Krützfeldt, Wir sind Cyborgs (Bel.).indd

Transcrição

Krützfeldt, Wir sind Cyborgs (Bel.).indd
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Alexander Krützfeldt studierte Journalismus und ist spezialisiert auf Grenzgänger-Reportagen in besonderen Milieus. Er
arbeitet u. a. für Krautreporter. Unter Pseudonym veröffentlichte
er Deep Web – Die dunkle Seite des Internets, seinen Bericht über die
Möglichkeiten und Gefahren des unsichtbaren Tor-Netzwerks. Das
Buch löste eine große Kontroverse aus.
Die Verbindung von Mensch und Maschine ist das Thema unserer
Zeit. Schon jetzt lenken Smartphones unsere Wege, steuern Konzerne, wo und was wir einkaufen. Schon jetzt ahmen Systeme und
Algorithmen unser Denken und Sprechen nach.
Ab wann ist man ein Cyborg, wer entscheidet über die Anwendungen der neuen Technologien, und wer steuert sie? Alexander
Krützfeldt macht einen Streifzug durch die Welt von morgen, reist
durch Deutschland und nach Detroit, spricht mit Cyborgs, Forschern und Entwicklern. Er berichtet von den neuesten Entwicklungen, den größten Hoffnungen und schlimmsten Ängsten. Was
ist technisch möglich? Was ist ethisch vertretbar? Wie weit sind
die Konzerne? Was erreichen die Cyborgs? Und wo steht die Wissenschaft?
In einem Punkt sind sich alle einig: Die Dringlichkeit, das Thema auf gesellschaftlicher Ebene zu diskutieren, war nie größer als
jetzt.
WIE UNS DIE TECHNIK UNTER
DIE HAUT GEHT
MIT ILLUSTRATIONEN
VON ANNELIE KRETZSCHMAR
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Wenn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt würden, würde alles dem
Menschen erscheinen, wie es ist: unendlich.
William Blake, The Marriage of Heaven and Hell
PROLOG
P
ick-up-Trucks schieben sich in langen Reihen wie fette
schwarze Raupen über den Asphalt. Sie schwitzen, die Sonne brennt heiß über »Motor City«.
Der Highway nach Detroit ist immer stark befahren und so voll,
dass ich noch nirgends eine Möglichkeit gefunden habe, ihn von
meinem Hotel aus zu überqueren. Dabei war Tim Cannon nur eine
knappe Meile weiter in einem Hotel auf der anderen Straßenseite
untergebracht.
Ich hatte den Trip sorgfältig geplant und gedacht, einen solchen
Katzensprung könne man problemlos zu Fuß erledigen. Und nun
waren da über 200 Dollar Taxi-Kosten auf meiner Kreditkarte registriert, für zwei Tage.
Donna Haraway, die US ‑amerikanische Naturwissenschaftshistorikerin und Biologin, Postmarxistin und -feministin, schrieb
1985 in ihrem Cyborg-Manifest, das den Grundstein für die Debatte
der kommenden Cyborg-Kultur lieferte: »Im späten 20. Jahrhundert haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabrizierte
Hybride aus Maschine und Organismus verwandelt, kurz, wir sind
Cyborgs.« Nirgends war mir das bisher deutlicher vor Augen geführt worden als hier in Detroit.
Als ich versucht hatte, den Highway auf eigene Faust zu überqueren, hielt mich ein Police Officer an und erklärte mir, wir Europäer könnten das wohl nicht ganz verstehen, aber hier in »Motor City«, einer Stadt, in der jeder Amerikaner mindestens einen
Truck besitzt, seien Fußgänger eher unerwünscht und potenziell
Verdächtige. Ich war mir nicht sicher, ob das ein Scherz gewesen
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sein soll oder nicht. Und ob das – letztendlich – nicht völlig egal
war.
»Das ist die Kehrseite«, entgegnet Tim Cannon, zieht an seiner E‑Zigarette und starrt aus dem Fenster. Auch von seiner Seite:
nichts als eine lange Schlangen von Pick-up-Trucks. »Dass wir, die
Vereinigten Staaten von Amerika – Land of The Free, Home of The
Brave –, völlig vergessen haben, wer wir sind. Wir waren mal eine
freie Nation, Mann. Vorreiter und sowas. Heute musst du in diesem Land selbst als Pazifist ’ne Waffe tragen, weil du nicht weißt,
wer dich erschießt: Gangster oder Polizisten mit zittrigem Abzugsfinger, die es beim Militär nicht geschafft haben, aber irgendwas
für ihr Land tun wollen. Oder Republikaner. Aus Texas. Denen dein
Äußeres nicht passt oder die Art, wie du denkst.«
Und er hat ja recht, um die geistige Verfassung einiger »demokratischer« Kollegen da drüben kann man sich manchmal sorgen:
Als der Präsidentschaftsanwärter der US ‑Republikaner, der Texaner
Ted Cruz, auf dem Lauf eines Maschinengewehrs neulich Bacon gebraten hat – mit den Worten »That’s how we do it in Texas« –, habe
ich mich gefragt: a) Was heißt das für seine Außenpolitik, wenn der
Mann schon für eine Scheibe Speck bereit ist, 20 Mal zu schießen?
Und b) Sind Waffen vielleicht wirklich für manchen bereits natürliche Erweiterungen des eigenen Körpers, eine Art zusätzliche
Gliedmaßen?
Tim Cannon, Cyborg, Hacker, Menschmaschine, schüttelt den
Kopf. Eine lange Narbe zieht sich seinen Arm hinauf, das letzte
Mahnmal eines Experiments. Er würde auch gern stolz auf sein
Land sein, sagt er dann und wendet sich wieder dem Fenster zu.
Aber vermutlich fehle ihm dazu das Patriotismus-Gen.
»Mein Vater hat mir dieses Märchen früher auch immer erzählt«, meint Tim, »dass man in diesem Land der unbegrenzten
Möglichkeiten, wenn man nur will und hart dafür arbeitet, alles
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erreichen kann. Einen Scheiß kannst du erreichen, wenn du nur
hart arbeitest«, erklärt er. »Und jeder hier weiß das auch. Denkst
du etwa, die Afro-Amerikaner hier arbeiten nicht hart genug, oder
was? Oder alle anderen, die es nicht zu Reichtum bringen? Oder
glauben die vielleicht nur nicht genug an sich – ist es das?« Tim
wird laut. Lauter als sonst. Er schnauft, macht eine Pause, sammelt
sich und fährt fort: »Hier in diesem Land wird jeden Tag so getan,
als würdest du über Nacht vom Tellerwäscher zum Millionär werden, wenn du es nur genug willst. Sieh dich doch um, da draußen,
auf den Straßen und in den Häusern. Ich meine: Scheiße. Der American Dream ist am Arsch.«
Als ihm das klar wurde, sagt er, sei er fast durchgedreht. Es folgte:
der Absturz, ein mehrere Jahre andauerndes persönliches schwarzes Loch, währenddessen er zu großen Teilen in Fort Jackson, South
Carolina, und Fort Gordon, Georgia, weilte – als Soldat der US ‑Armee. Der amerikanische Traum, das sternenbesetzte Banner, war
auch Tims Wahrheit und Wirklichkeit gewesen. Er hatte daran geglaubt. Besser gesagt: Er hatte immer versucht, daran zu glauben,
ernsthaft und aufrichtig, weil es ihm eine Sicherheit zu garantie­
ren schien – für sein Leben, seinen Platz in dieser Gesellschaft.
