Ausgabe 1/2014

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Ausgabe 1/2014
01/2014
Neues wagen — Goldene Schnitte und Provokationen /
Plastikflaschen zu Turnschuhen / Auferstehung eines
Mythos / Biotope für Gründer / Mut und Menschlichkeit
by EY
„Aus der
Erkenntnis der
Verantwortung
erwächst der
Mut zur Tat.“
Andreas Kaufmann,
Leica Camera AG
Magazin für unternehmerische Exzellenz
3
Editorial
Als Unternehmer wird man nicht geboren, heißt es, sondern
zum Unternehmer wird man gemacht. Sicherlich, hervorragende
Bedingungen in Bildung und Ausbildung, ein inspirierendes,
wirtschaftsfreundliches Umfeld, verlässliche Rahmenbedingungen, vielfältige Finanzierungsmöglichkeiten, breite gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung sind unabdingbar für
unternehmerische Initiative. Das ist die eine, die fassbare, sichtbare Seite für Entrepreneurship.
den Neubeginn radikal mit den alten Erfolgsrezepten brach.
Oder Peter Bronsman, der eigentlich als Getränkegroßhändler
gut verdiente, sich dann aber in den Kopf setzte, eine stillgelegte Brauerei im schwedischen Kopparberg zu revitalisieren –
mit großem Erfolg. Und der Österreicher Andreas Kaufmann
wollte einfach nicht zulassen, dass die Kameralegende Leica
nur noch Geschichte sein sollte. Er erkannte Werte, wo andere
nur noch Verluste sahen.
Aber manche Menschen haben offenbar Fähigkeiten und Charakterzüge, die sie als Entrepreneure geradezu prädestinieren.
Denn ohne den persönlichen Mut des Entrepreneurs, seine
Risikobereitschaft und, ja, auch seine Lust auf Eigenständigkeit
und Unabhängigkeit bliebe manche gute Geschäftsidee in der
Schublade. Die Bereitschaft, sich mehr zu trauen als nur erprobte Wege zu gehen, immer wieder Gewohntes und vermeintlich Gesichertes zugunsten des Neuen aufzugeben, zieht sich
wie ein roter Faden durch die Biografien vieler erfolgreicher Unternehmer – auch und gerade in unsicheren Zeiten.
Vermutlich ist es dieser besondere Blick hinter die Fassade,
die Fähigkeit, mehr und anderes zu sehen als andere, die erfolgreiche Entrepreneure eben auch haben. Für den Fotografen
Sebastião Salgado war es immer sein einzigartiger Blick durch
das Objektiv seiner Kamera, der die Kraft seiner monumentalen Bilder ausmachte. Doch das Elend südamerikanischer
Mineros oder chinesischer Wanderarbeiter, das Leid des Krieges, die Salgado über Jahre so eindrücklich dokumentierte,
forderten einen hohen persönlichen Preis. Erst nach dem
zeitweisen Rückzug war der Fotograf zu einem Neustart fähig.
In seinem neuen Projekt „Genesis“ widmet er sich nun der
einzigartigen Schönheit unseres Planeten.
Was Unternehmer antreibt, mutig immer wieder Neues zu
wagen, da anzufangen, wo andere aufgehört haben, durchzuhalten, wenn andere aufgeben – das haben wir in den
Reportagen und Porträts dieser Ausgabe des „Entrepreneur“
eingefangen. Der Hotelier Dietmar Müller-Elmau zum Beispiel leitete eine weltweit erfolgreiche Software-Firma, bevor
er sich dazu durchrang, in das legendäre großväterliche
Schlosshotel einzusteigen, mit dem er eigentlich längst abgeschlossen hatte. Dann legte ein Brand große Teile des Hotels
in Schutt und Asche. Für Müller-Elmau wirkte die Tragödie
wie ein Befreiungsschlag. Im Dialog mit dem renommierten
Architekten Matteo Thun, dessen ungewöhnliche Entwürfe
ebenfalls oft provozieren, erklärt Müller-Elmau, warum er für
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Georg Graf Waldersee
Vorsitzender der Geschäftsführung
der Ernst & Young GmbH
Weißer Schriftzug auf rotem Grund:
das berühmte Logo jener Marke,
die die moderne Reportagefotografie
begründete. Seit sechs Jahren erlebt
Leica ein wahres Wirtschaftswunder.
01/2014 Entrepreneur
5
4 In dieser
Ausgabe
Entrepreneur 01/2014
Sebastião Salgado
Peter Bronsman
Stephanie Füssenich
Matteo Thun / Dietmar Müller-Elmau
Uwe Hück
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Unberührte Orte finden, die
Schönheit der Erde ins Bewusstsein des Betrachters rücken – dafür reiste der brasilianische Ausnahme-Fotograf
Sebastião Salgado acht Jahre
lang durch 32 Länder der Erde.
Das Ergebnis: „Genesis“ – ein
520 Seiten starkes Buch mit
so monumentalen wie überwältigend schönen Fotografien,
eine Hommage an unseren
Planeten in seinem ursprünglichen Zustand. Für den fast
70-jährigen Salgado aber ist
„Genesis“ nicht nur ein besonders aufwändiges Projekt, sondern auch ein Zeugnis neuer
Zuversicht nach Jahrzehnten,
in denen er vor allem die bittere Erfahrung von Krieg und
Elend fotografisch dokumentierte. Über sein Leben in Extremen lesen Sie ab Seite 53.
Wie riskant das Leben sein
kann, erfuhr Peter Bronsman
bereits in jungen Jahren. Damals malochte er als Seemann
auf einem Frachter und ging
in tiefschwarzer Nacht vor
Taiwan über Bord, wurde erst
nach langen Minuten voller
Todesangst wieder aus dem
Meer gefischt. Eine Erfahrung,
die sein Leben prägte – und
ihm die Gewissheit gab, dass
auch angeblich hoffnungslose
Fälle gut ausgehen können.
So wie das Schicksal einer stillgelegten, kleinen Brauerei im
schwedischen Kopparberg, die
Bronsman 1993 kaufte und zur
heutigen Kopparbergs Bryggeri
AB ausbaute, einem Getränkekonzern mit einem Jahresumsatz von 250 Millionen Euro.
Was dieser Weg mit Äpfeln und
Birnen zu tun hat, berichtet
er auf den Seiten 34 bis 38.
Stephanie Füssenich (Jahrgang
1979) studierte an der Staatlichen Fachakademie für Fotodesign in München. Nach zwei
Jahren in Barcelona lebte sie
zwischenzeitlich als freie
Fotografin in Paris, arbeitet
für renommierte Adressen
wie „Neon“, die „Zeit“ und das
„SZ-Magazin“. Paris – für die
erfahrene Porträtistin ist die
Stadt nicht nur ein Arbeitsort,
sondern ein Lebensgefühl.
Und eine Metropole, die sie
sich gerade mittels der Fotografie erschließt. Der Weg für
den Report auf den Seiten
14 bis 19 führte sie hoch über
die Dächer der Stadt, ins achte
Arrondissement, zu Jean-Luc
Petithuguenin, dem Chef der
Paprec-Gruppe.
Sie haben den Mut, mit scheinbar Bewährtem zu brechen
und Neues zu schaffen. Und
sie suchen dabei nach der
perfekten Synthese aus Sinn
und Form. Der Architekt
Matteo Thun, der zunächst
mit grellbunten Möbeln
schockierte und später zum
Vorreiter des ökologischen
Bauens wurde, mit Entwürfen, so zurückhaltend wie
radikal modern. Und der Hotelier Dietmar Müller-Elmau,
der nach einer Karriere als
Software-Unternehmer das
großväterliche Schlosshotel
gegen größte Widerstände
zum exklusiven Hideaway
umbaute. Welche Rolle Freiheit, Emotion und Zeitlosigkeit
in ihrem Wirken spielt, diskutierten sie in Matteo Thuns
Mailänder Büro – nachzulesen
ab Seite 20.
Heimkind, Sonderschüler,
Autolackierer. Und heute
Vorsitzender des Konzernbetriebsrats der Porsche AG.
Mit Mut und einem fast
fanatischen Gerechtigkeitsgefühl hat sich Uwe Hück
nach oben gearbeitet. Um
Gerechtigkeit geht es ihm
noch heute. Mit Verve streitet
er beispielsweise dafür, dass
auch benachteiligte Jugendliche eine Chance bekommen.
Warum unsere Gesellschaft
Gewinner braucht, die auch
Vorbilder sind, warum er heute
noch gern an seine Zusammenarbeit mit Ferry Porsche
zurückdenkt und welche
Arbeitgebertugenden für ihn
unverzichtbar sind, erzählt
Hück ab Seite 44.
01/2014 Entrepreneur
7
Auf 2 300 Meter Höhe, inmitten der Stille eines
völlig abgelegenen Hochtals der argentinischen
Anden, errichtete der Kunstsammler Donald
Hess eigens für die Raum-Licht-Installationen des
amerikanischen „Lichtmagiers“ James Turrell
ein Museum. Wie Hess einst zu seiner Sammelleidenschaft kam, lesen Sie ab Seite 62.
Thema Neues wagen
01/2014
Neues wagen — Goldene Schnitte und Provokationen /
Plastikflaschen zu Turnschuhen / Auferstehung eines
Mythos / Biotope für Gründer / Mut und Menschlichkeit
by EY
Magazin für unternehmerische Exzellenz
34 „Wer nie ein Risiko eingeht, verpasst alle
Chancen.“ Der rastlose Selfmade-Unternehmer Peter Bronsman erweckte eine kleine
schwedische Brauerei zu neuem Leben.
Expertise
39 Gut gerüstet Von Entrepreneuren werden
mutige Entscheidungen erwartet – allerdings
sollten sie die Wachsamkeit gegenüber potenziellen Risiken nicht vernachlässigen.
„Aus der
Erkenntnis der
Verantwortung
erwächst der
Mut zur Tat.“
Andreas Kaufmann,
Leica Camera AG
03 Editorial
04 In dieser Ausgabe
Entrepreneure
44 „Es ist unsere Pflicht, nicht wegzuschauen!“
Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück und Georg
Graf Waldersee, EY, diskutieren über Vorbilder,
Werte und das Recht junger Menschen auf eine
zweite Chance.
50 Gründermut stärken Eine Start-up-Kultur
kann nur entstehen, wenn auch die Rahmenbedingungen stimmen.
08 „Ich habe ein etwas anderes Risikoprofil.“ Mit Mut und Entschlossenheit führte Andreas
Kaufmann den Kamerahersteller Leica zurück
zu wirtschaftlicher Stärke.
Impulse
20 „Diese Lust, mit den Augen zu greifen.“ Der
Architekt Matteo Thun und der Hotelier Dietmar
Müller-Elmau suchen gemeinsam eine Antwort
auf die Frage, wie sich das Neue seinen Weg in
die Welt bahnt.
60 Hand drauf! Auf ihrem Online-Marktplatz
DaWanda führt Claudia Helming kreative
Bastler und Liebhaber handgefertigter Unikate
zusammen.
53 Der Schöpfung auf der Spur Jahrzehntelang
widmete Sebastião Salgado sein fotografi14 Das zweite Leben Allen Warnungen zum Trotz sches Werk dem von Krieg, Katastrophen und
glaubte Jean-Luc Petithuguenin an die Zukunft der harter Arbeit geschundenen Menschen. Nun
Wiederverwertung – und schmiedete Frankreichs präsentiert er die Schönheit der Erde als epigrößtes unabhängiges Recyclingunternehmen.
sches Drama.
26 Transatlantische Kombinationen Von Sachsen über Hamburg nach Amerika und zurück –
der Maschinenbau-Unternehmer Hans Jürgen
Naumann erzählt seinen bewegten Werdegang.
32 Die Gründer-DNA Kommen Menschen tatsächlich als Entrepreneure zur Welt? EY befragte dazu 700 Unternehmer aus 25 Ländern.
62 „Der Kopf da gefällt mir!“ Der Schweizer
Unternehmer und Kunstsammler Donald Hess
erinnert sich an seine erste Berührung mit
der etablierten Kunstszene.
64 Zehn Fragen an Antonia Rados Die Fernsehreporterin erklärt, warum sie bei der Rückkehr
aus Kriegsgebieten nach Europa manchmal das
Gefühl hat, in einer Angstzone zu landen.
01/2014 Entrepreneur
Entrepreneure  Report 9
Der traditionsreiche Kamerahersteller
Leica schien um die Jahrtausend­-­
wende bereits am Abgrund. Doch dann
stieg der Salzburger Unternehmer
Andreas Kaufmann ein und führte
das Traditionsunternehmen mit
Mut und neuer Ausrichtung wieder in
die schwarzen Zahlen. Die beispiel­hafte Auferstehung eines Mythos.
„Ich habe
ein etwas
anderes
Risikoprofil.“
Am Drücker: Andreas Kaufmann, der
selbst leidenschaftlich gern foto­
grafiert, redet in der Firma auch bei
Technik und Design mit. Hier er­freut er sich an der neuen Leica M – die
dank eines innovativen Sensors mit
großem Auflösungsvermögen glänzt.
A
ndreas Kaufmann blickt leicht
amüsiert auf den Schriftzug
auf der Kamera, mit der er
fotografiert werden soll, und
sagt: „Die machen auch ganz
gute!“ Was eine Konzession
ist, einerseits, aber zugleich
deutlich macht, dass die besten Kameras der Welt seiner
Meinung nach natürlich von
Leica gebaut werden. Wer sich
ihm hinter einem Objektiv nähert, begibt sich auf ein
Terrain, das Kaufmann verständlicherweise für sich beansprucht. Bei dem er mitreden kann und es auch tut:
„Selbst bei der M hätt ich Ihnen jetzt einen Blitz empfohlen!“ Die „M“ ist die neue Schöpfung aus dem Hause
Leica, eine digitale Kleinbildkamera, die schärfere Bilder
macht als alle ihre Vorgänger in der rund 100-jährigen
Firmengeschichte. Der Leica-Aufsichtsratsvorsitzende
Kaufmann hat zum Interview eine Sonderanfertigung in
Weiß mitgebracht und stellt sie wirkungsvoll vor sich
auf den Tisch. Damit der Mythos der Marke sozusagen
greifbar wird.
Fotos Michael Hudler
Es ist Kaufmanns Verdienst, dass dieser Mythos nicht
längst Geschichte ist. Dass Leica wieder satte Gewinne
einfährt und seit sechs Jahren ein wahres Wachstumswunder erlebt. Dem Kamerahersteller drohte schon die
Zahlungsunfähigkeit, als der österreichische Finanzinvestor 2004 über seine Salzburger Beteiligungsgesellschaft
ACM in das krisengeschüttelte Unternehmen einstieg und
27,2 Prozent der Anteile kaufte. Ein Jahr zuvor hatte er
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Entrepreneure  Report 11
„Wir wollen die Leute weiter mit
Produkten überraschen, die sie nicht
erwarten. Wir machen im nächsten
Jahr zum Beispiel Ka­meras aus
einem Material, das man noch nie
dafür verwendet hat.“
Andreas Kaufmann
Eigentlich hatte ihm nur eine Industriebeteiligung vorgeschwebt,
aber dann stellte sich schnell heraus, „damit hat sich’s nicht getan“.
„We are in deep shit“, brachte Kaufmann die Sache nach der ersten Aufsichtsratssitzung auf den Punkt. „Wir sind fast vom Stuhl
gefallen, als kurz vor Weihnachten 2004, vier Monate nach unserem
Einstieg, der damalige Finanzchef sagte, 50 Prozent des Grundkapitals
seien aufgebraucht.“ Dass Hermès damals Hauptaktionär war, hatte
seinen Einstieg durchaus befördert, aber dann wollte der Luxuswarenproduzent auf einmal seine Anteile verkaufen. Und Kaufmann stand
vor der schwierigsten Entscheidung seines Unternehmerlebens.
Die Aufstockung seines Anteils auf 96,5 Prozent war der „vermutlich mutigste Schritt“ seines Engagements bei Leica. „Das war
nicht billig. Ob es das damals wert war, sei dahingestellt, aber es
war der richtige Schritt! Im August 2005 entschieden wir uns zu
einer rabiaten finanziellen Restrukturierung.“ Kaufmann setzte
Mit ruhiger Hand: Noch werden die Kameras
im hessischen Solms gefertigt. Im nächsten Jahr
zieht die Traditionsmarke nach Wetzlar um –
an den Ort, wo vor rund 100 Jahren die LeicaErfolgsgeschichte begann.
bereits die Mehrheit bei ViaOptic Wetzlar, einer ehemaligen
Leica-Tochtergesellschaft, erworben und fand, dass das LeicaManagement schlecht verhandelt hatte. „Wir hätten eventuell
sogar etwas mehr bezahlt.“ So war er auf die Muttergesellschaft
Leica aufmerksam geworden. Und auch auf andere Fehler in
der damaligen Konzernführung.
Obwohl Leica schon seit 1996 Digitalkameras baute, glaubte man
dort – wie in der Uhrenindustrie – zu lange an ein Revival des Analogen. Auf der Photokina 2004 wurden fast ausschließlich analoge
Kameras ausgestellt und alle Angestellten angewiesen, einen Button mit der Aufschrift „Ich bin ein Filmsaurier“ zu tragen. „Ein Kommunikations-GAU“, sagt Kaufmann in der Nachbetrachtung, denn
ausgerechnet das Jahr 2004 markierte den endgültigen Durchbruch der Digitalfotografie. Die alte Leica-Philosophie, Kameras
für die Ewigkeit zu bauen, war durch die Entwicklung auf dem digitalen Markt überholt. Mehr Pixel, mehr Speicher, neue Sensoren –
Canon, Nikon und Sony warfen in immer kürzer werdenden Abständen immer höher entwickelte Geräte auf den Markt, bei Leica aber
häuften sich die Verluste, und für Investitionen fehlte das Geld.
Wie viel Mut braucht man zum Investieren? „Ohne ist schwierig!“,
sagt Kaufmann, beugt sich auf dem Sofa weit nach vorn, so, als
wolle er seine Entschlossenheit auch gestisch unterstreichen. Da
er aus einer der reichsten Familien Österreichs stammt, könnte
man auf die Idee kommen, dass sein Leica-Investment vergleichs-
Entrepreneur 01/2014
Geldspritzen, mit denen die Aufholjagd in Richtung digitale Welt
ermöglicht wurde. Früher hatte Leica Kameras hergestellt, aber
keine Filme, nun musste dringend neues Know-how her: 20 neue
Mitarbeiter wurden eigens für die digitale Bildbearbeitung eingestellt. Partnerschaften mit Kodak, Fujitsu und Panasonic sicherten
den Zugang zu den technischen Herzstücken digitaler Kameratechnik – modernen Bildsensoren und Hochleistungsprozessoren.
Kaufmann redete bei Technik und Design mit und scheute sich
auch nicht, wenn es nötig war, die Vorstände zu wechseln. Ein Jahr
lang führte er die Firma sogar selbst.
Mit neuen Produkten gelingt im Geschäftsjahr 2009/2010 der
Turnaround. Die M9 und die Studiokamera S2 mit extragroßem
Sensor werden Verkaufsschlager. Und Leica wartet auch nicht mehr
auf die Kunden, sondern geht auf sie zu. Seit 2005 wendet sich
das Traditionsunternehmen mit über 100 Mono Brand Stores, teils
im Franchise, teils selbst betrieben, direkt an den Endkunden –
ein Paradigmenwechsel in der Branche. „Wir sind die einzigen in
der Industrie, die so etwas machen.“ Leica verfügt über einen
Weltmarktanteil von derzeit 0,16 Prozent. Kaufmann hält eine
Verdopplung für durchaus realistisch. „Wir haben eine intelligente,
manche würden vielleicht sagen, aggressive Roadmap, die wir in
den nächsten drei Jahren umsetzen werden. Ich glaube, die Marke
hat viel mehr Potenzial als das, was sich in unserem derzeitigen
Marktanteil widerspiegelt!“
Warum holte er sich vor zwei Jahren den US-Finanzinvestor Blackstone mit einer Minderheitsbeteiligung als Partner ins Boot?
„Weil ich gern gut schlafe. Ich fühle mich immer wohler mit einem
Partner, wir sind ein kleines Family Office in Salzburg, wir haben
weise vielleicht gar nicht so mutig gewesen ist, denn selbst bei
einem Totalverlust hätte er, wie er sagt, „immer noch die Miete
zahlen können.“ Andererseits: „Niemand verliert gern Geld. Niemand, ich kenne keinen.“ Abgeraten haben ihm fast alle. Je weniger ihm die Meinung eines Menschen bedeutet, desto mehr
hält er es, wie er sagt, mit Martin Luther: „Was juckt es die deutsche Eiche, wenn sich eine ...“ Aber im Falle Leica war seine gesamte Familie dagegen. Er hat es dennoch gewagt. Vielleicht, weil
er, wie er sagt, über ein „etwas anderes Risikoprofil“ verfügt.
Weil ihn ein Geschäft oft gerade dann interessiert, wenn andere
abwinken. Weil er an die Marke glaubte, sagte er sich: „Diese
Firma ist etwas wert und ich kann’s riskieren.“ Weil er es konnte.
„Wenn Sie keinen finanziellen Background haben, ist es natürlich
schwierig, etwas zu riskieren. Banken verleihen Regenschirme ja
nur bei Sonnenschein!“
Kaufmann zieht dabei eine enge Grenze zwischen Mut und Tollkühnheit. Tollkühn wäre es für ihn gewesen, aus Ahnungslosigkeit, nur von persönlicher Leidenschaft getrieben, zu investieren. Er aber sah klare Indizien für das Potenzial der Firma: hatte
wahrgenommen, dass japanische Großkonzerne stets deutsche
Optiklizenzen verwendeten. Dass ihnen die viel Geld wert waren.
Dass Panasonic, damals immerhin mit 400 000 Mitarbeitern,
unbedingt die Leica-Lizenz wollte, obwohl der Firmenriese dadurch gezwungen war, jeden optischen Entwurf beim hessischen
Mittelständler absegnen zu lassen. Also, war er sich sicher, investierte er nicht in den faden Nachhall einer schwer angeschlagenen Marke, sondern in ihren realen Wert. Auch wenn manche
diesen damals nicht sehen wollten. Er würde ihnen die Augen
schon öffnen.
Aber auch er hatte ja nicht alles gesehen.
Schwarz und Rot: Wie Juwelen auf
Samt werden die aktuellen Modelle im
Foyer der Firmenzentrale präsentiert.
Entrepreneure  Report 13
verschiedene Beteiligungen, und Leica ist eine relativ große. Es
gibt gute Finanzinvestoren, und ich halte Blackstone für einen
der besten. Wir entscheiden die wichtigsten Dinge gemeinsam.“
Mit Blackstone war der Weg geebnet, der es ihm erlaubte, Leica
Ende letzten Jahres von der Börse zu nehmen – weil eine Finanzierung über den Kapitalmarkt nun nicht mehr notwendig war.
Kaufmann, an dessen Revers ein dezenter Button in typischem
Leica-Rot aufblitzt, streicht liebevoll über die mitgebrachte Kamera. Die Worte perlen aus ihm heraus: „Designklarheit. Materialechtheit. Die Oberfläche weich wie Seide ...“ Ein Objekt der Begierde für jeden Sammler. Kaufmann spricht mit warmer Stimme,
in seinen Augen taucht hin und wieder ein leicht ironisches Flackern auf, das nur dann weicht, wenn man ihm Fragen stellt, die er
als überflüssig empfindet. Zum Beispiel nach den Kosten seines
Engagements: „Ich spreche nicht über Geld! Das ist ein altes Familienprinzip, Geld hat eine ganz schwierige Dimension, es ist ein Gestaltungsmittel und ein Neidmittel, und das wird häufig verwechselt.
