I Handlung

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I Handlung
Otherland - Tad Williams
Stadt der goldenen Schatten
Fluss aus blauem Feuer
Berg aus schwarzem Glas
Meer des silbernen Lichts
Christine Zähringer
1. Handlung
2. Ausgestaltung der Virtualität
2.1 Technik
2.1.1 Equipment zum Netzzugang
2.1.2 Steuerung und Interaktion
2.2 Virtuelle Welten
2.2.1 „Normales“ Netzwerk
2.2.2 Treehouse
2.2.3 Otherland
2.3 Vergleich Virtualität Realität
3. Wechselwirkung Mensch-Virtualität
3.1 Sozialer Aspekt
3.2 Gefahren
4. Eigenleben der Virtualität
5. Zusammenfassung
6. Referenzen
1. Handlung
Die Geschichte von Otherland umfaßt vier Bände: „Stadt der goldenen Schatten“, „Fluss aus
blauem Feuer“, „Berg aus schwarzem Glas“ und „Meer des silbernen Lichts“.
In naher Zukunft verbringt ein Großteil der Bevölkerung seine Zeit online – sei es beim
Arbeiten oder in der Freizeit. So auch Renie Sulaweyo, die an einer südafrikanischen
Hochschule den Umgang mit virtueller Realität lehrt und von ihrem Verdienst ihren Bruder
und Vater ernährt. Als ihr kleiner Bruder bei dem Versuch, in einen verbotenen Teil des
Netzwerkes einzudringen, auf mysteriöse Weise in ein Koma fällt, beginnt sie, auf eigene
Faust Nachforschungen anzustellen und entdeckt Hinweise auf eine weltweite Verschwörung.
Auf der Suche nach noch mehr Macht und ewigem Leben hat die Gralsbruderschaft, eine
Gruppe der mächtigsten und skrupellosesten Männern der Welt, ein eigenes neues Netzwerk
erschaffen, das titelgebende Otherland. Es ist ein Universum von Fantasiewelten, alle so
detailliert und komplex, dass sie von der Realität nicht mehr zu unterscheiden sind. Dass
dieses Projekt keinesfalls harmlos ist, sondern bereits unzählige menschliche Opfer gefordert
hat, soll um jeden Preis verheimlicht werden. Die Gralsbruderschaft bereitet sich nämlich auf
den endgültigen Eintritt in das Netzwerk vor und steht somit vor der Umwandlung von einer
körperlichen zu einer virtuellen Lebensform. In Otherland wollen sie als unsterbliche Götter
nach Lust und Laune leben, doch die zahlreichen Kinder, die weltweit unter mysteriösen
Umständen ins Koma fallen, erregen immer mehr Aufsehen.
Mehreren Auserwählten erscheint bei ihrem Aufenthalt in der virtuellen Realität die Vision
einer strahlenden und goldenen Stadt. Fasziniert von der photorealistischen Erscheinung des
Bildes und angetrieben von der Frage nach dessen Ursprung und Bedeutung, machen diese
sich auf der Suche nach dieser Stadt und schließlich gelingt es ihnen, in das Otherland
Netzwerk einzudringen.
Abb. 1: Die goldene Stadt
Die Gruppe dieser Auserwählten verbindet die Suche nach der Stadt und die Tatsache, dass
die meisten von ihnen in der Verwandtschaft oder ihrem Freundeskreis Personen haben, die
dem Koma zum Opfer fielen.
Durch einen Vorfall beim Eintritt in Otherland werden sie alle im Netzwerk gefangen und
müssen das Geheimnis der kranken Kinder und des Netzwerkes lösen.
2. Ausgestaltung der Virtualität
Im Folgenden wird die Ausgestaltung der Virtualität in Williams Otherland beschrieben.
Dabei geht es zum einen um die Technik, welche die virtuelle Präsenz ermöglicht, d.h. die
Zugangsgeräte und die Steuerung, aber auch um die verschiedenen Online-Welten, die in
Otherland dargestellt werden.
Als Abschluss werden die vorgestellten Welten mit der Realität verglichen.
2.1 Technik
Durch die ausgereifte Technik ist die Virtualität zu einem wichtigen Teil des Lebens
geworden. Die Menschheit verbringt nicht nur ihre Freizeit online – sei es beim Spielen oder
beim Einkaufen - sondern arbeitet auch virtuell: „Die Firma stellte ihr die allerbeste
technische Ausstattung zur Verfügung...“ 1
Dabei ist die Wahl des technischen Equipment gleichzeitig eine Frage des Geldes. Je mehr
man in seine Ausrüstung investiert, desto mehr Detail und Realitätsnähe kann man von den
Simulationen erwarten. Wer sich eine eigene Ausrüstung nicht leisten kann, hat jedoch die
Möglichkeit, öffentliche Mediatheken aufzusuchen, die gegen Gebühr Netzzimmer vermieten.
