Úlfar Bragason, Herausgeber: Snorrastefna, 25.–27. júlí

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Úlfar Bragason, Herausgeber: Snorrastefna, 25.–27. júlí
Rezensionen
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lfar Bragason, Herausgeber.
Snorrastefna, 25.–27. júlí
1990. Rit Stofnunar Sigurðar Nordals 1. Reykjavík:
Stofnun Sigurðar Nordals, 1992. 283
Seiten.
Die Stofnun Sigurðar Nordals, das nach
dem isländischen Literaturwissenschaftler
und Diplomaten Sigurður Nordal benannte
neue Institut für die Koordinierung von
Forschungen zur isländischen Kultur, veranstaltete an der Universität Reykjavík
(Háskóli Íslands) vom 25. bis 27. Juli 1990
ein Symposium, das Snorri Sturluson (1179–
1241) gewidmet war und füglich dessen
Namen trug: Snorrastefna [Snorri-Symposium]. Fast zwei Dutzend Nordisten aus
zehn Ländern legten einem hundertköpfigen Publikum ihre neuesten Forschungsergebnisse zur alten nordischen Mythologie
und Dichtung, zu Snorris Mythologie- und
Dichtungslehrbuch Edda (von circa 1230)
und zu dessen Rezeption in späterer Zeit
vor. Diese Vorträge sind — bis auf drei —
jetzt im Druck erschienen als Band 1 der
Schriftenreihe des neuen Instituts (Rit
Stofnunar Sigurðar Nordals 1), herausgegeben von dessen Leiter Úlfar Bragason.
François-Xavier Dillmann (Paris) eröffnet den Band — höflicherweise auf isländisch — mit Grundsätzlichem, nämlich dem
Hinweis, daß, wer die Mythologie verstehen
will, zunächst einmal eine bessere Textausgabe unserer wichtigsten Quelle, eben der
Snorra Edda, haben muß (“Textafræði og
goðafræði: Um þörfina á betri útgáfu á
Snorra-Eddu”, 9–18). Das Fehlen einer
wirklich zuverlässigen kritischen Ausgabe
der Snorra Edda hat mitunter für die
Mythenforschung fatale Auswirkungen, wie
Dillmann an der Geschichte von Njorðr und
Skaði in Gylfaginning Kap. 23 verdeutlicht.
Alle neueren Ausgaben und Übersetzungen
der Snorra Edda (mit Ausnahme der deutschen von Ernst Wilken von 1877) folgen
bei der Angabe, daß die Fruchtbarkeitsgottheit(en?) Njorðr und Skaði, da keiner
von beiden die ganze Zeit am Wohnort des
anderen leben wollte, übereingekommen
seien, abwechselnd bei Skaði im verschneiten Hochgebirge und dann wieder bei
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Njorðr unten am golfstromerwärmten Meer
zu wohnen, der Kopenhagener Ausgabe Jón
Sigurðssons von 1848 und Finnur Jónssons
kritischer Ausgabe von 1931. Beide legen
den (emendierten) Text des Codex Regius
der Snorra Edda zugrunde: “at þau skyldu
vera níu nætr í Þrymheimi, en þá aðrar
níu at Nóatúnum” [daß sie neun Nächte in
Þrymheimr und dann andere neun in Nóatún weilen sollten]. Die Lesart der drei anderen Haupthandschriften der Snorra Edda
(Codex Trajectinus, Codex Wormianus,
Codex Upsaliensis) aber ignorieren sie.
Diese weicht jedoch in der Zeitangabe
signifikant ab: “at þau skyldu vera níu nætr
í Þrymheimi, en þá aðrar þrjár í Nóatúnum”
[daß sie neun Nächte in Þrymheimr und
dann andere drei in Nóatún weilen sollten].
Vergleichende Mythenforscher wie Georges
Dumézil und Franz Rolf Schröder haben
diese enge nordische Parallele zu indo-europäischen Mythen vom wechselnden Aufenthaltsort der Fruchtbarkeitsgottheiten nicht
sehen können, weil die Snorra Edda–Ausgaben diese Lesart nicht mitteilen: Auch
Persephone weilt neun Monate bei Demeter
und drei Monate bei Hades. Die Umkehrung gegenüber der Mythe von Njorðr und
Skaði, deren neun “Nächten” in Þrymheimr
(die Dillmann gewiß zu Recht als Symbol
für die neun Wintermonate des hyperboreischen Jahres deutet) nur drei Monate beim
(Winter-/Totengott) Hades entsprechen sollen, erklärt sich mit der genau umgekehrten
Länge von Winter und Sommer im Norden
und in der Mediterranée: im Norden drei
Sommer- und neun Wintermonate, im Süden neun Sommer- und nur drei Wintermonate. Die von Dillmann eingeforderte philologische Solidität erbringt schönen Ertrag
für die strukturalistische Mythenforschung
und ein neues Mosaiksteinchen im Bild
jener autochthonen Landbesitzerinnen (das
Land als weibliches Prinzip), die sich hinter
den Riesentöchtern Skaði und Gerðr, aber
auch Gefjon verbergen.