20 Millionen Euro sind einerseits wahnsinnig viel Geld. Wenn ich
damit machen kann, was ich möchte. Wenn ich aber eine Firma umstrukturieren will, ist es gerade einmal ein Hebel.“ Natürlich kann
man den Büchern entnehmen, dass allein die Entwicklung der Studiokamera S2, des Leica-Flaggschiffs, mit Nachinvestitionen satte
39 Millionen Euro gekostet hat. Aber eine pauschale Frage nach seinen
Ausgaben werde er nie beantworten. „Das ist eine Art Philosophie.“
Dr. Andreas Kaufmann
Dr. Andreas Kaufmann, 59, stammt aus einer Anthroposophen-Familie und
war Gründungsmitglied der deutschen Grünen. Als er 1998 zusammen mit
seinen beiden Brüdern die renommierte österreichische Papier- und Zellstofffabrik Frantschach erbt, verkauft er für 1,5 Mrd. Euro und gründet die
Beteiligungsgesellschaft ACM. Er legt seinen 15 Jahre lang ausgeübten
Beruf als Waldorflehrer nieder und kauft über die Holding vorrangig Anteile
von mittelständischen deutschen Unternehmen der Optoelektronik. In
diesem Zuge steigt er auch bei Leica ein. Schnell muss er jedoch feststellen,
dass die Lage dort schlimmer ist als ursprünglich angenommen: 2005
hat Leica sein Eigenkapital zu mehr als der Hälfte verbraucht, Hermès will
seine Anteile verkaufen. Kaufmann stockt den Firmenanteil kurzerhand
auf 96,5 Prozent auf. Seit 2010 ist er Aufsichtsratsvorsitzender. Durch sein
Engagement schreibt das ehemals defizitäre Unternehmen wieder positive
Zahlen: Leica peilt bis 2016/17 einen Umsatz von 500 Millionen Euro an.
Das Unternehmen hat seit diesem Frühjahr eine neue Dependance in
Portugal und insgesamt rund 1 400 Beschäftigte. Die Firmenzentrale, bisher im hessischen Solms, wird 2014 nach Wetzlar verlegt – an den Ort,
wo die Leica-Erfolgsgeschichte vor mehr als 100 Jahren begann.
Eleganz, die
sich rechnet:
Der selbst entwiIkonen
der Reportage-Fotografie:
ckelte Regional-Triebzug
ist das
Hinter Glas blitzen „Flirt“
Exponate
aus
erfolgreichste
der Stadler
Rail Group.
rundProdukt
100 Jahren
Firmengeschichte.
Kaufmann ist in einem Anthroposophen-Haushalt aufgewachsen.
Sein Vater Topmanager beim Naturkosmetik- und Arzneimittelkonzern Weleda, sein Schwager hat die Biomarktkette Alnatura
gegründet. Kaufmann sagt, er habe die Theorien Rudolf Steiners
im Wesentlichen als „eine Art Meditationsmethode“ für sich genutzt, „einfache Anweisungen, die einem helfen, als Mensch etwas
gefestigter zu werden und bestimmte Dinge ruhiger und gelassener zu sehen. Weil Sie auch klarer entscheiden.“ Auch seinem
Traumleben gebe er, der anthroposophischen Lehre gemäß, eine
gewisse Bedeutung. „Nicht unbedingt im freudianischen Sinne,
aber doch als kreative Quelle.“ Nicht dass Leica eine Träumerei
gewesen sei, aber „zwei, drei Entscheidungen“ sind tatsächlich
durch traumgespeiste Intuition angestoßen worden, zum Beispiel
die Leica Monochrom, eine Kamera, die ausschließlich schwarzweiß fotografieren kann. Aber das besser als jede andere.
Gibt es eine anthroposophisch gespeiste Form des Mutes? Kaufmann zitiert Rudolf Steiner: „Aus dem Ernst der Zeit muss geboren
werden der Mut zur Tat.“ Das hatte jener zu Beginn des Ersten
Weltkrieges gesagt, was er in diesem Zusammenhang sehr gut
verstehen könne. Übertragen auf die heutige Zeit, würde er es
jedoch anders formulieren: „Aus der Erkenntnis der Verantwortung erwächst der Mut zur Tat.“
Auch wenn Leica heute sozusagen über dem Markt thront wie ein
mächtiger Felsen in seichtem Wasser, gibt es natürlich Angriffe von
Mitbewerbern: Fuji und Sony bezeichnet Kaufmann als „ehrenwerte
Konkurrenten“. Dass die Fuji-X-Serie zuweilen als „Leicas für Arme“
bezeichnet wurde, schmeichele ihm. Das Problem sei nur: „Was für
einen Brandname hat Sony im Bereich der Kameras?“ Das habe
Leica den japanischen Firmen voraus: „Mit einer Leica taucht man
direkt in die Geschichte der Fotografie ein.“ Obwohl sich die Kleinbild-Fotografie seit Erfindung der Ur-Leica vor 100 Jahren rasant
entwickelt hat, pflegt Kaufmann sehr gezielt den Mythos der Firma.
So will er auch die Kooperation mit der berühmten Fotoagentur
„Magnum“ wiederaufleben lassen, die bis auf deren Gründungsmitglieder, die Fotografen-Legenden Henry Cartier-Bresson und
Robert Capa zurückgeht. Beide fotografierten mit? „Sie ahnen es ...“,
sagt Kaufmann.
01/2014 Entrepreneur
14 Entrepreneure  Report
Jean-Luc Petithuguenin
hat keine Angst, sich die
Hände schmutzig zu machen.
In knapp zwei Jahrzehnten
machte er Paprec zum größten unabhängigen Recyclingunternehmen Frankreichs.
Und gestaltete dabei auch die
eigene Existenz von Grund
auf neu: Der frühere Spitzenmanager hat sich als Entrepreneur neu erfunden.
In knapp 20 Jahren hat Jean-Luc
Petithuguenin seine Firma zu einer
Gruppe ausgebaut und zu Frankreichs größtem unabhängigem Recyclingunternehmen gemacht.
Entrepreneur 01/2014
Das
zweite
Leben
Fotos Stephanie Füssenich
17
16 Entrepreneure  Report
er als fortgeschrittener
Paris-Besucher an die
Seine kommt, wird es sich
nicht nehmen lassen,
das Musée JacquemartAndré zu besuchen. In
der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts hat das
Ehepaar Édouard André
und Nélie Jacquemart in
seinem Stadtpalais am
Boulevard Haussmann eine bedeutende Sammlung von Renaissance-Kunst zusammengetragen. Mit einem Etat versehen,
der bisweilen selbst den des Louvre überstieg, durchstreiften sie
Italien und kauften Gemälde, Skulpturen, ganze Fresken an,
die in Italien nicht mehr geschätzt wurden, und schufen ihnen
in ihrem Salon ein neues Zuhause.
Wenn Jean-Luc Petithuguenin aus dem Fenster seines Büros im
achten Arrondissement blickt, sieht er auf die Dächer und in
die Höfe prachtvoller Bauten und kann am rechten Rand seines
Blickfeldes auch das Museum der Jacquemart-André erahnen.
Auf seine Weise ist auch Petithuguenin ein Sammler – wenngleich auf der Rückseite des Ruhms. Und auch er gewinnt den
Dingen, die andere wegwerfen, neue und wertvolle Seiten ab:
Seine Firmengruppe hat sich auf das Sammeln von Müll verlegt, vor allem aber auf das Recycling. „Jeder hat mir damals
davon abgeraten“, erinnert er sich. „Alle prophezeiten mir, ich
würde damit auf die Nase fallen. Aber ich war überzeugt, dass
die Zukunft dem Recycling gehört.“ Mit dem Mut dieser Überzeugung baute er in knapp zwei Jahrzehnten die Paprec-Gruppe
auf, die größte selbstständige Recyclinggruppe Frankreichs.
Zwei Mitbewerber sind noch größer als Paprec, doch sie sind
großen Konzernen angegliedert: Suez und Veolia. Für einen
kurzen Augenblick Mitte der 90er-Jahre gehörte auch Paprec,
damals ein Papierrecycler mit 45 Angestellten, zu einem solchen Konzern. Aber dann sollte sich alles ändern: Der Manager,
der die kleine Firma für die Compagnie Générale des Eaux
übernahm, kaufte sie seinem Arbeitgeber ab, kündigte seine
Stelle – und machte sich mit ihr selbstständig. Sein Name:
Jean-Luc Petithuguenin. In einem seltenen, überraschenden
und mutigen Akt war ein Entrepreneur geboren.
„Vielleicht war es einfach nur Wahnsinn“, wehrt er heute ab.
„Meine Frau hielt meine Entscheidung für äußerst riskant und
Petithuguenin bewährte sich im Controlling, stieg zum
Finanzchef, dann zum Direktor einer Baufirma auf und nahm
schließlich eine Spitzenstellung in der Compagnie Générale
d’Entreprises Automobiles ein, einer CGE-Tochter, die sich auf
Industriefahrzeuge spezialisierte. Er war, wie er gern erwähnt,
Chef von 15 000 Mitarbeitern, verfügte über drei Sekretärinnen
und einen Fahrer. Manch einer wäre damit am Ziel seiner Wünsche gewesen. Nicht so Petithuguenin. Auch nach 15 Jahren als
Manager hatte er einen Traum: „Ich wollte mir Spielräume eröffnen und suchte nach Unabhängigkeit“, sagt er. „Und ich war
überzeugt, die fände ich am ehesten als Unternehmer.“
Paprec
Jean-Luc Petithuguenin kam am 16. Oktober 1957 in Besançon als
Kind eines Militärs und einer Mathematiklehrerin zur Welt. Er studierte
an einer der führenden privaten Wirtschaftshochschulen Frankreichs
und fand mit 22 Jahren eine Stelle bei der Compagnie Générale des
Eaux. Nach 15-jähriger Karriere verließ er das Unternehmen, kaufte
eine kleine Firma für Altpapierrecycling und machte sich selbstständig. In weniger als zwei Jahrzehnten steigerte er die Zahl der Beschäftigten von 45 auf 4 000 und den Umsatz auf mehr als 750 Millionen
Euro. Heute ist Paprec die größte unabhängige Recyclinggruppe Frankreichs. Seine freie Zeit verbringt Petithuguenin gern im Kreis seiner
Familie. Neben dem Segeln schätzt er die Pariser Oper, die er mit seinem Unternehmen seit 1998 auch als Mäzen unterstützt.
Die Methoden der Wertstoff-Rückgewinnung wurden im Laufe der Jahre
immer effizienter; heutzutage
stammen bereits 15 Prozent der
Plastikproduktion aus dem Recycling.
riet mir dringend davon ab.“ Noch im Rückblick kann man
ihre Sorgen verstehen: Petithuguenin war damals 37, hatte vier
Kinder – und eigentlich keinerlei Vorbilder oder Mentoren für
seinen späten Schritt in die Selbstständigkeit. „Mein Vater war
Oberst bei der Armee, meine Mutter unterrichtete Mathematik“,
sagt er. „Niemand in unserer Familie ist je Unternehmer gewesen.“ Seiner Frau zuliebe änderte er immerhin den Güterstand
und überschrieb ihr das Haus. „Falls ich scheiterte, sollten
meine Kinder jedenfalls nicht auf der Straße stehen“, sagt er.
Andererseits ging er auch nicht völlig unvorbereitet in das Abenteuer des Unternehmertums. Jean-Luc Petithuguenin hatte
eine exzellente Ausbildung und brachte langjährige Managementerfahrung mit. Er hatte an einer der führenden Wirtschaftshochschulen Frankreichs, der École Supérieure des Sciences
Économiques et Commerciales, Wirtschaftswissenschaften studiert. Nach seinem Abschluss 1979 trat er in die Compagnie
Générale des Eaux (CGE) ein. Das Unternehmen, das Mitte
des 19. Jahrhunderts als Wasserversorgungsgesellschaft
gegründet wurde, hatte zu diesem Zeitpunkt gerade begonnen,
seine Aktivitäten zu diversifizieren. Zum klassischen Geschäft
der Trinkwasserbereitstellung kamen neue Aktivitäten wie die
Abwasser- und Abfallverwertung, die Energieversorgung,
verschiedene Transportdienstleistungen, Bauwesen und Immobi­lienhandel.
Entrepreneur 01/2014
So übernahm er 1995 die kleine Firma in La Courneuve im
Norden von Paris. Um sogleich klarzustellen, dass er durchaus
nicht vorhatte, klein zu bleiben: „Ich wollte ein großes Unternehmen führen“, sagt er. „Ich wollte wachsen!“ Und das tat
Paprec unter der Führung des neuen Eigentümers mit atemberaubender Geschwindigkeit. Der Blick nach Deutschland hatte
Petithuguenin schon früher als seine Landsleute das Potenzial
erkennen lassen, das in der Ökologiebewegung steckte, und
seine Erfahrungen als Manager in einem Großunternehmen halfen ihm, den Papierverwerter effizient zu organisieren. „In den
ersten fünf, sechs, sieben Jahren haben wir den Umsatz jedes
Jahr verdoppelt“, erinnert sich Petithuguenin. „Das war nicht
schwer. Ich kannte die Branche, wir waren nah am Kunden, und
wir konnten interessante maßgeschneiderte Angebote machen.“
Heute beziffert er die durchschnittliche Wachstumsrate der
letzten 18 Jahre mit 29 Prozent.
Paprec beschränkte sich nicht lange auf das angestammte
Geschäft mit der Verarbeitung von Altpapier. „Glas, Altmetall,
Bauschutt, Elektronikabfälle – alle zwei, drei Jahre haben wir
ein neues Feld erschlossen“, sagt Petithuguenin. Pro Jahr verarbeitet seine Gruppe gut fünf Millionen Tonnen Abfall – Papier,
Holz, Plastik, Bauabfälle. Zu seinen Kunden zählen Unter­
nehmen wie EADS, Siemens, Bosch, Ikea und der Handelsriese
Carre­four. „Wir haben 20 000 Industriekunden, machen mit
ihnen 657 Millionen Euro Umsatz. Dazu kommen 200 Städte
und Gemeinden, die weitere 100 Millionen Euro Umsatz bedeuten.“ Aus deren Abfällen gewinnt Paprec mehr als vier Millionen Tonnen Wertstoffe zurück. Dabei profitiert das Unternehmen von immer effizienteren Ausbeutungsverfahren: „Vor
20 Jahren wusste man mit Plastikflaschen nichts besseres zu tun,
als sie zu verbrennen“, sagt Petithuguenin. „ Aber inzwischen
kann man den Kunststoff so aufbereiten, dass man ihn zu Turnschuhen oder Sandalen oder erneut zu Plastikflaschen ver­
arbeiten kann.“ Mittlerweile stammen bereits 15 Prozent der
Plastikproduktion aus dem Recycling.
Bei anderen Stoffgruppen liegt der Anteil wiederverwendeter
Materialien schon weit höher. Glas? In Europa 60 Prozent.
Papier? 50 Prozent. In der Stahlerzeugung wird zu 35 Prozent
Alteisen verwendet, bei Kupfer beträgt der Recyclinganteil
30 Prozent. „Und das ist erst der Anfang“, versichert der Unternehmer. „China, Indien, Brasilien werden nicht so verschwenderisch mit Rohstoffen umgehen können.“ Hier liegen für ihn die
Potenziale der Zukunft. Petithuguenin ist überzeugt: „Ende des
21. Jahrhunderts wird man 75 bis 80 Prozent der Materialien
recyceln.“ Und Paprec wird dabei sein.
Petithuguenin spricht ruhig und mit Überzeugung. Ist er eigentlich mutig oder nicht eher weitsichtig? Er überlegt kurz und
betont die Unwägbarkeiten des Unternehmerlebens: „Wenn Sie
eine Seereise machen, kann im Hafen noch die Sonne scheinen,
01/2014 Entrepreneur
19
18 Entrepreneure  Report
„Ich wollte mir Spielräume eröffnen
und suchte nach Unabhängigkeit.
Und ich war überzeugt, die fände ich
am ehesten als Unternehmer.“
Jean-Luc Petithuguenin
aber auf dem Meer bereits ein Sturm losbrechen.“ Der Erfolg
seines unternehmerischen Kurses liege in der gemeinsamen
Leistung. „Entscheidend ist es, gute Leute zu finden und in ihnen
den Mannschaftsgeist zu wecken.“ Der Gedanke des Mannschaftsgeistes ist ihm sehr wichtig: Er ist stolz darauf, dass in
seinem Unternehmen Menschen aus fast 50 Nationen zusammenarbeiten.
An 50 Standorten sammelt Paprec
die vorsortierten Abfälle, bereitet sie
auf und gewinnt aus ihnen die Wertstoffe zurück, die dann in den Produktions­kreislauf zurückfließen.
In Petithuguenins Neigung zu nautischen Vergleichen gibt sich
der passionierte Segler zu erkennen. An diesem Sport schätzt
er zum einen die Umweltverträglichkeit, zum anderen die
Herausforderung an Mut und Disziplin – wie sie der von Paprec
gesponserte Profi-Skipper Jean-Pierre Dick zeigte, als er bei
einer großen Regatta rund um den Globus weit vor dem Ziel seinen Kiel verlor, dennoch weiterkämpfte und schließlich immerhin den vierten Platz belegte. Paprec lässt den Hochseesegler
in seinen Firmenzeitschriften ausführlich über seine Abenteuer
berichten und belohnt verdiente Mitarbeiter gern mit Segel­
touren. Das Bewusstsein, gemeinsam in einem Boot zu sitzen,
stellt auch hohe Anforderungen an den Kapitän: „Wenn ein
Sturm aufzieht, darf er sich nicht in seiner Kajüte verkriechen,
sondern muss vor seine Mannschaft treten und sie inspirieren“,
sagt Petithuguenin. So wie 2008, als er die Entscheidung traf,
die er für die mutigste seines Berufslebens hält: „Nach der
Lehman-Pleite brachen unsere Rohstoffverkäufe ein. Zehn Tage
nach dem Crash habe ich meine Leute versammelt und ihnen
gesagt, dass wir weitermachen werden – aber dass wir die Investitionen zurückfahren und die Arbeitskräfte reduzieren müssen, um durch die Krise zu kommen.“ Heute, fünf Jahre später,
beschäftigt Paprec 4 000 Menschen, mehr als je zuvor.
leider sagen, dass mir die Politiker keinerlei Grund zur Be­
wunderung geben“ – bevor er sich dann doch auf einige Bürgerrechtler besinnt: „Ich habe Hochachtung für Menschen wie
Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela: Menschen, die
sich für ihre Ideen einsetzen – wenn es sein muss, sogar mit
ihrem Leben.“
Im französischen Wirtschaftsleben sind derartige Erscheinungen nicht populär, meint Petithuguenin. „Die Franzosen träumen
vom Reichtum – aber von ererbtem, nicht von erarbeitetem
Reichtum“, sagt er. „Aber selbst bei uns gibt es Menschen, die
sich für das Unternehmertum begeistern.“ Einer von ihnen ist
er selbst. Sein Mut liegt daher wohl weniger in einer einzelnen
Entscheidung als in dem beständigen Widerstand gegen eine
vorherrschende Mentalität, die unternehmerischer Initiative
nicht wohlwollend gegenübersteht. Ihn habe es schon als jungen
Mann gejuckt, sagt er, der Gesellschaft seine Dienste anzu­
bieten: „Wenn man in Frankreich einen Führerschein haben will,
muss man dafür zur Präfektur gehen – und dort stundenlang
warten“, erklärt er. „Das hätte ich gern privat organisiert. Es
hätte keinen Cent mehr gekostet, aber die Leute hätten nicht
so sinnlos ihre Zeit verlieren müssen.“
Daraus wurde nichts. Auf ihren Führerschein müssen die Franzosen noch immer viele Stunden warten. Immerhin hat Petit­
huguenin ihre Straßen wirksam von einem Teil des Mülls befreit.
Und wenn sie mit ihrer carte grise endlich am Steuer ihres Auto
sitzen, hilft er ihnen, den Weg zu finden – denn im Jahr 2000
gründete er ein zweites Unternehmen, Helios, das Straßenmarkierungen herstellt. So hat Jean-Luc Petithuguenin als Unternehmer so markante Spuren hinterlassen wie Édouard André als
Kunstsammler und Mäzen. Doch – anders als der Bankiersspross und -erbe vom Boulevard Haussmann – ganz aus eigener Kraft. Zu dieser Größe ist Paprec nicht allein durch internes Wachstum gelangt. Zu einem Drittel gehe das Wachstum auf das Konto von Zukäufen und Übernahmen, rechnet Petithuguenin
vor. Mittlerweile sind es rund 60 Unternehmen, die die PaprecGruppe in sich aufgenommen hat und die inzwischen den ganzen
Zyklus des Recyclings abdecken: vom Sammeln der Abfälle
über das Wiederaufbereiten und Anreichern bis zum Vermarkten der wiedergewonnenen Rohstoffe.
Auch im Umgang mit den angegliederten Unternehmen lässt
sich Petithuguenin von der Vorstellung des Mannschaftsgeistes
leiten. „Ein Mensch, der zehn oder 20 Jahre lang erfolgreich
sein Unternehmen geleitet hat, womöglich bereits in zweiter
und dritter Generation, und nun verkaufen muss, den kann man
nicht einfach beiseiteschieben. Man darf nicht wie ein Eroberer
auftreten. Man muss der Leistung anderer mit Respekt begegnen.“ Das Ergebnis gibt ihm recht: „Viele frühere CEOs arbeiten
weiterhin bei uns.“ In diesen Worten äußert sich ein Respekt
für das Unternehmertum, der – wie Petithuguenin meint – in
Frankreich allzu selten ist. Fragt man ihn nach Menschen, die er
für ihren Mut bewundert, schießt es aus ihm heraus: „Ich muss
01/2014 Entrepreneur
20 Entrepreneure  Perspektivwechsel
„Vielleicht ist es eine
ganz große Kunst,
wenn man es schafft,
das Neue auf eine
Weise einzufügen, dass
die Leute denken,
es wäre schon immer
dagewesen.“
Dietmar Müller-Elmau
„Letzten Endes musst du
als Planer immer bei
null anfangen. Du musst
die Seele des Ortes, an
dem du baust, verstehen
und erfassen.“
Matteo Thun
„Diese Lust,
mit den Augen
zu greifen“
Der eine zählt zu den weltweit renommiertesten Architekten und schreckte einst
mit grellbunten und lustvol­len Entwürfen
das Designer-Establishment auf, der andere
verprellte mit seinen Plänen zum Wiederaufbau des großväterlichen Schlosshotels viele
Stammgäste und schuf aus der Synthese von
Tradition und Innovation eine neue HotelLegende. Kein Zweifel – eine gewisse Lust an
der Provokation verbindet den Architekten
Matteo Thun und den Hotelier Dietmar
Müller-Elmau. Beide kennen sich seit vielen
Jahren. Im Gespräch, begleitet von einigen
Tassen Tee und einem Lunch im Kasino von
Thuns Mailänder Büro, suchten sie erstmals
eine gemeinsame Ant­wort auf die Frage, wie
sich das Neue seinen Weg in die Welt bahnt.
Fotos Maurice Haas
Entrepreneur 01/2014
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22 Entrepreneure  Perspektivwechsel
M
atteo Thun: Nachdem 2005 ein
Brand große Teile
von Schloss Elmau
zerstört hatte,
hast du Jahre damit verbracht,
das Schloss wieder aufzubauen. Und du hast ein Vermögen
in dieses Projekt investiert. Wenn du an
diese Zeit zurückdenkst – was war dir eigentlich beim Wiederaufbau, der ja in ein völlig
neues Konzept mündete, das Wichtigste?
Dietmar Müller-Elmau: Du wirst es vielleicht
nicht glauben, aber es ist der große Brunnen! Er symbolisiert sozusagen die im Wettersteingebirge scheinbar angehaltene und
im Wasser des Ferchenbachs unaufhaltsam
verrinnende Zeit. Genauso empfinde ich
Schloss Elmau – ein Ort vollkommener Ruhe
und gleichzeitig ständiger Bewegung. Ich
habe fünf Jahre daran herumgeschliffen. Das
Wasser muss auf der gesamten Länge von
20 Metern gleichmäßig stark wie ein hauchdünner Film an den Wänden herunterfließen, sodass es sich mit dem Stein scheinbar
untrennbar verbindet.