2.1.1 Equipment zum Netzzugang
Zur Standardausrüstung eines jeden gehören Pads – portable Zugangseinheiten, die meistens
sowohl als Terminplaner und Telefon als auch als Netzgerät benutzt werden können. Sie
verfügen über Spracherkennung, können aber auch wahlweise durch Tippen des Squeezers eine Art weiterentwickelter Tastatur, über die man auch den Netzzugang befiehlt - bedient
werden. Die Information wird dabei auf einem Bildschirm angezeigt. Wer sich nicht nur mit
flachem Text und Bildern begnügen will, kann die Pads auch aufrüsten und Datenbrillen,
sogenannte Goggles, anschließen. Sie erweitern die Pads durch stereoskopische
Visualisierung und sind bei Netboys und Netgirls, die dadurch den Namen Goggleboys
erhalten haben, besonderes beliebt. Mit den Datenbrillen kann man bequem virtuellen
Besprechungen beiwohnen aber auch Anrufe tätigen.
Technische Hochschulen und die oben genannten Mediatheken verfügen über eine
funktionelle, aber nicht sehr moderne Lösung: Gurte mit Headset. Die Technik ist nicht sehr
teuer, erfüllt jedoch ihren Zweck. Die Benutzer legen ihre Gurte um den Körper und setzen
das Headset auf. Ein Flaschenzug befördert die Personen an die Decke, wo sie während der
Online Session hängen. Durch Herunterklappen der Visette des Headsets befiehlt man den
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Netzzugang. Noppen an dieser Visette regulieren die Luftpolsterung und verhindern durch
korrekte Kalibrierung ein verwackeltes Bild beim Bewegen des Kopfes.
An der Decke hängend, ermöglichen die Gurte Bewegungsfreiheit und verhindern
Verletzungen. Diese entstehen meistens dadurch, dass die Muskeln die virtuellen Tätigkeiten
z.B. Gehen vollführen und man so, blind im Raum gegen Wände laufen oder stürzen würde.
Diese Technik eignet sich jedoch nicht für einen langfristigen Onlinezugang. Als die virtuelle
Präsenz noch in den Kinderschuhen steckte, sind viele Netzbenutzer an Durst oder Hunger
gestorben, weil sie während ihres Onlineaufenthaltes ihren Körper und dessen Bedürfnisse
vollkommen vergessen haben. Solche Vorfälle gehören aber der Vergangenheit an. Dafür
sorgen „zu viele Schutzvorrichtungen bei den kommerziellen Produkten, zu viele
Restriktionen und Alarmauslöser beim Netzzugang an Universitäten und Unternehmen“.2
V-Tanks, eine Entwicklung für das Militär, bieten hier eine Alternative. Sie sind zwar
umständlich zu benutzen, ermöglichen aber längeren Netzaufenthalt.
Bei den V-Tanks handelt es sich um mit Gel gefüllte Badewannen. Das Gel vermittelt dem
Benutzer Feedback. Beim Durchleiten von Strom ändert das Gel seine Beschaffenheit je nach
Befehl des Prozessors: kalt oder warm, weich oder hart. So lässt sich unter anderem Wind
oder Sand auf der Haut simulieren; man hat das Gefühl in der Luft zu schweben, oder auf
spitzen Steinen zu gehen. Da man schwerelos mitten im Tank liegt, ohne an eine Kante
anzustoßen, ist Kraftreflexion möglich. Den einzige Input, den der Körper erhält, ist die
Änderung der Beschaffenheit des Gels.
Auf das Gesicht legt man eine Gesichtsmaske auf, die man auch während seines OnlineAufenthaltes spüren kann. Sie liegt fest auf den Augen, so dass eine scharfe Projektion
möglich ist. Das Atmen erfolgt über 3 Ventile: zwei kleine für die Nasenlöcher und ein
grosses Ventil für den Mund. Vor letzterem wird eine flexible Blase mit einem eingebauten
Mikrophon angebracht.