Aber irgendwann klappte das nicht mehr mit dem Glauben, und
religiös war Tim ja nie, vielleicht war deswegen letztendlich der
amerikanische Traum daran schuld, der Kontrast zwischen dem
Was ist und Was sein könnte im Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten, dass aus Tim aus Pittsburgh das wurde, was er
heute ist: ein Cyborg.
Tim befüllt beiläufig seine E‑Zigarette. »Ich hasse die NSA , diesen ganzen Überwachungsapparat und wie wir uns auf der Welt
benehmen«, sagt er. »Das ist alles eine verdammte Tragödie.«
Tim ist Mitte 30, er lebt mit seiner Freundin in Pittsburgh und
postet gerne Bilder von seinem Hund auf Google+. Sein Haus am
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Stadtrand sieht etwas windschief aus, aber es ist ein schönes Haus,
das sicher eine gute Vorlage für einen Stephen-King-Film wäre, bei
dem eine gesichtslose Gestalt nachts an der Terrassentür kratzt.
Und es ist weit besser als dieser Ort hier, das Konferenz-Hotel in
Downtown Southfield, dessen Betten zwar groß, aber nicht sehr gemütlich sind.
Tim Cannon gehört zu der sehr kleinen Gruppe von Menschen,
die sich selbst Cyborgs nennen, Menschmaschinen. Sie träumen
davon, die biologische Hülle, die Last der Körperlichkeit zu überwinden. Sie träumen von neuen Menschen, die mit Technik gekoppelt sind und aufregende Fähigkeiten besitzen. Sie träumen
von sich, von der Zukunft und auch von uns allen. Und trotzdem
möchte sich keiner hier als Vorreiter sehen, und es wird Tim verärgern, wenn ich das sage – aber er wirkt schon wie ein Prophet. Es
ist diese Art, wie er spricht, der Umstand, dass seine Gruppe ihm
bedingungslos folgt bis in dieses Vorstadtnest: Southfield, eine vertrocknete Made im Skelett der Detroiter Peripherie, der Stadt, der
es einst so gut ging und heute nicht mehr.
»Chad, wie lange haben wir eigentlich das Zimmer noch?«, fragt
Tim Richtung Bett, dreht sich aber nicht um, sondern bleibt in seinem Sessel am Fenster sitzen und schaut weiter auf den Highway
hinaus. »Haben die was gesagt?«
Chad Elish, zerknittert vom gestrigen Abend, dem Karaokesingen bis in die Nacht während der Penguicon, einer Veranstaltung für
Rollenspieler, Computerspezialisten, Cyborgs und Männer älteren
Datums, die sich in zu enge Star-Trek-Uniformen pressen. Chad
streckt kurz den Kopf aus der Bettdecke wie ein frisch geschlüpftes, aber sehr zerrupftes Küken. Ein Küken mit Bart und Glatze und
ganz winzigen Augen. Dann reibt er sich übers Gesicht und blickt
verwundert auf die Uhr und meint: »Bis vier, glaube ich. Nachmittags. IsdochnochZeit.«
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»Dann ist ja gut«, sagt Tim leise, fast andächtig und nickt zu sich
selbst. »Dann ist gut. Ich dachte schon, wir müssen gleich raus und
es wird hektisch. Man sollte ein Hotelzimmer immer so lange haben wie möglich, nicht wahr?« Er zieht an der Zigarette und betrachtet Chad und Mack auf dem Bett. »Es geht doch schließlich
ums Prinzip. Und der Rest braucht noch Schlaf.«
Gestern um diese Zeit saßen wir: Tim, ich, Amal, Mack, Drew,
Anita und die Medizinerin Cynthia Chestek, eine sehr kompetente und sympathische Frau, in dem kleinen Konferenzzimmer unten in der Lobby: Die Cyborgs aufgereiht an einem langen weißen
Tisch. In den vollen Zuschauerreihen davor saßen Mack, ich und
ein interessiertes Publikum, das sich über die Zukunft der Menschheit und das Hacken des eigenen Körpers informieren wollte. Zugegeben: Cynthia Chestek, die Medizinerin, saß ein bisschen zwischen den Stühlen. Im wörtlichen und übertragenen Sinn.
Chestek forscht seit Jahrzehnten an Implantaten und erklärte
den vier Cyborgs, dass sie es – aus medizinischer Sicht – für nicht
vertretbar halte, wenn man sich für Geld oder auch nur als Gefallen gegenseitig operiere. Amal hatte recht spontan den Vorschlag
gemacht, im Anschluss an die Fach-Podiumsdiskussion über Bodyhacking gegen eine Gebühr von nur 50 Dollar Interessierten noch
vor Ort einen kleinen Chip in die Hand zu setzen. In Reihe eins saßen Mack, Chad, die Medizin-Journalistin Katelyn Mae Petrin und
ich. Wir verfolgten das etwas nervöse Treiben. Und nervös waren
wir auch. »Mann, die ist ganz schön böse auf uns«, flüsterte Mack,
und an seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass er ihr vermutlich
gleich um den Hals fallen und um Entschuldigung bitten wollte.
Amal hatte viele kleine Taschen mit Pflastern, Desinfektionsmitteln, sterilen Handschuhen und die kleinen RFID ‑Chips dabei,
die man sich einsetzen lassen konnte. Dazu wurde die Haut einen
Spalt breit aufgeschnitten und der Chip steril mit einer Art Sprit-
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ze hineingeschoben. Man kann auf diesen Chips eine kleine Menge Daten speichern, ungefähr so viel wie früher auf einer Diskette. Aber wenn man ehrlich ist, hat er keinen großen Nutzen. Er ist
so gesehen das Piercing für Cyborgs: Schmuck und Zugehörigkeit.
»Was nicht heißt«, sagt Amal dann immer, »dass wir damit nicht
eines Tages unsere Häuser oder Autos öffnen werden«. Und damit
hat er auch recht. Aber noch ist es nicht so weit. Und deshalb hatte ich Amals Vorschlag, den Chip nach der Podiumsdiskussion bei
mir einzusetzen, dankend abgelehnt. Interessenten gab es genug,
es bildete sich sogar eine kleine Schlange.
Cynthia Chestek hingegen, von dem Andrang noch besorgter
geworden, hatte angemerkt, dass keiner der vier Cyborgs – auch
Amal nicht – eine medizinische Ausbildung besäße. Tim hatte
Cynthias Einwand mit den Worten abgebügelt, jeder dürfe doch
wohl selbst über seinen Körper entscheiden. Die Medizinerin konterte: Einen Eingriff, der einer Köperverletzung gleichkommt, könne man doch nicht auf einer solchen Veranstaltung kommerzialisieren und für 50 Dollar anbieten.
Ich konnte sie verstehen, irgendwie. Aber mir fehlte auch die
Konzentration: Im Nebenraum hielt der Computerspezialist Nick
Farr gerade einen sehr bemerkenswerten Vortrag darüber, wie die
NSA Kinder, die ein Verfahren wegen Hackens am Hals hatten, erpresste, die Anklage fallenließ und sie anschließend ausbildete. Im
Raum daneben wiederum lief laut und deutlich – und sicher hatte auch Nick Farr das hören müssen – eine zweistündige Live-Demonstration diverser Sex-Spielzeuge. Fazit: Ich hätte unter diesen
Umständen keinen Vortrag halten können. Aber Nick Farr ist eben
ein Profi.