Thun: Doch, das kann ich sehr gut nachvollziehen. Die Wasserachse, die du im Eingangsbereich geschaffen hast, generiert
dieselbe Eindeutigkeit wie ein japanischer
Tempel. Ich nenne es „die Geschwindigkeit
der Entzifferung“: Wenn ich nach Elmau
komme, habe ich in Sekundenbruchteilen
Klarheit. Ich liebe es sofort – oder ich liebe
es nicht. Diese Geschwindigkeit der Entzifferung findet man in der Architektur genauso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen. Entweder ich verstehe eine Frage
auf Anhieb – oder ich verstehe sie nie. Oder
du siehst eine tolle Frau auf der Straße und
sagst dir: „Die ist es!“ Das dauert nicht länger als ein paar Sekunden.
Müller-Elmau: Für mich kommt auf jeden Fall
die Freiheit dazu als Idee hinter dem Neuen,
hinter dem, was ich neu denke und anpacke.
Thun: Die Freiheit. Kannst du das erklären?
Wir kennen uns ja nun schon etliche Jahre,
aber ich weiß nur ganz grob, dass du mit
deinen Innovationen sozusagen bei der Software gestartet und bei der Hardware, also
bei Schloss Elmau, gelandet bist.
Müller-Elmau: Die Freiheit ist für mich das
konstituierende Prinzip des Neuen. Als
ich seinerzeit Fidelio gegründet habe, mein
Software-Unternehmen, habe ich den
Namen zunächst unbewusst gewählt. Dabei
hätte es mir eigentlich klar sein müssen.
In seiner Oper Fidelio hat Beethoven die
Entrepreneur 01/2014
Freiheit zum Leitthema gemacht. Am
Schluss werden die Kerkertore geöffnet,
alle Gefangenen sind frei. Als ich meine
Firma gründete, gab es schon eine HotelSoftware auf dem Markt. Sie funktionierte nach dem Motto „Friss oder stirb“
und zwängte den Nutzer in ein Korsett.
Ich hatte dagegen das Ideal einer Software
vor Augen, die sich mit den Anforderungen des Anwenders verändert. Deshalb
wurde sie auch fast überall auf der Welt
die Nummer eins.
Thun: Und Elmau? War die Freiheit für dich
auch da der Leitgedanke?
Müller-Elmau: Wenn man so wie ich in Elmau
aufgewachsen ist, in einer Welt, in der es
vordergründig um Freiheit ging, die ich aber
als Gefängnis empfand, dann ist das sofort
ein Widerspruch. Es gab die Freiheit vom
Ich; dafür stand das alte, von meinem Großvater geschaffene Elmau, wo alle in einer
Art Gemeinsinn das Gleiche dachten. Und
es gab die Freiheit des Ich, das war meine
Freiheit. Beide Begriffe von Freiheit waren
nicht kompatibel. Das alte Elmau war für
mich ein weltentrücktes Refugium deutscher
Innerlichkeit; lauter Weltverbesserer mit
ungeheurem Bildungsdünkel. Individualität
und Vielfalt wurden nicht akzeptiert.
Thun: Und mit dem Wiederaufbau wolltest
du die Freiheit nach Elmau holen.
Müller-Elmau: Genau. Das neue Elmau ist
der architektonische Versuch, ein Maximum an Freiheit und vielfältige Schattierungen von Privatheit zu ermöglichen,
indem du dich, je nach Stimmungslage und
Konstellation, entweder zurückziehen
oder ins Leben stürzen kannst. Du sitzt
also nicht in einem homogenen Käfig, der
totalitär ist, weil du ihn nur so und nicht
anders nutzen kannst, sondern du kannst
ihn auf vielfältige Weise nutzen und überall deinen Platz finden.
„Gerade in der Architektur
und speziell bei Hotels ist
die Zeitlosigkeit essentiell.
Man geht doch in ein
Hotel, weil man eine Art
von Auszeit nehmen will,
an einem Ort, an dem
man sich zur Ruhe begibt.“
Dietmar Müller-Elmau
Thun: Und der Brand hat dir das ermöglicht?
Müller-Elmau: Letzten Endes ja. Vor dem
Brand habe ich lediglich versucht, die
Inhalte zu wechseln, ich habe nur restauriert. Erst nach dem Feuer konnte ich
mich daranmachen, für den neuen Wein
auch eine neue Flasche zu entwerfen.
Aber bei dir gab es doch bestimmt ähnliche Bereinigungsprozesse. Du hast Uhren
für Swatch designt und möchtest heute
darauf am liebsten nicht mehr angesprochen
werden. Und irgendwo habe ich gelesen,
dass man bei dir zu Hause keinen einzigen
von dir entworfenen Gegenstand findet.
Thun: Ja, ich bin eben allergisch gegen
meine eigenen Dinge und brauche Abstand
zu den Bildern, die ich produziere. Aber
mein eigentliches Neulanderlebnis liegt viel
länger zurück. 1978, auf dem Rückweg
von Los Angeles, traf ich Ettore Sottsass,
einen Mann, der von Kind an eines meiner
großen Vorbilder war. Die meisten kennen
ihn als Architekten, aber kaum jemand
weiß, dass er Ende der 50er-Jahre mit
Adriano Olivetti einen Computer entwickelt
hat, der ungefähr halb so groß war wie
dieser Raum hier. Ich hatte die Möglichkeit,
mit ihm 1980 Memphis zu gründen.
Müller-Elmau: Das war eine unglaubliche
Provokation, was ihr da gemacht habt.
Ich erinnere mich: Möbel, die aus Kegeln,
Kugeln und Pyramiden zusammengesetzt waren, mit grellem Kunststofflaminat beschichtet.
Thun: Es war die Antwort auf den damals
vorherrschenden Funktionalismus. Im
Grunde entstand die Memphis-Initiative
aus einer ähnlichen Frustration heraus,
wie du sie eben für dich beschrieben hast.
Die Industrieauftraggeber wollten alles
in Grau, wobei die Farbe symbolisch gemeint ist. Sie wollten null Risiko, die Funktion stand absolut im Vordergrund. Unsere Geschäfte liefen gut, wir waren das am
schnellsten wachsende Kreativbüro Italiens, aber die Stimmung war miserabel. Die
Ergebnisse waren halt immer grau. Dieser
Kreativitätsstau führte 1981 zur Explosion,
zur Gründung der Memphis Group. Wir haben die vordergründige Funktionalität von
Designobjekten radikal in Frage gestellt und
hundert Prozent Emotion dagegengesetzt.
„Das Thema Zeit ist die
neue Herausforderung
für uns Architekten.
Wir müssen die Entschleu­nigung richtig planen.“
Matteo Thun
Daran habe ich mich auch gehalten und
bin aus der Gruppe ausgetreten. Der Erfolg
von Memphis war allerdings so unglaublich, dass einige meiner Kollegen fast zehn
Jahre weitermachten.
Müller-Elmau: Aber was sind deine Leitprinzipien? Was ist das Verbindende zwischen
einer von dir entworfenen Espressotasse
und einem Hotel?
Thun: Zeit meines Lebens gab es wenige
Prinzipien, die sich als roter Faden durch alle
Entwürfe und Gedanken ziehen. Einmal ist
es die Idee von Leichtigkeit als Gegenteil
von Schwere, dann das Thema Vielschichtigkeit. Ich arbeite an kleinen Dingen wie beispielsweise einer Espressotasse zur gleichen
Zeit wie an einem großen Hotel oder wie
zurzeit an einem Opernhaus in China. Diese
Vielschichtigkeit führt zu einer gewissen
Spannung, die man als Kreativer nicht missen
will. Die Synthese all dessen ist eine Idee von
Dauerhaftigkeit als Gegenteil von Zeitgeist.
Müller-Elmau: Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit – ist das für dich das Gleiche?
Müller-Elmau: Aber das Ganze hielt nicht
lange, oder?
Thun: Entscheidend für uns Architekten
ist die technische Dauerhaftigkeit, das
ist die wahre Nachhaltigkeit. Wenn du heute ein neues Hotel baust, dann muss das
in 50 und in 100 Jahren immer noch gut
aussehen. Wenn du Zeitgeist hineinpumpst,
müsstest du alle zehn Jahre renovieren,
und das kannst du dir auf Dauer nicht leisten. Nach dem Austritt aus der Memphis
Group habe ich mich schnell einem neuen
Thema gewidmet, nämlich dem ökologischen Bauen. 1990 begann ich mit einem
Niedrigenergie-Fertighaussystem namens
Sole Mio – es war über zehn Jahre das
meistkopierte Einfamilienhaus Europas.
Heute gibt es „Green Washing“ auf allen
Ebenen. Jede Architektur möchte ökologisch und nachhaltig sein.
Thun: Die Revolution fraß ihre eigenen Kinder. Wir hatten vereinbart, Memphis maximal drei Jahre aufrechtzuerhalten, weil
die Energie, die man in eine Revolution
einbringt, nicht für lange Zeiträume reicht.
Müller-Elmau: Ich glaube, dass die Menschen
nicht den Zeitgeist suchen, sondern das
Zeitlose. Wenn ich das Thema der Zeitlosigkeit in den Mittelpunkt der Architektur
stelle, beginnt das nachhaltige Denken. Ge-
01/2014 Entrepreneur
rade in der Architektur und speziell bei
Hotels ist die Zeitlosigkeit essentiell. Man
geht doch in ein Hotel, weil man eine Art
von Auszeit nehmen will, an einem Ort, an
dem man sich zur Ruhe begibt. Das ist ein
gewisses Anhalten der Zeit oder zumindest
eine Verlangsamung. Früher ging man, wenn
man eine solche Auszeit benötigte, in eine
Kirche. Ich bin überzeugt, dass man dieses
sakrale Element in den Proportionen, in den
Räumlichkeiten umsetzen muss. Wenn das
nicht gelingt, ist es ganz schwierig, Nachhaltigkeit zu erzeugen.
Thun: Richtig. Das Thema Aus-Zeit ist die
neue Herausforderung für die Hotelplanung.
Wir müssen die Entschleunigung richtig planen. Entschleunigung ist ja nur möglich, wenn
wir auch beschleunigende Momente einbauen, indem wir Spannung erzeugen. Das kann
durch unterschiedliche Proportionen oder
Materialien geschehen. Man versucht die
Sensorialität anzusprechen – das Spüren mit
all unseren Sinnen und zwar auf eine ganz
natürliche, intuitive, „normale“ Weise.
Müller-Elmau: Aber wie übersetzt man das
in die Architektur?
Entrepreneur 01/2014
Thun: Zum Beispiel durch den Goldenen
Schnitt. Du nennst sie sakrale Elemente in
den Proportionen. In allen Kulturen, ob in
Fernost oder in unserer westlichen Kultur,
gibt es ein allgemein gültiges Ebenmaß.
Wenn ein Japaner den Kölner Dom betritt,
dann hält er den Atem an, genau wie du
und ich empfindet er eine Dimension von
Freiheit und Erhabenheit, ein Glücksgefühl.
Die Herausforderung für die Architektur
ist es, die Taktilität wiederzuerwecken, also
die Lust, mit den Augen zu greifen. Das
ist ein Spruch von Goethe: „Mit den Augen
greifen, mit den Fingern sehen.“ Diese
Qualität ist in der Architektur der Moderne
Mangelware. Die moderne Architektur ist
in den meisten Fällen zu glatt. Sie ist das
Gegenteil von Taktilität.
Müller-Elmau: Wenn du dir Hotels anschaust,
vor allem in Asien, dann findest du überall
diese total polierten Marmorflächen und
Marmorböden. Die Bearbeitung hat dem
Stein jede Individualität genommen. Aber
glatter Marmor galt eben lange Zeit als ein
Symbol für Luxus.
Thun: Nicht nur in Asien!
Dietmar Müller-Elmau
Matteo Thun
Geboren wurde der heute 59-Jährige in Zimmer 54 des von seinem Großvater errichteten
Schlosses Elmau am Fuß des Wettersteinmassivs. Müller-Elmau studierte Betriebswirtschaft,
Philosophie und Theologie, lebte zeitweilig in
Indien und absolvierte an der Cornell University
in Ithaca, New York, ein Masterstudium mit dem
Schwerpunkt Hotel Management und Computer
Science. Zurück in Deutschland, gründete er
Fidelio und machte es innerhalb von acht Jahren
zum Weltmarktführer für Hotel-Software. 1997
verkaufte er Fidelio an Micros Inc. in den USA
und übernahm Schloss Elmau als Pächter, um es
seinem Vater zuliebe zu sanieren und neu auszurichten. Nach einem Großbrand und weitestgehenden Abriss im Jahr 2005 erwarb er die Mehrheit
der Anteile an der Eigentümergesellschaft und
baute Schloss Elmau als Luxury Spa & Cultural
Hideaway 2007 wieder auf. Heute gilt Schloss
Elmau international als Trendsetter der Spa
Hotellerie. 2012 wurde Dietmar Müller-Elmau
zum Hotelier des Jahres gekürt.
Der 61-jährige, in Bozen geborene Architekt war
Schüler Oskar Kokoschkas an der Sommerakademie Salzburg und um 1980 Mitbegründer der
Memphis Group, die sich gegen den im Industriedesign vorherrschenden strikten Funktionalismus
stellte. 1984 gründete er ein eigenes Studio in
Mailand sowie 2001 Matteo Thun & Partners.
Thun, in den 90er-Jahren unter anderem Creative
Director der Uhrenmarke Swatch, zählt seit Jahren die Nachhaltigkeit zu seinen Leitprinzipien.
Er gehört zu den Vorreitern des ökologischen
Bauens auch im Luxussegment und entwirft Biomasse-Heizkraftwerke, preiswerte Holzhäuser
für den sozialen Wohnungsbau und exklusive Villen. Ein weiterer Schwerpunkt des Architekturbüros ist der Hotelbereich. Aktuell arbeitet Thun
unter anderem an den Plänen für das neue
Grandhotel „The Fontenay“ an der Hamburger
Außenalster.
Müller-Elmau: Nein, in Elmau war es ja nicht
anders. Mein Großvater hat mit Solnhofer
Stein gebaut. Das ist sozusagen der sakrale
Stein Bayerns, die meisten Kirchen sind
daraus gebaut. Aber was hat man damals
mit diesem Stein gemacht? Glattpoliert hat
man ihn zu einer homogenen Fläche und ihm
damit seine Farbigkeit, seine Scheckigkeit
genommen. Einige Zeit nach dem Brand in
Elmau fuhr ich zum Steinbruch nach Solnhofen, ging ins Büro des Geschäftsführers
und sah, dass der Mann auf einem Solnhofer Stein sitzt – und zwar nicht geschliffen,
sondern bruchrau, so wie er aus dem Steinbruch kam. „Was wollen Sie?“, fragte er mich.
„Das will ich“, antwortete ich und zeigte
auf den Stein, auf dem er saß. Er sah mich
an und sagte: „Sie sind der Erste in 30 Jahren, der hier in dieses Büro kommt und
weiß, wovon er redet.“
Start bei null. Ich habe in meinem Leben
nie so etwas wie eine architektonische Handschrift besessen. Wie kann es eine Handschrift geben, wenn man jedes Mal bei null
beginnt? Es gibt lediglich eine gemeinsame
Klammer in der Methodik.
Thun: Letzten Endes musst du als Planer
immer bei null anfangen. Du musst die
Seele des Ortes, an dem du baust, verstehen und erfassen.
Müller-Elmau: Aber wie nimmst du dich
denn zurück, wie schaffst du als Architekt
Distanz zu deinen früheren Entwürfen und
Erfolgen? Wenn du jetzt in Hamburg das
Grandhotel „The Fontenay“ am Standort
des ehemaligen Intercontinental an der Außenalster planst, kannst du doch nicht alles, was du bis dato gedacht und konzipiert
hast, hinter dir lassen.
Thun: Doch, das kann ich, das muss ich
sogar. Jeder neue Standort verlangt einen
Müller-Elmau: Aber wie sieht sie aus, diese
gemeinsame Klammer?
Thun: Ich halte mich lange an dem Ort auf.
Es ist ganz wichtig, das Mikroklima zu verstehen: Woher kommen die Winde? Wo geht
die Sonne auf, wo geht sie unter? Damit
beginnt alles. Es gibt einen Ausspruch von
Renzo Piano, dem vermutlich großartigsten noch lebenden italienischen Architekten, dem Erbauer des Centre Pompidou.
Er sagt: „Wenn ich auf den Plan schaue, ist
das Einzige, was ich wissen will, wo Norden
ist. Dann verstehe ich, worüber ich spreche,
dann kann ich planen.“ Der Nordpfeil ist in
jedem Menschen, ob er Architekt ist oder
nicht. Wir alle sind eine Deklination der
Sonne, und das Geschehen ist die Sonne.
Müller-Elmau: Nachdem Elmau abgebrannt
war, ging ich auf die andere Seite des Tals
und setzte mich dort auf einen Hügel.
Jetzt hast du die Chance, zu machen, was
du willst, sagte ich mir. Von diesem Hügel
aus verstand ich erstmals, dass diese Kapelle aus dem 15. Jahrhundert der Genius
Loci des Ortes ist, der die ganze Energie
in sich vereint. Und mir war klar, dass ich
nichts machen durfte, was diesen Genius
Loci schwächt. Nachdem sie über hundert
Jahre immer wieder daran an- und umge-
baut hatten, war er ja schon fast zerstört.
Weißt du, ich beneide dich um den Luxus,
dass du ständig etwas Neues schaffen
kannst. Manchmal neigt man ja dazu, zu
wiederholen, was sich bewährt hat.
Thun: Das wäre das Ende jeglicher Kreativität. Wiederholungssünder ...
Müller-Elmau: Vielleicht ist es eine ganz
große Kunst, wenn man es schafft, das
Neue auf eine Weise einzufügen, dass die
Leute denken, es wäre schon immer dagewesen.
Thun: Das ist natürlich die höchste Kunst.
Wir hatten vor kurzem eine Feier zum
zehnjährigen Bestehen eines Hotels in den
Bergen. Die Gäste kamen und sagten:
„Das Vigilius erweckt den Eindruck, als wäre
es immer schon dagewesen. Es liegt in
der Landschaft wie ein Baum, der umgefallen ist.“
Müller-Elmau: Ich glaube, das Geheimnis ist
die Materialität. Du kannst eine völlig neue,
radikale Idee haben, aber wenn du natürliche,
wertvolle und möglichst naturbelassene
Materialien nimmst, entsteht der Eindruck,
das Haus oder Hotel war schon immer da.
Thun: Ich werde dich als meinen Verkäufer einstellen. Es ist genau so, wie du
sagst! Dieses Hotel in den Bergen besteht
aus dem Holz von Lärchen, die dort in
der Gegend wachsen. Das Hotel und die
Landschaft gehen eine totale Symbiose
ein. Fühl doch mal diesen Tisch hier, der ist
unbehandelt und wird einmal im Jahr mit
Bienenwachs eingelassen. Ich frage dich:
Was kostet es, das Holz einmal im Jahr
eine halbe Stunde lang mit Bienenwachs zu
behandeln, um die Poren zu schließen und
einen fantastischen Duft zu generieren?
Müller-Elmau: Für den Tisch mag das stimmen. Aber in Elmau ist es schon ein wahnsinniger Aufwand, die Natursteinplatten und
das Holz zu pflegen, wir haben Unmengen
davon. Aber der Aufwand lohnt sich. Nichts
ist schlimmer, als wenn du in einen Raum
kommst und das Gefühl hast, dass niemand
mehr darauf geachtet hat. Wenn du etwas
baust und nie wieder Energie hineingibst,
nie wieder Achtsamkeit, dann ist es praktisch
weg. Es verschwindet mit der Zeit.
01/2014 Entrepreneur
26 Entrepreneure  Report
Entrepreneure  Report 27
Die Bearbeitung von EisenbahnRadsätzen bildet die älteste Säule ihres
Geschäfts: John O. Naumann
und sein Vater Hans J. Naumann.
W
Transatlantische
Kombinationen
Fotos Albrecht Fuchs
Der Maschinenbauer Hans Jürgen
Naumann hat ein Faible für kühne
Wendungen. In den USA wurde der
Deutsche zum Unternehmer, nach
dem Fall der Mauer ging er in die
DDR. Von Chemnitz aus operiert seine
NSH Werkzeugmaschinengruppe
heute in der ganzen Welt. Mit der
Einsetzung seines Sohnes John als
Nachfolger hat er sein Lebenswerk
gerundet.
erkzeugmaschinen
sind die genauesten Maschinen, die
sich bauen lassen“,
sagt Hans Jürgen
Naumann in seinem Büro in Erkelenz. Mit Verve erklärt er: „Sie können drehen, fräsen, bohren, schleifen und Gewinde schneiden – meistern alle diese grundsätzlichen Bearbeitungsvorgänge. Aber sie tun es zehnmal genauer
als das Teil, das sie bearbeiten.“ Der Patriarch
spricht mit einer Genugtuung, für die er gute Gründe hat. Zum einen
hat er sein Leben lang Werkzeugmaschinen gebaut. Zum anderen decken seine Produkte eine große Bandbreite ab: „Auf unseren Maschinen
wird die ganze Maschinenbauindustrie bearbeitet – ob Traktoren, Kompressoren oder Güter der Landwirtschafts- und Automobilindustrie.“
Felder wie den Werkzeug- und Formenbau, die Eisenbahn- oder die
Luft- und Raumfahrtindustrie hat er dabei noch nicht einmal erwähnt.
Und nicht zuletzt spielt Hans Jürgen Naumann mit seinem Unternehmen in der Spitzengruppe mit: Seine Niles-Simmons-Hegenscheidt
Machine Tool Group (NSH) setzt mit gut 1 300 Mitarbeitern 300 Millionen Euro um und gehört weltweit zu den wichtigsten Playern im
Werkzeugmaschinenbau.
Die drei Namensbestandteile weisen auf ein weiteres Merkmal seines
Unternehmens: Die Gruppe, deren hochkomplexe Produkte höchsten
Präzisionsanforderungen genügen, setzt sich aus mehreren Unternehmen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen. Ihre jetzige Form
ist nur als Resultat von Zufällen, Chancen, überraschenden Wendungen
zu erklären – und der Persönlichkeit ihres geschäftsführenden Gesellschafters Hans Naumann. In ihr spiegeln sich die Wechselfälle seines
Lebens wider – ein Leben, an dessen Beginn nichts auf Maschinenbau hindeutete.
Naumann wurde in Sachsen geboren. Die Familie lebte nordöstlich
von Leipzig, wo seine Eltern mehrere Güter besaßen. Er wuchs auf
im Gefühl der Unabhängigkeit: „Die großen Güter waren damals total
selbstständig“, erinnert er sich. „Da konnten Sie die Tore dichtmachen – die brauchten gar kein Geld, um sich zu versorgen.“ Jedes
eine Welt für sich, autark und unabhängig.
01/2014 Entrepreneur
Entrepreneure  Report 29
Mit der Konkurrenz auf den Weltmär­k­ten
im Blick führt John O. Naumann NilesSimmons-Hegenscheidt in die Zukunft.
Jedenfalls bis zum Ende des Krieges. Naumann war zehn Jahre alt, als die Familie
enteignet wurde. „Sachsen führte die verordnete Bodenreform so gründlich durch,
dass die Enteigneten auch gleich interniert
wurden“, sagt er mit leiser Ironie. Sie verdeckt nur ungenügend die Erfahrungen
der Ohnmacht, Hilflosigkeit, Demütigung,
die sich dem Jungen tief einprägten. Und
die seinen Widerstand weckten. „Eigentlich war mir bestimmt, das Rittergut
Zschorna zu übernehmen“, erinnert er
sich. Doch im Frühjahr 1946 fand sich die
Familie in Hamburg wieder und entschied
sich, nicht mehr in die russisch besetzte
Zone zurückzukehren. Landwirtschaft war
für Naumann nicht länger eine Option. Er
orientierte sich um und studierte nach einer Lehre Maschinenbau.
Die entscheidende Wendung erfuhr sein Leben 1960: Die Hochzeitsreise führt den
25-Jährigen in die USA. Dort erhält er ein
Angebot von Werkzeugmaschinenherstellern der Firma Farrel. „Die hatten gerade
mit deutschen Herstellern Lizenzverträge
geschlossen, die deutschen Zeichnungen
angeguckt – und nicht verstanden“, sagt er.
