Weltbild der Naturwissenschaft, 207–212. 148 Ders., Über das Weltbild der Naturwissenschaft, 213. 149 Vgl. ebd. 150 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 221, vgl. 218f. 151 Ders., Über das Weltbild der Naturwissenschaft, 213. 152 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 221. 153 Ders., Über das Weltbild der Naturwissenschaft, 214. 147 234 Bereichen [stehen], die wir in der Naturwissenschaft kennengelernt haben“154. Obwohl Heisenberg hier von der Gleichberechtigung dieser Bereiche spricht, entwickelt er doch eine „Stufenleiter der Wirklichkeitsbereiche“155, eine „‚Schichtentheorie‘ der Wirklichkeit“156: Die unterste Schicht umfaßt dabei die kausalen Zusammenhänge der Erscheinungen, die als Abläufe in Raum und Zeit objektiviert werden können (wie zum Beispiel in der klassischen Physik), die nächste Schicht eröffnet sich der modernen Physik, die insbesondere die Zusammenhänge zwischen atomarem Aufbau der Materie und chemischem Verhalten analysiert, dann folgt die dritte Schicht, die auch die biologischen Gesetzmäßigkeiten umfasse und sie in einer heute noch unbekannten Weise an die physikalisch-chemischen Gesetze anschließen werde.157 Seinen Abschluß findet Heisenbergs Schichtenmodell in „der obersten Schicht der Wirklichkeit [...], in der sich der Blick öffnet für die Teile der Welt, über die nur im Gleichnis gesprochen werden kann“158. Diese oberste Schicht nennt Heisenberg zugleich auch „den letzten Grund der Wirklichkeit“159, den die Religionen zur Sprache bringen. Auf dieser Ebene ist eine die jeweiligen „Sachverhalte“ objektivierende Erkenntnis, wie sie insbesondere die klassische Physik voraussetzt, nicht mehr möglich. Aber schon auf der zweiten Stufe zeichnen sich – im Zusammenhang mit dem quantenmechanischen Meßprozeß – die Grenzen der Objektivierung und damit eine Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt ab. Heisenberg faßt rückblickend sein Schichtenmodell zusammen: „Die Ordnung der Bereiche sollte ja die grobe Teilung der Welt in eine objektive und in eine subjektive Wirklichkeit ersetzen, sie sollte sich zwischen diesen Polen: Objekt und Subjekt ausspannen, so daß an ihrem untersten Ende die Bereiche stehen, in denen wir vollständig objektivieren können. Dann sollten sich die Bereiche anschließen, in denen die Sachverhalte nicht völlig getrennt werden können von dem Erkenntnisvorgang, durch den wir zur Feststellung des Sachverhalts gelangen. Ganz oben sollte schließlich die Schicht der Wirklichkeit stehen, in der die Sachverhalte erst im Zusammenhang mit dem Erkenntnisvorgang geschaffen werden.“ 160 Heisenberg versteht dies aber nicht so, als handle es sich bei den „Sachverhalten“ der obersten Ebene nur um „subjektiv[e] Illusionen [...], die sich sozusagen beim Streben nach Erkenntnis von selbst einschleichen“161. Erkenntnis auf dieser Stufe kann vielmehr neue und den Menschen für ihr Glück und Unglück besonders wesentliche Sachverhalte schaffen – Heisenberg spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Kraft der Seele zum Verwandeln der 154 Ebd. Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 294. 156 Ders., Über das Weltbild der Naturwissenschaft, 212. 157 Vgl. a.a.O., 213. 158 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 294. 159 A.a.O., 302. 160 A.a.O., 294. 161 Ebd. 155 235 Welt“162, die gleichwohl nicht vom menschlichen Willen gelenkt werden kann. b) Naturwissenschaftliche und religiöse Sprache Für die naturwissenschaftlichen Bereiche gilt, daß ihnen jeweils unterschiedliche Begriffssysteme angemessen sind. Die Quantentheorie beispielsweise zeigt, daß Begriffe, die in der klassischen Physik noch eine unmittelbar anschauliche Bedeutung haben, in der modernen Physik allenfalls noch in übertragener und unanschaulicher Weise benutzt werden können. Dieselben Begriffe bedeuten damit in der modernen Physik etwas anderes als in der klassischen Physik. Aufgrund derartiger Erfahrungen sei man heute auch weniger geneigt anzunehmen, daß die Begriffe der Physik, insbesondere auch die der Quantentheorie, mit Sicherheit überall in der Biologie und in anderen Wissenschaften angewendet werden können: „Die neuen Ergebnisse stellten vor allem eine ernsthafte Warnung dar gegen die etwas gezwungene Anwendung physikalischer Begriffe in Gebieten, in die sie nicht gehörten.“ 163 Zeichnen sich schon die naturwissenschaftlichen Bereiche durch ein ihnen jeweils eigenes Begriffssystem aus, so gilt dies viel mehr noch für den obersten Bereich der Wirklichkeit, dem sich die religiöse Sprache anzunähern versucht. Bei den Bildern und Gleichnissen der Religion handle es sich um eine Art Sprache, schreibt Heisenberg, die eine Verständigung ermögliche über den hinter den Erscheinungen spürbaren Zusammenhang der Welt. Diese Sprache sei der Sprache der Dichtung näher verwandt als jener der auf Präzision ausgerichteten Naturwissenschaft.164 Über die letzten Dinge könne man eigentlich nicht sprechen, daher beginne alle Religion mit dem Gleichnis: „Durch das Gleichnis wird gewissermaßen erst die Sprache festgesetzt oder geschaffen, in der über die Zusammenhänge der Welt gesprochen werden soll.“165 Allgemeine Begriffe wie „Geist, menschliche Seele, Leben, Gott“ haben darum für Heisenberg zwar ihre Berechtigung, aber er gibt zu bedenken, „[...], daß diese Begriffe nicht im wissenschaftlichen Sinne wohldefiniert sein können und daß ihre Anwendung zu mancherlei inneren Widersprüchen führen wird; trotzdem müssen wir diese Begriffe einstweilen so nehmen, wie sie sind, unanalysiert und ohne präzise Definition. Denn wir wissen, daß sie die Wirklichkeit berühren.“ 166 Wiederholt betont Heisenberg, daß naturwissenschaftliche und religiöse Sprache nicht durcheinandergebracht werden dürfen, da in beiden die gleichen Wörter oft etwas Unterschiedliches bedeuten: 162 A.a.O. 295. Ders., Physik und Philosophie, 194. 164 Vgl. ders., Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, 435f. 165 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 228. 166 Ders., Physik und Philosophie, 195. 163 236 „Zu der Sorgfalt, mit der wir die beiden Sprachen, die religiöse und die naturwissenschaftliche, auseinanderhalten müssen, gehört auch, daß wir jede Schwächung ihres Inhalts durch ihre Vermengung vermeiden müssen.