»Soll ich sie zum Aufstehen bewegen?«, fragt Tim, blickt zärtlich über die Betten und fügt dann ironisch und mit der Pose eines
Gutsherren hinzu: »Wir sind ja nicht zum Spaß hier!« Dann wirft
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er ein Papierkügelchen nach Mack, der im anderen Bett neben
Chad schläft. Mack bemerkt es nicht, er schläft ziemlich fest, und
wenn man ihn wecken will, braucht es schon mehr als eine einfache Papierkugel. Der Vollständigkeit halber muss man nämlich sagen, dass Mack Sawyer bis vor zwei Stunden noch auf dem Boden
geschlafen hatte, weil es nämlich Tims Bett war. Mack hatte an der
Hotelrezeption kein eigenes mehr bekommen und schläft deshalb
schon das ganze Wochenende auf seiner Jacke. Auf dem Fußboden.
Hartes Leben, irgendwie.
»Lass sie noch etwas schlafen«, sage ich. »Ihr habt später noch
eine ordentliche Strecke vor euch; mit dem Auto zurück nach Pittsburgh. Ihr braucht ausgeschlafene Fahrer.«
Tim nickt, legt den Auffülltank der E‑Zigarette auf den Tisch neben sich, auf dem sich leere Bierflaschen, Macks letztes Glas Single
Malt, Amals halbleere Flasche Sambuca und die zwei gigantischen
Pizzapappen von Anita und Drew aneinanderreihen. Bis vier haben wir an der Hotelbar gesessen, nur für Tim war das alles natürlich nichts: Er trinkt nicht mehr. Er ist jetzt trocken.
Das Tattoo auf seiner Wade erinnert noch an die Zeit davor; es
zeigt einen sich zwischen die Beine kotzenden Punk.
»Stört es dich, wenn Mediziner dich nicht erst nehmen oder für
verrückt halten?«
Tim überlegt.
»Ich glaube«, antwortet er dann und blickt wieder zum Fenster,
sodass ich mich frage, ob das a) seine Lieblingspose ist oder b) seine Weitsicht demonstrieren soll, »die etablierte Forschung kommt
mit uns nicht klar, weil wir relativ radikal auftreten.« Tim ist für
solche Sätze bekannt. In seinem Windschatten segeln die anderen ein bisschen mit. Er gibt den Prellbock und sagt Sachen wie:
»Das Tier in uns will fressen, saufen, ficken – und diese niederen
Angewohnheiten vernebeln den Geist, die klare Sicht auf die Din-
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ge.« Und in einem Beitrag im Neon-Magazin von Alard von Kittlitz,
der die Jungs vor etwas mehr als einem Jahr begleitet hat, sagte er:
»Die Menschheit, guck sie dir doch an. Offensichtlich läuft das alles nicht in die beste Richtung.« Tims Freund, Shawn Parker, Teil
der Grindhouse-Cyborg-Gang aus Pittsburgh, fragte mit Blick auf
die Menschen, die sich den neuen Cyborg-Technologien verwehren, zynisch: »Was machen wir dann mit den haarlosen Affen, die
keine Implantate haben wollen?« Die Reaktionen darauf waren
heftig und haben der Cyborg-Bewegung nicht nur genützt. Seither
sind Tim und der Rest etwas vorsichtiger geworden mit den krassen Thesen.
»Aber, ich glaube«, sagt Tim, der in dem Beitrag noch richtige Zigaretten rauchte und heute die elektronische Variante bevorzugt,
weil sie gesünder sei, »die normalen Leute haben Probleme damit,
dass wir der Natur den Mittelfinger zeigen und sagen: Fuck! Wir
geben euch die Werkzeuge dazu, sie zu überwinden. Mehr zu sein
als Körper und Geist. Und, ich denke«, sagt Tim und klopft seine
E‑Zigarette aus, »wir können Antworten liefern. Nur werden diese
vielen Menschen da draußen nicht gefallen.«
»Wem?«, frage ich.
»Den Konzernen, den dicken Säcken mit Geld, den Leuten, die
unser Land regieren. Den Menschen, die Geld damit verdienen,
dass der Zustand der Welt bleibt, wie er ist. Solche Leute. Du weißt
schon.«
»Und wir sind doch schon Cyborgs«, entgegnet Anita, die gerade den Raum betreten hat, um die Pizzapappen zu entsorgen. »Ich
habe ein Gerät in mir, das nennt sich Birth Control. Und sorgt dafür,
dass ich nicht schwanger werde.«
»Das Bewusstsein, die Welt mit anderen Augen zu sehen«, sagt
Tim, »ändert sich, wenn du einen Chip in der Hand hast.«
»Ich möchte keinen«, entgegne ich. »Ich habe Angst.«
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»Das musst du nicht.«
»Ich möchte aber keinen.«
»Ich will auch niemanden zwingen, ich meine ja nur: Du wirst
etwas merken, das du bisher verpasst hast«, sagt Tim. »Wir werden
geboren im Bewusstsein, zu sterben. Das ist keine besonders schöne Aussicht für das Leben.«
»Davor ist aber reichlich Zeit«, antworte ich.
Tim blickt wieder durch das Fenster auf den Highway. »Vielleicht siehst du das auch nur jetzt so, wo der Tod noch nicht vor dir
steht. Vielleicht würdest du sonst deine Meinung ändern.«
Vor anderthalb Jahren hatte sich Tim ein Implantat verpasst, das
ihn schlagartig bekannt machte: eine iPhone-große Platine, direkt
unter der Haut seines Unterarms. Ganze 90 Tage trug er sie.
»Warum«, frage ich Tim.
»Es misst deine Körpertemperatur.«
»Aber dafür gibt es doch diese Dinger, die man sich unter die
Achsel steckt, Thermometer. Da muss man sich nicht gleich den
ganzen Arm für aufschneiden.«
»Aber wir machen hier richtige Experimente, für die Forschung –
wir quatschen nicht nur rum wie einige andere«, entgegnet Tim
und lächelt dabei, weil er schon tausendmal gesehen hat, wie sehr
das Menschen Angst macht.
Einem Forscher hatte ich ein Bild der »geglückten« Operation
gezeigt, das Tim auf Facebook gestellt hatte. »Oh Gott«, sagte der
nur. »Was um Himmelswillen ist das?«
»Das«, erklärte ich, »ist Circadia.«
Rauch steigt seitlich an Tims Gesicht auf. »Ich will nicht nur fürs
Quatschen bekannt sein.«
»Manchmal verwundert es mich schon noch«, sagt Tim dann
langsam, »dass Cyborgs den Menschen so viel Angst machen. Sie
sollten sich mehr mit uns beschäftigen, finde ich. Dann würden
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sie sehen, dass es uns eigentlich nur um unsere Mitmenschen geht.
Um die Freiheit. Um die Zukunft. Um alles.«
»Bist du gerne ein Cyborg?«, frage ich ihn, und die Frage scheint
ihn zu verwundern.
»Keine Ahnung«, sagt er und wendet sich mir zu. »Gute Frage.
Das würde zunächst voraussetzen, dass ich ein guter Mensch bin,
nicht wahr? Ein guter Protagonist, um auch ein guter Cyborg zu
sein?«
Dann betrachtet er lange die Besucher vor der Einfahrt, die darauf warten, dass der letzte Tag der Penguicon beginnt: drei Mädchen, die als Disney-Prinzessinnen verkleidet sind – Cinderella,
Schneewittchen und Dornröschen – rauchen und werden dabei
von den Jungs und Männern begafft, die wahlweise Star-Trek-Uniform oder Kilt tragen.
