Stehendes Gut

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Stehendes Gut
Werfttage 2003
Franz Amonn
Stehendes Gut
Das „Stehende Gut“ (engl. = standing rigging) umfasst das gesamte, nicht bewegliche Tauwerk einer
Takelage. Es erfüllt mehrere Aufgaben:
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Stabilisieren von Masten und Stengen
Uebertragen der Windkräfte auf den Rumpf
Befestigung gewisser Segel
Aufstiegshilfe für Arbeiten im Rigg
Dank einer ausgeklügelten Verspannung sind
die Masten – trotz des seitlich einfallenden
Winddrucks – kaum Biegung ausgesetzt. Gemäss dem Parallelogramm der Kräfte wird die
Windwirkung nämlich allein auf einen Zug im
stehenden Gut sowie einen axialen Druck des
Mast verteilt. Dies ermöglichen zwei sich ergänzende Systeme
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Stage (Backstage/Pardunen)
Wanten
Das stehende Gut wird mit diesen Elementen
immer nach dem gleichen Prinzip – bei grösseren Schiffen auch etagenweise – aufgebaut:
Stage
Dieser Teil des stehenden Guts übernimmt die Stützfunktion in Längsrichtung. Dabei bilden die Stage
(engl. = stays) die Verspannung nach vorne, die Backstage/Pardunen (engl. = backstays) diejenige
nach hinten. An den Stagen werden gewöhnlich auch Schratsegel gehisst.
Da die Stage jeweils einzeln einer Gruppe von Wanten gegenüberstehen, müssen sie wesentlich
grössere Kräfte aufnehmen. Deshalb sind die Stage immer stärker als die Wanten (aspektmässig ist
dies manchmal nicht so evident, da die Wanten meist bekleidet sind). Das Vorstag bildet grundsätzlich
das kräftigste Element des ganzen stehenden Guts; auf grösseren Schiffen ist es oft sogar doppelt
ausgeführt. Obschon die Anordnung der Stage im Laufe der Zeit dahingehend optimiert worden ist,
dass möglichst jeder Mast eine unabhängige Verstagung besitzt, führt bei den meisten Schiffen ein
Bruch des Vorstags zur Destabilisierung mit drohendem Verlust des gesamten Riggs. Zu den Stagen
gehört auch die Verspannung des Bugspriets, inklusive das oft aus einer Kette bestehende Wasserstag.
Idealerweise würden die Backstage gerade nach hinten ziehen. Dies ist wegen der Segel allerdings
nur bei einzelnen modernen Yachten mit hohem Bermuda-Rigg möglich. Gewöhnlich führen die Backstage deshalb seitlich nach hinten. Da sie so unter Umständen ein Ausfieren des Baums behindern
könnten, wird auf kleineren Schiffen oft nur das luvseitige Backstag steifgesetzt, während dasjenige in
Lee gleichzeitig lose gefahren wird.
Die Stage sind nur im Bereich der Salings (engl. = spreader) und der Mastschlinge bekleidet. Der dem
Mast unmittelbar anliegende Teil ist oft zusätzlich in Leder eingenäht.
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Wanten
Die Hauptaufgabe der Wanten (engl. = shrouds) besteht in der seitlichen
Abstützung des Mastes. Da sie teilweise auch leicht nach hinten verlaufen,
unterstützen sie zudem die Funktionen der Backstage. An den Wanten sind
auch die Webleinen oder Latten befestigt, welche das Aufentern ins Rigg
erleichtern.
Die Wanten werden paarweise angelegt, wobei gemäss der Regel als erste
immer die vorderste Steuerbordwant über das Masttopp gelegt wird. Wo sie
zum Aufentern dienen, sind die Wanten gewöhnlich auf ihrer ganzen Länge
bekleidet, um den Webleinen und Händen einen sicheren Halt zu bieten. Wie
bei den Stagen ist der dem Mast anliegende Teil oft zusätzlich durch Leder
geschützt. Die Mastschlingen wie auch das um die Jungfern gelegte Ende
werden mit Drahtzeisingen gesichert.
Material
Bis zur Mitte des 19. Jh. bestand das stehende Gut aus Hanf. Später setzte sich, zuerst auf den grösseren Schiffen, danach aber auch allgemein das Rigg aus Stahldraht durch. Da der letztere bei engen
Radien leicht bricht, wird er an Stellen starker Biegung oft durch Ketten ersetzt. Am Uebergang vom
Stahlkabel zur Kette wird eine Kausch oder nebenstehender Beschlag eingesetzt. In vereinzelten Fällen sind sogar ganze Riggs aus Ketten hergestellt worden.
Eine wesentliche Voraussetzung für den vorbilgetreuen Eindruck der Takelage bildet die
Wahl richtig proportionierten Materials für das
stehende und laufende Gut. Photographien
oder eigene Beobachtungen zum Vergleichen
sind hierbei besonders wertvoll. In verschiedenen Büchern (z.B. H.A. Underhill: „Masting and Rigging“ oder W. Mondfeld: „Historische
Schiffsmodelle“) finden sich auch Tabellen für die Dimensionen sowohl von Hanf- als auch
von Drahtseilen. Letztere benötigen nur etwa 1/3 der Stärke von Naturmaterial. Dies ist
besonders augenfällig bei den Taljereeps von mit Stahlwanten ausgestatteten Schiffen:
Da die durch die Jungfern geschorenen Leinen aus Hanf bestanden, mussten sie mindestens den gleichen Durchmesser wie die Wanten aufweisen! Hier liegt einer der am häufigsten entdeckte Fehler auf Plänen und Modellen...
