SZ-Archiv: SZ vom 28.April 2011 Seite R7 Ebersberg (GSID=1399937)

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SZ-Archiv: SZ vom 28.April 2011 Seite R7 Ebersberg (GSID=1399937)
Donnerstag, 28. April 2011
Besuch
beim Bestimmer
25 Jungstudenten der Kinderuni
zu Gast bei Walter Brilmayer
Ebersberg – Was macht der Bürgermeister eigentlich den ganzen Tag? Gemütlich in der Sonne sitzen und faulenzen,
oder rund um die Uhr für seine Mitmenschen schuften? 25 Kinder aus dem Landkreis, zwischen acht und zwölf Jahre alt,
wollten es genau wissen. Im Rahmen der
von der Grafinger Volkshochschule veranstalteten Kinder-Uni statteten sie dem
ersten Bürgermeister von Ebersberg,
Walter Brilmayer, im Rathaus einen Besuch ab.
Kaum im Sitzungssaal angekommen,
wo normalerweise die Stadträte tagen,
musste Brilmayer den neugierigen Gästen schon Rede und Antwort stehen: Wie
lange er bereits Bürgermeister sei, ob er
allein über alles in der Stadt bestimmen
könne, was er in seiner Freizeit mache
und wer seine Tätigkeiten übernehme,
falls er einmal krank sein sollte. Der Bürgermeister antwortete geduldig und kam
bei den Kindern damit gut an.
PEB
LANDKREIS EBERSBERG
Süddeutsche Zeitung Nr. 97 / Seite R 7
Die (un)heimliche Macht der kleinen Macchiavellisten
Von täglichen Bosheiten bis zum Hass: Mobbingopfer Marie erzählt von ihrem Leidensweg
Von Sophie Rohrmeier
Ebersberg - „Ich hasse Dich.“ Ein harter
Stoß mit der Faust vor die Brust. Das ist
vorläufiger Höhepunkt der Verachtung,
die Marie (Namen von der Redaktion geändert) seit fast zwei Jahren erträgt. Seit
Ende der ersten Klasse wuchs ihre Isolation, nahmen die Bosheiten ihrer Mitschüler zu. Aber erst dieser Übergriff auf das
Mädchen, das inzwischen die dritte Klasse einer Grundschule im Landkreis besucht, alarmiert die Schulleitung. Erst
jetzt reagiert man – mit der Versetzung
Maries in eine andere Klasse. An vielen
Schulen haben Lehrer, Eltern und Sozialarbeiter mit Mobbingfällen wie diesem
zu kämpfen. Und oft genug ist die Eskalation erst der Anfang vom Ende.
„Das Kind ist oft schon in den Brunnen
gefallen, wenn wir von den Angriffen hören“, gibt etwa Jörg Cordruwisch, Jugendpfleger in Vaterstetten, zu. Damit benennt der Sozialpädagoge eines der großen Probleme, wenn es um Mobbing geht:
Erst wenn die Übergriffe über Wochen
oder Monate hinweg erfolgen, gelten sie
als Mobbing. Mit diesem Aspekt der Definition geht einher, dass es oft schon zu
spät ist, um eine Eskalation zu verhindern.
Die Mutter fragt sich, wie
eine ausgebildete Pädagogin
so hilflos sein kann.
Amtskette zum Anfassen: Bürgermeister Walter Brilmayer und die wissensFoto: Hinz-Rosin
durstigen Kinder.
„Ich fand es toll, dass man ihn fragen
konnte, was man wollte und er auch alles
beantwortet hat“, freute sich der achtjährige Tim. Seine drei Jahre ältere Schwester Carolin schätzte vor allem Brilmayers
fachmännische Erklärungen. Die beiden
Freunde Florian, 8, und Alexander, 9,
fanden: „Das war viel besser als Schule“.
Die Kinder staunten nicht schlecht, als
Brilmayer ihnen seinen Tagesablauf
schilderte: Um 7 Uhr stehe er auf, fahre
um 8.15 Uhr ins Rathaus und befinde
sich dann hauptsächlich in Besprechungen und Sitzungen. Nach einem kurzen
Zwischenstopp zu Hause gehe es gleich
weiter mit diversen Abendterminen.