»Tja. Und manchmal denke ich«, sagt Tim dann und dreht sich
zu mir, »ich wäre auch beliebter mit solchen Katzenohren.«
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TEIL 1
ERSTER KONTAKT
EINIGE MONATE ZUVOR
M
anchmal, wenn ich mich in Gedanken verliere, stelle ich
mir vor, wie es wäre, die Augen zu öffnen und in einer
fremden Welt aufzuwachen. Nicht auf unserer Erde, sondern
einem fernen Planeten, der irgendwo da draußen kalt und dunkel
um seinen Stern kreist. Und alles, was ich bis dahin glaubte, über
den Menschen zu wissen, würde plötzlich nicht mehr gelten.
Die Frau neben mir reißt ihre Arme hoch, ihr Blick ist glasig. Ein
kalter Wind zieht durch den Bahnhof. Aus dem U‑Bahn-Schacht
leuchten die Scheinwerfer des Zuges. Gelbe Augen, umrahmt von
Dunkelheit. Ein riesiger mechanischer Wurm auf der Suche nach
Beute.
»Vorsicht!«, schreit die Frau, zieht mich zur Seite, als wolle sie
mich schützen, hastet dann aber an mir vorbei zur Bahnsteigkante.
Der Wurm schießt ratternd und mit quietschenden Bremsen aus
dem Tunnel. Und erst jetzt begreife ich die Situation.
Im Film wäre dies ein guter Zeitpunkt für den Auftritt des
Superhelden: Iron Man springt mit rotleuchtenden Augen von der
Decke, rammt eine Faust in den Boden und stellt sich entschlossen dem gefräßigen Riesenwurm entgegen, während seine Laserkanone am Unterarm ausklappt und beginnt, sich zu drehen. Und
dann – WOOOSCH ! – mit 10 000 Schuss pro Sekunde: Zurück in die
Hölle, mein Freund!
Aber ist ja kein Film.
Ein junger Typ springt aus dem Gleisbett, kurz bevor die Bahn
ihn erwischen kann. Er wirkt zerstreut. Nervös verstaut er etwas in
seiner Hosentasche.
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Ich sehe noch, wie er die Treppen der U‑Bahn-Station hinaufeilt,
immer zwei Treppen auf einmal, hinaus ins Freie. Nur die Gesichter der Wartenden verraten, wie knapp hier alle dem Horror entgangen sind. »Wahnsinn«, stammelt der Mann neben mir und fasst
sich an die Stirn. »Wahnsinn. Und das wegen eines Telefons!?«
Cyborgs sind den meisten vermutlich vor allem durch Comics,
Science-Fiction und Filme bekannt geworden: Menschen, durch
Technik ergänzt, mit übernatürlichen Fähigkeiten. Sie bleiben dabei aber immer ein Mensch. Wird der Anteil der Maschine zu groß,
spricht man eher von Robotern. Roboter haben nichts Menschliches, auch wenn sie vielleicht ab und an so aussehen oder sich so
verhalten wie Menschen. Luke Skywalker war ein Mensch. Dann
schnitt Darth Vader, ebenfalls ein Cyborg, ihm die Hand ab und ein
findiger Techniker ersetzte sie durch einen mechanischen Arm,
außen verkleidet wie eine menschliche Hand. Ab dem Zeitpunkt
war auch Luke ein Cyborg. Ein Mensch mit Maschinenhand. Der
Krieg der Sterne lief 1977 in den USA an, aber von derart filigraner
Technik sind wir auch heute noch weit entfernt. Obwohl: Schon
vor einigen Jahren ließ der britische Kybernetiker, Professor Kevin
Warwick von der Universität Reading, einen Roboterarm mit seinem Nervensystem verbinden. Er beschäftigt sich unter anderem
mit dem Problem, wie man es schaffen kann, Nerven an Computersysteme anzuschließen.
Eingefahrener Zug ist: U8 Richtung Hermannstraße. Bitte einsteigen.
Der Waggon ist voll, die Halteschlaufen baumeln von der Decke
wie Lianen. Nur noch fünf Stationen bis zur ersten Begegnung mit
einem Cyborg. Ob ich aufgeregt sein sollte? Beunruhigt? Gar ängstlich?
Cyborgs sind etwas aus meiner Kindheit, dachte ich bis vor Kurzem. Jeder Junge in meiner Straße besaß damals diese Action-Figuren. Wer die coolsten besaß, hatte auch die coolsten Freunde. Dass
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ich jetzt lebende Cyborgs treffen würde, dass ich das noch miterleben darf, würde mein Großvater sagen, und das heute, 2015. Davon
hätte ich als Kind nicht mal geträumt.
Unauffällig beobachte ich die Passagiere, die, das Kinn auf der
Brust, auf ihre Smartphones starren. Was sie wohl lesen? Ich ziehe mein Notizbuch hervor: Hinter der letzten Seite bewahre ich
den Zettel mit den Namen auf: Stefan Greiner, Enno Park, Lepht
Anonym, Neil Harbisson, Amal Graafstra, Tim Cannon. Sie alle sollen »echte« Cyborgs sein – und ich würde sie besuchen. Wenn sie
denn überhaupt Zeit für mich hätten. Und Stefan Greiner würde
der erste sein. Er könne elektromagnetische Wellen spüren, sagt er,
da er sich einen Magneten in den Finger gesetzt habe. Er war gewissermaßen Level 1. In meinem Kopf ertönt ein Glockenschlag wie
beim Beginn einer neuen Runde von Street Fighter.
Cyborgs und alles, was damit zu tun hat, sind von Mythen umrankt. Das lag zum einen an der Kunst und Literatur über sie, zum
anderen an solch hermetisch-düsteren Aufsätzen wie Donna Haraways A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism
in the Late Twentieth Century: »Der moderne Krieg ist eine CyborgOrgie, programmiert in der Sprache von C3I, Command-ControlCommunication-Intelligence, ein Posten, der sich 1984 im US ‑Verteidigungshaushalt auf 84 Milliarden Dollar belief. Ich plädiere dafür,
die Cyborgs als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität
ablesen lässt.«
Selbst in den wissenschaftlichsten Arbeiten zu den Cyborgs
steckte immer auch ein wenig von den verführerischen Nebelschwaden aus Verschwörungstheorie, Welterklärungsversuch und
Erlösungssehnsucht, also dem Stoff, aus dem die besten Actionfilme entstehen.
Mein erster Kontakt mit der Cyborg-Welt entstand ganz einfach,
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durch einen Artikel über Tim Cannon. Vor einiger Zeit hatte mein
Verleger mir eine Schwarzweißkopie eines Neon-Artikels in die
Hand gedrückt und gesagt: Das sollte sich mal jemand angucken.
Der jemand war ich – und »mal« bedeutete natürlich: sofort.
Ich las von drei Jungs aus Pittsburgh, einer von ihnen Tim. Im
Artikel sitzen sie in ihrer Bastelgarage und behaupten von sich, an
nichts Geringerem zu arbeiten als der Zukunft der Menschheit. Ein
pessimistischer Eisbär auf einer schmelzenden Scholle würde jetzt
wohl die Tatze heben und vorsichtig einwenden: Wenn es noch
eine Zukunft gibt.
Jedenfalls: Tim, Ex-Soldat und Ex-Alkoholiker, der von sich
selbst behauptet, »ein Freak« zu sein, hatte dort unvermittelt die
Idee, sich selbst Implantate einzusetzen. Weil kein Arzt das macht,
beauftragte er einen Piercer seines Vertrauens. Nach und nach entstand in seinem Keller ein Labor; heute bekannt als Grindhouse
Wetware. Das »Wet« in Wetware, ein Begriff der unverkennbar von
Hardware und Software inspiriert ist, ist das englische Wort für
nass – und damit ist der Körper gemeint. Denn anders als bei Hacks
an Hardware tritt hier Flüssigkeit aus. Blut und Eiter.