Gerðr figurierte nicht nur bei Dillmann,
sondern auch in Gro Steinslands Beitrag
“Myte og ideologi — Bryllupsmyten i eddadiktningen og hos Snorri — Om det mytologiske grunnlaget for norrøn kongeideologi”
(226–40), der hier thematisch anschließt. Er
bietet in äußerst geraffter und zugleich prä-
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ziser Form die Quintessenz von Steinslands
Forschungen zum hieros gamos–Mythos,
die sie als Buch veröffentlicht hat: Det
hellige bryllup og norrøn kongeideologi:
En undersøkelse av hierogami-myten i
Skírnismál, Ynglingatal, Háleygjatal og
Hyndluljóð (Oslo: Solum, 1991). Die “heilige Hochzeit” dient Steinsland zufolge als
Basis einer nordischen “Königtumsideologie”, in der Königsherrschaft in “Inthronisationsmythen” und “Hochzeitsmythen”
semiotisch (sie spricht von der Bildstruktur
der Quellen: “billedstruktur”) abgebildet ist.
Königsherrschaft leitet sich genealogisch ab
von einem “ersten Einzigartigen” (wie z.B.
Fjolnir im Ynglingatal oder Sæmingr im
Háleygjatal), der Sproß einer “extrem
exogamen” Verbindung aus Gott (Freyr
respektive Óðinn) und Riesentochter (Gerðr
respektive Skaði) ist und damit etwas
Neues darstellt: nicht Gott, nicht Riese,
sondern eben menschlicher Begründer der
Königsdynastie. In diesem Sinne versteht
Steinsland auch Skírnismál und deutet die
Plazierung Freyrs im Hochsitz als Reflex des
Inthronisationsmythos und die drei Gegenstände, mit denen die Riesentochter gefügig
gemacht werden soll (Ring, Apfel, zauberkräftiger Stab), als Herrschaftsinsignien (die
Regalien Ring, Reichsapfel, Zepter). Man
darf sich etwas ketzerisch fragen, was aus
Freyrs Schwert (einem mindestens ebenso
wichtigen Reichsinsigne) geworden ist?
— Die nur unter der Androhung von Gewalt
und Verhexung zustande kommende Einwilligung der Riesentochter in die auch
für sie exogame und außerhalb legitimer
Eherituale sich vollziehende Verbindung
(aus der im übrigen Fjolnir, wie Snorri in
Ynglinga saga sagt, hervorgegangen sei)
deutet auf die — im Mythos semiotisch
sexuell konnotierte — gewaltsame Unterwerfung des Landes als “Territorium” unter
die Macht des Königs. Für derlei Metaphorik hat bereits Folke Ström 1981 und
1983 Beispiele aus der Skaldendichtung um
Jarl Hákon überzeugend beigebracht. Hiermit überwölbt Steinsland Magnus Olsens
ausschließlich auf agrarische Fruchtbarkeit
bezogene Deutung des hieros gamos jetzt
mit politischer Herrschaftssymbolik. Indem
sie auf die weibliche Linie dieser Dynastiebegründungen achtet, hat sie ein Muster
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“Herrschergott – Riesentochter als Landgöttin” gefunden, das zahlreiche neue Perspektiven und Antworten ermöglicht — auch auf
die Frage des nordischen Sakralkönigtums,
das sie nicht länger kultisch, sondern eben
genealogisch definiert sieht. Mit dem Außergewöhnlichen des “extrem exogamen” Ursprungs dieser Herrscher aus der Verbindung der beiden absoluten Gegenpole der
nordischen Vorstellungswelt (Götterwelt vs.
Riesenwelt), was übrigens auch für Óðinn
selbst gilt, der Sohn einer Urgottheit Borr
und der Riesentochter Bestla ist, erkläre
sich auch die eigentümlich “ehrlose” Todesart dieser Herrscher, exemplifiziert am Tod
der Ynglingenkönige: Von niederer Herkunft mütterlicherseits, sterben sie einen
niederen Tod. Dies gilt auch für Hákon
góði, den ambáttarson Harald Schönhaars,
der am Pfeilschuß eines unfreien Knechts
stirbt. Auf all dies wird die Forschung zurückkommen müssen.
Um weibliche Gottheiten geht es auch
John Lindow (“Loki and Skaði”, 130–42),
Lotte Motz (“The Goddess Freyja”, 163–79)
und Britt-Marie Näsström (“The Goddesses
in Gylfaginning”, 193–203). Lindow versucht, die semiotischen Schichten jener grotesken Szene in Snorra Edda zu entschlüsseln, in der der Gott Loki den Tod des Riesen Þiazi gegenüber dessen zorniger Tochter
dergestalt sühnt, daß er sie — so ihre Forderung — zum Lachen bringt, indem er sich
mittels einer um seine Hoden geschlungenen Schnur mit einer Ziege (an deren Bart)
zusammenbindet und solange hin- und herzerrt, bis er sich schließlich Skaði in den
Schoß fallen läßt und sie lachen muß und
die Sühne erbracht ist. Lindow stellt dies
u.a. zu einer aus französischen Stadtrechten
des 12. Jahrhunderts und Erik Glippings
stadsrett bekannten öffentlichen Schandstrafe für Ehebrecher, bei denen die Delinquenten aus der Stadt gejagt werden, nachdem die Frau den Mann zuvor an dessen
Glied öffentlich hat herumführen müssen.