“167 Obwohl Heisenberg mit Nachdruck für eine strikte Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlicher und religiöser Sprache eintritt, kann die Sprache der modernen Physik ein besseres Verständnis der religiösen Sprache ermöglichen. So lassen sich die Ordnungsstrukturen der Welt, die Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung sind, zwar exakt in mathematischen Formeln darstellen; aber wenn wir über diese Welt sprechen wollen, so Heisenberg, „müssen wir uns mit Bildern und Gleichnissen begnügen, fast wie in der religiösen Sprache“168. Auf diesen Punkt geht Heisenberg in einem Gespräch ein, in dem er darauf hinweist, daß sich Religion und Naturwissenschaft in dieser Hinsicht in der nämlichen mißlichen Lage wiederfinden: „And, even from the gnoseological point of view, it was a great consolation for me to realize that modern physics is in the same situation: I mean the same unhappy situation; that of not being able to explain or express what it is except by means of comparisons and approximations. In atomic physics, for example, we have to use images such as the ‚orbit‘ or ‚wave‘ of an electron, knowing clearly that these images are false, or that they can express no more than half the truth.“169 Für Heisenberg handelt es sich auch bei der religiösen Sprache um eine Sprache, die auf Bilder und Gleichnisse angewiesen ist und dabei nie genau darstellen kann, worauf sie verweist; letzten Endes gehe es aber in den meisten alten Religionen „um den gleichen Inhalt, den gleichen Sachverhalt“170. Die Religionen verweisen somit in unterschiedlichen Sprachen letztendlich auf ein- und dasselbe, wie Heisenberg in dem gerade zitierten Gespräch näher ausführt: „I have always liked the idea that all the religions of the world tend towards the same end, making use of different images and allegories to express the same thing. [...] I believe that the religions signify the same fundamental realities framed in distinct languages – the Christian, the Buddhist, the Zen – but willing to express the same hidden thing.“171 167 Ders., Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, 437, vgl. 435. A.a.O., 436. Eine ähnliche Äußerung findet sich auch in einem Gespräch, das Heisenberg im Jahr 1971 mit E. C. Hirsch führte: „Wir können über die Atome völlig klar reden, nämlich in einer mathematischen Sprache, die präzis und widerspruchsfrei ist. Aber wenn wir das, was wir mathematisch aufgeschrieben haben, in unsere gewöhnliche Sprache übersetzen, sind wir gezwungen Bilder und Gleichnisse zu verwenden. Diese Denksituation schien mir einen guten Vergleich zu bieten, um die Aussagen der Religion besser zu verstehen. Dort sprechen wir einerseits auch von einer Realität – oder: von einer Wirklichkeit, will ich besser sagen –, die in allen Völkern immer wieder verstanden worden ist, von der aber doch andererseits in allen Völkern, in allen Kulturen und zu allen Zeiten nur in Gleichnissen und Bildern gesprochen worden ist“ (E. C. Hirsch, Das Ende aller Gottesbeweise? 41f). 169 W. Heisenberg, Double dialogue with Werner Heisenberg, 471. 170 Ders., Der Teil und das Ganze, 248. 171 Ders., Double dialogue with Werner Heisenberg, 471. 168 237 c) Die zentrale Ordnung der Dinge und des Geschehens Bedenkt man, welche Bedeutung für Heisenberg der Einteilung und Ordnung der Wirklichkeit zukommt, dann kann es nicht verwundern, daß er den gemeinsamen „Sachverhalt“, auf den die Religionen verweisen, wiederholt als „zentrale Ordnung“ bezeichnet. Die eigentlichen Religionen lassen sich für ihn daran erkennen, daß in ihnen „der geistige Bereich, die zentrale geistige Ordnung der Dinge eine entscheidende Rolle spielt“172. An dieser zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens sei nicht zu zweifeln, schreibt Heisenberg.173 Ähnlich wie Planck scheint Heisenberg die von den Naturwissenschaften aufgedeckten Gesetzlichkeiten als Hinweis auf die zentrale Ordnung zu interpretieren.174Ihre eigentliche Bedeutung aber erhält die zentrale Ordnung im Hinblick auf die Begründung einer Ethik. Bei der „Frage nach den Werten“ handelt es sich für Heisenberg „um die Beziehungen der Menschen zur zentralen Ordnung der Welt“175: Die Ethik nimmt „den Kompaß, nach dem sie sich richtet [...,] letzten Endes immer nur aus der Beziehung zur zentralen Ordnung“176. Wenn nach Werten gefragt werde, schreibt Heisenberg, so scheine die Forderung zu lauten, daß wir im Sinne dieser zentralen Ordnung handeln sollen.177 Die Wirksamkeit der zentralen Ordnung – oder des „Einen“178, wie Heisenberg gelegentlich schreibt – zeigt sich ihm schon darin, „daß wir das Geordnete als das Gute, das Verwirrte und Chaotische als schlecht empfinden“179. Die zentrale Ordnung als tiefster Grund der Wirklichkeit ist nichts, was der Mensch objektivieren könnte. Die zentrale Ordnung ist für Heisenberg nicht vom erkennenden Subjekt zu trennen, sondern auch als „Mitte“ des Menschen selbst erfahrbar. So bezeichnet bei Heisenberg das Wort „Seele“ gleichfalls „die zentrale Ordnung, die Mitte“180 eines Menschen. Dennoch kann Heisenberg zugleich auch von einer Beziehung zur zentralen Ordnung sprechen. Was ist damit gemeint? Wenn man den autobiographischen Erzählungen in „Der Teil und das Ganze“ folgt, unterhielt sich Heisenberg mit verschiedenen Physikern eingehend über religiöse Fragen, wobei wiederholt auch die Frage nach einem „persönlichen Gott“ erörtert wurde. Als Gesprächspartner werden in diesem Zusammenhang 172 Ders., Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, 429. Vgl. ders., Der Teil und das Ganze, 253. 174 „In der Naturwissenschaft ist die zentrale Ordnung daran zu erkennen, daß man schließlich solche Metaphern verwenden kann wie ‚die Natur ist nach diesem Plan geschaffen‘. Und an dieser Stelle ist mein Wahrheitsbegriff mit dem in den Religionen gemeinten Sachverhalt verbunden“ (W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 252). – Heisenberg weist aber ausdrücklich die Gleichsetzung des naturgesetzlichen Zusammenhangs mit Gott als „unerlaubte Vereinfachung“ (zit. in E. C. Hirsch, Das Ende aller Gottesbeweise? 32) zurück. 175 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 251. 176 A.a.O., 254. 177 Vgl. a.a.O., 251f. 178 A.a.O., 252. 179 Ebd. 180 A.a.O., 253. 