Tim und seine Kumpels bauten an Circadia, einem Gerät, das unter der Haut sitzt und die Körpertemperatur misst und per Bluetooth an Tims Smartphone schickt. Klar, erstmal nichts weiter als
ein integriertes Thermometer. Es soll aber eines Tages alles messen,
was mit dem Körper zu tun hat, und so z. B. Diabetes in den Griff
kriegen oder den Routine-Check beim Arzt überflüssig machen.
Das wäre natürlich praktisch. Die Frage war: Wie lange würde die
Entwicklung dauern? Ist Circadia der Anfang von etwas Neuem,
etwas, das die Menschheit in ein neues Zeitalter führt wie die Erfindung des Rads, die Bronzeverarbeitung, der Buchdruck oder das
Internet und die Computer? Oder ist das Ganze eher begrenzt: Eine
Spielerei und mehr nicht?
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Die furchteinflößenden Narben auf der Haut seines Unterarms
jedenfalls lassen keinen Zweifel daran – Frankenstein lässt grüßen –, dass die Implantation von Circadia mit gewissen Schmerzen
verbunden gewesen sein musste. Kein schöner Anblick. Circadia ist
aber nicht das einzige Projekt von Grindhouse: Es gibt noch einen
Gedanken-Helm für den Kopf, der mit Energie bestimmte Hirnregionen stimulieren soll. Ein großes, rechteckiges Ding.
Tim Cannon soll auf einer Veranstaltung in Berlin mal gesagt haben, dass wir die Biologie hinter uns lassen müssten, der menschliche Körper sei »fundamental fehlerhaft«. Der Zeit-Redakteur
Patrick Beuth notierte bei dem Treffen 2013 mit Tim folgende Aussagen: »Ich weiß, dass die Mehrheit der Menschen noch nicht bereit dafür ist. Das wird erst der Fall sein, wenn irgendein Anzugträger die Implantate verkauft und wenn die Implantation nicht
mehr mit Schmerzen verbunden sein wird. Fürs Erste wird es etwas
für die BodyMod-Szene und die Freaks bleiben, und ich finde das
auch gut so. Die sind offener und mutiger als andere.«
Hört man ihn und seine Jungs reden, klingt neben dem Interesse
an der Wissenschaft auch eine ordentliche Dosis Technik-Religiosität durch. Einschließlich lose eingestreuter Erlösungsmetaphern.
Ihr Ziel ist es, den menschlichen IQ um 60 Punkte zu heben: »Das
ist der Unterschied zwischen einem Menschen und einem Schimpansen.« Mir war nicht ganz klar, was ich davon halten sollte, aber
ich freute mich auf das Treffen. Es würde auf jeden Fall sehr unterhaltsam werden.
Zwischendurch sei bemerkt, damit hier keine falschen Erwartungen entstehen: Ich werde mir weder zur Steigerung der Verkaufszahlen dieses Buches noch im Interesse der öffentlichen Aufklärung ein iPhone-großes Gerät in den Unterarm setzen lassen.
Ich weiß, der Verlag hätte das gerne, aber nein! Da bin ich konservativ.
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Der U‑Bahn-Zug holpert, als wären Löcher in den Gleisen. Eine
Stimme aus Blech sagt freundlich, aber bestimmt: »Nächster Halt:
Weinmeisterstraße.«
Ich bin froh, dass Stefan Greiner der erste Cyborg sein wird, den
ich treffe. Er machte am Telefon einen ungefährlichen, aufgeschlossenen und sehr eloquenten Eindruck. Er schien keine grimmige Action-Figur zu sein, sondern der nette Typ von nebenan, mit der kleinen Besonderheit, dass dieser Nachbarsjunge mit seinem Magneten
im Finger Büroklammern aufliest und den Metallmüll in der Nachbarschaft trennt. So oder so ähnlich stellte ich mir das vor.
Die US ‑amerikanische Literatur-Professorin N. Katherine Hayles
diagnostizierte in ihrem Artikel The Life Cycle of Cyborgs: Writing
the Posthuman: »In technischer Hinsicht sind etwa zehn Prozent der
aktuellen Bevölkerung Cyborgs.« Hayles bezieht sich darin aber
vor allem auf Herzschrittmacher. Smartphone- und Google GlassBenutzer sind bei den 10 Prozent nicht eingerechnet: Denn ein Telefon kann man aus der Hand legen, Google Glass absetzen. Deshalb wird diese Technik nicht als klassische Cyborg-Technologie
betrachtet. Auch wenn es durchaus fraglich ist, ob wir wirklich,
wenn wir uns erst einmal daran gewöhnt haben, auf diese Geräte
verzichten können.
Hayles Artikel ist aus dem Jahr 1995: In der Bundesrepublik stand
mit Sie ist weg von den Fantastischen Vier erstmals ein Rap-Song an
der Spitze der deutschen Charts, auf einer Friedensdemonstration
in Tel Aviv wurde Jitzchak Rabin erschossen und in Frankfurt wird
etwas angeschlossen, von dem wir erst seit Snowden wissen, was
es wirklich ist – der Internetknoten DE ‑CIX . Er gehört wohl zu den
größten weltweit, sein Datenverkehr ist die Mithörstelle für NSA
und BND.
1995 lebten in den USA 260 Millionen US ‑Amerikaner. Ich krame mein Notizbuch nochmal hervor, während ich wirklich stau-
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ne, wie überaus hässlich das Muster der U‑Bahnsitze ist. Wie dem
auch sei: Wenn man Hayles zehn Prozent als Grundlage nimmt,
sind es 26 Millionen Cyborgs in den Vereinigten Staaten im Jahr
1995. So viele Menschen, wie heute in Deutschland Facebook nutzen, nach Angaben von Facebook selbst. Ich notiere in mein Buch:
»Vermutlich, Mrs. Hayles, hat sich die Welt seit 1995 etwas verändert. Die Zahl der Cyborgs ist sicher gestiegen. Und wo sortieren wir Smartphones und Internet ein? Schließlich sind sie oft das
Erste, was wir nach dem Aufwachen in die Hand nehmen und das
Letzte, was wir vor dem Schlafengehen aus der Hand legen. Sie
erfüllen eine wichtige Funktion in der sozialen Interaktion und
manche lassen sogar ihren Schlaf vom Smartphone überwachen.
Ich denke, es ist Zeit für eine neue Bilanz. Herzlich, Ihr A. K.«
Nächster Halt: Alexanderplatz.
Ich blicke auf die Stationskarte mit den bunten Linien, die
schräg an der Decke hängt: Ich sollte gleich da sein, bei Stefan.
Schnell schreibe ich ihm eine SMS . Einmal hatte Stefan als Gag den
Magneten mit einer Spule oder so verbunden, ich weiß nicht genau, wie das technisch funktioniert, und dann den Finger ans Ohr
gelegt und mit seiner Hand telefoniert – über das Smartphone. Das
fand ich sehr, sehr praktisch und überaus beeindruckend.
Mit jeder Station wird die Luft stickiger, der Waggon voller.