Snorri selbst habe der Skaði-Mythe, die um
Geschlechtertausch und die symbolische
Selbstdemütigung der Asen gegenüber Skaði
kreise, diese aktuelle Konnotation hinzugefügt. Zwingend ist dieser Schluß nicht.
Obszöne Rituale sind aus “primitiven” Kulturen reichlich bezeugt und lassen diesen
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Mythos von der Kompensationleistung der
Asen an Skaði durchaus als “alt” und “authentisch” erscheinen.
Obszönes ist auch von Freyja überliefert. Ihre notorische Promiskuität, ihr Walkürenaspekt als Herrin über Kampf und
Tod, ihr Reiten auf einem Eber und ihre
Fähigkeit zu fliegen, ihr Schützen eines
menschlichen Königs und anderes mehr lassen sie, wie Lotte Motz meint, weniger als
Fruchtbarkeitsgöttin und Schutzgöttin von
Ehe und Familie erscheinen, sondern stellen
sie eher zu mediterranen Gottheiten wie
Aphrodite hetaira, Astarte und Ischtar, in
denen Motz einen gemeinsamen Typus erblickt, dem auch Freyja angehöre. Was alte
Gemeinsamkeit, was später in den Norden
Entlehntes sei, wisse man nicht.
Noch abstrakter werden die Bezüge,
wenn Britt-Marie Näsström diese eigentlich
asozialen und sich nicht in das patriarchalische Familien- und Ehegefüge der “männlichen” Asenmythologie einordnenden Eigenschaften Freyjas und Friggs und ihrer zwölf
Hypostasen in Gylfaginning Kap. 35–36 als
“Aspekte” ein und derselben “Great Goddess of the North” erklärt, deren Heterogenität sich damit begründete, daß diese
diskrepanten Eigenschaften den in Freyjas
jeweiligen Partnern verkörperten drei unterschiedlichen Funktionen gemäß Dumézils
“idéologie tripartie des indo-européens”,
also der Priester-, Krieger- und Bauernfunktion, korrespondierten. Das ist gut möglich.
Es bleibt aber — das Hauptproblem dieser
Form des Strukturalismus — alles sehr abstrakt und ist überdies in einem völlig ungrammatischen, ja geradezu absurden “englischen” Kauderwelsch unkorrigiert abgedruckt, das für den Leser eine böse Zumutung darstellt. Warum schreibt die Verfasserin nicht schwedisch? Und warum hat der
Herausgeber nicht eingegriffen?
Einige Beiträge widmen sich dem Zeugniswert, den die verschiedenen Quellenarten für Mythos, Kult und Religion im vorchristlichen Island haben. So vertraut Jónas
Kristjánsson (“Heiðin trú í fornkvæðum”,
99–112) eher den Gedichten und Kenningar
der Skalden sowie den Eddaliedern, die er
allesamt als im Kern “alt” und nur mit
einzelnen christlichen Elementen versetzt
einstuft, und er verdammt das Verfahren,
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Dichtung (kvæði) und Erzählungen (sögur)
als gleichwertig anzusehen und “hræra öllu
saman eins og Jan de Vries og TurvillePetre” (102). Zumindest letzterer war ein
allzu guter Kenner der Materie, um sich
diese Bemerkung posthum gefallen lassen
zu müssen, schon gar nicht, wenn sein
isländischer Kritiker die “eigenen” Mythen
weniger genau zu kennen scheint als
diese beiden Nicht-Isländer: “Húsdrápu orti
Úlfur Uggason . . . Þar hafa verið að minnsta
kosti þrjár goðsögur: um keppni Þórs og
Loka um Brísingamenið . . . ” (103). Þórs?
Es war wohl Heimdallr.
Svavar Sigmundsson unterzieht — ein
wichtiger Aufsatz! — die isländischen Ortsund Flurnamen, in denen Götternamen oder
Bezeichnungen für Tempel, Heiligtum, Opferplatz, etc. enthalten sind, einer erneuten
Durchsicht: “Átrúnaður og örnefni” (241–
54). Das Ergebnis des konzis geschriebenen
und mit Ortsnamen-Karten Islands didaktisch gut illustrierten Beitrags lautet, daß die
zahlreichen Þórr-Flurnamen (Þórsvík, Þórsdalur, Þórfell, etc.) durchaus bezeugen, daß
Þórr der wichtigste Gott Íslands war, wobei
das Fehlen von Þórsnamenbildungen mit
-akr ‘Acker’ oder -bær ‘Gehöft’ anzeige,
daß Þórr anders als in Skandinavien auf
Island nicht Fruchtbarkeits- oder Agrargottheit war, sondern ganz allgemein landáss
‘Schutzgottheit des Landes’. Freyr- und
Njorðr-Namen sind dagegen spärlich, deuten aber auf kultische Verehrung ebenso hin,
wie die Namen des Typs Helgafell bzw.