„Um 23 Uhr bin ich dann endlich daheim“, erzählte Brilmayer seinen verblüfften Zuhörern, denen hier und da ein
leises „Uff, so spät“ entwich. „Und am
nächsten Tag geht's wieder von vorne
los“. Außerdem bekamen die Kinder einen Einblick in die Arbeiten, die in einem Rathaus anstehen. Brilmayer erklärte, was es mit öffentlichen und nichtöffentlichen Sitzungen auf sich hat, wie es
um die Sitzordnung der Stadträte bestellt ist und wie ein Bürgermeister gewählt wird. Als Höhepunkt durften die
Jungstudenten im – nach Aussage Brilmayers – „schönsten Büro des Rathauses“ die wuchtige, goldene Amtskette bestaunen, die der Bürgermeister nur zu
ganz besonderen Anlässen trägt. Die Kinder durften sie aus nächster Nähe betrachten und anfassen. „Die ist ja ganz
hohl“, entfuhr es einem Jungen – was
Brilmayer sofort parierte; „Ich weiß ja
auch nicht, was die wert ist.“
Seit dem Sommersemester 2010 gibt es
die Kinder-Uni an der Volkshochschule
Grafing. „Die Grundidee ist, außerschulisch Themen aufzugreifen und zu vertiefen, die die Kinder interessieren“, erklärt
die pädagogische Mitarbeiterin Nadine
Mafke. Bis jetzt sei das Angebot mit 50
bis 60 Kindern pro Veranstaltung super
angenommen worden. Noch zwei Mal
wird die Kinder-Uni im laufenden Semester angeboten. Anfang Mai dürfen
sich die Kinder auf eine Reise durch das
Sonnensystem freuen: „Ein Flug zu den
Nachbarn der Erde“, heißt der Vortrag.
Ende Mai klärt ein Biologie die Frage
„Was lebt im Wasser?“.
Daniela Lilli
Freundschaft
auf dem Schlachtfeld
Hohenlinden – Seit Jahren pflegt die Gemeinde Hohenlinden eine freundschaftliche Beziehung zu Bürgern im Elsass. Hintergrund ist die historische Schlacht vom
3. Dezember 1800 zwischen Soldaten aus
Bayern, Österreich und Frankreich – und
die daraus resultierende Mahnung zum
Frieden. Vor einigen Tagen hat der Präsident des Geschichtsvereins vom Munstertal, Gérard Leser, Hohenlinden besucht.
Der Volkskundler aus Frankreich besichtigte den in Mittbach zur Erinnerung an
die blutige Schlacht aufgestellten Obelisken, dann hielt er im Pfarrheim einen
vom Chor der Grundschule untermalten
Vortrag über Osterbräuche im Elsass.
Von 3. bis 5. September wird eine Gruppe nach Frankreich reisen. Auf dem Programm stehen ein Besuch im Munsterland, eine Schlemmerwanderung sowie
eine Weinprobe. Informationen erteilen
der Vorsitzende von „Hohenlinden
2000“, Martin Hubner, sowie Ludwig
Maurer unter Telefon 08124/53120. mitt
Auch in Maries Fall war es so. Eine lange Vorgeschichte ging in eine Leidensgeschichte über. Als Marie mit ihrer Kindergartenfreundin Leonie gemeinsam in die
erste Klasse kam, ging nur Marie jeden
Nachmittag in den Hort. „Leonie hat mit
den anderen Mädchen aus der Klasse Bande geknüpft.“ Maries Mutter erinnert
sich an die Anfänge einer Gruppendynamik, die Marie außen vor ließ. Zugleich
habe sich Leonie als Maries „Beschützerin“ benommen, so die Mutter. Auch in
der Klasse habe sie Marie gegen Sticheleien verteidigt.
„Im ersten gemeinsamen Schuljahr
steht das Netzwerk einer Klasse meist
schon bis Weihnachten fest“, so Mechthild Schäfer. Sie betreibt Mobbingforschung an der LMU München. Es gebe in
jeder Gruppe Personen, die sich dominant verhalten, so Schäfer. „Das ist an
sich nicht negativ.“ Die Aggressivität
erst mache Mobber aus: „Das sind kleine
Machiavellisten à la Mehdorn: Sie kommen mit prosozialen Strategien an die
Macht – aber im Notfall gehen sie über
Leichen.“ Es komme also auf die Fähigkeit der Lehrer an, Grenzen zu setzen.
„Der Lehrer muss der Bestimmer sein,
sonst gibt das Kind den Ton an.“
Jörg Cordruwisch
Jugendpfleger
In Maries Klasse bestimmte – neben Leonie, die sich gegenüber Marie als die
Stärkere positionierte – vor allem ein
Mädchen. Sie habe gegen Marie gehetzt,
so Maries Mutter, die sich nicht erklären
kann, warum ihre Tochter zum Opfer
wurde. „Marie ist mit einem guten Selbstbewusstsein ausgestattet.“ In der Nachbarschaft und im Hort hatte sie Freunde.