„Farrel brauchte einen wie mich, der das
aus dem Effeff konnte.“ Naumann nahm an,
blieb in den USA und machte Karriere. Als
Division Engineer war er schließlich verantwortlich für 60 Ingenieure.
NSH Werkzeugmaschinengruppe
Hans J. Naumann ist geschäftsführender Gesellschafter der NSH
Werkzeugmaschinengruppe. Er wurde in Dewitz bei Leipzig geboren, fand sich nach dem Krieg in Westdeutschland wieder und studierte in Hamburg Maschinenbau. 1960 ging er in die USA, machte
dort Karriere und kehrte 1970 als Unternehmer nach Deutschland zurück. Niles-Simmons-Hegenscheidt mit Sitz in Chemnitz
beschäftigt 1 360 Menschen und machte 2012 einen Umsatz von
300 Millionen Euro. Naumann ist verheiratet, hat vier Kinder und
sammelt historische Autos.
John O. Naumann ist Nachfolger im Unternehmen. Seine Qualifikation hat er in Führungspositionen in den USA und Deutschland
unter Beweis gestellt.
Entrepreneur 01/2014
Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon ein MBA-Studium beendet und
die Einsicht gewonnen: „Das Geld wird im Management gemacht.“ In
bemerkenswerter Freiheit zog er die Konsequenz, kündigte seine
Stelle und gründete 1966 seine erste Firma. Als Lizenznehmer des
deutschen Maschinenbauers Hegenscheidt machte er sich daran, die
Technik des Fest- und Glattwalzens in den USA bekannt zu machen,
die dafür notwendigen Maschinen zu bauen und zu verkaufen.
Woher nahm er mit Anfang 30 solchen Mut? „Zum Mut gehören viele
Faktoren“, sagt Naumann. „Zum Beispiel eine gute Vorbereitung.
Oder die Bereitschaft zu arbeiten, seine Zeit ganz an eine Sache zu
wenden. Ich war dazu bereit, alles zu geben.“ Sein Motto lautete damals: „Wir arbeiten 24 Stunden am Tag, und wenn das nicht reicht, nehmen wir die Nacht dazu.“ Naumanns Fleiß, Talent und Selbstvertrauen
schufen der Hegenscheidt Corporation in kurzer Zeit einen Platz auf
dem Markt. Das Mutterhaus war beeindruckt und bat Naumann 1970
als Mitgesellschafter nach Deutschland, um die Leitung der GmbH in
Erkelenz zu übernehmen. Naumann gelang es, den Umsatz des Unternehmens binnen zehn Jahren auf das 14-Fache zu steigern und das
Unternehmen am Nordrand der Kölner Bucht als einen Hersteller von
Eisenbahnmaschinen weltweit bekannt zu machen. Doch auch von
der deutschen Provinz aus verlor er die USA nicht aus dem Blick. Und
griff zu, als sich ihm 1983 die Möglichkeit bot, die Simmons Machine
Tool Corp. zu erwerben. Simmons fertigte Maschinen zur
Herstellung und Instandhaltung von Eisenbahnradsätzen.
Naumann baute die Firma aus, kaufte auch die Konkurrenten
Stanray und Farrel auf und machte Simmons damit zum einzigen Hersteller von Eisenbahnmaschinen in Nordamerika.
Inzwischen besaß Naumann längst die amerikanische Staatsbürgerschaft. Dennoch suchte er immer die Anbindung nach
Deutschland. Aus ganz praktischen Gründen: dem Bedarf
an Fachkräften. „Im Wettbewerb um gute Uni-Absolventen
zog eine kleine Firma wie Simmons immer den Kürzeren gegen Riesen wie General Electric. Zu uns kam niemand. Wir
hatten zwar Konstrukteure, aber die Erfahrung war nicht da.
Das hinderte mich daran, die Produkte zu entwickeln, von
denen ich träumte.“
Das sollte sich mit einem Schlage ändern, als 1989 die Mauer fiel. „Ich war immer in Deutschland auf der Suche, und
mit einem Mal kommt die Wiedervereinigung!“ erinnert sich
Naumann. Obwohl er regelmäßig zweimal im Jahr nach
Leipzig fuhr, um Verwandte zu besuchen, traf sie ihn völlig
unerwartet: „Ich habe nie daran geglaubt.“ Umso beherz-
ter greift er zu, als sich ihm eine Gelegenheit zum Kauf eines Unternehmens bietet. Auf einer Werkzeugmaschinenmesse in Paris entdeckt
er eine Firma aus Chemnitz, dem zwischenzeitlichen Karl-Marx-Stadt.
Es handelt sich um den VEB „Großdrehmaschinenbau 8. Mai“. Naumann
kannte Chemnitz als Zentrum des deutschen Werkzeugmaschinenbaus.
Zudem hatte der VEB gerade ein komplett neues Werk gebaut. Ein zusätzlicher Reiz waren die amerikanischen Wurzeln des Kombinats.
Denn hinter dem 8. Mai stand ursprünglich ein amerikanisches Unternehmen, die Niles Tool Works Co.
Niles war 1833 in Cincinnati, Ohio, gegründet worden. Kurz vor Ende
des 19. Jahrhunderts eröffnete das Unternehmen einen Ableger in
Deutschland, die Niles-Werke in Berlin-Weißensee. Die wiederum expandierten nach Chemnitz und erwarben dort 1930 die Escher-Werke. Nach dem Krieg wurden sie ebenso verstaatlicht wie Naumanns
väterliche Güter – während die amerikanische Niles im Zuge verschiedener Übernahmen im Portfolio von Simmons landete. „Und Simmons“, sagt Naumann, „das war ja ich.“ Die Wiederbegegnung mit der
eigenen Geschichte, das neue Fabrikgebäude und die Überzeugung,
dass die Maschinenbautradition in Chemnitz weiterhin lebendig war
(„In Chemnitz und Umgebung wurden 42 Prozent des Bruttosozialprodukts der gesamten DDR erwirtschaftet!“), trieben Naumann zu
Verhandlungen mit der Treuhand. „Weil ich einer
der Ersten war, die sich für ein DDR-Unternehmen
interessierten, haben die mich richtig geschröpft“,
sagt er. „Zwei Jahre später hätten die noch Geld
dazugegeben.“
In dieser kurzen Zeit verschwand nämlich ein
Asset, das mit in den Kaufpreis eingeflossen
war: ein Großauftrag aus Russland. Das Werk –
von Naumann wieder in Niles umbenannt – sollte
ungefähr 100 Maschinen bauen. Die Order hätte
nicht nur 32 Millionen DM eingebracht, sondern
den Betrieb auch für ein Jahr ausgelastet – Zeit
genug für Naumann, um endlich neue Produkte
entsprechend westdeutschen Standards zu entwickeln. Doch dann stornierten die Russen den
Auftrag. „Ich stand da mit der halbfertigen Produktion, hatte das Geld in die anderen Maschinen
gesteckt, hatte kein neues Produkt, und musste
jeden Monat eine Million DM an Löhnen und Gehältern zahlen“, erinnert sich der Unternehmer.
Er improvisierte: Erst als er seine Maschinen fast
ein Fünftel unter den Herstellungskosten anbot,
bekam er Testaufträge – und hatte sich mit seiner Preispolitik zahlreiche Feinde gemacht.
Der Aufbau in Chemnitz dauerte deutlich länger,
als Naumann kalkuliert hatte. Nach der Übernahme schrieb die Firma sechs Jahre lang Verluste.
100 Millionen Euro wanderten schließlich in die
Entwicklung neuer Produkte – ein Drittel bezahlten die sächsische Landesregierung und der
Bund. „Ohne meine anderen Unternehmen, ohne
meine Kontakte und ohne die staatliche Förderung hätte das Unternehmen in Chemnitz nicht
überlebt“, sagt Naumann.
Kurbelwellen sind bereits hochpräzise
Teile – die Maschinen, mit denen
sie gebaut werden, müssen noch um
ein Vielfaches genauer sein.
01/2014 Entrepreneur
Entrepreneure  Report 31
Aufträge für Straßenbahnen brachten den
früheren DDR-Betrieb in den späten
90er-Jahren wieder auf die Erfolgsspur.
verlegt er den Geschäftssitz der gesamten
Gruppe von Albany, New York, nach Chemnitz. „Ich wollte ein Zeichen setzen, dass
man in Ostdeutschland wieder Entscheidungen treffen kann.“
Die Unterstützung des Landes Sachsen
hat das Unternehmen längst zurückgezahlt. „Nach einer Erhebung haben wir
inzwischen an Steuern das Doppelte von
dem gezahlt, was wir bekommen haben“,
sagt Naumann. „Der Freistaat hat also
klug investiert.“ Überdies profitiert er von
dem indirekten Beschäftigungsgrad der
Werkzeugindustrie: „Wenn wir hier ein Unternehmen mit 500 Mann betreiben, dann
beschäftigen wir indirekt dreimal so viel,
nämlich 1 500. Das ist der höchste Faktor
in der gesamten Industrie.“ Seit dem Kauf
von Hegenscheidt im Jahr 2001 – dem
alten Bekannten in Erkelenz und dem H im
Firmennamen – besteht seine Gruppe aus
sechs Unternehmen in Deutschland, den
USA und China.
„Mut muss immer gepaart
sein mit Substanz,
Fach­­wissen und Tugenden.“
Hans J. Naumann
Den Durchbruch brachte schließlich ein neues Produkt, für
das er Opel gewinnen konnte: relativ einfache, aber sehr
präzise Drehmaschinen für die Bearbeitung von Kurbelwellen. „Im Laufe unseres Jubiläumsjahres 1998 trafen bei
uns Bestellungen für knapp 90 Maschinen ein; insgesamt
haben wir 115 Maschinen an General Motors verkauft. Die
statteten damit fünf neue Werke aus. Wenn man sie betrat,
sah man überall nur Niles-Simmons – das war toll!“
Naumann hat Glück in Chemnitz. Er profitiert von der starken wissenschaftlichen Basis in Sachsen – den Technischen
Universitäten in Chemnitz, Freiberg und Dresden, den Technischen Hochschulen in Mittweida und Zwickau und insbesondere den Fraunhofer-Instituten, mit denen er endlich die
ersehnte Entwicklungsarbeit vorantreiben kann. Schließlich
Entrepreneur 01/2014
02/2013
„Mein Vater sagt gelegentlich, es sei einfacher, ein Unternehmen aufzubauen, als
es zu erhalten“, erzählt John Naumann,
der inzwischen die Geschäfte der Gruppe
führt. „Wir haben jetzt eine Größe erreicht,
bei der wir angesichts der Konkurrenz
aus China oder aus Ländern wie Spanien
mit ihren niedrigen Lohnkosten sehr vorsichtig sein müssen.“ Dem Boom in China traut er nicht, Indien hingegen hat in seinen Augen das Potenzial, zu einem Riesenmarkt zu werden. „Da müssen wir aber eine neue Strategie entwickeln – Maschinen
aus Deutschland sind für dieses Land zu teuer.“
Größere Erwartungen hat John Naumann für Lateinamerika. „Mexiko
und Chile müssen allmählich investieren. Südamerika hat sich 20 Jahre
lang nicht um seine Infrastruktur gekümmert.“ Naumann spricht aus
enger Vertrautheit mit diesen Ländern: Seine Frau ist Mexikanerin, er
spricht Spanisch. Sein Vater sieht nach wie vor gute Rahmenbedingungen für Wachstum: „Die Weltbevölkerung steigt weiter an, und es
gibt viele arme Länder, daher hat industrielle Produktion sicherlich
eine große Zukunft“, überlegt er. „Der Maschinen- und Werkzeugmaschinenbau in Deutschland befindet sich jedenfalls in einer sehr
guten Ausgangslage.“
Es gibt viel zu tun, und Mut kommt nicht aus der Mode. „Er muss aber
immer gepaart sein mit Substanz, Fachwissen und Tugenden“, sagt
Naumann. „Und natürlich muss man von Haus aus die Lust mitbringen,
etwas zu unternehmen.“ In Naumanns Fall trieb ihn der Wille, nach
dem Verlust der Heimat wieder nach oben zu kommen. „Ich bin zwar
kein Rittergutsbesitzer geworden“, sinniert er, „aber ich habe ein Industrieunternehmen. Das ist heutzutage wahrscheinlich bedeutend
besser, als auf dem Land zu sitzen.“
Stolz sieht Hans J. Naumann auf
seine Lebensleistung zurück –
mit NSH hat er sich in der ersten
Liga positioniert.
32 Entrepreneure  Gründermut in Zahlen
* Nature or nurture? Decoding the DNA of the entrepreneur. EY 2011.
Entrepreneur 01/2014
Entrepreneure  Report 35
„Wer nie ein
Risiko eingeht,
verpasst
alle Chancen.“
Peter Bronsman zählt
gewiss nicht zu den Zögerern
und Zauderern. Aus dem
Nichts erweckte er eine kleine
Brau­erei im schwedischen
Kopparberg zu neuem Leben
und führte sie zum Erfolg.
Anfangs wurde sein Wagemut
belächelt – heute zollen ihm
die großen Konkurrenten
Respekt.
Fotos Robert Fischer
ein, Peter Bronsman möchte lieber nicht
wörtlich wiederholen, was Wolfgang Voigt
zu seiner Job-Offerte sagte, an jenem
Tag vor fast 20 Jahren. Ob er nicht Braumeister seiner Brauerei in Kopparberg
werden wolle, fragte Bronsman den Mann,
dessen deutsche Abstammung unschwer
an seinem Namen zu erkennen war. Das
Angebot klang nicht eben attraktiv. Wer
möchte schon die Regie einer Brauerei
übernehmen, in deren Sudkesseln bereits
seit Jahren kein Bier mehr gereift war, die kein einziges Produkt vorweisen konnte und in der keine Anlage auch nur halbwegs funktionierte.
Voigt, der einen guten Job bei einer anderen Brauerei hatte, muss
ernste Zweifel an Bronsmans Zurechnungsfähigkeit gehabt haben. Warum er trotzdem noch am gleichen Tag den Arbeitsvertrag unterschrieb,
hat er nie so richtig erklären können. Irgendwie gelang es Bronsman,
ihn zu überzeugen, dass es die beste aller möglichen Geschäftsideen war,
eine stillgelegte Brauerei zu kaufen und wieder in Betrieb zu nehmen.
Es war wohl Bronsmans unbeugsamer Wille, der den Braumeister überzeugte; diese durch nichts zu erschütternde Überzeugung, dass so ein
Abenteuer nicht scheitern kann. Niemand, der damals vor der stillgelegten Braustätte in dem abgelegenen Örtchen Kopparberg stand, hätte
auch nur eine Krone darauf gewettet, dass in diesem Ensemble aus halb
verfallenen Hallen, über dem freche Krähen Jagd auf Bussarde machten, einmal ein Umsatz von mehr als 250 Millionen Euro zusammengebraut werden würde.
Im Sommer 1993 hatte Bronsman, der mit seinem Bruder Dan-Anders
recht erfolgreich einen Getränke-Großvertrieb führte, bei der Lektüre
der „Brauerei-Nachrichten“ von der endgültigen Stilllegung der 1882
gegründeten Traditionsbrauerei gehört. In den Jahren zuvor war dort
nur noch das ausgezeichnete Quellwasser abgefüllt worden, doch auch
das rentierte sich nun nicht mehr. An einem kalten Wintertag stand
Tradition und Moderne: In der
1892 gegründeten Kopparbergs
Bryggeri AB ist man stolz auf
die Geschichte – und aufgeschlossen für Neues.
Bronsman vor der zugeschneiten Brauerei und sagte zu dem
Filialleiter der lokalen Bank, der die Produktionsstätte mittlerweile gehörte, den entscheidenden Satz: „Ich kaufe das.“ Der
Banker freute sich, dass er etwas eigentlich Unverkäufliches verkaufen konnte – und über das Dutzend neuer Jobs, die der
sonderliche Investor in Aussicht stellte.
Ob das eine besonders mutige Entscheidung war? „Natürlich
war es das“, sagt Bronsman. „Jeder halbwegs fähige Unternehmensberater hätte mir abgeraten, mein Geld hier reinzustecken.“
Umgerechnet 600 000 Euro mussten die Gebrüder Bronsman für die stillgelegte Brauerei zahlen, noch einmal die gleiche
Summe investierten sie nach dem Neustart. „Niemand konnte
mit Sicherheit sagen, ob wir das Geld jemals erwirtschaften würden.“ Bronsman spricht lieber von Risiko als von Mut – ein
Wort, das auf Schwedisch ähnlich klingt wie im Deutschen: Mod.
„Wenn du kein Risiko eingehst, dann bleibst du immer schön
in der Komfortzone“, ruft Bronsman beim Gang über den Braue­
reihof, wo gerade ein Sattelschlepper mit Kopparberg-Bier
befüllt wird. „Dann hast du es zwar schön bequem, aber es gibt
keinen Fortschritt. Ich bedenke bei einer Entscheidung das
Risiko, aber ich sehe eben auch die Chance, die sich dahinter verbirgt. Das steckt mir wohl im Blut.“ Im Laufschritt geht es von
den Sudkesseln, die noch aus den 60 er-Jahren stammen, hinüber in die riesige Lagerhalle, wo sich Bier und Cider, abgefüllt
in Dosen und Flaschen, auf Paletten gestapelt und in Folie eingeschweißt, fast bis zur Decke türmen, und dann hinüber zur
01/2014 Entrepreneur
36 Entrepreneure  Report
„Jeder halbwegs fähige
Unternehmensberater hätte
mir abgeraten, mein Geld
in diese Brauerei zu stecken.
Niemand wusste, ob wir
die Investition jemals erwirtschaften würden.“
Peter Bronsman
modernen Abfüllanlage mit ihrem schneckenhausförmigen
Transportband, auf dem die Flaschen leise klirrend himmelwärts
ruckeln. Bronsman hat nicht viel Zeit, er muss noch mit wich­
tigen Kunden aus England zu Mittag essen, aber er will alles zeigen. Keine Frage – dieser Mann ist stolz auf das, was er aus
dem Nichts aufgebaut hat.
Bronsman zählt ganz bestimmt nicht zu den Zögerern und
Zauderern, die so lange immer wieder alle Argumente für und
wider abwägen, bis jemand anders die Chance ergriffen hat.
Aber er ist auch kein Leichtfuß, der jedes Risiko eingeht, das
sich bietet. „Wenn du zehn Dinge ausprobierst und alle sind
hochriskant“, versucht er das Rattern der Abfüllanlage zu übertönen, „dann wirst du mit großer Wahrscheinlichkeit alles
verlieren. Ich versuche, bei sieben Entscheidungen auf der sicheren Seite zu bleiben – und dann zwei- oder dreimal etwas zu
wagen.“ Die Brauereibranche quittierte Bronsmans Wagemut
seinerzeit mit ein paar abfälligen Bemerkungen, bestenfalls
hatte man Mitleid mit dem Newcomer. Fast allen schwedischen
Braue­reien ging es damals schlecht; es herrschte ein gnaden­
loser Verdrängungswettbewerb. Ein, maximal zwei Jahre
würden die Bronsmans durchhalten – ohne üppiges Finanzpolster, ohne eingeführte Marke, ohne schlagkräftigen Vertrieb.
Als Kopparberg nach dem dritten Jahr immer noch nicht Insolvenz angemeldet hatte, waren die Konkurrenten irritiert. Bronsman hatte die kleine Braustätte aus Mittelschweden erfolgreich zum Nischenanbieter jenseits der Massenbiere entwickelt.
Vom Vertrieb verstanden die Brüder Bronsman ja etwas. In
Kopparberg bereitete man sich auf den Take-off vor. Bronsman
wollte angreifen.
Dann kam jener deprimierende Tag, an dem ein Großbrand
große Teile der Gebäude und Produktionsanlagen zerstörte.
Am Morgen nach dem Brand schaute Peter Bronsman auf
die rauchenden Trümmer seiner Brauerei. Sein Braumeister
stand neben ihm und fragte leise: „Das war’s jetzt, oder?“
„Nein, wir fangen neu an!“, befand sein Chef – und begab sich
an die „dritte Gründung“ des Unternehmens. Er ließ die
Trümmer wegräumen, kaufte gebrauchte Maschinen, weil er
sich neue nicht leisten konnte, und behielt alle Mitarbeiter an
Bord – als Signal, dass die Geschichte der Kopparberg-Brauerei
weitergehen würde. Schon nach wenigen Wochen lief die Produktion wieder an. Bronsman glaubt, dass die Entscheidung zum
Weitermachen in dieser trostlosen Lage einen Teamgeist
entfacht hat, von dem das Unternehmen heute noch zehrt. Fast
alle, die damals beim Aufräumen und beim Wiederaufbau mit
anpackten, sind heute noch an Bord. „Wir hier in Kopparberg
lassen uns nicht unterkriegen, was auch immer passiert“, lautete die Botschaft nach innen und nach außen.
Entrepreneur 01/2014
Die Kopparberger haben einen selbstbewussten, hartnäckigen, fast
schon sturen Chef, der sich so leicht nicht erschüttern lässt. Das hat
vielleicht auch mit einem Ereignis in jungen Abenteurerjahren zu tun,
bei dem weit mehr auf dem Spiel stand als der Marktanteil einer der
Biermarken aus dem Kopparberg-Portfolio. Bronsman malochte damals
als Seemann auf einem Frachter und war unterwegs von Hongkong
nach Taiwan. Mit einem Kollegen musste er in stockdunkler Nacht, vermutlich nicht ganz legal, Säcke mit Müll über Bord werfen. Bronsman
rutschte dabei aus, fiel 20 Meter in die Tiefe, wo hohe Wellen über ihm
zusammenschlugen, und brach sich eine Hand. Todesangst überkam
den jungen Mann, der das Schiff langsam in der Dunkelheit verschwinden sah. Er wusste, dass es in diesem Teil des Meeres von Haien wimmelte. Zum Glück hatte man sein Verschwinden an Bord sofort bemerkt.
Die Minuten, die vergingen, bis das Schiff endlich seine Maschinen
gestoppt hatte und man ihn zurück an Bord holte, kamen ihm vor wie
eine Ewigkeit. Ob es eine direkte Verbindung gibt von jenem Ereignis
im Südchinesischen Meer zu seiner unerschrockenen Beharrlichkeit in
Sachen Kopparberg? „Nein“, sagt Peter Bronsman, „so weit würde
ich nicht gehen. Aber geprägt hat mich dieses Erlebnis schon. Wenn man
so etwas überlebt hat – was für ein Risiko ist dann der Kauf einer alten
Brauerei?“
Vermutlich wäre Kopparberg noch heute eine kleine, unbedeutende
Brauerei für regionale Bierspezialitäten, wenn nicht eines Tages, 1995
war es wohl, ein Vertreter der staatlichen Alkohol-Verkaufsstätten –
Schweden hatte damals ein striktes staatliches Alkoholmonopol – auf
Bronsman zugekommen wäre. Ob er vielleicht englischen Apfelcider
in Pfandflaschen abfüllen könne? Grundsätzlich kein Problem, meinte
Bronsman, probierte den Cider – und verzog angewidert das Gesicht.
„Das ist viel zu herb!“, befand er. „Das wird hier in Schweden keiner
trinken.“ Bronsman dachte nach. Die Idee mit dem Cider war ja nicht
schlecht. Allerdings durfte es nicht so ein Säuerling sein. In Kopparberg, das wusste er, gab es eine alte Tradition der Cider-Herstellung, die
bis in die 30 er-Jahre zurückreichte und die man wiederbeleben könnte.
Aber nicht so herb durfte das moussierende Apfelgetränk werden,
frisch und prickelnd zwar, aber dabei doch schmeichelnd. Mit Wolfgang
Voigt experimentierte er, zunächst mit Äpfeln, bald auch mit Birnen,
bis sie die richtige Balance aus Frucht und Süße gefunden hatten.