173 238 Niels Bohr, Wolfgang Pauli und Paul Dirac genannt.181 Der Glaube an einen persönlichen Gott, den die anderen genannten Physiker nach Heisenbergs Darstellung nicht nachvollziehen können, bedeutet für Heisenberg, daß „man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, mit ihr so unmittelbar in Verbindung treten [kann], wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist“182. In diesem Zusammenhang verweist dann Heisenberg kurz – „weil es ja auf meine persönlichen Erlebnisse hier nicht ankommt“183 – auf die Erfahrung, die Blaise Pascal in seinem berühmten „Memorial“ ausgedrückt hat. In dem Manuskript „Ordnung der Wirklichkeit“ geht Heisenberg allerdings etwas ausführlicher auf das „religiöse Erlebnis“ und auf eigene diesbezügliche Erfahrungen ein: „Wenn es uns selbst angeht, so können wir vom Inhalt des Erlebnisses überhaupt nur in Gleichnissen reden. Wir können etwa sagen, daß uns plötzlich die Verbindung mit einer anderen, höheren Welt in einer für das ganze Leben verpflichtenden Weise aufgegangen sei, oder daß uns in einer bestimmten Situation Gott unmittelbar begegnet sei und zu uns gesprochen habe (ich selbst würde hier z. B. zuerst an die Nacht auf dem Söller der Ruine Pappenheim im Sommer 1920 denken); oder wir können es so ausdrücken, daß uns mit einem Male der Sinn unseres Lebens klar geworden sei und daß wir nun sicher zwischen Wertvollem und Wertlosem zu unterscheiden wüßten.“184 Heisenberg schreibt dann weiter, daß das Bewußtwerden der anderen höheren Welt etwas sei, das ganz unvermittelt, gewissermaßen von außen an uns herantrete, so daß wir nicht daran zweifeln können, daß eine andere Welt uns gegenüberstehe und uns fordere. Alle Religion beginnt für Heisenberg mit diesem religiösen Erlebnis, dessen Inhalt schließlich eine faßbare Form im religiösen Mythos und im Gleichnis erhalte. Dadurch werde die Sprache geschaffen, durch die erst über den Inhalt der religiösen Erfahrungen gesprochen werden könne.185 III. Moderne Physiker: Offen für Religion – herausfordernd für die Theologie Planck, Einstein und Heisenberg betonen in zum Teil fast gleichlautenden Formulierungen die Notwendigkeit einer „reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissenschaft“186 (Einstein), warnen vor einer „Verwischung des Ge181 Vgl. a.a.O., 105–107, 252f. Heisenberg nennt nur die Vornamen seiner Kollegen; wer jeweils gemeint ist, läßt sich aber leicht aus dem Kontext erschließen. 182 A.a.O., 253. 183 Ebd. 184 Ders., Ordnung der Wirklichkeit, 296. 185 Vgl. a.a.O., 296f. 186 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 75. 239 gensatzes der Aufgaben von Wissenschaft und Religion“189 (Planck) und fordern eine sorgfältige Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlicher und religiöser Sprache (Heisenberg).190 Zum einen sollen damit Übergriffe in das Arbeitsgebiet der Physik zurückgewiesen werden; zum anderen kommt hier aber auch der bis zur Gegenwart bestehende, fast einhellige Konsens in der Physik zum Ausdruck, daß über theologische Fragen „eine physikalische Aussage zu formulieren, [...] eine Vermessenheit [wäre]“191. Dennoch stehen für Planck, Einstein und Heisenberg Religion und Naturwissenschaft nicht beziehungslos nebeneinander: Nach Planck „begegnen sich“192 Naturwissenschaft und Religion, ja sie „ergänzen und bedingen einander“193, Einstein sieht „starke wechselseitige Beziehungen und Abhängigkeiten“194, und Heisenberg kann aufgrund eines Vergleiches mit der „Denksituation“ in der modernen Physik „religiöse Aussagen besser [...] verstehen“195. Vergleicht man die entsprechenden Äußerungen der drei Physiker, so lassen sich im wesentlichen drei ihnen weitgehend gemeinsame Zugänge von der Physik zur Religion unterscheiden. Der erste Zugang ergibt sich aus der Einsicht, daß Physiker auf ethische Normierungen zwar nicht verzichten können, diese aber nicht von der Physik selbst oder einer anderen Naturwissenschaft begründet werden können. Planck, Einstein und Heisenberg bietet sich darum offensichtlich die Religion als zuständige Instanz für die Vorgabe ethischer Normen an. Planck betrachtet Religion als unabdingbare Voraussetzung für entschlossenes Handeln: „Denn wir stehen mitten im Leben und müssen in dessen mannigfachen Anforderungen und Nöten oft sofortige Entschlüsse fassen oder Gesinnungen betätigen, zu deren richtiger Ausgestaltung uns keine langwierige Überlegung verhilft, sondern nur die bestimmte und klare Weisung, die wir aus der unmittelbaren Verbindung mit Gott gewinnen.“ 196 Fragen der Ethik, so Planck lapidar, gehören nicht in den Zuständigkeitsbereich der Physik.197 Einstein betrachtet es, wie gesehen, sogar als die wichtigste Funktion der Religion, fundamentale Werte und Ziele zu vermitteln – „man soll nicht versuchen, sie zu begründen“, so schreibt Einstein über diese Ziele, „sondern sie ihrem Wesen nach klar und rein erkennen.“198 Auch Heisenberg delegiert ethische Fragen in den Zuständigkeitsbereich der Religion: 189 M. Planck in seinen Akademieansprachen, 47. Vgl. W. Heisenberg, Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, 436. 191 E. Lüscher, Moderne Physik, 10. 192 M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 37. 193 A.a.O., 38. 194 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 75. 195 Zit. in: E. C. Hirsch, Das Ende aller Gottesbeweise? 41. 196 M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 38. 197 Vgl. ebd. 198 A. Einstein, Religion und Wissenschaft, 72. 190 240 „Die Religion ist [...] Grundlage der Ethik, und die Ethik ist die Voraussetzung des Lebens. Denn wir müssen ja täglich Entscheidungen treffen, wir müssen die Werte wissen oder mindestens ahnen, nach denen wir unser Handeln ausrichten.