Nur in der Schule nicht, hier hatte sie nur
Leonie. Tolle, teure Klamotten waren
wichtig. Marie wird in der zweiten Klasse
zunehmend isoliert. „Du siehst scheiße
aus“, sagen die anderen Mädchen zu ihr.
Die Mimik, von der die verbale Abwertung begleitet ist, setzt noch eins oben
drauf. Zu Maries Geburtstag kommen alle. „Aber am nächsten Tag musste sie wieder die gleichen Schmähungen ertragen“, so Maries Mutter. „Sie selbst wurde
nie eingeladen.“
Die Wissenschaft ist sich einig: Es geht
nicht um das Wesen des Kindes, das Opfer wird. Mobbingberater und Sozialpädagoge Frank Schallenberg sagt: „Jeder
kann Opfer sein“ – und an jeder Schule.
Das bestätigt Jugendpfleger Jörg Cordruwisch. Er war beteiligt an der Leitung der
Jugendraumanalyse in Vaterstetten, einer Online-Befragung der Schüler an der
Volks- und Realschule sowie am Gymnasium Vaterstetten. „Eines kann man
schon jetzt sagen: Das Thema Mobbing
rangiert ganz weit oben, an allen drei
Schulen“, so Cordruwisch. Und laut
Schallenberg nimmt Mobbing auch an
Grundschulen zu. Maries Mutter überraschte „das überlegte Verhalten hinter
der Inszenierung – in dem Alter“. Maries
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Ein Kind, das von den Klassenkameraden angegriffen und ausgegrenzt wird, fühlt sich isoliert und häufig auch noch schuldig. Rechtzeitiges Eingreifen von
Seiten der Pädagogen ist überaus wichtig.
Symbolfoto: Vario Images
Stellung in der Klasse wurde systematisch geschwächt; erst das hatte die
Schwächung von Marie selbst zur Folge.
„Oft handelt es sich um Kinder, die auch
uns Erwachsene herausfordern“, so
Schallenberg. „Wir müssen vorsichtig
sein, wie wir diese Kinder beschreiben.“
Falsche Worte gäben dem Kind das Gefühl, selbst schuld zu sein. Auch deshalb
ist das Problem des späten Eingreifens so
weitreichend. Denn die Erwachsenen haben dann bereits ein Opfer vor sich. In der
Praxis werde deshalb oft „Ursache und
Wirkung durcheinander geworfen“, so
Schäfer von der LMU. Schulpsychologen
sollten sich nicht wundern, wenn ein verhuschtes Kind vor ihnen stehe. „Wie sollte es anders sein, wenn man so behandelt
wird?“
Maries Kontakte im Hort und ihre innere Stärke schützten sie einige Zeit. Aber
so erkannten die Erwachsenen lange
nicht das volle Ausmaß der Ausgrenzung.
Am Ende der zweiten Klasse, verließ Leonie die Schule. „Dann war Marie ganz allein“, erzählt ihre Mutter. Auf dem Schulhof darf sie nicht mitspielen. Niemand
will neben ihr sitzen. Sie versucht, mitzuhalten. Bettelt bei der Mutter um teure
Schuhe. Als sie sie endlich bekommt, verspotten sie die anderen der Farbe wegen.
„Sie konnte nichts recht machen“, sagt
Maries Mutter, die mit ihrer Tochter litt.
Der Druck auf Marie wurde größer, aber
zu Hause sagte sie wenig. Ihre Unbeschwertheit wich quälenden Morgenstunden, in denen sie vor dem Kleiderschrank
stand und versuchte, sich so zurechtzumachen, dass sie den Tag vielleicht ohne Anfeindungen überstehen könnte. Betroffene Kinder hören auf, zu Hause zu erzählen, sie verändern sich. „Und dann brechen die Noten ein“, so Mobbingberater
Schallenberg. Auch Marie schreibt plötzlich Fünfen, kann sich nicht mehr konzentrieren. Was die Opfer aushalten müssen,
bezeichnet Schallenberg als „schizophren“: „Der Täter teilt mir mit, er wolle
nichts mit mir zu tun haben. Aber er setzt
sich täglich intensiv mit mir auseinander.“ Die Situation ist ausweglos, die Opfer können sich ohne Hilfe nicht aus ihrer
Rolle befreien.