In Schweden kam der Cider aus Kopparberg auf Anhieb gut an. Bronsman war auf den Geschmack gekommen. „Wo wird Cider getrunken?“,
fragte er sich, stellte sich gedanklich vor eine Landkarte von Europa –
und schon landete sein imaginärer Zeigefinger auf den Britischen Inseln.
Dort hatte sich Cider seit den 80 er-Jahren fast zu einem Volksgetränk
ent­wickelt. Allerdings bevorzugten die Briten ausschließlich Cider der
Peter Bronsman
Der 1963 in Göteborg geborene Peter Bronsman leitet als Gesellschafter und
CEO seit zwei Jahrzehnten die Geschicke der Kopparbergs Bryggeri AB, eines
Herstellers von Cider, Bier, Limonade und Mineralwasser mit Hauptsitz im mittelschwedischen Kopparberg (220 Kilometer westlich von Stockholm) und
drei weiteren Braustätten in Schweden. 1993 kaufte er die stillgelegte Brauerei
einer Bank ab und verfolgte vom ersten Tag an die Revitalisierung mit großem
Elan. Als wesentlicher Schlüssel zum Markterfolg erwies sich Bronsmans
Entscheidung, einen im Vergleich zu den gängigen Sorten süßlicheren Cider auf
den Markt zu bringen. Vor allem in Großbritannien entwickelte sich dieses
Getränk zum Bestseller. Mut zum Risiko spielt in Bronsmans unternehmerischer
Vita eine gewichtige Rolle. Sowohl der Kauf der stillgelegten Brauerei und
ihr der Wiederaufbau nach einem schweren Brand im Jahr 1997 als auch der
Launch der lieblicheren Cider-Variante waren riskante Entscheidungen mit
ungewissem Ausgang. Im vergangenen Jahr kürte EY Bronsman zum schwedischen „Entrepreneur Of The Year“.
In dem Städtchen Kopparberg ist die Brauerei heute
der mit Abstand größte
Arbeitgeber. Vor allem der
Cider brachte den Boom.
Expertise  Capital Agenda 39
38 Entrepreneure  Report
trockenen Sorte aus den Gärkesseln der großen Brauerei-Konzerne.
Der Markt war fest in der Hand der mächtigen Platzhirsche. Sollte eine
kleine Brauerei aus Schweden es ausgerechnet mit denen aufnehmen? „Warum eigentlich nicht?“, dachte sich Bronsman. „Wo viel Cider
getrunken wird, gibt es garantiert auch eine Menge Leute, die aufgeschlossen sind für eine andere Geschmacksvariante.“ Der Brauereichef
packte 1999 ein paar Dutzend Dosen Kopparberg-Birnen-Cider ins
Gepäck und flog nach London. Das Ergebnis war niederschmetternd.
„ ‚Geh wieder nach Hause mit dem Zeug‘, sagten mir die Einkäufer
der großen Pub-Ketten, ‚so eine süße Plörre trinkt hier kein Mensch.‘ “
Bronsman ließ sich nicht beirren. Er eröffnete ein Büro in London,
steckte eine Menge Geld in den Vertrieb und verzog zwei, drei Jahre
lang regelmäßig das Gesicht, wenn die neuesten Verkaufszahlen aus
Großbritannien eintrafen. Doch ganz allmählich wies die Absatzkurve
nach oben. Bronsman hatte nun keinen Zweifel mehr, dass es ihm gelingen würde, die Briten zum wahren Cider-Genuss zu erziehen.
Heute ist Kopparberg-Cider auf der Insel ein Kultgetränk. Mit ihren
lieblichen Obstschaumweinen in den Geschmacksrichtungen Birne, Erdbeer-Limette, Mischfrucht und Holunder haben die Brauer aus Mittelschweden die Pubs im Vereinigten Königreich erobert – und nebenbei
einen völlig neuen Markt erschlossen. Die großen Brauereien, die anfangs abfällig gegen das „süße Gesöff“ aus Schweden rüpelten, haben
allesamt nachgezogen und präsentieren jetzt ebenfalls lieblichen Cider.
Sie alle profitieren von der Pionierarbeit des kleinen Konkurrenten
aus Ikealand. Heute konsumieren die Briten doppelt so viel Cider wie vor
dem Markteintritt von Kopparberg – und das Plus geht fast vollständig
auf das Konto der süßlicheren Sorten. Besonders stolz ist Peter Bronsman auf die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse einer Umfrage unter
5 000 britischen Pub-Besitzern, die gefragt wurden, welche Bier- oder
Cidermarke sie auf jeden Fall bevorraten würden. Auf Platz eins landete
Kopparberg-Mischfrucht-Cider. Das Getränk darf offenbar in keinem
Pub-Kühlschrank fehlen.
Beflügelt vom Erfolg in Großbritannien, hat Peter Bronsman
die Hebel auf Expansion umgelegt. In den vergangenen Jahren
hat er drei schwedische Brauereien gekauft; dort wird vor
allem Bier für den Heimatmarkt gebraut. Aus den anfangs versprochenen zwölf Mitarbeitern wurden 350, aus dem regionalen Anbieter eine Brauerei, die ihre Fühler weltweit ausstreckt,
unter anderem nach Südafrika und Australien. Den lukrativen
australischen Markt nimmt Bronsman sicherheitshalber mit
einem starken Partner ins Visier. SABMiller, der weltweit zweitgrößte Brauereikonzern, kümmert sich um den Vertrieb in
Down Under. Weitere Länder sollen folgen.
Bei allem Faible fürs Risiko ist Peter Bronsman ein kluger
Unternehmer, der einen Fehler nur einmal begeht. Die Entscheidung vor zehn Jahren, ein alkoholhaltiges Schokogetränk auf
Milchbasis auf den Markt zu bringen, war so ein schwerer Fehltritt. Bronsman investierte in neue Anlagen, die zum Verar­
beiten der Milch notwendig waren, und brachte schließlich ein
Getränk auf den Markt, von dessen Erfolg er überzeugt war.
Doch der erhoffte Umsatzrenner landete als totaler Flop. Die
teuren Anlagen stehen seitdem ungenutzt in einer der Kopparberg-Brauereien, als Mahnmal, dass der Mut zum Risiko meist
belohnt wird – aber nicht immer. Das besonders weiche
Wasser zählt Peter Bronsman
zu den größten Vorzügen
seiner Bier- und Cidersorten.
Gut gerüstet
Entrepreneure sind es gewohnt, mutige Entscheidungen zu treffen.
Das ist einer ihrer Wesenszüge. Wer dabei auf der Basis einer
gut definierten und starken Capital Agenda agiert, kann seinen
Entscheidungs- und Aktionsradius deutlich vergrößern.
Von Alexander Kron
Jede wichtige und zukunftsweisende unternehmerische Entscheidung setzt neben
Leidenschaft, Unternehmergeist, Neugierde
und Forscherdrang auch Mut voraus; Mut,
sich auf unbekanntes Terrain vorzuwagen,
Unsicherheiten zu akzeptieren, etwas Neues
auszuprobieren, dessen Entwicklung noch
nicht in allen Konsequenzen absehbar ist.
Doch Mut ohne Vorsicht sowie mangelnde
Besonnenheit bei der Abschätzung von Risiken und Chancen wäre Leichtsinn oder Tollkühnheit. Beides kann sich kein Entrepreneur
wirklich leisten, wenn er sein Unternehmen
nicht in Gefahr bringen will.
ihrer Unternehmen und entwickeln auf dieser
Basis Strategien für den Auf- und Ausbau
neuer Geschäfte. Das Augenmerk legt die
Mehrheit der Unternehmer auf die Entwicklung der Erträge, der Ergebnisse und insbesondere der Liquidität. Weil rasantes Wachstum, aber auch die schnellen Veränderungen
auf den Märkten Pläne oft aushebeln, entwickeln die meisten Entrepreneure nur noch
Perspektiven für die nächsten drei Jahre.
So halten sie ihre Organisation flexibel und
anpassungsfähig.
Innovationen, Innovationen, Innovationen:
Führende Entrepreneure setzen stark auf
völlig neue oder auf verbesserte Produkte.
Mit der Vermarktung neuer Produkte sollen
neue Kunden, Märkte und Marktanteile gewonnen werden. Deshalb investieren erfolgreiche Entrepreneure viel in Forschung und
Entwicklung: Bei ihnen fließen im Schnitt elf
Prozent der Erträge in diesen Bereich. Der
Aufwand lohnt sich: Fast alle befragten Unternehmer sind davon überzeugt, dass ihre Produkte und Produktionsprozesse dem Wettbewerb überlegen oder gar konkurrenzlos sind.
Unsicherheiten auf den internationalen Kapitalmärkten und sinkende Nachfrage bei vielen Gütern und Dienstleistungen – vor allem
in den reifen Märkten –, starke Schwankungen und widersprüchliche Entwicklungen in
Wachstumsmärkten prägen heute das Umfeld der Unternehmen. Auf diese schwierigen
Bedingungen reagieren gerade viele erfolgreiche Mittelständler erstaunlich gelassen und
robust. Die Besten steigerten ihre Erträge
bereits in den letzten Krisenjahren überdurchschnittlich und sind zuversichtlich, weiterhin Wachstum zu generieren. Das zeigt die
EY-Studie „Wachsen und Wirtschaften –
Siegerstrategien im deutschen Mittelstand
2013“. Ein wichtiges Fazit der Studie: Die
bemerkenswerten Wachstumsquoten gelingen, weil die Entrepreneure äußerst wachsam gegenüber potenziellen Risiken sind und
ihre Strategien laufend an Veränderungen
anpassen. Besonders erfolgreiche Unternehmen verfolgen dabei bestimmte, deutlich
differenzierbare Wachstumsstrategien.
Premium statt Preisfalle: Stete Neuerung,
hoher Qualitätsanspruch, Konzentration auf
das Wesentliche – viele erfolgreiche Entrepreneure agieren in lukrativen Nischen, wo
der Konkurrenzdruck niedrig ist. Auch haben
sie ihre Internationalisierung deutlich vorangetrieben. Damit ist ihre Unabhängigkeit von
einzelnen Märkten gewachsen, aber auch
von Preisdiktaten. Spezialisierte und innovative Produkte ermöglichen ihnen Premiumangebote, für die mehr ausgegeben wird.
Vorausschauend planen, flexibel agieren:
Fast alle Erfolgsunternehmer kontrollieren
regelmäßig die wichtigsten Kennzahlen
Unabhängig bleiben: Übernahmen, Wachstumspläne und internationale Expansion –
solche Vorhaben finanzieren die meisten
Entrepreneure aus dem laufenden Geschäft.
So behalten sie einen maßvollen Blick und
bleiben unabhängig von Banken und externen
Investoren. Was nicht aus eigener Kraft oder
mit einem überschaubaren Kredit finanziert
werden kann, wird aufgeschoben oder noch
sorgfältiger geplant.
Der Preis der Eigenständigkeit
Auf ihre Eigenständigkeit legen Entrepreneure mithin großen Wert. Um also Risiken und
Chancen eines neuen Geschäftsmodells, neuer Märkte und Produkte möglichst genau abwägen zu können, müssen im Unternehmen
die notwendigen strategischen, operativen,
technischen und finanziellen Kenntnisse und
Mittel vorhanden sein. Doch gerade in jungen, kleineren oder mittelständisch geprägten Unternehmen mangelt es an der einen
oder anderen Stelle am Wissen oder an der
Kapazität. Und weil verantwortungsvolle
Entrepreneure sich dieses Mankos im Zuge
der Risikobewertung auch bewusst werden
und erkennen, dass ihnen wichtige Voraussetzungen für die Umsetzung eines möglicherweise gewagten Vorhabens fehlen, verlässt sie hier im wörtlichen Sinn oft der Mut.
Ein entscheidender Punkt sind dabei Kapital- und Finanzierungsfragen. Wie Unternehmen ihr Kapital heute verwalten, bestimmt ihre Wettbewerbschancen von morgen.
Ein Beispiel: Wir haben festgestellt, dass
bei kleinen und mittleren Unternehmen, den
sogenannten SMEs mit Jahresumsätzen
unterhalb einer Milliarde US-Dollar, im Allgemeinen der Bedarf an Working Capital
höher ist, weil sie weniger Finanzierungsoptionen haben und weil ihnen in Ein- und
Verkauf die Verhandlungsmacht eines Großunternehmens fehlt.
01/2014 Entrepreneur
Expertise  Capital Agenda 41
„Wachstumsstarke Unternehmen vertrauen
auf Geschäftsmodelle, mit denen sie äußerst
flexibel und schnell auf die permanenten
Veränderungen in den Märkten reagieren können.“
Alexander Kron
Eine Senkung des Working Capital würde zu
geringeren Zinsaufwendungen sowie zu
besseren Rentabilitätskennzahlen, etwa zur
Verbesserung der Gesamtkapitalrentabilität, führen. Im Rahmen eines effizienten Working-Capital-Managements könnten Optimierungspotenziale in der Lagerhaltung oder
dem Forderungsmanagement ermittelt sowie Schwachstellen im Verbindlichkeitenmanagement festgestellt werden. Doch es fehlen dazu gelegentlich intern das nötige Wissen
und auch die entsprechende Kapazität an
Mitarbeitern oder beim Management.
Nicht nur beim Betriebskapital, sondern bei
allen Fragen rund um das komplexe Thema
Kapital kann deshalb der Einsatz von externem, bisher im Unternehmen nicht vorhandenem Wissen und von Erfahrungen es den
Entrepreneuren ermöglichen, über bisherige
Grenzen hinauszudenken, Potenziale zu entfalten und Risiken zu senken – mutigere, aber
durchaus nicht risikoreichere und sogar besser fundierte Entscheidungen zu treffen.
Maßgeschneiderte Capital Agenda
Unternehmen und ihre Führung stehen heute
vor der Herausforderung, passend zur ihrer
jeweiligen Entwicklungsphase die optimale
Finanzierung zusammenzustellen: Welche
Finanzierung passt zum Geschäftsmodell?
Welche Finanzierung bildet eine solide Basis
für die Zukunft? Lohnt sich der Zukauf eines anderen Unternehmens oder sollten im
Gegenteil eigene Betriebsteile veräußert
werden? Und wenn ja, zu welchem Preis?
Einfache Antworten auf diese Fragen gibt
es meist nicht. Die Finanzierungsoptionen
sind vielfältiger und komplexer geworden,
und die Anzahl möglicher Finanzierungsinstrumente und -partner ist gestiegen.
Um auf diese Herausforderungen im Sinne
der Klienten reagieren zu können, hat EY
seine Beratungsleistungen in den sogenannten Transaction Advisory Services (TAS)
deshalb eng miteinander verzahnt und auf
einen Fokus konzentriert: auf die individuellen Bedürfnisse und Anforderungen des
jeweiligen Unternehmens rund um das Thema Kapital – unabhängig davon, ob es dabei
um Sicherung, Optimierung, Beschaffung
oder Investition geht.
Knapp 900 Berater in Deutschland sowie ein
weltweites Netzwerk von rund 9 000 EYKollegen stehen hier zur Verfügung, um in
gemeinsamer, vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Klienten eine speziell auf dessen Bedürfnisse zugeschnittene, optimale Lösung zu finden, die es ihm
ermöglicht, Wettbewerbsvorteile zu nutzen
und den Unternehmenswert zu steigern –
weit über Transaktionen hinaus. Sie unterstützen das Unternehmen bei der Analyse
bestehender Finanzierungsstrukturen, entwerfen alternative und marktfähige Optionen, erarbeiten gemeinsam mit der Unternehmensleitung die Finanzierung, die am
besten zum Unternehmen passt, und optimieren das immens wichtige Rating. Aber
auch operative und strategische Belange
stehen weit oben auf der Agenda.
Business Modelling und Bewertung
Wachstumsstarke Unternehmen vertrauen
auf Geschäftsmodelle, mit denen sie äußerst
flexibel und schnell auf die permanenten
Veränderungen in den Märkten reagieren können. Wer als Entrepreneur künftig zu den
Siegern gehören will, braucht also selbst ein
Geschäftsmodell, das diese Anforderungen
erfüllt, oder er muss das bestehende entspre-
chend verändern. Doch ein neues, effektives Geschäftsmodell zu kreieren, das neue
Marktchancen nutzt oder eine neue Strategie umsetzt, ist eine komplexe und schwierige
Aufgabe. Neben der Konzeption muss das
Modell auch auf seine Praxistauglichkeit hin
überprüft werden. Damit aus einer mutigen
Entscheidung für ein neues Geschäftsmodell
auch eine fundierte wird, sind Unterstützung
bei der Entscheidung und Überprüfung durch
externe Berater oft sinnvoll und gerade im
Vorfeld beispielsweise von Bankenpräsentationen auch ratsam.
Stark gestiegen ist auch der Bedarf an transparenten und belastbaren Bewertungen zur
Unterstützung von Unternehmenstransaktionen sowie bei der Einhaltung unterschiedlicher regulatorischer Bestimmungen und Bilanzierungsvorschriften. Seit Jahren gehören
„Regulation and Compliance“ nach Einschätzung der Unternehmen zu den zehn größten
Geschäftsrisiken, wie der seit 2008 jährlich
von EY erstellte Business Risk Radar zeigt.
Hier bedarf es großer Fachkompetenz, auch
in internationalen Zusammenhängen, in der
Rechnungslegung, in Steuerfragen und bei
Financial-Due-Diligence-Prüfungen, die mittelständische und/oder bisher global wenig
aktive Unternehmen kaum aus eigener Kraft
leisten können. Gleichzeitig ist es für die
meisten Unternehmen wichtiger, aber auch
schwieriger geworden, den Wert der Vermögenswerte und Verbindlichkeiten zu bestimmen. Was ist beispielsweise das Know-how
der Mitarbeiter als Teil des immateriellen
Vermögens eines Unternehmens wert?
Wachstum durch Zukauf
Auch in schwierigen Zeiten sind Wachstum
in strategisch wichtigen Bereichen und die
Künstler Gary Waters
01/2014 Entrepreneur
42 Expertise  Capital Agenda
43
„Unternehmen können mutige Entscheidungen nur
treffen, wenn sie auf einer starken kapitalorientierten
Agenda basieren, in der alle Aspekte von Investitionsentscheidungen, Optimierung, Kapitalbeschaffung und
-sicherung angemessen berücksichtigt sind.“
Alexander Kron
Alexander Kron
[email protected]
Alexander Kron ist EY TAS
Leader GSA (Germany,
Switzerland, Austria).
diesbezügliche Optimierung des Beteiligungsportfolios für Gedeih und Fortbestand eines
Unternehmens essentiell. Mutige unternehmerische Entscheidungen sind also darauf
gerichtet, dieses Ziel auch unter erschwerten Bedingungen zu realisieren. Wachstum
lässt sich auf unterschiedliche Weise generieren: organisch, beispielsweise durch Innovationen, die im besten Fall den Zutritt zu
ganz neuen Märkten eröffnen, oder verstärkte Internationalisierung; anorganisch durch
Zukäufe.
Kein verantwortungsvoller Entrepreneur
kauft allerdings bei Übernahmen gern die
„Katze im Sack“ oder stürzt sich fahrlässig
in unbekanntes Terrain. Hinter der schillernden Fassade des Übernahmekandidaten
können sich Risiken verbergen, die auf den
ersten Blick nicht zu erkennen sind. Aufgrund
tiefer Branchenkenntnisse und Erfahrung
sowie mit Hilfe des ausgedehnten, internationalen EY-Netzwerkes können die EY-Berater
dabei einen deutlichen Mehrwert generieren.
Sie beraten den Unternehmer bei der Entwicklung einer Geschäfts- und Transaktionsstrategie und unterstützen ihn dabei, die
strategische Angemessenheit einer Transaktion zu beurteilen. Dabei bewerten sie die
geplanten Synergien und Implikationen der
Transaktion, erstellen Finanzmodelle und begleiten die Vertragsverhandlungen. Sie prüfen das Zielunternehmen und stellen fest, ob
„Verpackung“ und „Inhalt“ übereinstimmen.
Sie helfen dabei, die wesentlichen Bewertungsfaktoren zu ermitteln, hinterfragen
Annahmen über die künftige Performance
kritisch, übernehmen bei Bedarf die Due
Diligence auf Käufer- und Verkäuferseite, bei
der IT und für Human Resources. Sie beteiligen sich auf Wunsch auch direkt an den Ver-
Entrepreneur 01/2014
kaufsverhandlungen oder steuern den gesamten M&A-Prozess mit dem Ziel, die
Strukturen der Transaktion zu optimieren.
Zahlreiche Studien belegen, dass viele Unternehmen es aus eigener Kraft nicht schaffen,
den angestrebten Mehrwert bei der Umsetzung einer Transaktion zu realisieren. In
vielen Fällen wird sogar Unternehmenswert
vernichtet. In einem erfolgsorientierten
Umfeld ist der Druck auf Unternehmen besonders groß und das Risiko zu scheitern
enorm – denn Geschwindigkeit ist kritisch
und die Ressourcen sind begrenzt. Entscheidend ist deshalb ein sorgfältig vorbereiteter und regelmäßig kontrollierter Integrationsprozess – der bereits lange vor dem
Abschluss der eigentlichen Transaktion
beginnt. Regelmäßig sollte auch hinterfragt
werden, ob die erwarteten Synergien tatsächlich erreicht werden und, wenn nicht,
welche Prozesse und Strukturen wie verändert werden müssen, um die erwünschten
Effekte zu realisieren.
Optimierung des Beteiligungsportfolios
und steuerliche Aspekte
die beste Lösung für seine Steuerstrategie
finden? Hierbei geht es um sehr viel Geld.
Fusionen und Übernahmen sind das eine.
Aber auch die Optimierung des Beteiligungsportfolios und die Überprüfung bestehender Geschäftsfelder, die nicht mehr rentabel
genug sind oder nicht zur Geschäftsstrategie passen, erfordern fundierte Entscheidungen. Egal aus welcher Motivation heraus,
wie beim Kauf gilt auch für den Verkauf eines
Unternehmens oder von Teilbereichen: Wer
diesen Schritt gut vorbereitet, hat die besten Chancen, ein gutes Geschäft abzuschließen. Erfolgreiche Unternehmen prüfen ihr
Portfolio regelmäßig und managen es aktiv.
Der Verkauf von Teilbereichen dient oft zudem als Wachstumsoption, indem er Managementkapazität und Kapital freisetzt.
Das Transaction-Tax-Team von EY hat sich
auf derartige Fragen spezialisiert und ist
Benchmark. Die Fachleute erarbeiten mit
dem Unternehmen zusammen Strategien,
mit denen die wirtschaftlichen Ziele steuer­
effizient umgesetzt werden können – angefangen mit einer Private-Equity-Transaktion
und bis hin zur konzerninternen Restrukturierung. Sie zeigen steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten auf, die die unterschiedlichen
Interessen von Investoren und Eigentümern
in Einklang bringen und dazu beitragen,
künftige Ergebnisse oder Cashflows zu verbessern. Sie erarbeiten Modelle zur Mitarbeiterbeteiligung oder beraten bei einem
möglichen Going-public.
Für den Erfolg einer Transaktion ist entscheidend, dass es in kürzester Zeit gelingt, ein
funktionsfähiges und effizientes Gesamtunternehmen zu schaffen (Integration) beziehungsweise Unternehmensteile reibungslos
herauszulösen (Carve-out). Ein Verkauf ist
jedoch meist weit mehr als bloß eine weitere
geschäftliche Transaktion. Er ist ein sehr
facettenreiches Konstrukt mit vielfältigen
technischen, branchenspezifischen, zeitlichen, finanziellen und psychologischen Ebenen. Oft ist das Unternehmen im Mittelstand
auch Lebenswerk eines Unternehmers, und
die Trennung erfordert viel Disziplin und Mut.
Mut zu unbequemen Entscheidungen
Jede Transaktion hat über die genannten
Aspekte hinaus steuerliche Konsequenzen.
Ist das Unternehmen darauf vorbereitet?