Hofsdalur oder Hörgsholt auf Beziehung zu
Mythos (Ahnenverehrung) bzw. (Tempel-)
Kult verweisen. Bei lundr ‘Hain, Opferhain’
in den Lundur-Namen zieht Svavar wie
auch bei den übrigen Namentypen als Indiz
für eine ehemalige Kultstätteneigenschaft
der Örtlichkeit die Tatsache heran, daß hier
eine christliche Kirche steht oder stand.
Dies deshalb, weil — übrigens ganz nach
der Anweisung Papst Gregors I. an seine
Missionare — gerade an ehemals heidnischen Kultstätten Kirchen errichtet und jene
somit “getauft” wurden, die Kirchen also auf
alte Kultstätten verweisen können. Dieses
Kriterium ist durchaus stichhaltig. Man
wünscht sich bei Ortsnamenuntersuchungen, die stets auch einen statistischen
Aspekt haben, jedoch die Gegenprobe:
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Wieviel Kirchen gibt es überhaupt auf Island? Wo stehen die anderen? Welches sind
dort die Kriterien? War es vielleicht eher nur
das Gehöft des Großbauern, das den Ausschlag dafür gab, wo eine Kirche hin kam
unabhängig davon, ob ein hof-goði es besaß
oder nicht, so daß dem “Kirchen-Indiz”
allein noch keine eigene Beweiskraft für
Rückschlüsse aus einem “kultverdächtigen”
Namen auf alte Kultstandorte zwingend zukommen kann und archäologische Befunde
hinzugenommen werden sollten? Man muß
mehr graben auf Island!
Haraldur Bessason (“Myth and Literary
Technique in Two Eddic Poems”, 70–80)
geht es um unterschiedliche Zeitvorstellungen in Voluspá: eine zyklische (ewige) für
Schöpfungsanfang, Natur, Götter und Riesenwelt, und eine lineare (endliche) für die
Sterblichen, die sich als menschliche Zeitspur im Laufe des Textes mit zunehmender
Dekadenz der Asenwelt und vor allem
Odins über die mythisch-zyklische lege.
Im Mittelpunkt der restlichen Beiträge — darunter sehr gewichtigen — steht
Snorri Sturluson und sein Umgang mit seinen Quellen, seine Leistung als Historiker,
seine Dichtung und Dichtungslehre sowie
seine Rolle als Mythograph. Ein Glanzstück
sowohl inhaltlich wie — dank der stilsicheren englischen Übersetzung von Joan
Turville-Petre — auch formal ist Jón Hnefill
Aðalsteinssons ruhige, wohlabgewogene
Analyse der Berichte über König Hákon den
Guten und seinen machtpolitisch motivierten “Rückfall” ins Heidentum, zu dem ihn
die norwegischen Bauern und Aristokraten
zwingen (“A Piece of Horse-Liver and the
Ratification of Law”, 81–98). Historia Norwegiae, Ágrip af Nóregs konunga sogum
und Fagrskinna bezeugen alle, daß Hákon
“zwar” sein Christentum aufgegeben, “aber
dafür” das alte Recht (en fornu log) besser
als alle heidnischen Könige zuvor gewahrt
habe: diligentius leges patrias et scita
plebis observabat (Historia Norwegiae);
hann setti Gulaþingslog . . . , er verit hafði
forðum (Ágrip af Nóregs konunga sogum);
fylla en fornu log . . . mikill ráðsmaðr til
laga ok siða . . . svá at blótmenn kalli eigi at
af honum verði niðrfall laganna (Fagrskinna). Jón insistiert zu Recht auf der Verbindung log ok siðir ‘Gesetz und Sitten/
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Religion’ als zentral für den Staatsbegriff des
heidnischen Königtums und sieht in dem
Zwang zur Kultteilnahme des Königs den
Reflex eines noch immer sakral fundierten
Ynglingen-Königtums: Bricht Hákon mit
der alten Religion und vollzieht er nicht im
Zusammenhang mit dem Thing das Kultritual, das die Gemeinschaft aller sowie den
Fortbestand der Rechtsgemeinschaft und ererbten Rechte symbolisch bekräftigt, bricht
auch dieses “alte” Recht und wird für die
Thinggenossen unsicher. Eine konstitutionelle Umwälzung! Hierzu verweist Jón auf
den Ring, den der isländische goði den
Úlfljótslog zufolge bei allen Rechtshandlungen zu tragen und zuvor im Opferblut eines
Opfertieres zu röten hatte und auf den jeder,
der eine Rechtssache vorbrachte, zuvor
schwören mußte. Nicht ungewöhnlich, eigentlich, man denke nur an den christlichen
Gerichtseid oder Amtseid auf die Bibel. Der
gleiche unmittelbare Zusammenhang von
Recht (log) und religiösen Gebräuchen
(forn siðr) ist bei der Bekehrung Íslands im
Jahr 1000 gegenwärtig, wenn der logsogumaðr Þorgeirr argumentiert, daß Island eine
einheitliche religiöse Ordnung — entweder
heidnisch oder christlich — haben müsse,
weil das Land ein log ‘einheitliches Recht’
haben müsse, denn wer die Rechtsordnung
zerreiße, zerreiße auch den Frieden (vgl. Jón
Hnefill Aðalsteinsson, Under the Cloak:
The Acceptance of Christianity in Iceland
[Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis,
1978]). Daß dies alles nur erfundene Rückprojektion der hochmittelalterlichen Vorstellung vom christlichen Staat — denn mit
log ist doch wohl “Staat” gemeint — auf
die heidnische Zeit sei, wird durch die
Quellen, wie Jóns Analyse zeigt, widerlegt:
Hier ist Reflex alter Verhältnisse sichtbar.