Die V-Tanks sind außerdem mit Vorrichtungen zur Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr
ausgestattet, sowie zur Abfuhr von Ausscheidungen. Eine weitere Person zur gelegentlichen
Überwachung der Lebenszeichen sowie der Funktionstüchtigkeit der Geräte ist das einzige,
was man noch für einen langfristigen Online-Zugang benötigt. Die Geräte versorgen den
Körper während man online ist, so dass man seine Zeit in der Virtualität genießen kann, ohne
die körperlichen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Ein großer Nachteil der Tanks ist allerdings
die fehlende Geruchssimulation.
Am fortschrittlichsten sind implantierte Neurokanülen, sogenannte Cans oder
Telematikbüchsen, welche in den Hals implantiert werden und einen drahtlosen Zugang zum
Netz ermöglichen. Sie sind extrem leicht und bis auf einen kleinen Plastikknopf auf der
Halshaut sogar vollkommen unsichtbar. Die vom Computer simulierten Empfindungen
werden dabei direkt ins Nervensystem geleitet: Riechen, Sehen, Hören und Fühlen. Sogar das
virtuelle Genießen von Speisen und Getränken ist möglich. Zwar bleibt der Effekt der
Nahrungs- bzw. Kalorienaufnahme aus, aber man kann sich am Geschmack erfreuen. Davon
profitieren virtuelle Cafés, welche den Gästen, die mit dieser Technik ausgestattet sind, neben
einem Platz an einen Tisch auch eine Speisekarte mit unterschiedlichen Spezialitäten anbieten
können.
Ein wichtiges Feature der Cans ist die eingebaute Sperrschaltung, die virtuelle Bewegungen
in der Realität unterdrückt. Dadurch läuft man auch hier, wie bei den Gurten, keine Gefahr,
sich durch Sturz oder Zusammenstoß zu verletzen.
Eine Kalibrierung der Cans ermöglicht es, nie wieder offline gehen zu müssen. Man kann das
simulierte virtuelle Bild so transparent einstellen, dass man mit den Augen die reelle
Umgebung ebenfalls wahrnimmt und somit auch auf sie reagieren kann, während man
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gleichzeitig online arbeiten, spielen oder kommunizieren kann. Um noch ungestörter zu sein,
kann man reelle akustische Signale blockieren lassen.
Diese Technik kann man auch für das Telefonieren benutzen. Hier führt man das Gespräch als
ein Avatar, statt wie über Telefon üblich, nur ein Videobild von sich zu übertragen.
Der große Nachteil von Neurokanülen ist, dass sie sehr kostspielig sind, so dass nur die reiche
Bevölkerungsschicht in den Genuss kommt, die Grenzen des technisch Machbaren voll
auszukosten. Die ärmeren Schichten sind auf billiges und gefährliches Zubehör angewiesen.
Vor allem Schwarzmarktprodukte sind dafür bekannt, Gehirnschäden zu verursachen und
haben bei Betroffenen schon zu Suchtzuständen geführt.
Weiterhin nennenswert sind Imitate zur Rauchsimulation, die unter der Nase angebracht
werden, oder auch Taktoren, sensorische Rezeptoren, welche vom Computer gesteuerte
Empfindungen an die Nerven weiterleiten.
Da die meisten Benutzer nicht über die teuerste Technologie verfügen aber dennoch gerne in
den Genuss verschiedenster Leistungen kommen würden, haben sich im Netz zahlreiche
Schlupflöcher für illegale Waren und Dienstleistungen aufgetan. So hat sich der dubiose Club
Mister J’s etabliert. Er bietet auch für primitive Sims ganze Speisekarten voller simulierter
Empfindungen, die durch unterschwellige, hypnoseähnlichen Techniken selbst über
technische Defizite der Ausrüstung hinweg, den Benutzer erfreuen können. Von Lust, Freude,
Anerkennung bis zu Schmerz und tiefer Trauer bieten sie dort alles, was das Herz begehren
könnte.
2.1.2 Steuerung und Interaktion
Beim Betreten des Netzes entscheidet man sich zunächst für einen Sim, welcher die Gestalt
des Benutzers während des Onlineaufenthaltes repräsentieren soll. In kommerziellen
Netzwerken, wie beispielsweise dem Inneren Distrikt, ist dies durch
Bekörperungsvorschriften vorgeschrieben. Ein Sim ist ein Avatar, dessen Aussehen und
Komplexität von jedem Benutzer nach seinem Ermessen und seinen Vorstellungen geformt
wird. Mit zur Entscheidung, wie ein Sim aussehen wird, tragen zum einen Kosten und
Vorschriften bei. Zum anderen spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass primitive Sims zwar
vom Aussehen Standard sind, aber gerade dadurch in geschäftlichen Besprechungen eine
anonyme Maske darstellen. Diese lässt auf Alter, Nationalität und Vorlieben des Benutzers
wenig Rückschlüsse zu und schirmt zudem dessen Gefühle ab.