“ 199 Zwar ist es zweifellos richtig, daß ethische Normen nicht physikimmanent entwickelt werden können und Physiker hier auf die Unterstützung anderer Wissenschaften angewiesen sind; aber dies allein kann nicht schon rechtfertigen, daß ethische Fragen – und damit auch Fragen nach der Verantwortung physikalischer Forschung – unbesehen an die theologische Fakultät weitervermittelt werden. Derart schlichten Verweisungen auf Theologie oder Religion, wann immer es um Fragen der Ethik geht, begegnet man bei Naturwissenschaftlern bis in die Gegenwart hinein – aber deutlich seltener. Bei Physikern ist das diesbezügliche Verantwortungsbewußtsein insbesondere seit der Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki, aber auch durch die sich in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher abzeichnende Ambivalenz des technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts gewachsen. In diesem Zusammenhang muß auch noch einmal erwähnt werden, daß bezüglich ethischer Fragen in den vergangenen Jahren ein vergleichsweise intensiver Dialog zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften eingesetzt hat, der allen Beteiligten die Verantwortung für die Folgen naturwissenschaftlicher Forschung als gemeinsame Aufgabe begreiflich werden ließ. Der zweite Zugang zur Religion ist von den klassischen Physikern, insbesondere von Kepler her bekannt: Namentlich für Einstein offenbart sich Gott in der Harmonie der Naturgesetze,200 aber auch bei Planck bedarf es nur eines kleinen Gedankenschrittes, um in den Naturgesetzen „das Walten der göttlichen Vernunft“201 zu erkennen, was bei ihm schließlich sogar zur Gleichsetzung von Gott und naturgesetzlicher Ordnung führt. In dieser Hinsicht äußert sich Heisenberg allerdings ungleich zurückhaltender und qualifiziert eine derartige Gleichsetzung als unerlaubte Vereinfachung.202 Weniger die naturgesetzlichen Zusammenhänge, die die Physik aufdecken kann, als vielmehr das Bewußtwerden ihrer grundsätzlichen Grenzen schaffen bei Heisenberg wieder Raum für Religion. Damit zeigt sich ein dritter Zugang zur Religion, der sich den Physikern gerade aufgrund der neuen physikalischen Theorien nahelegt und der eng mit dem veränderten Verständnis physikalischer Wirklichkeit verbunden ist. Wie viele klassische Physiker nennt Planck als Ziel naturwissenschaftlicher Forschung noch die „Schaffung eines Weltbildes, dessen Realitäten keinerlei Verbesserung mehr bedürftig sind und die daher das endgültig Reale darstellen“203. Aber schon bei Planck entzieht sich diese Wirklichkeit letztem naturwissenschaftlichem Zugriff: die Gesetzlichkeit der Natur ist nur bis zu einem gewissen Grad erkennbar,204 der realen Welt können wir uns nur immer weiter annähern, sie bleibt aber „in unerreichbarer Ferne“205. Auch Einstein 199 W. Heisenberg, Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, 429. Vgl. A. Einstein, Die Religiosität der Forschung, 28. 201 Vgl. M. Planck in seinen Akademie-Ansprachen, 43. 202 Vgl. Anm. 173. 203 M. Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 17. 204 Vgl. ders., Religion und Naturwissenschaft, 33. 205 Ders., Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, 21f. 200 241 verweist auf „das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen“206 und betont wiederholt die Begrenztheit physikalischer Erkenntnis. Für Heisenberg schließlich haben „Begriffe, wie ‚objektiv real‘ [...] gegenüber der Situation, wie man sie in der Atomphysik vorfindet, keine von vornherein klare Bedeutung“207, „die klassische Vorstellung der ‚objektiven-realen Dinge‘ [muß] hier aufgegeben werden“208, und die moderne Physik sieht sich damit in der Situation, die Wirklichkeit nur noch in Bildern und Annäherungen ausdrücken zu können, von denen sie zugleich weiß, daß sie falsch sind oder nur die Hälfte der Wahrheit ausdrücken.209 Auch andere Physiker sind in ihren Aussagen über die Wirklichkeit im Verlauf des 20. Jahrhunderts sehr vorsichtig geworden. Kein Physiker, der die Entwicklung der Relativitäts- und Quantentheorie erlebt habe, werde „über die Richtung, in der die Wirklichkeit liegt, allzu dogmatische Behauptungen aufstellen“210, schreibt der Astrophysiker und Mathematiker James Jeans. Noch um die Jahrhundertwende habe man gedacht, „daß wir auf eine letzte Wirklichkeit mechanischer Art lossteuerten“211. Nun aber würden die meisten Physiker zugeben, daß die Bilder, die die Wissenschaft von der Natur entwerfe, Fiktionen seien, sofern man unter einer Fiktion verstehe, daß die Wissenschaft noch nicht mit der letzten Wirklichkeit in Berührung sei.212 Die hervorstechendste Leistung der Physik des 20. Jahrhunderts sei damit für viele Physiker weder Relativitäts- noch Quantentheorie oder Kernspaltung, sondern eben „die allgemeine Erkenntnis, daß wir noch nicht in Berührung mit der letzten Wirklichkeit sind“213. Der Atomphysiker und Heisenbergschüler Hans-Peter Dürr äußert, die Quantenphysik mache wieder deutlich, „daß unsere wissenschaftliche Erfahrung, unser Wissen über die Welt nicht der ‚eigentlichen‘ oder ‚letzten‘ Wirklichkeit, was immer man sich darunter vorstellen will, entspricht“214. In diesem Sinn stellt auch der Physiker Helmut Gärtner fest, trotz der Beiträge, die die Quantenmechanik zur Erhellung partieller Aspekte der Wirklichkeit liefere, bleibe diese „eine ‚verschleierte Wirklichkeit‘ (d’Espagnat) oder nach Paulus ein dunkles Bild, das wir durch einen Spiegel sehen“215. Die Erfahrung, daß sich der Physik die „Wirklichkeit“ letztlich entzieht, führt freilich nicht geradewegs und zwangsläufig von der Physik zur Religion. Aber die durch die moderne Physik so nachhaltig geförderte Einsicht in die 206 A. Einstein, Wie ich die Welt sehe, 14. W. Heisenberg, Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, 444. 208 A.a.O., 448. 209 Vgl. W. Heisenberg, Double dialogue with Werner Heisenberg, 471. 210 J. Jeans, In unerforschtes Gebiet, 63. 211 Ebd. 212 Vgl. a.a.O., 49. 213 Ebd. – Das „noch“ in diesem Zitat, läßt hier freilich den Gedanken zu, daß einmal doch möglich sein könnte, von der Physik aus, „in Berührung mit der letzten Wirklichkeit“ zu kommen. 214 H.-P. Dürr, Physik und Transzendenz, 13. 215 H. Gärtner, Nicht-lokale Realität oder was ist Wirklichkeit? 73. 