In der dritten Klasse spitzte sich Maries Lage weiter zu. Die neue Klassenlehrerin „kapitulierte“, meint Maries Mutter. Der körperliche Übergriff und die
Worte „Ich hasse dich“ sind schließlich
zu viel. Kurz vor dem Schlafengehen
bricht Marie weinend zusammen – zum
ersten Mal. „Mama, ich halte es nicht
mehr aus. Ich muss die Klasse wechseln.“
Erst jetzt scheint Marie selbst zu begreifen, wie zerstörerisch die anderen auf sie
eingewirkt haben. Kinder warten oft lange, bis sie sich mitteilen. Das liege am sozialen Umgang mit Opfern, meint Schallenberg. „Wo das Schimpfwort Opfer funktioniert, mangelt es an der gesellschaftlichen Anerkennung des Rechts, um Hilfe
zu bitten.“ Als Maries Mutter am nächsten Morgen in die Schule eilt, ist die Klassenleiterin bereits beim Direktor gewesen. „Ich verliere Marie“, habe die Lehre-
rin gesagt. Marie wurde in die Parallelklasse versetzt. Die schlechten Noten und
die Attacke drängten die Schule zur Sofortmaßnahme. Eine späte Intervention.
Der inzwischen inflationäre Gebrauch
des Begriffes Mobbing und die hohe Aufmerksamkeit für das Thema sorgen zwar
für Sensibilität. Andererseits werden berechtigte Klagen eventuell überhört. Zudem ist Mobbing wegen der meist nonverbalen Gewalt schwer nachzuweisen. Die
Übergriffe finden vor oder nach der Schu-
Manuela Strobl
Schulleiterin
le und in den Pausen statt, zunehmend
auch im Internet, wie der öffentlich diskutierte Fall von „I share gossip“ zeigt.
„Das erschwert uns Lehrern den Zugang“, sagt Manuela Strobl, Schulleiterin der Volksschule Vaterstetten. Maries
Mutter ist froh, dass letztlich gehandelt
wurde: „Es ist gut, dass die Lehrerin
nichts vertuscht hat“. Und Marie sei in
der neuen Klasse aufgeblüht. „Jetzt kann
ich endlich anziehen, was ich will“ - so erleichtert sei Marie gewesen. Doch Maries
Mutter weiß auch: Die Maßnahme war
ein bequemer Weg. „Jetzt haben alle dort
ihre Ruhe – auch die Mobbingklasse.“
Dieser Weg wird nicht selten gewählt.
An der Vaterstettener Volksschule hat
ein Opfer in letzter Konsequenz die Schule auf eigenen Wunsch verlassen. Ähnliches wird vom Grafinger Gymnasium berichtet. Doch nicht immer ist mit einer
Versetzung die Situation aufgelöst. „Intervention hat geringe Chancen“, so Mobbingforscherin Mechthild Schäfer. Das erlebt auch Jörg Cordruwisch, der Praktiker aus Vaterstetten: „Die Täter hören oft
auch nach Sanktionen nicht auf.“ Opfer
werden häufig wieder Opfer, Täter finden neue „Unterlegene“. Deshalb kann
die Entfernung von Opfer oder Täter nur
die Notlösung sein.
„Prävention ist das A und O“, sagt Cordruwisch. Er nutzt seine 19,25 Stunden
als Jugendsozialarbeiter an der Volksschule Vaterstetten intensiv. „Anfangs
habe ich jede Klasse über Mobbing aufgeklärt“ – eines der Themen, für die er zuständig ist. Die Zeit reicht nicht, um Prävention in allen Fällen, Intervention und
Nachsorge im Einzelfall zu bewerkstelligen. „Ich komme kaum nach.“ Mit Filmen, Rollenspielen und Gesprächen will
er verständlich machen, was Mobbing anrichtet. „Wir sind auf einem guten Weg,
es herrscht eine große Sensibilität und
deshalb haben wir wenig Fälle“, so Cordruwisch. Die Arbeit an der Schule ist
zentral: „Ich bin jeden Tag da, wo richtig
viel abgeht“ – und er greift sofort ein.
„Dann bin ich auch knallhart.“
Auch an der Baldhamer Realschule
und am Grafinger Gymnasium will man
offen mit der Problematik umgehen:
„Wir haben immer wieder Fälle“, sagt Dorothea Weigert-Fischer, Direktorin der
Baldhamer Realschule. Auch am Grafinger Gymnasium kommt Mobbing vor,
auch wenn es „kein brennend heißes Thema ist“, so Marij Krill, Vorsitzende des Elternbeirats. „Wir wollen nicht behaupten, bei uns gäbe es kein Mobbing.“ Die
Schule habe ein Beratungsnetzwerk.