Die Mode konnte auch in diesem Bereich Fuß fassen und deshalb lassen sich manche
Benutzer die Ausgestaltung ihrer Sims von Profis, sogenannten Sim-Designer, abnehmen.
Ein Sim kann aber nicht nur einen menschlichen Benutzer, einen Bürger, repräsentieren,
sondern auch ein Programm, welchem lediglich eine menschliche Hülle zugewiesen wurde.
Diese sogenannten Replikanten sind technisch so ausgereift und im Verhalten so menschlich,
dass es schwer ist, sie von Bürgern zu unterscheiden. Anfangs gab es sowohl geschäftlich als
auch privat zahlreiche Probleme durch Verwechslungen. So kam es beispielsweise durchaus
vor, dass sich Bürger ahnungslos in Replikanten verliebt haben.
Deshalb hat man ein Gesetz erlassen, welches besagt, dass die Frage nach der Identität
„Bürger oder Replikant“ wahrheitsgemäß beantwortet werden muss. Dies wird aber nicht
immer korrekt gehandhabt und eine solche Frage kann von dem befragten Bürger durchaus
als Beleidigung empfunden werden: „... es ist ein wenig heikel und verlangt einen gewissen
Takt. Wenn du mit einem Bürger sprichst und ihm diese Frage stellst, gibst du damit zu
verstehen, dass er ... nun ja, so langweilig und mechanisch ist, dass er künstlich sein könnte.“
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Doch gerade die Tatsache, dass diese Frage manchmal nötig ist, zeigt, wie ausgereift die
Technik ist und wie realitätsnah menschliches Verhalten von einem Computer simuliert
werden kann.
Replikanten werden meistens zur Kundenberatung in Onlinekaufhäusern eingesetzt, wo sie
aber auf Wunsch eines Kunden hin durch einen menschlichen Berater ersetzt werden können.
Die Technik, die hinter den Replikanten steht, wäre für Beratungszwecke zwar ausgereift,
aber viele hängen noch an alten Gewohnheiten und ziehen es vor, mit einem richtigen
Menschen zu verhandeln.
Wichtig zu erwähnen ist auch, dass der virtuelle Aufenthalt von Benutzern personalisiert
werden kann. Dies kann beispielsweise beim Besuchen virtueller Kommerz- oder
Wohnungszentren geschehen. Man kann aber auch den virtuellen Arbeitsplatz nach seinem
eigenen Geschmack einrichten, indem man den Raum mit virtuellen Bildern, Teppichen,
Fotografien und sogar einer beeindruckenden simulierten Fensteraussicht gestalten kann.
Dem kreativen Schöpfer sind kaum Grenzen gesetzt. Dennoch entscheiden sich viele für
zweckmäßige aber kalte und leere Büros mit einem Schreibtisch als einziges Requisit.
Der Vorteil dieser so geschaffenen virtuellen Umgebung ist, dass hier Meetings gehalten,
Online-Recherchen getätigt oder sonstige Arbeiten bequemer und effizienter verrichtet
werden können, als in einem reellen Büro mit einem auf die Bildschirmausgabe beschränkten
Netzzugang.
Die beliebteste Netzbenutzung ist die „volle Immersion“, die kein RL4-Feedback mehr
zulässt. Der Benutzer taucht ganz in die virtuelle Welt ein und erhält je nach technischer
Ausrüstung mehr oder weniger taktile Rückmeldungen.
Wenn man auch auf den Sim verzichten will, weil man beispielsweise eine Online-Recherche
durchführen will und der Avatar für diese Arbeit mehr hinderlich als hilfreich ist, kann man
die sogenannten Informationstrips wählen. Bei diesen bleibt die Kraftreflexion, also das
Gefühl, etwas zu berühren, aus. Was im Vordergrund steht, sind die Informationen und deren
Verarbeitung.
Recherchen kann man auch „traditionell“ mit Hilfe eines Bildschirmes tätigen. Die
Informationen werden hierbei auf den Bildschirm in Form von Text und flachen Bildern
ausgegeben. Da man aber durch die technische Möglichkeit, sprichwörtlich in Informationen
zu tauchen, verwöhnt ist, greift man nur ungern auf diese „primitive“ Form der
Informationsverarbeitung zu.