207 242 Grenzen physikalischer Erkenntnis verdeutlicht immerhin, daß Physik den Zugang zur Religion offenhält. Daran erinnert auch der Quantenphysiker Pascual Jordan, wenn er feststellt, daß alle Hindernisse und Mauern, welche die ältere Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion aufgerichtet habe, nicht mehr vorhanden seien.216 Der Biophysiker Alfred Gierer verweist darauf, daß insbesondere auch die Quantentheorie erbracht habe, daß es „prinzipielle, unüberwindliche, aber auch gedanklich einsehbare Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis gibt“217, und Gierer konstatiert in diesem Zusammenhang, daß die moderne Wissenschaft damit „bescheidener, aufgeschlossener und offener zu sein [scheint], offen besonders für die großen Sinn- und Deutungsfragen“218. Die metatheoretische Mehrdeutigkeit der Welt, so Gierer weiter, sei eben auch Freiheit zur Interpretation, die allerdings die durch die Wissenschaft selbst gesetzten Grenzen respektieren muß. Die Offenheit der modernen Physik „für die großen Sinn- und Deutungsfragen“ kann im Anschluß an einen Vergleich von Hans-Dieter Mutschler veranschaulicht werden. Mutschler vergleicht die uns begegnende Wirklichkeit mit einem Text und den Physiker mit einem Wissenschaftler, der die Grammatik dieses Textes aufzudecken versucht.219 Die grammatikalische Analyse eines Textes könne prinzipiell nichts über Sinn oder Unsinn dieses Textes ausmachen, und selbst „wenn der Grammatiker in einem Text alle Regeln seiner Wissenschaft verifiziert hat, wenn ihm darin kein Sinn begegnet ist, so darf er daraus nicht rückschließen, daß es diesen Sinn überhaupt nicht gibt“220. Genauso wenig vermag nach Mutschler die Physik Aussagen über den Sinn und Inhalt der Wirklichkeit im Ganzen zu machen. Allerdings sieht Mutschler eine „Korrelation zwischen grammatikalischer Struktur und Sinnstruktur, zwar nicht derart, als könnte man aus der Grammatik den Sinn des Textes erschließen, aber doch so, daß die beiden aufeinander hingeordnet sind“221. Grammatik gebe nämlich nicht allein objektive Regeln des richtigen Sprechens vor, sondern stelle zugleich auch die Möglichkeit von Sinnerschließung, aber auch von Sinnverbergung bereit.222 Führt man diesen Vergleich noch etwas weiter aus, so läßt sich damit die durch die moderne Physik veränderte Situation verdeutlichen. Der Umbruch von der klassischen zur modernen Physik läßt sich dann damit vergleichen, daß dem Text eine neue und angemessenere Grammatik zugrunde gelegt wird. Auch die neue Grammatik vermag freilich unmittelbar keine Aussage über Sinn und Inhalt der Wirklichkeit im Ganzen zu machen; aber sie ist gegenüber 216 P. Jordan, Der Naturwissenschaftler vor der religiösen Frage, 357. A. Gierer, Physik, Leben, Bewußtsein. Über Tragweite und Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, 120. 218 A.a.O., 121. – Auf für den theoretischen Physiker H. Römer, Physik der Unsterblichkeit? 128, „macht das Naturbild der heutigen Physik das Glauben leichter: Die Welt gleicht nicht mehr einem riesigen Uhrwerk, sie ist offener, persönlicher, ‚beseelter‘ geworden. Der Reduktionismus verliert immer mehr an Boden.“ Vgl. ders., Naturgegeben oder frei erfunden? 224, sowie 232: „Wir können an der Natur sowohl ihre strenge Ordnung als auch deren farbigen Abglanz in unendlich interpretierbarer Mannigfaltigkeit bewundern.“ 219 Vgl. H.-D. Mutschler, Physik, Religion, New Age, 25f; vgl. auch 33f, 114, 116, 120, 135f. 220 A.a.O., 30. 221 A.a.O., 36f. 222 Vgl. a.a.O., 38. 217 243 der alten Grammatik, die eher Möglichkeiten der „Sinnverbergung“ nahelegte, offener auch für Möglichkeiten der Sinnerschließung. Die von der modernen Physik der Wirklichkeit zugrunde gelegte Struktur erlaubt dementsprechend viel eher eine Korrelation zu einer „Sinnstruktur“, als dies im Rahmen der klassischen Physik mit ihrem Ideal mechanischer Erklärbarkeit denkbar war. Die mit der Quantentheorie (wieder) offensichtlich gewordene Einsicht in die grundsätzliche Begrenztheit physikalischer Erkenntnis kann den Physikern auch einen Zugang zur Religion eröffnen. Diese Offenheit für Religion äußert sich in den Stellungnahmen von Planck, Einstein und Heisenberg allerdings als eine Offenheit, die unter Vorbehalten geschieht und mit bestimmten, deutlich von der modernen Physik inspirierten Vorstellungen von Religion verbunden ist. Unbestritten ist für diese Physiker, daß das durch den Umbruch in der Physik veränderte Wirklichkeitsverständnis mit religiösen Vorstellungen vereinbart werden kann. Fraglich ist ihnen selbst aber, ob sich diese Vorstellungen noch mit spezifisch christlichen Glaubensvorstellungen verbinden lassen. Ist einem „naturwissenschaftlich einigermaßen Gebildeten“223 der Zugang zu wesentlichen christlichen Glaubensaussagen verwehrt? Wird Physikern, die sich in ihrer Wissenschaft mehr und mehr von anschaulichen Vorstellungen gelöst und immer abstrakteren Gesetzen zugewandt haben, mit dem christlichen Glauben ein Rückfall in anthropomorphes Denken zugemutet? Geschieht dies in der christlichen Rede von einem persönlichen Gott, der sich in der Geschichte den Menschen offenbart? Jedenfalls ist bemerkenswert, daß die Offenheit von Physikern für Religion nicht einer konfessionell geprägten Gläubigkeit zugute kommt. Einstein entdeckt die kosmische Religiosität bei Juden und bei Christen unterschiedlicher Konfession genauso wie bei Angehörigen anderer Religionen, ja sogar bei Menschen, „die ihren Zeitgenossen oft als Atheisten erschienen“224. Überhaupt fällt auf, daß Physikern die Pluralität von Religionen unproblematisch erscheint: die Religionen sind nur unterschiedliche anschauliche Formen „echter Religion“ (Planck), sie drücken dieselbe grundlegende Wirklichkeit nur in unterschiedlichen Sprachen aus (Heisenberg), oder sie werden als komplementäre Beschreibungsweisen aufgefaßt, „die aber erst in ihrer Gesamtheit einen Eindruck von dem Reichtum vermitteln, der von der Beziehung der Menschen zu dem großen Zusammenhang ausgeht“225. Im Bewußtsein des revolutionären Umbruches in der modernen Physik, die nicht nur nach Überzeugung vieler Physiker das moderne Bewußtsein nachhaltig prägt, erwarten diejenigen Physiker, die sich mit religiösen Fragen befassen, daß sich nun auch die Theologie bemüht, sich gegenüber diesem gewandelten Bewußtsein verständlich zu machen. „Naturwissenschaftler 223 M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 22. A. Einstein, Religion und Wissenschaft, 25. 225 W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 109, gibt hier eine von N. Bohr ihm gegenüber geäußerte Vorstellung wieder. 224 244 müssen die Christen fragen“, fordert Carl Friedrich von Weizsäcker in diesem Sinn, „ob sie das moderne Bewußtsein vollzogen haben.