Bei allen Massangaben ist zu beachten, dass sie traditionellerweise den Seilumfang betreffen. Mittels
einfacher Teilung durch 3 (π = 3.141) lässt sich der entsprechende Durchmesser aber leicht errechnen. Mehr Schwierigkeiten bietet es jedoch, beim praktischen Modellbau den Durchmesser von Takelgarnen zuverlässig zu messen. Mit Schiebelehren oder Mikrometern geht dies eher schlecht, da sie
das Material zu stark zusammendrücken. Ganz einfach gelingt es hingegen durch Anlegen von 10
Törns um einen Rundstab (Durchmesser egal, praktisch etwa 10mm), auf welchem eine Millimeterteilung angebracht ist. Das abgelesene Mass, geteilt durch 10, entspricht genau dem Durchmesser der
Leine.
Materialien im Modellbau
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Stahlseil: Kaum Dehnung. Oft aber nicht leicht in passenden Dimensionen und Mengen
aufzutreiben. Kostspielig. Steif, schwer zu verarbeiten. Struktur entspricht meist nicht der eines grösseren Stahlseils. Oberfläche, zumindest bei rostfreiem Stahl, schwierig zu altern. In
einzelnen Fällen haben sich auch schon Gitarrensaiten bewährt (bereits bekleidet!).
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Naturfaser (Leinen): Rohmaterial leicht erhältlich. In jeder gewünschten Dicke problemlos
selbst zu schlagen. Relativ preisgünstig. Wenig Dehnung. Allerdings erhebliche Längenänderung in Abhängigkeit von Feuchtigkeit. Flexibel, ideal zu bearbeiten und einzufärben.
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Kunstfaster (z.B. Polyester): Reichhaltiges Angebot des Rohmaterials in diversen Dicken
und Farben. Leicht selbst zu schlagen. Preisgünstig. Erhebliche Dehnung. Flexibel, gut zu bearbeiten. Lässt sich gut färben (kann schon in passender Grundfarbe hergestellt werden).
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Insgesamt bevorzuge ich selbstgeschlagene Seile aus Kunstfasern. Durch Vordehnen und Fixieren
mit etwas Lack lässt sich die Dehnung minimieren (da die Masten im übrigen auf Federn stehen, wird
sie zudem ausgeglichen). Wo nötig, versuche ich mit Hilfe von Farbe, dem Material das Aussehen von
Stahlseil zu verleihen.
Spannvorrichtungen
Jeder einzelne Teil des stehenden Guts muss sich individuell spannen lassen. Dabei befindet sich die
Spannvorrichtung immer an dem am besten zugänglichen Ort.
Jungfern und Taljereeps (engl. = deadeyes and lanyards) 1
Diese klassische Spannvorrichtung der Wanten wurde
ursprünglich auch für das Vorstag verwendet. Das
Scheren des Taljereeps erfolgt immer nach der gleichen
Regel, wodurch sich eine asymmetrische Anordnung an
beiden Schiffsseiten ergibt.
Spannschrauben (Spannschlösser) (engl. = rigging
screw) 2
Ab dem Ende des 19. Jh. begann diese praktische Einrichtung zunehmend die traditionellen Jungfern
und Taljereeps zur Spannung der Wanten, aber auch der Stage, zu verdrängen. Zu beachten ist, dass
Spannschlösser immer durch eine horizontale Verbindung gegen das Aufdrehen gesichert sind.
Dodshoofden (engl. = hearts and lanyards) 3
Diese einfache, leichtgewichtige Vorrichtung fand vor allem im Bereich der Stage, an Mars- und
Bramstenge aber auch für die Wanten Verwendung.
Webleinen
Webleinen (engl. = ratlines), gelegentlich auch Holzlatten,
bilden die Sprossen der Strickleitern zum Entern des Riggs.
An den Enden tragen sie einen Augspleiss, der an den äusseren Wanten angebändselt ist. An den mittleren Wanten sind
sie mit einem Webeleinstek befestigt. Dies lässt sich auch im
Modell ziemlich leicht nachbilden, was die Authentizität stark
verbessert. Dazu werden zuerst passende Längen von Garn
je an einem Ende mit einem (Pseudo-)Augspleiss versehen.
Dann werden an den äusseren Wanten die Bändsel angeknüpft. Wichtig dabei ist das Einhalten eines korrekten Abstandes (auf Plänen oft falsch eingezeichnet!) von etwa 0.350.4m. Nun wird die erste Webeleine am einen Ende angebunden. Darauf folgt der Webeleinstek um die mittlere(n)
Wante(n). Schliesslich wird am anderen Ende an passender
Stelle ebenfalls ein Auge gespleisst und festgezurrt. Beim ganzen Vorgang ist immer darauf zu achten, dass die Webeleinen leicht durchhängen, so dass die Wanten nicht zusammengezogen werden.
Zum Abschluss ein paar Tropfen Sekundenkleber, und die Ueberstände können gekappt werden (am
besten mit einem Skalpell auf einem entgegengehaltenen Holzstück).
Underhill, H.A.: Masting and Rigging. Brown, Son & Ferguson, Glasgow, 1979 (1949), ISBN 0 85174 173 8
Kusk, J.: Handbuch der Praktischen Seemannschaft. Heel, Königswinter, 1998, ISBN 3 89365 722 3
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