Welche steuerlichen Gesichtspunkte und
Fallstricke sind bei einer Unternehmenstransaktion zu beachten? Wie kann das Unternehmen diese Hindernisse überwinden und
Nicht immer aber können Unternehmer aus
einer Position der Stärke heraus entscheiden und agieren. Gerade in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten rächen sich die Nachlässigkeiten und aufgeschobenen Entscheidungen der Vergangenheit schnell. Der
Schritt von suboptimalen Prozessen, schwacher Finanzierung und unklarer Strategie
hin zur Krise ist dann oft nur noch klein. Aber
er ist nicht unumkehrbar. Auch in einer
derartigen Situation ist Mut gefragt – Mut,
die schon lange notwendige Restrukturierung endlich konsequent anzugehen. Der
Schlüssel liegt in integrierten TurnaroundKonzepten. Hierbei werden strategische,
operative und finanzwirtschaftliche Aspekte
kombiniert und in einer zielgerichteten Sanierungsstrategie umgesetzt. Die Restructuring-Teams von EY erarbeiten gemeinsam
mit dem Unternehmen integrierte Lösun-
gen, die den Wert des Unternehmens steigern, etwa durch eine Neuausrichtung und
Bündelung der Aktivitäten, Maßnahmen
zur Kostensenkung und Effizienzsteigerung.
Aber auch die Verbesserung der Liquidität,
zum Beispiel durch ein optimiertes WorkingCapital-Management, und die Stärkung des
Eigenkapitals stehen dabei im Fokus.
Unternehmer können mutige Entscheidungen
nur treffen, wenn sie auf einer starken kapitalorientierten Agenda basieren, in der alle
Aspekte von Investitionsentscheidungen,
Optimierung, Kapitalbeschaffung und -sicherung angemessen berücksichtigt sind. Dazu
muss der externe Berater den Klienten verstehen, sich mit dem Projekt identifizieren
und sich um dessen Erfolg kümmern. Der
Unternehmer muss sich absolut auf seinen
Berater verlassen können, dieser muss sich
in mutige Entscheidungen hineindenken und
sie kritisch hinterfragen können. Nur wer
die Risiken kennt und einschätzen kann, auf
die er sich einlässt, kann auch die Chancen
des Unternehmens und des Marktes wirklich
nutzen.
01/2014 Entrepreneur
Expertise  Dialog 45
„Es ist unsere Pflicht, nicht wegzuschauen!“
Sein eigener Start war nicht einfach. Dennoch hat Uwe Hück, heute Vorsitzender
des Konzernbetriebsrats der Porsche AG und stellvertretender Vorsitzender
des Aufsichtsrats der Stuttgarter Sportwagenschmiede, nie der Mut verlassen.
Warum es sich lohnt, immer wieder aufzustehen und Chancen zu nutzen,
möchte er auch heutigen Jugendlichen vermitteln. Im Gespräch mit Georg Graf
Waldersee, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY, diskutiert Hück
über Vorbilder und Werte und warum Unternehmen Herz und Seele brauchen.
Fotos Michael Hudler
Georg Graf Waldersee: Herr Hück, Sie treten
in Kürze für einen guten Zweck im Boxring
gegen Luan Krasniqi, den zweimaligen Europameister im Schwergewicht, an. Auch
wenn Krasniqi seine Profikarriere vor zwei
Jahren beendet hat und Sie nicht nur eine
kräftige Statur, sondern selbst zwei Europameistertitel im Thaiboxen aus jungen Jahren vorzuweisen haben – ist das nun mutig
oder verrückt?
Uwe Hück: Ob das mutig ist, weiß ich gar
nicht. Aber es ist jedenfalls sehr anstrengend.
Tagsüber arbeite ich und abends trainiere
ich seit Monaten hart. Wir nehmen diesen
Kampf ja beide sehr ernst. Keiner von uns
will verlieren.
Waldersee: Ihr Motto lautete „Blaue Flecke für
soziale Zwecke“. Worum geht es Ihnen genau?
Ready to rumble: Uwe Hück boxt
für seine Bildungsstiftung
gegen Schwer­gewichts-Europa­meister Luan Krasniqi.
Hück: Luan engagiert sich schon seit Jahren für SOS-Kinderdörfer. Ich selbst habe
eine Bildungsstiftung gegründet, die benachteiligten Kindern und Jugendlichen mit
Lerndefiziten hilft. Ich bin davon überzeugt,
dass wir in Deutschland auf Dauer nur erfolgreich sein können, wenn wir die klügsten
Köpfe gewinnen und möglichst alle eine
gute Bildung und Ausbildung haben. Wie
entscheidend das für ein gelungenes Leben
ist, weiß ich ja aus eigener Erfahrung. Ich
habe frühzeitig beide Eltern verloren, bin
in Heimen groß geworden und war das, was
man heute verhaltensauffällig nennt. Ich
wurde in eine Sonderschule gesteckt. Hätte
nicht ein engagierter Lehrer mein Potenzial
erkannt, sich für mich eingesetzt und mich
so gefördert, dass ich mehrere Klassen überspringen und mit 15 Jahren eine Lehre als
Autolackierer anfangen konnte, wer weiß,
was aus mir geworden wäre? Ich habe meine
Chance damals genutzt, und diese Chance
will ich nun auch anderen Jugendlichen bieten. Aber dafür brauche ich natürlich Geld.
Da bin ich spontan auf die Idee mit dem Boxkampf gekommen.
Waldersee: Sie haben in Ihrer Biografie sehr
anschaulich die Lieblosigkeit und die Willkür, die Ihnen in Ihrer Kindheit und Jugend
widerfahren sind, beschrieben. Wie sehr hat
das, was Sie erlebt haben, zu einer gewissen
Resilienz und zu Ihrem Mut beigetragen?
Hück: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass
Kinder unbedingt Liebe und Zuneigung brauchen, Vater und Mutter. Wenn sie das nicht
haben, haben sie etwas verloren, das man
nie wieder nachholen kann. Manche zerbrechen daran. Ich hatte nur meinen Mut, Durchsetzungsvermögen und ein fast fanatisches
Gerechtigkeitsgefühl, für das ich auch harte
Strafen hingenommen habe. Das versuche
ich auch meinen jungen Leuten zu vermitteln.
Sie müssen schon etwas tun, um etwas zu
erreichen. Sie werden auch mal hinfallen, werden Narben bekommen. Wichtig ist, immer
wieder aufzustehen und weiterzumachen.
Waldersee: Ich stelle es mir schwierig vor,
Jugendlichen, die eigentlich alles haben,
die in der Komfortzone groß werden, eine
solche Haltung zu vermitteln.
Hück: Ich erlebe da sehr unterschiedliche
Situationen, die sich doch in gewisser Weise
ähneln. Ich treffe auf benachteiligte Kinder
von Eltern, die Alkoholiker sind oder arbeitslos oder beides. Es kommen aber auch Kinder, die materiell gesichert leben, aber emotional verarmt sind, weil ihre Eltern sich
nicht wirklich um sie kümmern. Sie sind in
der Pubertät, fühlen sich alleingelassen
und sind manchmal unglaublich wütend. Bei
mir können sie sich kontrolliert austoben
beim Thaiboxen, bei Gymnastik, Fußball und
anderen Sportarten. Wir müssen unseren
Kindern aber auch sagen, dass wir jeden Tag
dafür kämpfen müssen, das zu erhalten,
was wir heute haben. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir Frieden in Europa
haben, dass wir in Wohlstand leben.
Waldersee: Für mich geht es dabei auch
immer um die Frage, wie Werte vermittelt
werden. Wer vermittelt sie? Werden sie
überhaupt vermittelt?
Hück: Ich spüre immer wieder, dass die jetzige Generation nach Werten sucht, sich
geradezu danach sehnt. Die jungen Leute
wollen zum Beispiel nicht unbedingt ein
Auto haben, sie wollen reisen, die Welt kennenlernen. Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass wir jetzt eine Jugend haben, der
wir Werte vermitteln können. Das ist unsere vordringlichste Aufgabe als Eltern, Lehrer,
Ausbilder, Vorgesetzte. Es geht vor allem
um Toleranz gegenüber dem anderen und
um gegenseitigen Respekt. Aber Respekt
ist nicht angeboren. Respekt muss man lernen wie das Gehen und das Sprechen.
Waldersee: Wenn auch die Zielgruppe eine
etwas andere ist, scheint es mir doch gewisse Parallelen zwischen Ihrem Engagement
und der von uns vor einigen Jahren gegründeten Junior Academy zu geben, die die nächste Generation von Entrepreneuren dabei
unterstützt, ihren eigenen Weg zu finden.
Dort erzählen herausragende Persönlichkeiten, Vorbilder also, zum Beispiel darüber,
wie es ihnen gelang, eine unternehmerische
oder eine sportliche Vision zu verwirklichen.
Inwieweit können Vorbilder helfen?
01/2014 Entrepreneur
46 Expertise  Dialog
47
„Ich bin ein Fan von Produktivität und Flexibilität.
Denn hohe Produktivität und hohe Flexibilität
rechtfertigen hohe Gehälter. Die Produktivität und
Flexibilität eines Unternehmens oder eines
Lan­des sind die Voraussetzung dafür, dass wir
als Industriestaat überleben können.“
„Man redet immer über Werte. Ich glaube, Respekt
und Integrität bilden den eigentlichen Kern.
Darunter kann man alles andere subsumieren.“
Uwe Hück
Georg Graf Waldersee
Hück: Sie sind ganz wesentlich. Das Viertel
in Pforzheim zum Beispiel, in dem ich mich
engagiere, galt jahrelang aufgrund seiner
sozialen Struktur als Problembezirk. Dort
traute sich lange nicht einmal die Polizei
hinein. Mitte der 90er-Jahre bin ich gebeten
worden, einen Mehrsparten-Sportverein zu
übernehmen. Es hat die Menschen dort
schwer beeindruckt, dass da einer, der es
in ihren Augen nicht nötig hatte, bereit war,
sich zu kümmern. Und dass man es schaffen
kann, auch wenn die Startbedingungen
nicht so günstig sind. Ein bisschen hat sicher
auch meine äußere Erscheinung dazu beigetragen, dass wir heute dort unter anderem
durch meine Anwesenheit die geringste
Jugendkriminalität der Umgebung haben.
Mein Motto dabei ist: Jeder darf versuchen,
mich umzuhauen. Wer gegen mich verliert,
muss aber arbeiten oder zur Schule gehen.
Bisher arbeiten alle, die es probiert haben,
oder sie sind in der Schule. Was ich damit
sagen will: Jeder hat eine Chance, er muss
sie nur nutzen. Und wir dürfen gleichzeitig
als Gesellschaft nicht wegschauen. Wir müssen in die Viertel, die heute sehr dunkel
und dreckig sind, mit der Taschenlampe hineingehen und dort Licht machen.
Waldersee: Jeder verdient sicher eine Chance. Viele Unternehmer klagen aber, dass
sie trotz drohenden Fachkräftemangels unter den Schulabgängern kaum geeignete
Kandidaten für eine berufliche Ausbildung
finden. Besonders Hauptschüler sind eine
Problemgruppe. Wie sollen wir damit umgehen? Verschenken wir hier womöglich ein
riesiges Potenzial?
Hück: Und ob! Diese jungen Leute sind ja
nicht dumm. Ich will hier gar nicht analysieren, woran es liegt, dass sie in der Schule
Entrepreneur 01/2014
kaum etwas gelernt haben. Aber wir haben
die Erfahrung gemacht, dass sie sich in
der Praxis oft gescheiter anstellen als Realschüler oder Abiturienten. Wir haben deshalb bei Porsche durchgesetzt, dass 40 Prozent unserer Auszubildenden Hauptschulabgänger sind. Und wir tun noch mehr. Wir
haben 2011 im Unternehmen ein Förderprogramm für Schulabbrecher und junge
Menschen ohne Abschluss aufgelegt, die
bisher als nicht ausbildungsfähig galten. Der
Umgang mit ihnen ist nicht einfach, das will
ich nicht verheimlichen. Vielen fehlt jegliche
Disziplin. Wir haben deshalb strenge Regeln.
Wir können mit ihnen nicht den normalen
Weg gehen, sondern reagieren sofort, wenn
etwas passiert ist, wenn sie nicht pünktlich
oder gar nicht erscheinen, zum Beispiel. Die
müssen die Konsequenzen sofort spüren.
Wir haben jetzt elf junge Leute bei uns gehabt
und neun davon konnten wir in eine reguläre
Ausbildung übernehmen. Hätten wir nichts
getan, wären diese elf vermutlich in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Nicht
nur wir, auch andere Unternehmen haben
inzwischen solche Programme; Daimler zum
Beispiel oder Audi und Bosch. Ich finde, es ist
unsere Pflicht, nicht wegzuschauen. Das sind
unsere Kinder! Also müssen wir sehen, dass
wir das Beste daraus machen. Wir müssen sie
wieder in die Gesellschaft zurückführen.
Waldersee: Das scheint mir in der Tat die
wahrgenommene Verpflichtung des Unternehmens, über den eigentlichen Unternehmenszweck hinaus etwas in der Gesellschaft
zu bewirken. Wir müssen alle wieder lernen, dass Solidarität in einer Gesellschaft
wichtig ist.
Hück: Da kann ich Ihnen nur zustimmen.
Wenn sich zum Beispiel bei uns jemand
bewirbt, achte ich darauf, ob er sich ehrenamtlich engagiert. Weil ich dann weiß, dass
er auch mal für die Firma etwas mehr tut,
ohne gleich zu fragen: Was kriege ich dafür?
Ich glaube, wir müssen wieder lernen, dass
man, wenn man ein bisschen mehr gibt,
irgendwann auch etwas mehr zurückbekommt, aber nicht zwingend sofort. Wir müssen wieder einführen, dass man nicht immer gleich nachrechnet, sondern etwas zum
Wohle des Unternehmens, der Gesellschaft,
der Familie oder der Freunde tut. Ich erlebe,
dass gerade viele junge Menschen dazu
auch bereit sind.
Waldersee: Aber das muss ihnen vorgelebt werden, gerade von Unternehmern und
Führungskräften. Bei den sogenannten
„Business Risk Radar“-Studien, die EY jährlich erstellt, wird von den Entrepreneuren,
die wir dabei befragen, seit einigen Jahren
verstärkt die gesellschaftliche Akzeptanz
und Unternehmensverantwortung als eines
der Top-Ten-Themen genannt, um die sie
sich verstärkt kümmern müssen. Dies legt
nahe, dass Unternehmen ihr Geschäft stärker als bisher unter Beachtung gesellschaftlicher Belange betreiben müssen. Auch
deshalb ist das Leitbild von EY „Building a
better working world“. Ich glaube, das deckt
sich mit Ihrem Verständnis von modernem
Unternehmertum.
Hück: Meiner Ansicht nach haben die Arbeitgeber das bis in die 80er-Jahre auch so
gehalten. Für sie war es nicht wichtig, acht
oder 80 Millionen zu verdienen, und sie
haben auch nicht versucht, aus heißer Luft
auf anderer Leute Kosten Kapital zu schlagen. In den 90er-Jahren sind solche Arbeitgebertugenden verloren gegangen. Aber
das geht auf Dauer nicht gut, weil es entseelt
ist. Ich bin jetzt seit fast 30 Jahren bei
Porsche und kann mich immer noch für
dieses Unternehmen begeistern. Porsche
ist ein Mythos, die Marke hat eine Seele.
Waldersee: Zum Führen gehört Mut. Wer
aus der Masse heraustritt – das werden
Sie sicherlich bestätigen –, setzt sich naturgemäß verstärkt der Beobachtung und
der Kritik aus. Bei EY etwa haben wir die
„courage to lead“ ausdrücklich in unseren
Unternehmenswerten verankert.
Hück: Neben Mut braucht es auch Menschlichkeit, möchte ich ergänzen. Ich hatte das
Glück, sieben, acht Jahre mit Ferry Porsche
zusammenzuarbeiten. Das war ein genialer
Arbeitgeber mit Herz. Er ist zu Mitarbeitern, die ihren 50. Geburtstag feierten, nach
Hause gefahren, hat ihnen persönlich gratuliert und ein Geschenk gebracht. Bei einer
solchen Gelegenheit, so erzählte mir kürzlich einer unserer Rentner, fiel Ferry Porsche
auf, dass die Uhr im Wohnzimmer stehen
geblieben war. Porsche, der ja auch ein begnadeter Ingenieur war, hat sie dann einfach von der Wand genommen und auf der
Couch selbst repariert.
Waldersee: Gerade hier in Baden-Württemberg gibt es viele familiengeprägte Unternehmen. Was ist das Besondere daran?
Hück: Ganz einfach: Da spielt noch das Herz
mit. Ich glaube, dass angestellte Vorstände
häufig anders agieren als diejenigen, die das
mit Familienblut übernehmen. Und deshalb
brauchen wir diese Unternehmen, die aus
einer Familie entstanden sind. Als Ferry
Porsche schwer krank war, hat er zu mir gesagt: „Bub, du guckst, dass das Unternehmen gut läuft.“ Ich habe ihm geantwortet:
„Das kann ich nicht versprechen, es gehört
nicht mir.“ Wir beide haben dann vereinbart:
Ich kümmere mich mit der Belegschaft darum, dass gute Autos entwickelt und gebaut
werden, und er kümmert sich darum, dass
es uns durch Betriebsrente und soziale Einrichtungen finanziell gut geht. Ich glaube,
diese Partnerschaft muss wiederkommen.
Das erwarte ich auch von anderen Unternehmen, dass sie wieder mehr Herz zeigen.
Waldersee: Mich würde Ihr Selbstverständnis
als Gesamtbetriebsratsvorsitzender interessieren. Wie hält man eine gute Balance
zwischen zwei Seiten, die man zusammenführen möchte? Einerseits brauchen Sie eine
gewisse Distanz zur Unternehmerseite,
andererseits wird von Ihnen natürlich auch
konstruktive Kooperation erwartet ...
Hück: 1990 war ich ja schon Betriebsrat,
und ich war damals der Auffassung, der
Betriebsrat ist vor allem da, um zu schimpfen. Wenn es schlecht geht, ist immer der
Arbeitgeber schuld, und wenn es gut geht,
dann liegt das am Fleiß der Arbeitnehmer.
Das hat dazu geführt, dass wir in große
Schwierigkeiten geraten sind und 2 500 Leute gehen mussten. Und vor allem die Jungen haben mich gefragt: „Warum hast du
das zugelassen?“ Das hat mich tief getroffen. Damals wurde mir klar: Mitbestimmung
ist Mitverantwortung. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich die Funktion habe, das
Unternehmen mitzugestalten, und nicht
nur zu warten, bis irgendetwas fertig ist.
Ich habe gelernt, dass wir das Geld erst verdienen müssen, bevor wir es verteilen können. Und es ist unsere Aufgabe, es dann so
zu verteilen, dass die, die es erwirtschaftet
haben, einen großen Teil zurückbekommen.
Ich bin ja die Soziallobby meiner Belegschaft.
Uwe Hück
Uwe Hück, geboren 1962 in Stuttgart, ist Gesamtbetriebsratsvorsitzender und stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender der Porsche AG. Am
1. April 1985 begann er als gelernter Lackierer
bei Porsche. Seit 1990 ist Hück Mitglied des
Betriebsrats. 2002 wurde er Vorsitzender des
Gesamtbetriebsrats der Porsche AG, 2003 Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. Seit 1998
ist Hück Mitglied im Aufsichtsrat. 2010 wurde
er stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender
der Porsche AG. Er ist Mitglied des Ortsvorstands
der IG Metall Stuttgart und der Großen Tarifkommission der IG Metall Baden-Württemberg.
01/2014 Entrepreneur
Expertise  Dialog 49
Seither bin ich ein Fan von Produktivität und
Flexibilität. Denn hohe Produktivität und
hohe Flexibilität rechtfertigen hohe Gehälter.
Die Produktivität und die Flexibilität eines
Unternehmens oder eines Landes sind die
Voraussetzung dafür, dass wir als Industriestaat überleben können.
Waldersee: Sie sind Interessenvertreter der
Belegschaft, aber könnte man sagen, Ihre
vornehmste Aufgabe ist es, genau diese Einstellung, die Sie eben dargelegt haben, beiden Seiten zu vermitteln?
Hück: Ja. Das ist nicht immer einfach, aber
es ist mein Job. Früher habe ich nur die
eine Seite vertreten, und die andere sah ich
eher als dunkle Seite. Die Zeiten sind vorbei, denn beides gehört einfach zusammen.
Geld baut keine Autos. Das machen Menschen. Aber ohne Geld sind sie handlungsunfähig. Ich brauche Arbeit und Kapital.
Das ist nicht immer einfach zu vermitteln –
etwa bei Tarifabschlüssen. Aber der Tarifvertrag ist ein Friedensvertrag, damit Unternehmen langfristig planen können.
Waldersee: Vielleicht hat das ja auch dazu
geführt, dass sich in den letzten Jahren die
Haltung gegenüber der deutschen Mitbestimmung – sie wurde latent immer als Wettbewerbsnachteil betrachtet – gewandelt
hat. Gerade sozialer Frieden gilt ja inzwischen als großes Plus.
Alltag im Herzen eines Mythos:
Uwe Hück und Georg Graf Waldersee
auf dem Porsche-Werksgelände
in Stuttgart-Zuffenhausen.
Hück: Ich glaube in der Tat, es ist der große
Vorteil dieses Landes, dass wir Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben, die sich zusammengetan haben, dass wir starke, große
Gewerkschaften und Flächentarifverträge
haben. Kompromiss heißt ja Entgegenkommen, nicht Weglaufen.
Waldersee: Ich sehe zwei wesentliche Erfolgsfaktoren, die es uns leichter machen, auch
weltweit schwierige Wirtschaftsphasen zu
überstehen. Das eine ist genau dieses Miteinander, dieses partnerschaftliche Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Das zweite
ist, dass wir unsere industrielle Basis nicht
aufgegeben haben. Das empfinde ich als
Heil, obwohl ich ja selbst in der Dienstleistung tätig bin.
Hück: Das eine braucht das andere. England
etwa hat seine traditionelle Basis aufgegeben und man sieht ja, was dort heute abläuft.
Waldersee: Es gibt ein paar große Unternehmen, die dafür stehen. Porsche gehört
dazu. Aber es stehen eben auch viele, viele
Unternehmer hier im Ländle und an anderen Stellen in Deutschland dafür. Das macht
den Unterschied. Ich möchte noch einmal
auf den Ausgang unserer Diskussion zurückkommen. Man redet immer über Werte. Ich
glaube, Respekt und Integrität bilden den
eigentlichen Kern. Darunter kann man alles
andere subsumieren. Wenn man keinen
Respekt voreinander hat und nicht ehrlich
miteinander ist, klappt es nicht.
hat sich verändert. China und Indien bauen
jetzt Autos. Das war vor wenigen Jahren
doch noch undenkbar. Und ich glaube, diesen
Mut, andere Wege im Interesse der Belegschaft und im Interesse des Unternehmens
zu gehen, den haben wir. Ich will, dass alle
in Wohlstand leben. Aber es darf nicht zu
Enteignung führen. Dem, der Erfolg hat,
müssen wir ihn gönnen. Aber der, der Erfolg
hat, soll ihn bitte auch zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen; so steht es auch im
Grundgesetz. Wir brauchen Gewinner in dieser Gesellschaft, aber keine, die abgehoben
sind, sondern Gewinner, die Vorbilder sind,
wo andere sagen: „Ich kann das auch schaffen.“ Dieser Traum gibt den Menschen Mut,
auch wenn er am Ende vielleicht nicht erfüllt
wird. Aber es ist wichtig für ihre Energie.
Der Mensch hat eine enorme Energie. Er
muss sie nur finden.