“226 Es sei keine Schande und keine Gefährdung, so Weizsäcker weiter, zuzugeben, daß die gedanklichen Probleme zwischen religiöser Wahrheit und modernem Bewußtsein ungelöst seien. Aber dieses Geständnis nötigt Theologie und Naturwissenschaft zu einem Dialog, in dem die Theologie unter Beweis stellen muß, ob sie das moderne Bewußtsein überhaupt noch nachvollziehen kann. Allein eine den veränderten Umständen nur notdürftig angepaßte Interpretation des überlieferten Glaubens würde die Erwartungen der modernen Physiker kaum befriedigen können. Ohne Theologie auf Physik reduzieren zu wollen, beanspruchen sie – implizit oder explizit –, daß Einsichten der modernen Physik mittelbar zur Klärung des Wesens der Religion beitragen können. Planck fragt ausdrücklich nach den Grenzen, welche eventuell dem religiösen Glauben durch die Erkenntnisse der physikalischen Wissenschaft vorgeschrieben werden.227 Nach Einstein vermag wissenschaftliche Erkenntnis die Religion zu adeln, zu vertiefen und zu reinigen, indem sie zur Überwindung anthropomorpher Gottesvorstellungen beiträgt.228 Entsprechend vertritt auch der Physiker und Mathematiker Nevill Mott die Ansicht, „daß die Wissenschaft eine reinigende Wirkung auf die Religion haben könnte, indem sie sie von Überzeugung[en] aus einem vorwissenschaftlichen Zeitalter befreit und uns zu einer wahreren Vorstellung von Gott verhilft“229. Damit werden von diesen Physikern nachdrücklich Rückwirkungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf religiöse Vorstellungen gefordert. Ähnlich hatte schon Bernhard Bavink die Ansicht vertreten, daß eine neue naturwissenschaftliche Erkenntnis, die mit bestimmten religiösen Vorstellungen unvereinbar ist, eine Modifikation dieser Vorstellungen notwendig mache und damit zu einer Besinnung auf das Wesen der Religion beitragen könne.230 Derartigen Gedanken scheint im übrigen auch Papst Johannes Paul II. grundsätzlich aufgeschlossen zu sein, wenn er – mit ganz ähnlichen Worten wie Albert Einstein und Nevill Mott – erklärt, daß nicht nur Religion die Naturwissenschaft von Götzendienst und falschen Absolutsetzungen befreien, sondern umgekehrt auch Naturwissenschaft die Religion von Irrtum und Aberglauben reinigen könne.231 226 C. F. v. Weizsäcker, Notizen zum Gespräch über Physik und Religion, 329. Vgl. M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, 30. 228 Vgl. A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 77f. 229 N. Mott, Die Existenz Gottes und die Wissenschaft, 164. 230 Vgl. 4. Kap. IV. 2. f. vorliegender Arbeit. 231 „Science can purify religion from error and superstition; religion can purify science from idolatry and false absolutes. Each can draw the other into a wider world, a world in which both can flourish“ (John Paul II., in: R. J. Russell/W. R. Stoeger/G. V. Coyne, Physics, Philosophy and Theology: A Common Quest for Understanding, M 13; deutsch: Johannes Paul II., Schreiben an George V. Coyne, 159). Im übrigen hat schon Thomas von Aquin daraufhingewiesen, daß ein Irrtum über die Schöpfung zuweilen auch von der Wahrheit des Glaubens abführe: „Est etiam necessaria creaturarum consideratio non solum ad veritatis instructionem, sed etiam ad errores excludendos. Errores namque qui circa creaturam sunt, interdum a fidei veritate abducunt, secundum quod verae Dei cognitioni repugnant. Hoc autem multipliciter contingit“ (Summa contra gentiles 2, 3). 227 245 IV. Rückblick und Ausblick: Sechs Feststellungen zum Dialog von Theologie und moderner Physik In den folgenden sechs Feststellungen werden noch einmal einige zentrale Gedanken der vorliegenden Arbeit zusammengefaßt. Dies ist zugleich ein Ausblick auf die Möglichkeiten und Aufgaben des künftigen Dialogs von Theologie und moderner Physik. 1. Bei der überwiegenden Zahl der insgesamt spärlichen theologischen Reaktionen auf die moderne Physik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erwies sich die Theologie als fragwürdiger und weitgehend inkompetenter Dialogpartner der Physik. Insbesondere die theologischen Reaktionen auf die Relativitätstheorie zeigten, daß die Theologie selbst grundlegende Entwicklungen in der modernen Physik nicht mehr angemessen nachvollziehen konnte. Die Folge davon war eine zunehmende Entfremdung zwischen theologischen Denkweisen und der Vorstellungswelt der modernen Physik. Neben den Nachwirkungen des Konflikts zwischen den neuzeitlichen Naturwissenschaften und der katholischen Kirche ist die uneingestandene, für Physiker aber offensichtliche Inkompetenz, die sich in diesen Reaktionen äußerte, ein Grund für das geringe Interesse der meisten Physiker an einem Dialog mit der Theologie. Konstruktive Anstöße für eine Reflexion über das Verhältnis zwischen moderner Physik und Religion kamen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht von Theologen, sondern von einigen theologisch gebildeten und interessierten Naturwissenschaftlern. 2. Die unmittelbare Auseinandersetzung der Theologie mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die schon zur Konfrontation zwischen neuzeitlicher Astronomie und Theologie geführt hatte, stellte sich auch im Hinblick auf die moderne Physik als falscher Ausgangspunkt für einen fruchtbaren Dialog heraus: Das Bestreiten der experimentellen Verifizierbarkeit der Relativitätstheorie durch neuscholastische Theologen endete genauso kläglich wie der Versuch, aus quantenphysikalischen Phänomenen einen Hinweis auf das unmittelbare Eingreifen Gottes abzuleiten. Die Theologie ist nicht zuständig, wenn es um die Richtigkeit physikalischer Erkenntnisse geht – dies ist Sache des innerphysikalischen Klärungsprozesses. Die vergangenen drei Jahrhunderte zeigen überdies, daß wiederholt neue physikalische Theorien – richtige oder falsche, bis heute bewährte oder längst aufgegebene – kurz nach ihrem Auftreten sowohl von Theologen als auch von Naturwissenschaftlern als naturwissenschaftliches Argument für oder gegen die Möglichkeit von Metaphysik gedeutet wurden. 246 Mechanismus, Atomismus, Energetismus, Relativitätstheorie, Quantentheorie und dergleichen lösten fast reflexartig angeblich sichere Extrapolationen aus, die die tatsächliche Aussagekraft der jeweiligen Theorie aber weit überstiegen: einmal glaubten sich eher die „Metaphysiker“ bestätigt sehen zu können (etwa bei der Quantentheorie), ein andermal eher die „Metaphysikkritiker“ (etwa bei der Relativitätstheorie oder im Zusammenhang mit dem klassischen Mechanismus); stets aber versuchten Vertreter beider Seiten die betreffende Theorie für sich in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus gab es immer wieder den Versuch, diverse physikalische Einzelphänomene, die besonders erstaunlich und für die Naturwissenschaft noch unerklärlich waren, theologisch auszubeuten (heute gilt dies vor allem für die „Feinabstimmung“ der fundamentalen Naturkonstanten und für das davon abgeleitete „anthropische Prinzip“). Doch mit einigem Abstand erwies sich noch allemal: Keine physikalische Theorie – und schon gar kein physikalisches Einzelphänomen – nötigt zu einer bestimmten metaphysischen Extrapolation, und keine physikalische Theorie kann die Möglichkeit von Metaphysik widerlegen. 