Nur Snorri habe, so Jón, diesen in seinen
Quellen (Historia Norwegiae, Ágrip und
Fagrskinna[?]) vorhandenen Zusammenhang zwischen log und siðr und also die
von den Norwegern mit Hákons Christentum verbundene Gefahr der “abrogation of
law which would follow if King Hákon had
refused outright to make sacrifice” bei seiner Gestaltung der Apostasie Hákons auf
dem Thing in Mœre weggelassen. Jón macht
hierfür Snorris künstlerische Gestaltung
des Themas verantwortlich, durch die “an
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important religious motif has got lost”.
Nach Meinung des Rezensenten hat Snorri
diese Verbindung jedoch ebenfalls ausdrücklich bewahrt. Allerdings nicht, wie
dies seine jeweils nur wenige Zeilen umfassenden Quellen notwendig tun müssen, als
kurzen Kommentarsatz in der Schilderung
der Opferszene in Heimskringla, Hákonar
saga góða Kap. 17–18, selbst, sondern gemäß seiner weitaus breiteren Darstellung
schon zuvor in Kapitel 15, in dem er ausführlich die politischen Implikationen und
Befürchtungen der Trondheimer andeutet.
Kapitel 13–20 bilden eine strukturelle Einheit, deren Thema u.a. der “drohende Verlust der alten Ordnung als Verlust der Freiheit und konkret des Óðalrechts” ist. Mit
dem englischen und deutschen Christentum wurde die neue, vom Lehnsrecht geprägte Staatsform verbunden, die als Versklavung (at þrælkask) verstanden wurde
(vgl. Gerd Wolfgang Weber, “Intellegere
historiam: Typological Perspectives of Nordic Prehistory”, in Tradition og historieskrivning: Kilderne til Nordens ældste
historie, hg. Kirsten Hastrup und Preben
Meulengracht Sørensen [Århus: Aarhus
universitetsforlag, 1987], 95–141; hier 111,
125 und Fn. 73).
Sehr aufschlußreich ist auch Else
Mundals Aufsatz (“Snorri og Voluspá”,
180–92), der zeigt, wie Snorri seine Hauptquelle, das Eddalied Voluspá, und seine
übrigen Liedquellen benutzt und in seine
Darstellung der nordischen Mythologie integriert. Mundals Frage nach dem, was Snorri
nicht aus seinen Quellen übernimmt, zeigt
u.a. ebenso wie seine Umstellungen, daß er
Widersprüche seiner Quellen dadurch vermeidet, daß er derartige Angaben nicht
übernimmt, daß er “dunkle” Stellen in den
Eddaliedern, die auch neuzeitlichen Gelehrten Kopfzerbrechen bereiten, einfach wegläßt, daß er schließlich einen misogynen
Zug an den Tag legt, der wohl mit seiner
Tendenz, den nordischen Mythos an die
christliche Mythologie anzugleichen, einhergeht: Die drei dem Riesengeschlecht
zuzurechnenden Weiber, die in Voluspá
unmittelbar vor der Schöpfung der Menschen durch die drei männlichen Gottheiten
Óðinn, Hœnir und Loðurr (bei Snorri:
Óðinn, Vili und Vé) auftreten und in denen
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Mundal mit Gro Steinsland das weibliche
Element eines ursprünglichen hieros gamos
erkennt, läßt Snorri weg. Sie passen nicht
ins Patriarchat des christlichen Schöpfergotts, an den er seinen Alfoðr angleicht.
Guðrún Nordal würdigt Snorri als
Dichter des Fürstenpreislieds und metrischen Mustergedichts Háttatal sowie einer
Anzahl lausavísur (“Skáldið Snorri Sturluson”, 52–69). Und Anthony Faulkes (“The
Use of Snorri’s Verse-Forms by Earlier
Norse Poets”, 35–51) geht der Frage auf den
Grund, inwieweit die in Snorris Háttatal
vorgeführten Versformen schon in der
Skaldendichtung vor Snorri als Versform
etabliert waren (circa 30) oder von Snorri
aus vereinzelten, sporadisch auftretenden
metrischen oder reimtechnischen Varianten
dieses oder jenes Skalden herausdestilliert
und zu Versformen erhoben wurden (circa
40) oder ganz ohne Vorbild sind und von
ihm kreiert sein dürften (circa 30). In diesem für Nicht-Metriker spröden, jedoch
wichtigen und, wie immer bei Faulkes,
philologisch zuverlässigen Aufsatz ist öfter
zu lesen: “see Kuhn 1983”. Hommage an
den, der das Terrain der Skaldenmetrik und
-syntax wie kein zweiter beackert und für
uns aufbereitet hat: Hans Kuhn, Das Dróttkvætt (Heidelberg: Carl Winter, 1983).