Hück: Auch ich gehe in einer Tarifrunde mal
mit harten Bandagen ran, aber immer nur
so weit, dass die andere Seite es akzeptieren
kann. Und es ist bekannt: Wenn ich sage,
wir machen es so, dann machen wir es auch
so. Das ist die Glaubwürdigkeit. Ich sage
auch immer wieder: Solidarität hat nichts mit
Sozialismus zu tun. Und ich glaube, dieses
Umdenken ist überfällig. Da muss jeder den
Mut haben, zu sagen: „Haltet nicht an alten
Zöpfen fest, die es gar nicht mehr gibt!“ Man
muss einfach fragen: „Was ist gut für uns?“
Die Menschen haben sich verändert. Die Welt
01/2014 Entrepreneur
50 Expertise  Entrepreneurship-Barometer
51
Gründermut stärken
Warum Entrepreneurship nur im passenden
ökonomischen Biotop gedeiht
„Entrepreneure werden nicht geboren,
sondern gemacht. Davon sind Unter­nehmer
mehrheitlich selbst überzeugt.“
Julie Teigland
Von Julie Teigland
Die deutsche Wirtschaft wächst wieder.
Längst hat sie das Niveau von vor dem Krisenjahr 2009 erreicht und überschritten.
Doch trotz der offenkundig guten ökonomischen Großwetterlage sinkt die Zahl der
Unternehmensgründungen. 2012 war sie
so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erhebung im Jahr 1996. Per saldo gaben sogar
mehr Unternehmen auf als neue starteten.
Und der Abwärtstrend hat sich in diesem Jahr
weiter fortgesetzt.
Oft ist zu hören, Deutschland habe keine
Start-up-Kultur. Was aber heißt das genau?
Woran liegt es, wenn hierzulande Entrepreneuren der Mut fehlt, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, obwohl die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen auf den ersten Blick
positiv scheinen? Welche Bedingungen müssten geschaffen werden, um den Schritt in
die Selbstständigkeit attraktiv zu machen?
Welche Hemmnisse gibt es, und wie wären
diese zu beseitigen?
konnten sogar in der tiefsten Krise ordentliche Wachstumsraten generieren.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass Entrepreneure einer der Hauptwachstumstreiber in jeder gesunden Volkswirtschaft sind.
Mit Kreativität und Ideenreichtum schaffen
sie neue Produkte und Dienstleistungen, führen effizientere Produktionsmethoden ein,
kreieren neue Geschäftsmodelle und neue
Industrien. Sie erhalten Arbeitsplätze und
schaffen neue, tragen bei zum Wohlstand
in ihren Gemeinden und zu dem der Gesellschaft insgesamt.
Doch jede unternehmerische Entscheidung,
vor allem die Gründung eines Unternehmens, bedeutet auch ein Risiko. Sich darauf
einzulassen, verlangt nicht nur Tatkraft,
sondern vor allem auch Mut. Was also ist zu
tun, um Gründermut zu stärken? Welche
Tools brauchen Entrepreneure, um erfolgreich agieren zu können? Wie muss das
wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Umfeld beschaffen sein, in dem junge
Unternehmen entstehen und gedeihen können? EY hat in Gesprächen und Interviews
mit zahlreichen Entrepreneuren aus den
20 wichtigsten Industrieländern weltweit
im Rahmen seines G20-EntrepreneurshipBarometers (siehe Box S. 51) die fünf wichtigsten Faktoren bzw. Felder identifiziert,
die entscheidenden Einfluss auf das Klima
haben, in dem Gründermut entsteht:
Das gilt auch und gerade hierzulande. Mittelständische Unternehmen stellen nicht
nur das Gros der Arbeitsplätze in Deutschland, sondern sie waren gerade in den zurückliegenden, wirtschaftlich schwierigen
Jahren Garanten der Stabilität. Die besten
• e
inen leichten Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten,
• eine unternehmerfreundliche Kultur,
• einfache Steuern und Regulierung,
• gute Ausbildung und Training,
• eine koordinierte Unterstützung durch
staatliche, universitäre und andere
Institutionen.
Die Bedeutung von Entrepreneurship ist
überall in den G20-Staaten erkannt, und
viele Nationen haben Programme und Initiativen gestartet, die Unternehmer und
Gründer stärken und unterstützen sollen.
„Start me up“: Gründer brauchen ein
unternehmensfreundliches Umfeld.
Entrepreneur 01/2014
G20-Barometer
Zum zweiten Mal hat EY mit seinem
G20-Entrepreneurship-Barometer
2013 die Umfelder und Bedingungen
für Entrepreneurship in den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern weltweit untersucht und sich
dabei auf den Vergleich wichtiger Geschäfts- und Wirtschaftsindikatoren,
auf Tausende Interviews mit jungen
und mit gestandenen Unternehmern,
auf wissenschaftliche Studien und die
Analyse staatlicher und anderer öffentlicher Initiativen gestützt. Das EY
G20-Entrepreneurship-Barometer liefert ein Modell, mit dem fünf wichtige
Faktoren für die Entwicklung von Entrepreneurship in einer Volkswirtschaft
bewertet und mit den Bedingungen
in anderen Ländern verglichen werden
können. Ziel des Modells ist es, Regierungen, Industrieverbänden, Universitäten und Unternehmen aufzuzeigen,
wo die Stärken eines Landes in Bezug
auf Unternehmertum liegen und welche Verbesserungsmöglichkeiten sich
bieten. Mit dem EY G20-Entrepreneurship-Barometer 2013 kann jeder einzelne der G20-Staaten zudem seine
Fortschritte und Leistungen bezüglich
Entrepreneurship in den vergangenen
Jahren benchmarken.
Es gibt in vielen Ländern interessante Fortschritte, von denen andere lernen können,
aber selbst bei den Besten gibt es noch jede
Menge Spielraum, um Gründermut zu fördern. Deutschland bietet als reife Marktwirtschaft im Prinzip ein gutes Ökosystem für
Unternehmertum, liegt aber bei allen Faktoren nur im Mittelfeld.
Beim entscheidenden Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups und mittelständische Unternehmen etwa belegt
Deutschland nur den 14. von 20 Rängen –
weit abgeschlagen hinter den USA und Großbritannien und noch hinter aufstrebenden
Nationen wie China, Indien, Brasilien oder
Saudi-Arabien. Entscheidend ist hier vor
allem ein Mix aus verschiedenen Finanzierungsinstrumenten, die dem Lebenszyklus
der Unternehmen entsprechen – vom jungen
Unternehmen in der Gründung über Phasen
schnellen Wachstums, Schritte zur Internationalisierung bis zum etablierten Marktführer. Hier können staatliche Institutionen
mit passgenauen Instrumenten und spezialisierten Förderinstituten sehr viel bewirken.
Und Banken könnten statt Sicherheiten, die
Entrepreneure gerade in den Anfangsjahren
oft nicht bieten können, ihre Kreditvergabe
stärker vom Erreichen bestimmter, im Vorhinein festgelegter Geschäftsziele abhängig machen.
Aber es braucht auch mehr Phantasie in der
Erschließung neuer Geldquellen. Warum sollten Crowdfunding und eine Art Microfinance
auf etwas höherem Niveau nicht auch deutschen Jungunternehmern beim Schritt in
die Selbstständigkeit helfen können? Steuerliche Anreize könnten zudem private Investoren und Venture Capital stärker für Startups interessieren. Und Großunternehmen
könnten Entrepreneure durch gemeinsame
Projekte oder beispielsweise lang laufende
Lieferantenkredite unterstützen.
Es hat sich zudem herausgestellt, dass die
erfolgreichsten Finanzierungsmodelle Geld
mit Coaching kombinieren. Vor allem Unternehmer untereinander können sich stark
unterstützen, wenn die Erfahrenen den Newcomern in Netzwerken und als Mentoren
zur Seite stehen.
Während die Hürden, die Entrepreneuren
in Deutschland den Zugang zur Finanzierung ihrer Vorhaben erschweren, hoch sind,
scheint der oft beklagte Mangel einer unternehmerfreundlichen Kultur dagegen weniger gravierend. Hier liegt Deutschland
an siebter Stelle. Spitzenreiter sind wenig
überraschend die USA, gefolgt von Südkorea und Kanada. Um aber Entrepreneurship
als interessante und gesellschaftlich anerkannte Karrierechance noch besser zu etablieren, sollte das Stigma eines geschäftlichen Fehlschlags nicht als dauerhafter Makel
verstanden werden. Der rechtliche Umgang
mit einem Bankrott sollte deshalb eine faire
Balance zwischen den Interessen der Gläubiger und einer zweiten Chance für den Unternehmer bilden.
Auch wenn ihre Zahl steigt – noch sind zudem Frauen oder Deutsche mit ausländischen Wurzeln als Unternehmer unterrepräsentiert. Hier schlummern weitgehend
unerschlossene Quellen für Entrepreneurship, die gefördert werden sollten. Wie das
am besten geht? Indem erfolgreiche Unternehmer ihre Erfolgsstory in Events und
Kampagnen erzählen, um andere zu inspirieren und ihnen Mut zu machen. Zudem
können Netzwerke, öffentliche und/oder
private Businessinkubatoren sowie Business Angels wertvolle Starthilfe leisten.
Es zeigt sich, dass mit besonders niedrigen
Steuersätzen für Unternehmensgründer
sowie vereinfachten Formalitäten und Rechts-
01/2014 Entrepreneur
52 Expertise  Entrepreneurship-Barometer
Impulse  Lebenswerk 53
„Es gilt also, die unterschiedlichsten
Kräfte auf ein gemeinsames Ziel
einzuschwören: den unternehmerischen
Geist in der jeweiligen Volks­wirt­schaft zu entzünden und zu stärken.“
Julie Teigland
Julie Teigland
[email protected]
Julie Teigland ist Partner
bei EY sowie Managing
Partner EMEIA Accounts.
vorschriften bei der Anmeldung einer neuen Firma auch die Zahl der Start-ups steigt.
Besonders in der Anfangsphase helfen dabei Erleichterungen bei indirekten Steuern
und Abgaben etwa auf Löhne und Gehälter
jungen Unternehmen mehr als niedrige Steuersätze auf Gewinne, die oft in den ersten
Jahren ohnehin nicht anfallen. Hilfreich wirkt
auch, wenn der administrative Aufwand
durch Steuern und Regulierungen niedrig
ist. Und wenn Unternehmer darauf bauen
können, dass sich Vorschriften und Regeln
nicht ständig ändern. Hier sollten die Entrepreneure aber auch selbst Einfluss nehmen, in dem sie sich aktiv und öffentlich in
Netzwerken und Verbänden für ihre Interessen einsetzen.
Entrepreneure werden nicht geboren, sondern gemacht. Davon sind Unternehmer
mehrheitlich selbst überzeugt. Zwar liegt
es sicher nicht jedem, Verantwortung zu
übernehmen und Entscheidungen zu treffen,
und mancher zieht die gefestigten Strukturen eines Konzerns den Spielräumen, aber
auch Unsicherheiten eines jungen Unternehmens vor. Aber Rollenspiele an Schulen
und Hochschulen, Gründerwettbewerbe
oder eigene Schul- oder Unifirmen können
Schülern und Studenten im Kleinen zeigen,
wie sich Entrepreneurship anfühlt, und in
ihnen nicht nur das Interesse an einer Unternehmerkarriere wecken, sondern sie auch
dazu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen. Auch die Curricula sollten mehr praxisbezogene Inhalte haben.
Obwohl hierzulande in Bildung und Ausbildung viel Geld investiert wird, zielt das deutsche Schulsystem eher darauf ab, gut ausgebildete Angestellte zu produzieren als
kreative Entrepreneure. Hinzu kommt, dass
Entrepreneur 01/2014
die Studenten mit kreativen Ideen in den
naturwissenschaftlichen und technischen
Fächern an den Universitäten nur wenige
oder keine Berührungspunkte mit den Absolventen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten haben, die diese Ideen in
Geschäftserfolge umsetzen könnten. Hier
sollten Bildungspolitik, Hochschulen und
Unternehmerschaft gemeinsam an integrierten Ansätzen arbeiten und unternehmerische Wissenschafts-Spin-offs unterstützen und begleiten.
Alle Kräfte zu bündeln – aus dem staatlichen,
dem privaten ebenso wie dem ehrenamtlichen Bereich – schafft jenes wirtschaftliche
Ökosystem, in dem Unternehmertum am
besten gedeiht. Vielleicht fällt das in Ländern
leichter, in denen die Strukturen noch nicht
so verfestigt sind wie in vielen traditionellen
Industrienationen. Denn Russland, Mexiko
und Brasilien agieren hier aus Sicht der Entrepreneure beispielhaft.
Es gilt also, die unterschiedlichsten Stakeholder, Universitäten, Forschungslabore,
Business-Inkubatoren, Regierungs- und
Nichtregierungsorganisationen, Investoren
und Unternehmer auf ein gemeinsames Ziel
einzuschwören: den unternehmerischen
Geist in der jeweiligen Volkswirtschaft zu
entzünden und zu stärken. Wenn es gelingt, auf diese Weise Entrepreneuren das
entscheidende Quantum Mut zu machen,
dann dürfte auch hierzulande die Zahl der
Unternehmensgründungen bald wieder zunehmen.
Moderner Klassiker im neuen Gewand
Neuauflage des „Lexikon der deutschen
Familienunternehmen“ erscheint im
Mai 2014
Familienunternehmen sind das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft. Sie beschäftigen 60 Prozent aller Arbeitnehmer, erwirtschaften zwei
Drittel des Bruttosozialprodukts und haben Marken von Weltruf hervorgebracht. Das 2009 erschienene und schnell vergriffene „Lexikon der
deutschen Familienunternehmen“ aus dem Verlag
Deutsche Standards EDITIONEN bot erstmals
einen umfassenden Einblick in die vielfältige und
traditionsreiche Welt der familiengeführten Unternehmen. Im Mai 2014 wird das Kompendium,
das sich binnen kurzem den Ruf eines Standardwerks erworben hat, mit rund 2 000 Unternehmensdarstellungen und neuem Design in umfassend erweiterter 2. Auflage erscheinen. EY
unterstützt das Buchprojekt als Partner.
Lexikon der deutschen Familien­unternehmen.
Verlag Deutsche Standards EDITIONEN.
Erscheint im Mai 2014.
Ca. 1 500 Seiten, 78,– Euro.
Der
Schöpfung
auf
der Spur
Fotografien wie Gemälde – lange inszenierte Sebastião Salgado Krieg, Leid und
Elend in epischer Größe. Dabei ging er
weit über seine Grenzen, musste sich aus
der Arbeit zurückziehen. Doch dann
begann er, die unberührten Orte unseres
Planeten zu fotografieren. Dabei ent­stand „Genesis“, ein Projekt von einzigartiger
Wucht und Schönheit.
E
s ist längst eine Ausnahme, dass
man von zeitgenössischen Werken überwältigt wird. Die SchwarzWeiß-Fotografien von Sebastião
Salgado sind solche Ausnahmen.
Mit extremer Tiefenschärfe, harten Kontrasten und Schattierungen, mit seinem Blick für Größe
inszeniert Salgado jedes Bild als
Drama. Das ist kein Effekt. Das
schafft ein Erlebnis, das den Betrachter so schnell nicht loslässt. Über Jahrzehnte hinweg
waren es vor allem Tragödien, die der brasilianische Fotograf abbildete – die zermürbenden Kraftakte der körperlichen
Arbeit, das Entsetzen im Leben von Flüchtlingen, die Qualen des Hungers. Im Frühjahr des Jahres 2013 aber hat er
sein wichtigstes Werk vorgelegt, einen monumentalen FotoEssay mit dem Titel „Genesis“, in dem er die Schönheit des
Planeten Erde genauso als episches Drama zeigt wie zuvor
die Katastrophen. Acht Jahre hat er an „Genesis“ gearbeitet,
32 Länder dafür bereist – und nun ein Buch veröffentlicht,
das vom Titelbild bis zur letzten Seite in seinen Bann zieht.
Da erhebt sich gleich zu Beginn ein Eisberg über die raue
antarktische See, die das Schillern des Sonnenlichts von
den Wellen auf die schrundigen Flanken reflektiert, sodass
das gefrorene Massiv wie eine Kathedrale in den Himmel
ragt. Auf einem anderen Bild fallen Sonnenstrahlen durch
den Staub, den ein Elefant aufwirbelt, der in Sambia mit gewaltigem Schritt in den Busch flüchtet. Dann zieht Salgado
01/2014 Entrepreneur
Impulse  Lebenswerk 55
den Betrachter wieder in einen Moment der Ruhe, wie auf
dem Bild vom Schamanen des indonesischen MentawaiVolkes, der aus Palmblättern ein Sieb flicht.
Sebastião Salgado ist kein Mann der großen Worte. In der
Schönheit seiner Bilder verbargen sich schon immer Botschaften. Von denen will er nicht ablenken. Deswegen versucht er, jede Aufregung um seine Person zu vermeiden.
Das ist nicht immer leicht. Im Mahlstrom der TED Conference zum Beispiel, jenes Ideenfestivals, bei dem sich Wissenschaftler, Entwickler, Aktivisten, Stars und Investoren
eine Woche lang in Kalifornien treffen, um von den neues​ten und besten Ideen zu hören – dort stand Salgado nach
seinem Vortrag über „Genesis“ inmitten der vibrierenden
Menge, der Vernetzer, Macher und Beweger. Er sprach ein
bedächtiges Englisch, das von seinem brasilianischen Akzent zu einem warmen Singsang heruntergedämpft wurde.
Es schien, als ob sich die Zeit um ihn herum verlangsamte.
70 Jahre alt wird Sebastião Salgado im Februar 2014. Man
sieht es ihm nicht an, dass er schon seit vier Jahrzehnten
unablässig durch die unwirtlichsten und gefährlichsten Landstriche der Welt reist, dass er für seine monumentalen FotoEssays über 100 Länder besucht hat. Immer wieder zeigte
Sebastião Salgado dabei, dass er seine Weltsicht in Frage
stellen und sich dabei trotzdem treu bleiben kann. Viele schaffen einen solchen Wandel nie oder nur einmal im Leben.
Salgado kam gleich mehrere Male an solche Wendepunkte.
Und so kommt man einer Erklärung seiner Arbeit näher,
wenn man seine Lebensgeschichte betrachtet.
Wenn Sebastião Salgado von seiner Kindheit erzählt, dann
beschwört er auch eine verschwundene Welt. 1944 wurde
er als Sohn eines Rinderzüchters geboren, der auf einer Farm
in der Nähe des kleinen Städtchens Aimor im brasilianischen
Bundesstaat Minas Gerais lebte. Es war eine Zeit, in der die
Mata Atlantica noch über 70 Prozent der Region überzog,
jener atlantische Regenwald, von dem die ersten Entdecker
der brasilianischen Küste im 16. Jahrhundert als „Paradies
auf Erden“ schwärmten. Salgado erzählt von einer traumhaften Kindheit im Urwald voller Kaimane, Affen und Vögel.
Fernab der Städte gab es damals keine höheren Schulen. So
zog Salgado mit 15 Jahren nach Vitoria. Dann studierte er
in São Paulo Wirtschaftswissenschaften, heiratete seine Frau,
die Musiklehrerin Lélia Deluiz Wanick. Ende der 60er-Jahre
entdeckten die beiden die Politik. Die Militärjunta beherrschte
das Land. Salgado und Wanick schlossen sich der Studentenbewegung an. Dann wurde Brasilien für das junge Ehepaar
zu gefährlich. 1969 emigrierten sie nach Paris, zwei Jahre
später nach London. Dort nahm Salgado einen Job als Ökonom bei der Internationalen Kaffeeorganisation an, reiste
für die Weltbank nach Afrika. Lélia studierte Architektur.
Nichts schien die einst so radikalen Studenten von ihrem
Weg in eine bürgerliche Existenz abbringen zu können. Die
„Ich entdeckte, dass fast die Hälfte des
Planeten immer noch in jenem
unberührten Zustand ist, in dem er
sich am Tage Genesis befand.“
Sebastião Salgado
Sebastião und seine Frau Lélia Wanick Salgado
sind seit den 60er-Jahren ein Team.
nächste Kehrtwende folgte 1973. Salgado gab seine Arbeit
als Ökonom auf. Er wollte sich ganz auf die Fotografie konzentrieren und arbeitete für die Agentur Sygma. 1979 nahm
ihn Magnum Photos auf, bis heute die beste Agentur der
Welt. Salgado passte bestens in den exklusiven Kreis. Er war
furchtlos und brachte von jeder Reise eine furiose Reportage mit. Doch der Journalismus wurde Salgado bald zu klein.
Er wollte sich nicht nur über Wochen und Monate hinweg
mit einem Thema beschäftigen, sondern über Jahre.
An einem kühlen Nachmittag im März des Jahres 1980 wendete sich Sebastião Salgados Leben einmal mehr. Für eine
Woche schon hatte er Präsident Ronald Reagan im Rahmen
einer Reportage begleitet. Es war Montag, der 30. März.
Bei einem Mittagessen hielt Reagan im Washington Hilton
Hotel eine Ansprache vor Vertretern des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO. Um 14:27 Uhr verließ der Präsident mit
seiner Entourage das Hotel. Plötzlich trat der Arbeitslose John
Hinckley Jr. aus der Menge, zog einen Revolver und schoss.
Keiner der Schüsse traf den Präsidenten. Seine Leibwächter
stürzten sich sofort auf den Attentäter. In diesem Moment
entstand das dramatischste der wenigen Fotos von dem Anschlag. Mehrere Leibwächter und Polizisten halten Hinckley
am Boden, während zwei Secret Service Agents von links ins
Bild drängen. Einer zieht seine Pistole aus dem Halfter, einer
bringt eine Maschinenpistole in den Anschlag. Das Bild ging
um die Welt, wurde über die Jahre tausendfach nachgedruckt. Salgado hatte eine historische Aufnahme geschaffen.
Die Erlöse aus den Verkäufen verschafften Salgado Unabhängigkeit. Fortan erteilte er sich die Aufträge selbst. Und es
sollten Aufträge sein, die ihn über Jahre beschäftigt hielten.
Zunächst bereiste er die Länder seiner Heimat Lateinamerika,
machte sich im Spannungsfeld zwischen den alten Indiokulturen, der Götterverehrung und dem archaischen Katholizismus auf die Suche nach der komplexen Seele des Kontinents.
Die Hungerkatastrophe in der Sahelzone brachte ihn 1984
zurück nach Afrika. Eineinhalb Jahre lang zog er mit den
Médecins sans Frontières durch die Katastrophengebiete in
Mali, Äthiopien, dem Sudan und in Eritrea. Wieder gingen
seine Bilder um die Welt, sie machten die Arbeit der selbst-
01/2014 Entrepreneur
Impulse  Lebenswerk 57
Der Kraftakt, der Erde Schätze
abzutrotzen: Mit den Bildern, die
Salgado 1986 von den Arbeitern
in der Goldmine von Serra Pelada
aufnahm, wurde er weltberühmt.
01/2014 Entrepreneur
58 Impulse Lebenswerk
losen Ärzte international bekannt. Doch erst mit seinem
nächsten Projekt fand Salgado zu seiner eigentlichen Größe.
Sieben Jahre lang arbeitete er an seinem Mammutwerk
„Workers“. In 23 Ländern suchte er nach jener Form der
Arbeit, die in den Industrieländern langsam im Verschwinden
begriffen war – der harten, körperlichen Arbeit der Rohstoffgewinnung und der Produktion. „Wenn wir heute in einen
Supermarkt gehen, dann verstehen wir nicht mehr, welche
Arbeit hinter den Produkten steht, was auf Farmen, was in
Fabriken erzeugt wird“, sagte er damals in einem Interview.
„Meine Fotos sollen helfen zu verstehen, dass wir immer
noch eine Gesellschaft der Arbeiter sind, dass wir noch nicht
100 Prozent Service leisten.“ Doch als „Workers“ 1993 herauskam, zeigten die Bilder sehr viel mehr als nur die Arbeit
an sich. Wie noch kein anderer zuvor brachte Salgado den
Betrachtern seiner Bilder die unglaublichen Anstrengungen
nahe, die es kostet, Erze aus dem Boden zu gewinnen, Tiere
aufzuziehen, der Erde Nahrung abzutrotzen, aus Stahl und
Eisen Maschinen und Geräte zu formen.
Eine der eindrucksvollsten Serien aus „Workers“ waren die
Bilder von Arbeitern, die zu Tausenden die lehmigen Wände
der offenen Goldmine der Serra Pelada emporkletterten, in
den Gräben und Spalten nach ein paar Körnchen Gold gruben.