3. Die Theologie muß bedenken, daß die physikalischen Erkenntnisse, die im Dialog mit der modernen Physik zur Sprache kommen, immer schon und notwendigerweise philosophisch gedeutete Erkenntnisse sind. Es gibt verschiedene mögliche Interpretationen des mathematischen Formalismus, der einer physikalischen Theorie zugrunde liegt. In diesen verschiedenen Interpretationen äußert sich explizit oder implizit ein bestimmter erkenntnistheoretischer Standpunkt, der darüber hinaus zu ganz unterschiedlichen Weltbildern ausgebaut werden kann. Bereits die Begriffe der Alltagssprache, mit deren Hilfe physikalische Theorien vermittelt werden (müssen), enthalten unvermeidlich Anschauungen und Vorstellungen, die mit deutenden Elementen verbunden sind. Dies gilt ganz besonders für die populärwissenschaftlichen Darstellungen physikalischer Erkenntnisse, die oft völlig auf die mathematischen Formulierungen verzichten und dafür um so mehr vielleicht legitime, aber keineswegs zwingende Deutungen enthalten. Es gibt jedenfalls nicht die eindeutige Physik, mit Bezug auf die (oder im Anschluß an die) die Theologie metaphysische Vorstellungen konzipieren könnte. 4. Erst auf der Ebene der expliziten philosophischen Deutungen physikalischer Theorien ist ein Dialog zwischen Physik, Philosophie und Theologie sinnvoll. Der Umbruch von der klassischen zur modernen Physik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowie die sich anschließenden philosophischen Deutungen und theologischen Reaktionen zeigten in aller Deutlichkeit: um einen fruchtbaren Dialog zu führen, müssen sich Physik und Theologie auf eine Ebene begeben, auf der physikalische Theorien explizit philosophisch gedeutet werden können.232 Dieser Dialog kann zur Klärung beitragen, wo Übergänge von gesicherten physikalischen Erkenntnissen und ihren unterschiedlichen Deutungen zu reiner, von physikalischer Forschung zwar längst 232 Vgl. U. Kropac, Naturwissenschaften und Theologie im Dialog, 325–331, 339; W. Achtner, Chance der Metaphysik. Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, 97f. 247 abgehobener, aber dennoch möglicher Spekulation stattfinden. Philosophen und Theologen, denen die moderne Physik meist nur in popularisierter Form zugänglich sein kann, sind hier zwangsläufig auf die Hilfe der Physiker und Mathematiker angewiesen, die Einblick haben in das Zusammenspiel von experimentellen Befunden, mathematischer Theorie und diesbezüglichen Deutungen. Schon die Bewertung unterschiedlicher Deutungen physikalischer Theorien anhand entsprechender Kriterien ist freilich eine philosophische Aufgabe, die heute allerdings nur noch von den Naturwissenschaftlern selbst oder doch in engem Austausch mit ihnen angegangen werden kann. Voraussetzung für einen konstruktiven Austausch zwischen Physik, Philosophie und Theologie ist jedenfalls, daß die unterschiedlichen philosophischen Deutungen von allen Beteiligten explizit als Deutungen erkannt werden können. Das Interesse einer Theologie, die gelernt hat, auf die unmittelbare theologische Ausbeutung der modernen Physik zu verzichten, gilt in diesem Zusammenhang insbesondere der Kritik physikalistischer Entwürfe, bei denen physikalische Erkenntnisse unversehens metaphysisch extrapoliert werden. Selbst wenn manche Physiker diese Entwürfe als Bestätigung der Theologie verstehen und einzelne Theologen sie in diesem Verständnis bestärken, so treten diese Entwürfe dessen ungeachtet in Konkurrenz zur Theologie. Die Wirklichkeit begegnet der modernen Physik nur nach Maßgabe ihres methodischen Zugangs unter einem bestimmten eingeschränkten Aspekt. Da es Aufgabe der Theologie bleibt, die Wirklichkeit als Ganze zu deuten, muß sie zwar unabdingbar die der modernen Physik begegnende Wirklichkeit in ihre Deutung mit einbeziehen, aber sie darf diese von der Physik nicht allein zu leistende Deutung nicht den fragwürdigen Extrapolationen einzelner Physiker überlassen. Im Rückblick auf die theologischen Reaktionen im Anschluß an die Relativitätstheorie läßt sich verdeutlichen, was sinnvolles Thema für einen Dialog zwischen Physik, Philosophie und Theologie gewesen wäre: Anstatt sich unmittelbar über die Richtigkeit oder die Falschheit der Relativitätstheorie auszulassen, hätten neuscholastische Theologen die Auseinandersetzung mit der Deutung, die die Philosophen und Physiker im „Wiener Kreis“ der Relativitätstheorie zuschrieben, führen müssen. Es wäre für die Theologie lohnend gewesen nachzuweisen, daß die dortige Deutung der Relativitätstheorie als „empirische Philosophie“ und als Bestätigung der Metaphysikkritik im Sinn des Logischen Positivismus zwar möglich, aber keineswegs notwendig ist. Umgekehrt hätten Physiker zum Beispiel Karl Heim darauf hinweisen können, daß seine „Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie“233 auf einer krassen Fehldeutung dieser Theorie beruhten. Die bisherigen Feststellungen betonen, daß einerseits kein zwingender Weg von der Physik zur Metaphysik führt, andererseits aber die Grenzen zwischen Physik, Philosophie und Theologie keineswegs mit der gewünschten Schärfe gezogen werden können: Physik enthält bereits unvermeidlich philosophische 233 K. Heim, Gedanken eines Theologen zu Einsteins Relativitätstheorie, 330–347. 248 Deutungen, und extreme, aber mögliche Deutungen können sich zum Religionsersatz aufblähen und damit in Konkurrenz zur Theologie treten.234 Bezüglich der jeweiligen umstrittenen Übergänge besteht darum permanenter Klärungsbedarf. Aber darüber hinaus ist der Dialog von Theologie und Physik noch aus weiteren Gründen notwendig. 