Margaret Clunies Ross (“The Mythological Fictions of Snorra Edda”, 204–
16) und Preben Meulengracht Sørensen
(“Snorris frœði”, 270–83) heben die innovative Bedeutung des Mythographen Snorri
hervor. Clunies Ross sieht sie auch in seiner
Schaffung der langen mythischen Prosakapitel, die sie “mythological fictions” nennt
und die sowohl in Gylfaginning wie Skáldskaparmál die Mythen in einer Form erzählen, die sie den fabulae der antiken Literatur und also dem integumentum und
involucrum der mittelalterlichen Exegese
annähern: als “Erfindungen”, die einen
verborgenen Wahrheitskern enthalten, was
der positiven Mythenauslegung durch die
Schule von Chartres (z.B. Bernardus Silvestris) entgegenkomme, deren Einfluß, zumindest als Haltung, Margaret Clunies Ross mit
Ursula und Peter Dronke (1977) sicherlich
zu Recht in Snorra Edda am Werk sieht.
Kurz führt sie auch die Gattung des
exemplum als “potential model for the kind
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of illustratory mythic narrative that Snorri
uses so skilfully throughout the Edda” an
(213). Dem ist zuzustimmen (vgl. Gerd
Wolfgang Weber, “Snorri Sturlusons Verhältnis zu seinen Quellen und sein MythosBegriff”, in Snorri Sturluson: Kolloquium
anläßlich der Wiederkehr seines 750. Todestages, hg. Alois Wolf [Tübingen: Gunter
Narr, 1993], 193–244, hier 215–16). Allerdings ist der literarisch fixierte englische
Begriff fiction hier vielleicht doch weniger
hilfreich, denn gerade das exemplum, dessen isländische Entsprechung dæmisaga
Snorri für seine Mythenerzählungen selbst
gebraucht (Snorra Edda, Skáldskaparmál
Kap. 10 und 25), ist auf Geschichte (historia) und res gestae, also geschichtliche Faktizität, ausgerichtet, denn daraus zieht es
seine Beweiskraft. Es gibt damit diesen Erzählungen einen nicht-fiktionalen Wert als
“exemplarisches Ereignis der Geschichte”.
Die Kategorie des Fiktionalen ist im dreizehnten Jahrhundert gerade erst im Entstehen und signalisiert, wie Walter Haug
gezeigt hat (Literaturtheorie im deutschen
Mittelalter [Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1985]), den Umbruch des
mittelalterlichen Weltbilds in die Moderne.
Hier ist ein interessanter Punkt bei Snorri
angesprochen, der über die Mythenforschung weit hinausweist und sich mit der
“Modernität” des Historikers Snorri treffen
würde, auf der jetzt Sverre Bagge insistiert
(Society and Politics in Snorri Sturluson’s
“Heimskringla” [Berkeley: University of
California Press, 1991]).
Auch Preben Meulengracht Sørensen
betont das Neue an Snorris Edda, insonders
den grundsätzlichen Unterschied zwischen
der mündlichen Tradition des Mythos, in
der dieser “får sin betydning ved at blive
fortalt igen og igen og ikke nødvendigvis
på samme måde hver gang . . . I den skriftlige tekst bliver de varianter, der opstår på
den måde, kombineret til en sekvens af
begivenheder” (281). Snorris frœði (der alte
mythische Stoff) werde ihm zu gamanfrœði
(zu unterhaltsamem Wissen über die alte
Zeit für eine neue Zeit, eine isländische
Renaissance). Das ist nahe an fiction, der
erfundenen Wirklichkeit in Clunies Ross’
Auffassung, die das Hier und Jetzt deuten
helfen soll und nicht ein mythisches Einst.
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Das Problem besteht darin, daß Snorri
hier eine, wie wir es nur auffassen können,
szenische Rahmen-Fiktion schafft, die der
neuzeitliche Exeget nur als etwas Erfundenes und intellektuell als “fiktiv” Begriffenes
begreifen kann, eben weil er einzig über den
modernen, im Mittelalter sich aber gerade
erst bildenden Autorenbegriff verfügt und
mithin Snorri die moderne Lehrbuchsituation unterstellt, die ihm erlaube, wie ein
moderner Verfasser seiner Fiktion distanziert, ironisch, etc. gegenüber zu stehen.