Der Mann neben mir riecht nach einer langen Nacht. Ich beiße
auf den Stift, zähle in Gedanken jeden Zehnten hier, betrachte die
Menschen, die auf ihre Telefone starren, hinausblicken durch die
schmutzigen Scheiben, Musik hören oder Spiele spielen.
Heute nutzt in Deutschland laut Branchendienst Bitkom über die
Hälfte der Bundesbürger ein Smartphone. Fast zwei Drittel der
Nutzer geben an, auf keinen Fall auf ihr Smartphone verzichten zu
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können. Den Kamikaze-Mann aus dem Gleisbett muss man, denke ich, auf jeden Fall dazuzählen. Die Hälfte der Befragten erklärt,
auch auf den Tablet-Computer oder den Laptop nicht verzichten
zu können. Vor allem die unter 29-Jährigen (74 Prozent), danach
nimmt es nach Alter gestaffelt ab. Senioren können besser ohne
die technischen Geräte als die Jüngeren. Und so wird die Bevölkerung, die digital vernetzt ist, immer weiter wachsen – bis wir alle
»Digital-Bürger« sind.
Auch unsere Personalausweise sind vernetzt, das Beispiel Estland zeigt für die Europäische Union, wohin der Weg führen kann:
Dort trägt jeder Personalausweis einen Chip wie eine Kreditkarte.
Damit können rechtskräftig Verträge mit digitaler Signatur unterschrieben werden und er dient als Fahrausweis im Nahverkehr.
Dies bedeutet natürlich auch, dass sich der Träger jederzeit und
überall identifiziert und somit jede seiner Tätigkeiten überwacht
werden kann.
Faktisch können wir jedes Gerät aus der Hand legen. Wir brauchen sie zwar, aber wir wären ohne sie lebensfähig. Genau das ist
der entscheidende Punkt in der Definition von Cyborgs: Eigentlich
ist ein Cyborg zunächst jemand, der Technik implantiert hat – sie
also nicht ablegen kann.
Aber auch die emotionale oder psychologische Verbindung
kann eine Rolle spielen: Was nämlich, wenn ich es technisch ablegen könnte, dies aber nicht tue, weil ich süchtig bin – oder emotional zu gebunden an den Nutzen? Eine Brille zum Beispiel können wir ablegen. Jemand, der mit ihr nur liest, wird das vermutlich
auch tun. Ich selbst, der ich auf sie angewiesen bin, tue das nur in
Ausnahmefällen. Ich frage mich tatsächlich manchmal, wo meine
Brille ist, wenn ich sie gerade auf der Nase trage.
Mein Handy vibriert. Eine neue Nachricht.
Stefan: Wo bist du?
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Ich: Gleich da. Treffpunkt bleibt?
Stefan: c-base. Hat Enno mit dir gesprochen?
Ich: Ja.
Enno Park und Stefan hatten zusammen den Cyborg-Verein gegründet. Einen Zusammenschluss von Leuten, die entweder Cyborgs sind oder werden wollen. Als ich Enno fragte, ob er mit mir
ein Buch machen würde, war er sehr angetan von der Idee und legte mir nahe, den sogenannten »Cyborg-Stammtisch« zu besuchen,
der alle zwei Wochen im Berliner Hackerspace c-base stattfindet.
Zu dem Verein würde er mir später mehr erzählen. Er schickte mir
einen Post von seinem Blog und einige Interviews. Darin ging es
um die Frage von Handicaps.
Als Sprinter und Springer mit Prothesen begannen, Rekorde aufzustellen und Titel zu gewinnen, diskutierte die Sportwelt
aufgeregt: Ist das fair oder nicht? Haben diese Sportler einen Vorteil? Immerhin: Eine Prothese ermüdet nicht, anders als ein Muskel, und die hochentwickelten Carbonprothesen, die es heute gibt
und die direkt am Unterschenkel sitzen, generieren – ob beim Absprung oder Sprint – eine höhere Energie als ein Unterschenkel
aus Knochen, Muskel, Fleisch und Blut. Dadurch sind die Sportler
begünstigt, sagen Kritiker. Zuerst aber wird ihnen die Lebensqualität zurückgegeben, die Teilhabe an gesellschaftlich relevanten
Tätigkeiten wie Sportwettkämpfen, die Menschen ohne Prothese
nie entbehrt haben. Jeder Vergleich, jedes Urteil hinkt hier letztlich.
Denn wenn Technik Handicaps ausgleichen kann und uns bisweilen lebensfähig hält – kann sie dann nicht auch Gesunde leistungsfähiger machen? Doch, schon. Ist das gut oder schlecht? Besteht ein Unterschied zwischen einem gesunden Menschen und
einem mit Behinderung hinsichtlich dessen, was er mit Technik
tun darf?
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Technik ist selten ganz freiwillig: Den Bordcomputer im Auto
können wir zwar irgendwie ausschalten, aber über das Piepen,
wenn wir uns nicht anschnallen, haben wir keine Kontrolle und
müssen es genervt hinnehmen. Unsere Smartphones legen wir
zwar gelegentlich weg, aber wie oft können wir uns das erlauben,
wenn wir Heizung und Licht damit steuern, alle Bankgeschäfte,
Flüge und Reisen damit organisieren und unsere Kinder nur per
Videochat noch regelmäßig Kontakt zu uns haben, weil sie beispielsweise in New York studieren? Wie lange kann man etwas als
Werkzeug und Hilfsmittel bezeichnen und ab wann ist es ein unabdinglicher Teil unseres Lebens? Bis zu welchem Grad kontrollieren wir also das Werkzeug – und ab wann kontrolliert es uns?
Mit Hayles Herzschrittmachern, die sie in ihrem Beitrag erwähnte, verhält es sich anders als mit Smartphones, Prothesen und Bordcomputern – erstere sind nämlich absolut lebensnotwendig.
Rund 200 000 Menschen in Deutschland tragen ein solches Gerät. Zwischen 2012 und 2013 lagen Eingriffe mit Schrittmachern
und Defibrillatoren laut aktuellem Herzbericht der Deutschen
Herzstiftung recht konstant bei rund 25 000 im Jahr. In Europa ist
Deutschland somit »Herzschrittmacher-Land« Nummer eins. In
diesem Bereich gibt es bereits eine große Zahl von Menschen, die
direkt abhängig sind von technischen Geräten, die sie selbst nicht
steuern und kontrollieren können – Cyborgs.
So gesehen war übrigens der frühere US ‑Vizepräsident Dick Cheney auch einer. In einem Interview mit dem US ‑Sender CBS hatte Cheney berichtet, er habe die Fernsteuerung seines Herzschrittmachers durch seinen Kardiologen deaktivieren lassen, aus Angst,
Terroristen könnten diesen von außen hacken und abschalten. Der
Pressesprecher des Bundesverbandes Niedergelassener Kardiologen (BNK) Dr. Heribert Brück, betont zwar, solche Risiken gäbe es
bei modernen Schrittmachern nicht mehr, aber: »Die einzig rele-
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vante Möglichkeit, den Schrittmacher zu beeinflussen, sind elektromagnetische Wellen, die dazu führen, dass der Schrittmacher
in seinen »Störmodus« umschaltet, somit keine Wahrnehmungen mehr macht und dann Sicherheitsstimulationen abgibt; wenn
diese Stimulation in die verletzliche Phase des Herzschlages fällt,
können dadurch möglicherweise gefährliche Herzrhythmusstörungen ausgelöst werden.«
Cheney sagte im Interview, auf eine Szene in der US ‑Serie Homeland angesprochen, weiter: »Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass
dies eine korrekte Darstellung des Möglichen ist.« Also dann.