5. Im Vergleich zur klassischen Physik prägt die moderne Physik die Wirklichkeitsvorstellungen der Physiker in völlig anderer Weise – und damit auch ihre Stellungnahmen zu Fragen der Religion, sofern sie sich mit diesen Fragen befassen. Wie schon für die klassische Physik sind auch für die moderne Physik alle Bemühungen, metaphysische Fragen auf dem Weg der Naturwissenschaft beantworten zu wollen, „Versuche mit untauglichen Mitteln“235. Gleichwohl kann weder die klassische noch die moderne Physik den Weg zur Metaphysik versperren. Im Gegenteil zeigt sich, daß gerade die moderne Physik ausdrücklicher als die klassische Physik zur Einsicht führen kann, daß sich mit ihren Mitteln die Wirklichkeit als Ganze nicht erfassen läßt. Auch die moderne Physik kann (und will in aller Regel) Metaphysik darum weder ersetzen noch ausschließen. Wenn sich nun aber Physiker auch tatsächlich mit metaphysischen Fragen befassen, erweist sich, daß ihre diesbezüglichen Äußerungen durch das veränderte Wirklichkeitsverständnis der modernen Physik maßgeblich geprägt werden. Vorliegende Arbeit zeigte dies anhand der Äußerungen von Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg; entsprechendes ließe sich auch bei Niels Bohr, Max Born, Pascual Jordan und anderen Physikern, die sich zu Fragen der Religion äußerten, aufweisen. Dabei leisten sich diese Physiker keine illegitimen Grenzüberschreitungen, sondern betonen die Notwendigkeit einer „reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissenschaft“236. Trotzdem spiegelt sich in ihren Äußerungen zur Religion ihre naturwissenschaftliche Denkweise wider. Bohr spricht in diesem Sinn von einer allgemeinen Einstellung, die den heutigen Physikern durch die moderne Physik nahegelegt werde,237 Bondi von einer „kritischen, analytischen, ja, skeptischen Einstellung [...], die man lernt, wenn man Naturwissenschaftler wird“238. 6. Diese Stellungnahmen verschiedener Physiker zu religiösen Fragen beinhalten konkrete Anfragen an die christliche Theologie. Die Theologie muß die veränderten physikalischen Wirklichkeitsvorstellungen nachvollziehen, wenn sie der Herausforderung, die sich aus diesen Anfragen ergibt, angemessen begegnen und sie konstruktiv aufgreifen will. Carl Friedrich von Weizsäcker hält bewußt antireligiöse Überzeugungen bei Physikern für vergleichsweise selten und beschreibt die durchschnittliche 234 Vgl. die „Beispiele zur Metaphysik in der Physik“ in: E. Anwander, Denkweisen und Methoden der Physik und ihr Verhältnis zu Metaphysik und Theologie, 242–247. 235 B. Bavink, Physikalische Gottesbeweise, 204. 236 A. Einstein, Naturwissenschaft und Religion II, 75. 237 Vgl. N. Bohr, Einheit des Wissens, 83. 238 H. Bondi, Wissenschaft als kritisches Kooperationsmodell, 57. 249 Haltung heutiger Physiker zur Religion als „agnostisch, aber offen“239. Im Anschluß daran kann man die Einstellung einer Reihe von Physikern als „offen für Religion, aber kritisch“ bezeichnen. Ihre kritischen, im einzelnen aber sehr unterschiedlichen Stellungnahmen betreffen wie gesehen unter anderem die christliche Gottesvorstellung: Physikern, die schon in der Quantenphysik auf eine unüberwindliche Grenze der Objektivierbarkeit stoßen, erscheint die theologische Rede von einem „persönlichen Gott“ als unzumutbare Vergegenständlichung. Für Physiker, die sich bewußt geworden sind, daß die anschaulichen Bilder in der Physik nur notdürftige Hilfsmittel sind, um über eine anders nicht vorstellbare Wirklichkeit zu sprechen, stellt sich die Pluralität unterschiedlicher anschaulicher Bilder als völlig legitim dar – und es legt sich ihnen eine Analogie zur Anschaulichkeit religiöser Sprache sowie zum Verhältnis der verschiedenen Konfessionen und Religionen untereinander nahe. Sind dies Analogien, die sich leichter zu östlichen Religionen ziehen lassen als zum Christentum? Gründet die Hinwendung einiger Physiker zu den östlichen Religionen darin, daß es der christlichen Theologie nicht mehr gelingt, sich gegenüber den modernen Naturwissenschaftlern verständlich zu machen? Ist aus Perspektive der modernen Physik, die die Erfahrung eines „Paradigmenwechsels“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits hinter sich hat, das abendländische Christentum tatsächlich nicht mehr vermittelbar? Könnte ein „neue[s] Paradigma von Christentum“, „ein postkonfessionelles, ein ökumenisches Paradigma“240, den Anfragen der modernen Naturwissenschaft genügen? Könnten die Anstöße der Physik vielleicht sogar eine Rückbesinnung auf das Wesen des Christentums auslösen? Welche Anregungen für die christliche Theologie enthalten von Physikern festgestellte Ähnlichkeiten und Analogien zwischen physikalischer Theorie und religiösem Glaube?241 Vorliegende Arbeit zeigte jedenfalls, daß gerade auch Physiker, denen die Grenzen ihrer Wissenschaft bewußt sind und die keineswegs „heimlich eine heidnische Gnosis und Religionslehre“242 zu schaffen versuchen, davon überzeugt sind, daß der Umgang mit den Theorien der modernen Physik zum besseren Verständnis, zur Klärung und zur Läuterung religiöser Vorstellungen beitragen kann. Die Theologie muß sich auf einen intensiven Dialog mit der modernen Physik einlassen, um wieder Zugang zu den Denkweisen und den Wirklichkeitsvorstellungen in der Physik zu gewinnen. Erst dann kann sie die verschiedenen Anfragen und Anregungen, die sich aus Sicht der modernen Physik ergeben, angemessen verstehen und aufarbeiten. Weicht die christliche Theologie dieser Herausforderung aus, dann bleibt sie den Erweis schuldig, daß es auch angesichts heutigen Wissens über die Natur möglich und vernünftig ist, sich zum christlichen Glauben zu bekennen. 239 C. F. v. Weizsäcker, Notizen zum Gespräch über Physik und Religion, 328. H. Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, 900. 241 Vgl. J. Audretsch, Physikalische und andere Aspekte der Wirklichkeit, 34f; vgl. J. Polkinghorne, Belief in God in an Age of Science, 25–47. 242 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III, Teil 1, Vorwort. 240 250 Literaturverzeichnis Die hier aufgeführten Veröffentlichungen werden im Textteil nur mit Verfasser und Titel zitiert. Achtner, Wolfgang, Physik, Mystik und Christentum. Eine Darstellung und Diskussion der natürlichen Theologie bei T. F. Torrance, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1991. Achtner, Wolfgang, Chance der Metaphysik. Naturwissenschaft und Theologie im Dialog, in: Evangelische Kommentare 31 (1998), 96-98. 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