Das, was uns “fiktiv” anmutet und daher
den erfindenden Autoren Snorri für uns
konkret werden läßt, ist jedoch in Wirklichkeit etwas anderes: Letztlich unterscheidet
sich die Fiktion der Snorra Edda von dem,
was Snorri in der Heimskringla und was die
isländischen Sagaerzähler in ihren Sagas
tun, nicht allzu sehr. In Heimskringla läßt
Snorri das geschichtliche Geschehen in
“miterlebten Szenen” wiedererstehen: Die
geschichtlichen Protagonisten werden in
Dialogen miteinander konfrontiert, die in
ihrer konkreten, aufs Pergament gekommenen Gestalt plausibel sind und in dieser
ihrer Plausibilität den gleichen “naiven”
Authentizitätscharakter beanspruchen, den
auch die Dialoge der Heldensage besitzen:
“So und nicht anders haben die Heroen
gesprochen.” Die Authentizitätsillusion des
gesprochenen Wortes ist es, die dem Erzählten seinen Wahrheitscharakter als etwas
“Geschichtlich-Wahres-und-so-Gewesenes”
schafft und die den Gedanken daran, daß
dieses Erzählen individuelle Fiktion, Erfindung, willkürliches Gebilde der Autorenphantasie sei, gar nicht erst aufkommen
läßt. Damit aber sind Snorra Edda, Heimskringla und Íslendingasögur in ihrem Authentizitätsanspruch letztlich analog (trotz
der Gattungsunterschiede, die die Snorra
Edda natürlich an die mythologie moralisée heranrücken).
Hierzu stellt sich die von Rory McTurk
beobachtete erzähltechnische Nähe der
Snorra Edda zu den Sagas: “Ytri og innri
frásögn i Snorra-Eddu”, 155–62. Beide machen z.B. (insonders beim Erzählen übernatürlicher Vorgänge) Gebrauch von dem,
was McTurk “ytri og innri sjónbeining”
nennt, also etwa Außen- und Innensicht des
erzählten Geschehens. So verschiebt sich in
Rezensionen
dem Satz aus Gylfaginning “er hann kom
inn í borgina þá sá hann þar háva holl”
nach borgina die Perspektive von ytri zur
innri sjónbeining, denn “það er enginn vafi
á því, að Gylfi sér höllina, en hvort hún
hefur verið þar í raun og veru er látið ósagt,
og óvíst er, hvort hún hefur verið það, þar
sem í næstu setningu á undan er minnst á
sjónhverfingar” (160).
Genau solche vergleichenden Untersuchungen der Erzähltechnik von Snorra
Edda, Heimskringla, Sagas und anderen
Textarten sind vonnöten. Denn auch der isländische Elucidarius und sein lateinisches
Original des Honorius Augustodunensis
sind in ihrer Form noch “authentisches Gespräch” eines fragenden Sohnes und antwortenden Vaters insofern, als ein Sohn
diesen Inhalt im Mittelalter schlechterdings
nicht anders erfragen und ein Vater ihn
nicht anders als in den dargebotenen Antworten darlegen kann: Die “Kanonizität”
des Inhaltes und Stoffs — hier der christlichen doctrina, dort der paganen frœði —
verleiht der Dialogform den Schein fragloser
Authentizität, da ein Bewußtsein der Eigenständigkeit und der Eigengewichtigkeit des
Erzählens selber noch nicht existiert. Es
fehlt also noch die Möglichkeit, die Tatsache, daß erzählt wird, selbst zum Gegenstand der Reflexion und des Diskurses
zwischen Autor und Zuhörer zu machen.
Mythenvarianten sind (worauf Preben
Meulengracht Sørensen zu Recht hinweist),
für Snorri nicht länger “gleichberechtigt
nebeneinander stehende Mythen”, sondern
unterschiedliche Traditionen, die gemäß
mittelalterlicher Historiographiepraxis von
ihm linear harmonisiert oder relativiert
werden. Erst im Spätmittelalter und Barock
aber wird mit dem modernen Roman die
Autonomie des fiktionalen Erzählens bewußt eingesetzt. In der Gylfaginning schafft
Snorri mit Hilfe des vorgeschichtlichen Königs Gylfi einen Rahmen analog zu jenen
anderen szenischen Rahmen für die geschichtlichen Ereignisse, die um die “historischen” Könige wie Hálfdan svarti, Haraldr
hárfagri, Hákon góði entstehen: Die mythischen Erzählungen von den Æsir sind
nichts anderes als die Verlängerung der
Geschichte der nordischen Dynastien in die
mythische Vorgeschichte hinein: Diese ist
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kein Reich der individuellen Erfindung, sondern geschichtliche Realität. Hierauf weist
gerade die von Clunies Ross (“Skáldskaparmál”: Snorri Sturluson’s ars poetica and
Medieval Theories of Language [Odense:
Odense Univ. Press], 1987) herausgeholte
Sprachtheorie Snorris, die in der Kenningsprache die Authentizitätsgarantie des Überlieferten erblickt: Snorris ganze Edda ist in
seiner Auffassung lediglich Auslegung dieser
Kenning-Mythologie. Er ist Arrangeur dieser
Überlieferung, nicht, wie der author of fiction, nur “Erfinder” eines Spiegels seiner eigenen Wirklichkeit. Die Frage der Fiktionalität im 13. Jahrhundert ist offen. Sie wird
weiter im Zentrum unserer Bemühungen
stehen müssen.