Aber es gibt nicht nur den Schrittmacher für das Herz – sondern
auch für das Gehirn; sogenannte »Gehirn-Schrittmacher«. Damit
soll es möglich sein, Parkinson per Knopfdruck auszuschalten.
­Außerdem seien diese ins Hirn implantierten Chips in der Lage,
Depressionen und Stimmungen genau zu steuern. Das US ‑Militär
erprobt solche Chips angeblich an Soldaten seiner Elitetruppen,
um deren Angst auf dem Schlachtfeld zu unterdrücken. Und dabei
dachte ich immer: US ‑Marines kennen gar keine Angst.
Jannowitzbrücke steige ich aus. Wind treibt das Laub über den
Platz wie ein Straßenfeger.
Fangen wir an, denke ich, vielleicht wird das Ganze sogar noch
viel spannender als gedacht. Immerhin darf man sich nicht jeden
Tag mit einer der wichtigsten Fragen der Menschheit rumschlagen.
Ich notiere mir die Stichworte in mein rotes Notizbuch.
Mein Handy vibriert. Stefan? Nein.
»Sehr geehrter Herr Krützfeldt, das klingt ja nach einem sehr spannenden Projekt. Wir haben in der Tat sehr spannende Projekte. Mit freundlichen Grüßen, Dr. Thomas Stieglitz, Biomedizinische Mikrotechnik,
­Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.«
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Volltreffer.
Ich schiebe mein Handy zurück in die Tasche und verstaue das
Buch im Rucksack. Oben an der Treppe der Station empfängt mich
der Regen.
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DIE RAUMSTATION
S
tefan hatte gesagt: raus aus der U‑Bahn, über die Jannowitzbrücke und dann links. Ein schmaler Pfad, der sich am Ufer
entlangwindet. Zwei junge Menschen bleiben vor mir stehen, tief in
ihre Kapuzen verborgen, und überlegen, ob sie durch den Schlamm
gehen wollen, waten sollen, entscheiden sich dann aber dagegen.
Der Regen fällt in dicken Tropfen aus dem Herbstlaub der Bäume
und in meine Kapuze. Am Ufer sitzt ein Pärchen eng umschlungen.
Es riecht nach Gras. Nicht nach dem, das am Ufer wächst.
Die c-base ist ein Hacker-Treffpunkt. Sie zählt zu den wichtigsten in Deutschland und in Europa. Die Piratenpartei hat sich hier
gegründet, glaube ich, und der Verein »Gesellschaft zur Förderung
und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und
Technik« auch – kurz: der Cyborgs e. V.
Diesen Zusammenschluss gründeten Stefan Greiner und Enno
Park und einige andere in der Nacht vom 14. auf den 15. Dezember
2013. Das Medien-Interesse war riesig; jeder Sender, jede Zeitung,
jedes Radio wollte eine Geschichte machen, denn immerhin waren
jetzt Cyborgs in der Stadt. Jeder, der ein Mikrofon oder einen Stift
halten konnte, wollte wenigstens einmal die Frage loswerden, ob
die Cyborgs den Rest der Menschheit jetzt bald in Zoos halten würden. Diese Frage ist einerseits total richtig und verständlich. Aber
andererseits: Warum sollten zehn bis fünfzehn junge Leute aus
Berlin, die vermutlich alle mehr oder weniger Akademiker sind
und sicher mal in der Piratenpartei waren, Leute in Zoos halten
wollen? Verständlich aber war die Frage natürlich trotzdem: Denn
hängt nicht jeder, der seinen Körper verbessert, zwangsläufig die
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Messlatte für alle Menschen automatisch ein Stück höher? Und ist
das dann nicht auch eine Grundsatzkritik an dem biologisch-mangelhaften Lebewesen Mensch, wie Tim Cannon sie im Neon-Artikel
formuliert?
Ans Ufer halten, denke ich. Gut, aber da ist jetzt ein Bauzaun im
Weg, auf dem Schild steht »Privatgelände«. War die c-base nicht
öffentlich – oder war dies nur der falsche Weg? Der Legende zufolge war die c-base eine verlassene Raumstation. So hatte ich es
auf der Homepage gelesen. Vielleicht war dieser Weg gesichert und
gleich fällt mir Chucky, die Mörderpuppe aus einem der Bäume direkt in den Nacken. Ich schiebe einige Sträucher und Äste beiseite. Niemand stellt hier einen Hackerspace hin! Das war, ganz klar,
eher ein Ort für Indiana Jones und seine Peitsche, und jeden Moment könnte irgendein alternder Nazi auftauchen und mit triumphierender Miene verkünden, dass hier das Bernsteinzimmer liegt.
Vielleicht wollten Cyborgs und C‑Basler auch nicht gefunden werden. Wie cool wäre es, wenn gleich ein Fahrstuhlschacht auftauchen würde und dieser einen dann hinunterbringt in ein riesiges
Gewölbe, in dem überall Cyborgs in geheimen Werkstätten an ihren Sachen bauen. Ja gut, wir wissen alle, dass das nicht passiert.
Übrigens: Nur damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Es
könnte durchaus sein, dass die Cyborgs in einer alten Raumstation-Ruine leben. Es gibt sie nämlich schon viel länger und leider
nicht erst seit diesem Buch oder dem Neon-Artikel. Denn neben der
Science-Fiction-Literatur, Filmen wie Star Wars und dergleichen,
gibt es eine Geisteshaltung, maßgeblich beheimatet und entstanden in Großbritannien und den USA , die quasi die »Ursuppe« bildet, aus der die »echten« Cyborgs dann hervorgegangen sind: den
Transhumanismus.
Der Pfad bildet jetzt einen dschungelartigen Tunnel, Bäume lehnen sich links und rechts über die Bauzäune wie alte Männer. Lang-
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sam wird’s gruselig. Eher das Habitat für einen Biologen hier. Apropos Biologe.
Der Biologe Julian Huxley hat als Erster ein vollständiges transhumanistisches Ideensystem entwickelt, den evolutionären Humanismus, der später als Transhumanismus bezeichnet wurde. Ein
weiterer Vertreter war der Mann, der die Kryonik erfunden hat: Robert C. W. Ettinger. Kryonik kennt man entweder aus der Organtransplantation oder wieder aus Star Wars und der Szene, als Han
Solo eingefroren und später wiederbelebt wird. Ganz grob: Etwas
wird runtergekühlt, zum biologischen Erliegen gebracht und zu
einem späteren Zeitpunkt wieder aufgetaut mit dem Ziel, die Lebensdauer zu verlängern. Bei Organen geht das, bei ganzen Menschen bisher nicht. Ettinger trieb dabei aber die Frage um: Was
wäre eigentlich, wenn das möglich wäre – welche Probleme würden entstehen, wenn der Mensch praktisch unsterblich wäre?
Julian Sorell Huxley wurde 1887 in London geboren – er war
einer der bekanntesten Gelehrten Englands. »Seine Forschungsund Publikationstätigkeiten umfassten die unterschiedlichsten
Gebiete«, erklärte mir Reinhard Heil vom Karlsruher Institut für
Technologie am Telefon, der sich neben dem Transhumanismus
auch mit synthetischer Biologie und der Verbesserung des Menschen befasst. Er war Biologe, interessierte sich aber auch für politische Ökonomie, Kolonialpolitik, Kunst und Religion, ein Universalgelehrter eben, dieser Huxley. »Man darf aber nicht vergessen«,
sagt Heil, »dass er zeit seines Lebens Verfechter der Eugenik war.«
Diese hatte zum Ziel, schlechtes Erbgut auszusortieren, damit
nur Menschen mit guten Erbanlagen oder Eigenschaften sich vermehrten. Und wir dann alle besser werden. Die Nationalsozialisten
haben diesen Gedanken später missbraucht und auf schreckliche
Weise versucht, in die Tat umzusetzen.