„Die Lehrer werden von Schulpsychologen unterstützt und bilden sich fort.“
Diese Möglichkeit haben Lehrer etwa
Mobbing hat viele Gesichter –
Diagnose einer systematischen Aggression
So verschieden die Umstände, so vielfältig
die Definitionen von Mobbing, einer besonderen Form der Aggression. Ein Einzelner,
der isoliert und folglich unterlegen ist, wird
systematisch von einer oder mehreren Personen schikaniert. Sie tyrannisieren das Opfer wochen- oder monatelang, mindestens
einmal pro Woche, oft auch mehrmals täglich. Die Täter manövrieren das Opfer in eine Position, in der eine Lösung des Konflikts aus eigener Kraft unmöglich scheint.
Oft wird Mobbing mit der vermeintlichen
Schwäche des Opfers erklärt. Mobbingberater Frank Schallenberg ist anderer Meinung: Oft nutze der Täter zwar einen Angriffspunkt wie das Aussehen, ein „Anderssein“. Doch zunehmende Aggression ge-
gen Hochbegabte oder Couragierte zeige,
dass es nicht um Schwäche oder soziale Inkompetenz gehe. Auch andere Vorurteile
treffen nicht zu: „Mobbing ist kein Problem
allein der Hauptschule“, so Jugendpfleger
Jörg Cordruwisch. „Opfer oder Täter zu
sein, hängt nicht von Alter, Geschlecht
oder Milieu ab“, so Beate Schuster, Professorin für Pädagogische Psychologie. „Beliebte Kinder fragen: Willst du mit ins Kino?“ Unbeliebte Kinder könnten das erst
gar nicht. „Die Position in der Gruppe ist
entscheidend.“ Auch die Täter sind verschieden. Es gebe ich-bezogene Täter und
solche, die den „Kick“ suchten, so Schallenberg. „Andere verarbeiten eigene Erfahrunroso
gen und fordern Aufmerksamkeit.“
an der Akademie für Lehrerfortbildung
in Dillingen. Sie können sich auch an regionale Schulberatungsstellen wenden. Maries Mutter fragt sich aber, wie eine ausgebildete Grundschulpädagogin so hilflos
sein könne wie Maries Lehrerin. Auch
Mechthild Schäfer von der LMU attestiert dem System Mängel: „Wenn es die
Schule versemmelt, ist das administratives Mobbing.“ Auch Sabine Fleischmann, Schulleiterin an der Volksschule
Poing und Vorstandsmitglied des Bayeri-
Frank Schallenberg
Mobbingberater
schen Lehrer- und Lehrerinnenverbands
(BLLV), macht die Bildungspolitik verantwortlich: „Es fehlen Ressourcen. Um
die Opfer zu betreuen, brauchen wir viel
Zeit – und Profis.“ Fleischmann fordert
Geld für Prävention und Intervention,
aber auch für Supervision: „Lehrer müssen sich austauschen und Rat holen können.“ Der Landtag müsse für die entsprechende Gesetzgebung sorgen.
Die Ursachen für Mobbing sieht
Fleischmann vor allem im leistungsorientierten Schulsystem: „Es schafft Klassen
von Menschen. Kinder sagen Dinge wie:
Der kleine Blöde kommt auf die Hauptschule.“ Die Bewertung mit Noten lasse
die Individualität des Menschen außer
Acht. Diese Leistungsorientierung ist
auch für Frank Schallenberg ein Grund
für die Ich-Bezogenheit vieler Kinder.
Sie können so zu Tätern werden, die sich
selbst stark fühlen und oft als selbstbewusst beschrieben werden. „Kinder kennen schon im Grundschulalter die Wirkung ihrer Taten“.
Deshalb sei es falsch, sie „in Watte zu
packen“, die betroffene Klasse wisse ohnehin Bescheid. „Der Täter muss begreifen, dass seine Taten bemerkt werden
und Folgen haben.“ Die Mitglieder der
Gruppe müssen Verantwortung übernehmen, um das Opfer zu stützen. Es braucht
die Solidarität der Klasse und der Erwachsenen. „Lehrer haben eine pädagogische Plicht auch gegenüber den Tätern“,
so Mechthild Schäfer. Die Bedingung
müsse sein, dass die Regeln befolgt werden. „Denn alle, auch die Täter, wollen
Teil der Klasse sein.“
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