Das — entgegen der Forschungsmeinung — sinnvolle jeweilige Arrangement
aller vier Teile der Snorra Edda in den vier
Haupthandschriften und die gleichermaßen
vom Rezeptionsinteresse der HandschriftAuftraggeber und Kompilatoren bestimmte
sinnvolle Integration nicht-snorronischer
Texte wie der Grammatischen Traktate
durch die “Verfasser” weist Thomas
Krömmelbein in einem hochwillkommenen
Beitrag nach (“Creative Compilers: Observations on the Manuscript Tradition of
Snorri’s Edda”, 113–29): “It is important
that we appreciate each of the various
Snorra Edda–compilations as a literary individual” (116). Am eindrucksvollsten gilt
dies für Upsaliensis: Die Plazierung des
Zweiten grammatischen Traktats zwischen
Skáldskaparmál und Háttatal begründet
sich mit der Absicht, den Vers- und Reimformen des letzteren eine theoretische linguistische Fundamentierung voranzustellen.
Der “Einschub” der drei auf die Sturlungendynastie und Snorri selbst beziehbaren
Texte Skáldatal, Ættartala Sturlunga, Logsogumannatal und der dekorativen Illustration auf folio 26v nach dem mythenerzählenden Teil der Skáldskaparmál und vor
ihrem rein poetologischen Teil wirkt wie ein
Abschluß des Mythenteils und wird von
Krömmelbein zugleich als enkomiastische
Heraushebung von Snorris “social position as skald at the Norwegian court, his
position in the Sturlung family, and finally
his position in Icelandic society” gewertet
(123). Dem möchte der Rezensent hinzu-
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fügen, daß der logischen Ordnung der
“Großstruktur” der Snorra Edda–Teile in
Codex Upsaliensis die zahlreichen kleinen
und kleinsten, aber höchst signifikanten
Texteingriffe und -änderungen entsprechen,
die gleichfalls ein Konzept und eine durchgängige Sicht des Stoffes anzeigen. Wir sollten also jeden Codex für sich interpretieren.
Wie es um Snorris Urtext bestellt ist, kann
eigentlich erst dann, wenn diese Arbeit geleistet ist und die Eigentendenzen der vier
Haupthandschriften jenseits solch ungenügender Kommentare in den Ausgaben wie
“Upsaliensis neigt zu Kürzungen” erfaßt
sind, eruiert werden.
Ol’ga A. Smirnickaâ (“Mythological
Nomination and Skaldic Synonymics”, 217–
25) nimmt Snorris uns unbefriedigt lassende
“Kenningdefinition” zum Anlaß, durch
Kontrastieren solch angeblich mythischer
Kenningar wie sig-Týr oder hanga-Týr (für
Óðinn als “Gott des Sieges” oder “Gott der
Gehenkten”) lediglich Namencharakter anzunehmen wie bei Fenris-úlfr oder Yggdrasils askr, so daß Snorri “mythical names
as skaldic kennings” ausgegeben habe. Ausgehend von dem appellativischen Charakter
des Wortes týr ‘Gott’ (besonders im Plural
tívar ‘Götter’) macht Smirnickaâ auf die
Tendenz aufmerksam, daß in MannKenningar wie auð-Týr, beiði-Týr, sigNjorðr, her-Baldr der Göttername als
Kenning-Grundwort zum bloßen Ableitungs-Suffix verkomme (in flótta felliNjorðr habe Njorðr die Qualität des deverbativen Suffixes -ir eines ia-Stammes fellir)
und umgekehrt das substantivische Vorderglied in Zusammensetzungen wie sig-Týr
oder eben sig-týr und analog zu Fimbul-týr
in Geir-Niflungr (entsprechend altengl.
Gār-Dene) zu einem Verstärkungspräfix
reduziert werde, ins Extrem gebracht: ähnliche Aushöhlung erfahre wie þjóð ‘Volk’ in
þjóð-á ‘großer Fluß’. Das ist sicherlich eine
Tendenz, wurde aber schon von Ernst Albin
Kock in seinen Notationes Norroenae (die
Smirnickaâ nicht heranzieht) gesehen —
und gewaltig übertrieben. Sie dürfte sich in
der späteren Zeit mit dem Überhandnehmen banaler schematischer Kenningar vom
Typ tungls setr und dergleichen verstärkt
haben. Die echte Kenningkunst der forn
skáld ist damit nicht charakterisiert.
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Rezensionen
Nachzutragen sind noch die in andere
Zusammenhänge — die Snorra Edda als kulturelles Erbe — führenden Beiträge: Einar G.
Pétursson, “Edda á 17. öld” (19–34); Sveinn
Yngvi Egilsson, “Eddur og íslensk rómantik:
Nokkur orð um óðfræði Jónasar Hallgrímssonar” (255–69); schließlich Lars Lönnroth,
“The Reception of Snorri’s Poetics: An
International Research-Project”, (143–54).
Snorrastefna ist ein gewichtiger Eröffnungsband für die Schriftenreihe der
Stofnun Sigurðar Nordals und nahezu in
allen seinen Teilen direkt oder indirekt würdige Hommage an den Namenspatron.
Gerd Wolfgang Weber

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