Robert Pledge, der Gründer der Contact-Press-Images-Agentur, sagte damals: „Wenn ich mir diese Bilder ansehe, dann
weiß ich, was vor Tausenden von Jahren vor sich ging, als
die Ägypter die Pyramiden bauten. Ich verstehe, wie es aussah, als die Mayas ihre enormen Städte errichteten. Salgado
brachte etwas Biblisches in die Fotografie.“
Salgados nächstes Projekt kostete ihn fast das Leben. Für
„Migrations“ begann Salgado 1993, in Länder wie die Staaten des ehemaligen Jugoslawien zu reisen, außerdem nach
China, Indonesien, Afghanistan, in den Sudan und nach Indien.
Er machte sich auf die Spur der modernen Völkerwanderungen, auf die Spur der Wanderarbeiter, vor allem aber der
Vertriebenen und Flüchtlinge. „Während meiner Arbeit wurde ich sehr traurig“, sagt er heute. Vor allem seine Arbeit in
Ruanda in den Monaten nach dem Völkermord von 1994
setzte ihm zu. „Es gab Tage, da sah ich viele, viele Menschen
Sebastião Salgado
Sebastião Salgado wurde am 8. Februar
1944 als Sohn eines Viehzüchters in
der brasilianischen Provinz Minas Gerais
geboren. Seine Laufbahn als professioneller Fotograf begann er 1973 bei der
französischen Agentur Sygma. 1979
wurde er von Magnum Photos aufgenommen. Mit den Erlösen aus dem Verkauf
seines historischen Fotos vom Attentat
auf Ronald Reagan finanzierte er eigene Projekte, die oft Jahre in Anspruch
nahmen. Mit seiner monumentalen Bildsprache wurde er bald nicht
nur in allen wichtigen Zeitschriften der Welt gedruckt, sondern auch in
vielen Museen gezeigt. Seine bekanntesten Projekte sind „Arbeiter“,
„Migranten“ und „Afrika“. An seinem bisher ambitioniertesten Projekt „Genesis“ arbeitete er acht Jahre lang in 32 Ländern. Ziel war
es, Orte zu fotografieren, die bis heute im Zustand ihrer Schöpfung
geblieben sind. Die Bildbände dazu erschienen im März 2013. Die
Ausstellung wird 2014/15 u. a. in Madrid, Venedig, Singapur, Belo Horizonte und Stockholm zu sehen sein.
Entrepreneur 01/2014
sterben. Ich sah viel zu viel Gewalt. Ich verlor den Glauben
an meine Spezies, an die Menschen. Und ich wurde sehr krank.“
Zu seiner tiefen Lebensmüdigkeit kamen noch Staphylokokken, antibiotikaresistente Bakterien, die seinen gesamten
Körper vergifteten. Ein Arzt riet ihm, mit dem Fotografieren
aufzuhören. So traf es sich gut, dass Salgados Vater ihn bat,
die heimische Farm zu übernehmen. Als einziger Sohn neben
sieben Schwestern sei das seine Pflicht. Salgado und seine
Frau kehrten nach Brasilien zurück. Doch vom Paradies seiner Kindheit war nicht mehr viel übrig.
„Als wir nach Brasilien zurückkehrten, war der Wald, der einst
weit über die Hälfte des Landes bedeckt hatte, vollkommen
zerstört. Nur noch ein halbes Prozent des Bestandes war übrig. Doch meine Frau Lélia begann, die ersten Bäume zu
pflanzen. Ich war der festen Überzeugung, dass sie nie wieder
zurückkommen würden. Doch dann begannen sie zu wachsen. Die Vögel kamen zurück, die Blumen, die Schmetterlinge, die Insekten, die Fische und sogar die Alligatoren. Das
Leben kehrte wieder. Und das gab mir Hoffnung.“ Gemeinsam mit seiner Frau gründete er das Instituto Terra. So konnte er sein Land zum Nationalpark erklären und schützen lassen. Über zweieinhalb Millionen Bäume haben sie inzwischen
gepflanzt, über 200 verschiedene Arten. Und so kam das
Ökosystem des Regenwaldes langsam zurück. Die Arbeit mit
dem Institut brachte aber nicht nur seine Hoffnung zurück,
sondern auch seine Inspiration.
Seine Suche nach den unberührten Orten
der Erde führte Sebastião Salgado in 32
Länder: Nach Indonesien (S. 53), Sambia
(S. 54 oben) und Sibirien (S. 54 unten),
nach Brasilien (S. 59 oben) und in die Antarktis (S. 59 unten). Acht Jahre war
er für die Arbeit an „Genesis“ unterwegs.
2004 begann Salgado mit seiner Suche nach dem ursprünglichen Planeten Erde. Seine Hoffnung erfüllte sich bald. Auf
sämtlichen Kontinenten fand er ganze Landstriche ohne jede
Spur von Zivilisation oder gar der urbanen Moderne. Man
spürt in den Bildern, wie sehr die Schönheit des Planeten
Sebastião Salgado selbst überwältigt hat. Doch er sagt nur:
„Ich hatte das Privileg, die unglaublichsten Dinge auf diesem
Planeten zu sehen. Und ich entdeckte, dass fast die Hälfte
des Planeten immer noch in jenem unberührten Zustand
ist, in dem er sich zu Zeiten der Genesis befand.“ Acht Jahre
lang war Salgado unterwegs. Mal im Team, mal alleine, im
Flugzeug, im Ballon, im Boot und auch zu Fuß. In Äthiopien
durchwanderte er vier Monate lang die entlegensten Gegenden: „Dort gibt es keine Straßen, sondern nur Wege, die
unsere Füße in den Boden getreten haben, seit zwei-, seit
dreitausend Jahren.“
Doch es ist nicht nur die überwältigende Schönheit, die er
mit seinem Buch zeigen will. Mit „Genesis“ hat Salgado wieder
zu den politischen Wurzeln seiner Jugend gefunden. Nicht
zur linken Politik des Widerstands. Er war zu lange Ökonom,
um noch gesellschaftlichen Utopien anzuhängen. Aber sein
radikales Gespür für das Unrecht und die Gefahr hat ein neues
Ziel. „Amerika verliert seine Wälder, auch Europa, Asien tun
dies. In Indien und in Spanien gibt es schon keine Bäume mehr“,
sagt er. „Vor kurzem erst konnte man in der Zeitung lesen,
dass vor der Küste Norwegens Millionen Fische wegen Sauerstoffmangels starben.“ Sein ruhiger Blick bekommt dann
plötzlich eine ungewohnte Härte. „Was, wenn es uns so ergeht?
Wenn wir keinen Sauerstoff mehr bekommen?“ Salgado pausiert kurz. Dann sagt er ohne jeden intellektuellen Schnörkel,
um was es ihm in seinem Buch geht: „Was wir in ‚Genesis‘
zeigen, ist all das, was wir bewahren müssen.“ Und so ist sein
größtes Werk ein monumentales Buch geworden, das eine
monumentale Aufgabe dokumentiert. Salgados Lebenswerk,
so scheint es für einen Moment, hat jetzt erst begonnen. 01/2014 Entrepreneur
Impulse  Mindmap 61
Hand drauf!
Wie Claudia Helming mit dem OnlineMarktplatz DaWanda dank höchst
eigensinniger Dinge sehr individuelle
Wünsche erfüllt.
Selbstständigkeit
• Mut ist das Geheimnis der Freiheit
• Das Bekannte gegen Unbekanntes tauschen – auch wenn alle dagegensprechen
• Leidenschaft statt Sicherheit
• Auch persönlich Risiken eingehen –
etwa mit eigenem Geld
• Ü ber die eigenen Grenzen hinausgehen
• A n Ideen glauben und kämpfen
• A nnehmlichkeiten opfern
• Hingabe auch bei ungewissem Ausgang
• Frohen Mutes sein – Hoffnung
auf guten Ausgang
• Sich anspornen lassen – auch unsere
Verkäufer sind mutig
• Keine Angst vor der Angst
Persönlich
• Mut kommt von Gemüt – Charaktereigenschaft?
• Sich trauen, die eigene Identität zu suchen
• Ausbrechen aus alten Zwängen
• Abenteuerlust, Kampfgeist, Idealismus
• Keine Angst vor dem Scheitern
• Mischung aus Bauch und Besonnenheit des Kopfes
• Mut erlangt, wer liebt, was er tut
• Auf der eigenen Meinung beharren
Vorbilder
THEMA
Neues wagen
• Coco Chanel
• Karl Lagerfeld
• Sheryl Sandberg
• Rosa Parks
• Ä rzte ohne Grenzen
Führung
• Mut durch Stolz und Überzeugung
• Frauen in Führungspositionen
• Keine Angst vor externen Investoren
• Mut zur Expansion – mehr Mitarbeiter
und Standorte
• Auch mal Verluste tragen
• Beherzte, aber nicht leichtsinnige Entscheidungen
• Den inneren Schweinehund überwinden
• Schwierige Themen ohne Zögern ansprechen
• Entscheidungen
• Den gelernten Weg auch verlassen – neue
Teams bilden, neue Strukturen schaffen
• Marktnischen selbst erweitern – Glaube daran,
selbst gestalten zu können
Wie gut es doch sein kann, wenn man einmal scheitert. So wie Claudia Helming, als sie ihre Familie und Freunde mit bunt bemalten, selbstgemachten
Matroschkas überraschen wollte – und bei dieser Bastelarbeit komplett versagte. Wenn man etwas Individuelles haben möchte, dachte sich Helming,
das selbst aber nicht hinkriegt – dann müsste es doch einen Ort geben, wo
man Selbstgebasteltes und Unikate kaufen kann, ohne dafür über Flohund Handwerkermärkte ziehen zu müssen. Weil es diesen Ort nicht gab, gründete die studierte Romanistin ihn nach einigen Erfahrungen in kleineren
Internetfirmen einfach selbst: das Online-Verkaufsportal DaWanda, den
Marktplatz für Handgemachtes und Einzigartiges.
Im Jahr 2006 startete DaWanda in Berlin mit 250 kreativen Menschen, die
über die Website ihre Waren anboten, gegen eine geringe Einstellgebühr
und eine Provision von fünf Prozent des Verkaufspreises. Sofort schaltete
Helming nicht nur die deutsche, sondern auch englisch- und französisch-
Gründe
• Mut ist ein Wert – für alle
• Mut berührt und setzt positive
Emotionen frei
• Horizont erweitern, Verantwortung tragen
• Widerstand schafft Charakterstärke
• Lernen, sich Kritik zu stellen
• Ohne Mut: Stagnation
• Vorbild für andere sein / A ndere
ermutigen (etwa Kreative
zum Sprung auf den Markt)
sprachige Plattformen frei. Sie warb erfolgreich um Investorengeld, expandierte damit 2012 mit eigenen Niederlassungen und weiteren Sprachen
ins europäische Ausland. Sie nutzte den Trend zum Selbstgemachten und
befeuerte ihn zugleich, weil Heimproduzenten mit DaWanda zum ersten Mal
die Gelegenheit bekamen, ihre Waren günstig und überregional zu verkaufen. Und weil sich DaWanda bald vom reinen Verkaufskanal zum ServiceDienstleister für die kreativen Bastler mauserte – mit Verkäuferseminaren,
Rechtsberatung und PR-Maßnahmen.
Heute bieten mehr als 220 000 Verkäufer über DaWanda rund 3,5 Millionen
Unikate an. Mit über drei Millionen eingetragenen Nutzern, einem Umsatz von
zuletzt sieben Millionen Euro, verfügbar in sieben Sprachen und 150 Mitarbeitern ist DaWanda Europas größter Online-Marktplatz für Selbstgemachtes.
Nun ist das Unternehmen auch in der realen Welt präsent – mit einem ersten
Offline-Shop, der DaWanda Snuggery in Berlin-Charlottenburg.
62 Entrepreneure  Sammeln
„Der Kopf da
gefällt mir!“
Der Unternehmer und Kunstliebhaber
Donald Hess über sein gewagtestes Museumsprojekt und seine Annäherung als junger
Sammlernovize an die etablierte Kunstszene.
Es gibt Menschen, die finden, es sei eine
ausgesprochen mutige Entscheidung von
mir gewesen, auf 2 300 Meter Höhe in einem völlig abgelegenen Hochtal der argentinischen Anden ein Museum zu errichten.
Ich verwende den Begriff „Mut“ sehr vorsichtig. Vielleicht gehört gar nicht so viel
Courage dazu, ein Museum zu bauen, wenn
man Miteigentümer eines florierenden
Familienunternehmens ist. Auf jeden Fall
war es eine Entscheidung, die mir bei den
Einheimischen den Beinamen „El Loco“,
der Verrückte, einbrachte.
Donald Hess
Donald Hess, geboren 1936 in Bern, übernahm
nach dem Tod des Vaters die Familienbrauerei,
die er 1968 verkaufte. Hess entwickelte fortan
die 1960 erworbenen Mineralquellen in Vals zu
einer bekannten Marke – bevor er sich auch aus
diesem Geschäft zurückzog und sich ganz auf
den Weinbau, Liegenschaften und zeitgenössische
Kunst konzentrierte. Heute besitzt die Familie
Hess acht Weingüter auf vier Kontinenten; an die
Güter in Napa (Kalifornien), Glen Carlou (Südafrika) und Colomé (Argentinien) sind jeweils
Museen angeschlossen. Donald Hess‘ Sammlung
zeitgenössischer Kunst zählt mit über 1 000 Werken zu den weltweit bedeutendsten privaten Kollektionen. In den drei Museen sind die Kunstwerke für jedermann unentgeltlich zu besichtigen.
James Turrell, der amerikanische Lichtkünstler, für den ich dieses Museum gebaut
habe, musste für das Vorhaben mindestens
genauso viel Mut aufbringen wie ich. Eines
Tages rief ich ihn an. „James, ich möchte
ein Museum nur für deine Werke bauen. In
Argentinien.“ Für Turrells Lichtinstallationen braucht man Ruhe, man muss einkehren
können. Auf meinem Weingut in Colomé,
inmitten der Einsamkeit der Halbwüste, hat
man diese Ruhe. „Oh, ein Museum in Buenos
Aires“, sagte Turrell, „das ist ganz großartig!“
„Nun, es ist nicht ganz in Buenos Aires“,
antwortete ich, „man ist von dort aus noch
mal zwei Stunden mit dem Flugzeug unterwegs und dann fünf Stunden mit dem Auto.“
Langes Schweigen. Dann sagte er: „Ich
muss leiden, um diese Kunstwerke zu schaffen. Dann ist es in Ordnung, wenn die Besucher auch ein bisschen leiden müssen,
bevor sie sie betrachten können.“ Bei der
Eröffnung, fünf Jahre später, war er ganz
still. Als er aus dem Museum ins Freie trat,
hatte er Tränen in den Augen.
In meiner Kindheit und Jugend deutete nicht
allzu viel darauf hin, dass aus mir einmal
ein Kunstsammler werden würde. Ich entstamme einer Brauerfamilie in der neunten
Generation; zu Hause gab es weder Gemälde
Entrepreneur 01/2014
noch Skulpturen. Eines Tages fragte ich meinen Vater: „Warum haben wir eigentlich nur
weiße Wände? Wir sollten auch Kunst haben, daheim.“ Mein Vater antwortete: „Schau
mal zum Fenster hinaus – was siehst du?“
„Unseren Garten“, sagte ich. „Richtig“, sagte
mein Vater. „Den kann niemand so wunderbar malen wie der liebe Gott ihn geschaffen
hat.“ Ich fand, das war eine gute Antwort.
Jahre später sah die Tochter eines Kunstsammlers all die kahlen weißen Wände bei
mir zu Hause. „Du bist jetzt über 30“, sagte sie, als ich ihr erzählt hatte, warum mein
Vater keine Bilder haben wollte, „da musst
du doch wissen, dass die Väter nicht immer
recht haben.“ Ein paar Tage später besuchte ich sie in ihrer Galerie und marschierte
stramm vor den Gemälden herum. „Das ist
völlig falsch“, unterbrach sie mich, „jeder
Künstler steckt sein Intimstes in sein Gemälde. Wie willst du denn das entdecken,
wenn du einfach davor rumläufst?“ Sie lehrte mich, mir Zeit zu nehmen für ein Bild, es
aufzusaugen und abzuwarten, ob es mich
berührt oder nicht. Nach drei Tagen der
Unterweisung dachte ich, es sei vielleicht
an der Zeit, ihr etwas abzukaufen. „Dieser
Kopf da gefällt mir“, sagte ich. „Sie meinen
den Vollard“, sagte sie und verkaufte mir
die Lithographie. Kurze Zeit darauf kam ein
Freund zu mir, sah das Bild und sagte fast
ehrfürchtig: „Ein Picasso!“ „Nein“, sagte
ich, „das ist ein unbekannter Maler, dessen
Name mit V anfängt.“ „Das ist Ambroise
Vollard, der berühmte Kunstsammler und
Galerist, gezeichnet von Picasso“, entgegnete der Freund fassungslos über so viel
Unverstand. Ja, so habe ich mein erstes
Bild gekauft.
Ausgestattet mit dem famosen Wissen aus
drei Nachmittagen Schnellkurs in Malerei,
flog ich nach New York und ging in eine Galerie, wo mich ein kleiner Mann mit Spitzbart nach meinen Wünschen fragte. „Wer
sind die zehn besten Künstler in New York?“,
stürmte ich auf ihn los. Peinlich berührt
schaute er zuerst auf den Boden, dann mir
ins Gesicht und sagte: „Sir, Sie haben keine
Ahnung von Kunst, nicht wahr? In dieser
Stadt gibt es vielleicht 60 000 professionelle
Künstler, die meisten kennt kaum jemand.
Wie soll denn da einer sagen, wer die besten
sind?“ Schon wieder hatte ich mich lächerlich gemacht. Entweder muss ich jetzt aufhören mit der Kunst, sagte ich mir auf dem
Rückflug, oder ich muss es richtig anstellen:
Sammeln, was mich berührt. Werke von
jungen Künstlern, deren Weg ich über Jahre
verfolge, die meine Freunde werden und
mit denen ich bei Brot, Käse und Wein diskutiere. So habe ich es seitdem stets gehalten.
Den Wein bringe natürlich ich mit.
Manche nennen ihn ganz einfach „den Licht­magier“:
James Turrell, geboren 1943, zählt zu den ein­
flussreichsten Lichtkünstlern der Gegenwart. Seine
Raum-Licht-Installa­tionen erzeugen Formen, die
Masse und Gewicht zu haben scheinen, jedoch nur
aus Licht bestehen. „In meinem Werk geht es
um das Licht an sich“, beschreibt der im US-Bundesstaat Arizona lebende Künstler seine Arbeit, „es
spielt mit den Dimensionen, es füllt die Räume wie
ein dichter Nebel oder ein feiner Dunst.“
01/2014 Entrepreneur
64 Impulse  Zehn Fragen
Kennen Sie auch den Reiz der Gefahr? Was wäre
ein Leben ohne Gefahr? Die Philosophin Hannah
Arendt meinte sinngemäß, wer jedes Risiko vermeidet,
wird zum Verwalter seines eigenen Lebens. Und
sie meinte das nicht positiv.
Antonia Rados
Sie begeben sich immer wieder in gefähr­
liche Situationen – was treibt Sie an?
Ich will herausfinden, was auf der anderen
Seite der Welt liegt. Das hat seinen Preis,
aber ich treffe außergewöhnliche Menschen
und lerne, was man anders nicht lernen
kann. Also mache ich weiter.
Die renommierte TV-Journalistin Antonia
Rados (geb. 1953 in Klagenfurt) berichtet
seit Jahrzehnten als Kriegs- und Krisenreporterin von den Brennpunkten der Welt. Bis
Anfang der 90er-Jahre reiste die promo­
vierte Politikwissenschaftlerin für den ORF
unter anderem nach Somalia, in den Libanon
und in den Iran. Mit dem Wechsel als Sonderkorrespondentin zu RTL Television informiert
sie seit 1995 unter anderem aus dem Kosovo,
aus Afghanistan und dem Nahen Osten.
Während des Irak-Kriegs 2003 berichtete
Antonia Rados live aus Bagdad – für ihre
Arbeit dort wurde sie mehrfach ausgezeichnet,
etwa mit dem Hanns-Joachim-FriedrichsPreis, dem Deutschen Fernsehpreis und dem
„Romy“. Neben ihren Fernsehberichten und
-dokumentationen veröffentlichte Antonia
Rados mehrere Bücher. Sie lebt in Paris. Seit
2009 arbeitet Antonia Rados als Chefre­
porterin Ausland für die Sender der Mediengruppe RTL.
Dazu gehört viel Mut – haben Sie ihn seit
jeher in sich?
Mut ist nur eine andere Definition von
Handeln – und das habe ich von erfahrenen
Kriegsreportern gelernt. Mutig sein kann
jeder, doch das Überleben verlangt eine komplizierte Abfolge von Aktionen.
Wie finden Sie die Grenze zwischen Mut
und Leichtsinn?
Ich rede offen über Risiken, selbst auf die
Gefahr hin, übervorsichtig zu sein. Männer
hingegen verlassen sich eher auf andere
Männer, auf die eigene Gruppe. Ich kann das
in Kriegsgebieten gar nicht, denn ich bin
dort meist die einzige Frau.
Wie schaffen Sie es, Ihre Ängste im Zaum
zu halten?
Indem ich in brenzligen Lagen keine Angst
ausstrahle, selbst wenn mir danach ist. Und
ich versuche, die Situation zu gestalten –
nur dazusitzen ist die am wenigsten zielführende Lösung.
In Ihrem Beruf werden Sie mit Grausam­
keiten und menschlichem Elend konfrontiert.
Wie bleiben Sie seelisch gesund?
Ich koche leidenschaftlich gerne. Das ist
besser und billiger als ein Psychiater.
Entrepreneur 01/2014
Impressum
Herausgeber:
Georg Graf Waldersee
Gestaltung und Realisation:
Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Art Direction:
Markus Rasp
Projektmanagement:
Annette Rau
Bildnachweise:
S. 4 links: TASCHEN, S. 6: Hess Family Wine
Estates, S. 32 / 33: Michael Paukner, substudio,
S. 53 / 5 4 / 56 / 57 / 59: Sebastiao Salgado / Amazonas
Images / Agentur Focus, S. 55: Ricardo Beliel,
S. 60: J. Olczyk, S. 62: Justin Hession, S. 63 Lichtbilder: James Turrell, Foto von Florian Holzherr;
Ausführliche Information im Sammlungskatalog:
Hess Art Collection, Verlag Hatje Cantz 2009,
372 Seiten, 49,80 Euro, S. 63 Porträt Turrel: Grant
Delin / Corbis Outline
Inwiefern haben schlimme Erfahrungen
Ihr Leben auch bereichert?
Ich habe Menschen getroffen, die selbstlos
halfen, etwa indem ich bei ihnen übernachten durfte. Wer macht denn bei uns noch die
Tür auf für Wildfremde? Es klingt absurd,
aber nach der Rückkehr aus Kriegsgebieten
habe ich manchmal den Eindruck, erst richtig
in einer Angstzone, nämlich Europa, gelandet zu sein.
Sie berichten als Journalistin von den
Brennpunkten dieser Welt. Welche anderen
Leistungen empfinden Sie als besonders
heraus­fordernd?
Papst im 21. Jahrhundert zu sein.
Mut ist auch im Alltag gefragt. Was könnten
Eltern / Partner /Vorgesetzte tun, damit ihr
Gegenüber Mut entwickelt?
Großmut und Risikofreude zeigen. Meine
erste Reise in ein Krisengebiet etwa verdanke ich einem solchen Chefredakteur. Ich
hatte keinerlei Erfahrung und durfte 1980
trotzdem in den Libanon fahren. Das hat
mich enorm beflügelt.
Gibt es etwas, was Sie sich jenseits Ihres
Berufslebens eigentlich gern getraut hätten?
Herauszufinden, was ein gutes Gemälde
ausmacht.
Adresse der Redaktion:
Ernst & Young GmbH
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