»In Huxleys Arbeiten«, erklärt Heil, »spielt aber die klassische
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Idee des Transhumanismus, die vollständige Überwindung des
menschlichen Körpers, noch keine Rolle. Huxley vertrat eher die
Auffassung eines Eugenikers seiner Zeit, wonach die natürliche
Evolution des Menschen ein Ende gefunden hat, da die Gesellschaft den natürlichen Selektionsdruck beseitigt habe. Und damit
liegt, nach seiner Auffassung, die Weiterentwicklung der Menschheit nicht nur in unseren Händen, sondern es drohe sogar die Degeneration, falls diese Rolle nicht auch aktiv von uns übernommen
wird.«
Huxley formuliert das so:
»Most of us would like to live longer; to have healthier and happier
lives; to be able to control the sex of our children when they are conceived,
and afterwards to mould their bodies, intellects and temperaments into
the best possible forms; to reduce unnecessary pain to a minimum; to be
able at will to whip up our energies to their fullest pitch without later ill effects. It would be pleasant to be able to manufacture new kinds of animals
and plants at our pleasure, like so many chemical compounds, to double
the yield of an acre of wheat or a herd of cattle, to keep the balance of nature adjusted in our favour, to banish parasites and disease germs from
the world.« (Huxley, 1931, What dare I think? The Challenge of Modern
Science to Human Action & Belief, p. 5 f.)
Und diese Idee wurde bekannt als Trans- und Posthumanismus.
Der Weg durch Technologie und Fortschritt (Transhumanismus)
zur endgültigen Überwindung des Menschen als gebrechliches
biologisches Wesen zu seinem eigenen Wohle und dem seiner gesamten Spezies (Posthumanismus).
Reinhard Heil selbst ist übrigens bekennender Transhumanist.
»Ohne dass ich jetzt alles glaube, was damit zusammenhängt«,
sagt er.
Huxleys Kritikpunkt war ja, dass sich die Wissenschaft bisher –
also zu dem Zeitpunkt, als er das aufschrieb, aber das ist heute wohl
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auch noch aktuell – mehr mit der Bekämpfung von Krankheiten
und der Beseitigung von Defekten beschäftigte als mit der Optimierung des Menschen auf seine maximale Leistungsfähigkeit
hin.
Zudem, meinte Huxley, sei das größte Problem, dass die Eingriffsmöglichkeiten dabei auf den Zeitraum nach der Geburt beschränkt
sind. Der evolutionäre Fortschritt sei aber stets die Realisierung
von neuen Möglichkeiten. Durch Technik. Und im Endeffekt bedeutet das nichts anderes, als den Zellverfall und damit am Ende
den Tod selbst zu stoppen. Das, ganz ungefähr, ist die Grundlage,
auf die sich auch die Cyborgs berufen.
Aber, die Frage ist doch: Wenn schon ein paar Leute ohne spezifische Ausbildung wie Tim Cannon und Co, in ihrem Keller solche Dinge bauen können, was ist dann überhaupt alles möglich,
wenn das Thema sich schon so lange unter dem Radar bewegt? Das
Militär hat, das habe ich auf Youtube gesehen, längst sogenannte
Exo-Skelette im Test – Gestelle, die man sich umschnallt und dann
schneller laufen oder schwere Gewichte bis zu 100 Kilo problemlos auf den Schultern tragen kann, ohne zu ermüden, bekannt vielleicht aus der Sci-Fi-Dystopie Elysium mit Matt Damon. Nur eben
in echt. Soldaten sollen damit in Einsatzgebieten zum Beispiel verletzte Kameraden kilometerweit tragen können. Die Forschung
und ihre technischen Details: natürlich größtenteils geheim! Aber
Videos auf Youtube gibt es, und zwar ziemlich viele.
Vor mir türmt sich eine Steinwand auf, die mir den Weg versperrt.
Gleich habe ich wirklich keine Lust mehr. Dunkle Fenster wie
klaffende Löcher. Besonders einladend wirkt das hier nicht gerade. Schokoladenbraunes Laub kratzt über den Boden. Neben der
Tür, über die sich Aufkleber wie bunte Schmetterlinge ziehen –
Free Snowden, Freiheit statt Angst –, hängt ein kleines Nummernpad.
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Das ist sie also. Die c-base, das als Hackerspace getarnte Raumschiff.
Vor 4,5 Milliarden Jahren soll es hier auf der Erde abgestürzt sein,
sagen die Betreiber. Dabei hat es sich so tief in den Boden gegraben,
dass sich beim Auffinden der ersten Teile unter der Oranienburgerstraße im Jahr 1995 (auch ’95, als Hayles’ Artikel erschien, ein Zufall?) herausstellte: Die Antenne der Kommunikationseinrichtung
war die ganze Zeit für jedermann sichtbar, wurde nur fälschlicherweise als Fernsehturm von Berlin bezeichnet. Und der »Tarn-Verein« c-base e. V. soll bis heute die wahre Identität des ehemaligen
Raumschiffs erforschen.
Mit den Fingerknöcheln schlage ich gegen das dicke Metall, in
der Hoffnung, drinnen könnte jemand direkt dahinterstehen, denn
wenn nicht, ist die Chance, mich durch diese Tür hindurch zu hören, äußerst gering. Und das Nummernpad? Ohne Code und ohne
Hacker (und die sitzen ja vermutlich alle drin) – ausgeschlossen.
Würde ich darauf herumtippen, ginge bestimmt die Tür auf und
jemand würde mich ernst ansehen und sagen: »Nein!« Diese Reaktion war mir als Journalist besonders vertraut.
»Hallo«, sagt ein blonder Typ mit verwuschelten Haaren, der
mir die Tür öffnet. »Ist eigentlich nur für Mitglieder hier. Bist du
dabei?«
»Äh. Nein!«
»Und, was kann ich dann für dich tun?«
»Ich suche Cyborgs.«
»Was?«
»Cyborgs.«
»Aha. Hier?«
»Ja. Man sagt, sie treffen sich bei euch.«
»Na gut«, sagt er und öffnet die Tür einen Spalt. »Dann komm
mal rein.«
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Der Gang ist röhrenförmig. Und mein Begleiter geht immer einen
Schritt voraus. Ein Computer hängt an der Wand und brabbelt
auf seinem Display Zahlen vor sich her. Lamellenartige Beleuchtung. Erinnert tatsächlich an alte Star-Wars-Requisiten. Links windet sich eine Treppe in den Keller hinunter, das Geländer besetzt
mit bunten Lichtern wie Glühwürmchen. Ich habe das Verlangen,
ihnen sofort zu folgen. »Nur für Mitglieder und wichtige Leute«,
sagt der Typ. Es öffnet sich ein weiter Raum. Dunkel. Die spärliche
Beleuchtung einer Theke.
»Hey«, ruft mein Begleiter dann in den Raum. »Ist einer von
euch vielleicht ein Cyborg?
Stille.
Augenpaare mustern mich wie die Blicke von Katzen, die plötzlich im Scheinwerferlicht auf der Landstraße auftauchen. Der Barmann hält noch seinen Lappen in der Hand.
Ist niemand hier jetzt ein Cyborg – oder alle?
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