Die Steuerung der Simulation in der virtuellen Welt erfolgt durch bestimmte
Handbewegungen. Durch die Drehung des Handgelenkes und einem angewinkelten Finger
kann man beispielsweise sensorische Eingabewerte einstellen. Das ist vor allem für
Schwerhörige ein wichtiges Feature.
Per Befehl kann man aber nicht nur die Einstellungen optimieren, sondern sich auch im Netz
zu einer bestimmten Stelle hinbegeben. Jeder Netzort, der direkt erreichbar sein soll, muss als
Netzknoten fungieren. Er wird in dem jeweiligen Index des Netzes aufgelistet und kann so
direkt angesprungen werden. Der Index hat zum einen den Vorteil, dass ein virtuelles Gehen
zu dem Zielort hin nicht notwendig ist. Zum anderen verfügt man auf diese Weise über eine
Auflistung der Geschäftsknoten, so dass man beim Suchen nicht unnötig virtuelle Zeit und
damit Onlinekosten verschwendet, bis man beispielsweise auf ein Elektrogeschäft stößt.
Schließlich sollte noch erwähnt werden, dass das Netz interkulturelle Kommunikation
unterstützt. Man ist nicht auf die Kenntnis einer weit verbreiteten Sprache wie beispielsweise
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RL bedeutet Real Life und steht im Gegensatz zu VL = Virtual Life
Englisch angewiesen. Unterprogramme übersetzen die gesprochenen Sprachen. Diese kosten
jedoch Laufzeit und lassen sich bei Bedarf auch abstellen.
2.2 Virtuelle Welten
Obwohl es in Williams Werk hauptsächlich um das Otherland Netzwerk geht, werden auch
die normalen Netzwerke und das anarchistische Treehouse vorgestellt.
2.2.1 „Normales“ Netzwerk
Das Netzwerk ist finanziell von Sponsoren abhängig. Dies gilt vor allem für die stark
frequentierten Geschäftsknoten. Das führt zu einer Vorherrschaft wirtschaftlich starker
Unternehmen und zu einer Verdrängung marktschwächerer Kleinunternehmen. Obwohl
Sponsoren auch auf der staatlichen Seite zu suchen sind, hat sich die Wirtschaft so sehr in das
Netzwerk eingenistet und es für ihre Zwecke ausgenutzt, dass die anfängliche Begeisterung
für das „freie“ Medium, welches allen Bevölkerungsschichten in gleichem Maße zugänglich
sein soll, verflogen ist.
Trotz der Kosten hat sich das Netzwerk zu einem wichtigen Teil des Lebens entwickelt.
Kinder können beispielsweise werde schulisch noch sozial darauf verzichten. Nach der Schule
verabreden sich die Kinder zum Spielen online. Vorlesungen werden an der Universität nur
noch vereinzelt gehalten. Stattdessen geschieht das Studium vorwiegend online.
Auch das Arbeiten gestaltet sich in virtuellen Büros einfacher: von hier aus kann man
Konferenzen leiten, Geschäftspartner aus der ganzen Welt von Angesicht zu Angesicht
sprechen, ohne dabei weit reisen zu müssen. Man hat außerdem Zugriff auf die weltgrößte
Datenbank - das Netz selbst mit seinen Nachrichtenbanken. Ein weiterer Pluspunkt ist die
Möglichkeit der Online-Recherche: man kann anschaulich recherchieren, indem man
beispielsweise einen Sim wählt und sich die Suchergebnisse als Buchrücken darstellen lässt.
Auf Wunsch lässt sich diese Ausgabe filtern, um die Informationsmenge zu reduzieren.
Taktile Rückmeldungen beim Anfassen der virtuellen Buchrücken vermitteln ein bekanntes,
realistisches Gefühl, dass die Arbeit vertrauter und dadurch angenehmer macht. Es gibt
nichts, was man nicht simulieren könnte, wenn man über eine gute Ausrüstung verfügt.
Zur Entspannung bietet das Netz ein noch vielfältigeres Angebot: von Netzfilme, die man
herunterladen kann über interaktive Sendungen wie Mister Jingle bis zu Onlinespiele.
Die interaktive Kindersendung Mister Jingle ist zum einen ein gutes Beispiel für die
vielfältigen Möglichkeiten, die eine virtuelle Sendung bietet. Onkel Jingle, ein Sim, der durch
mehrere Benutzer abwechselnd geführt wird, kann mit Kleinkindern virtuelle Abenteuer
bestehen, ohne wegen Ermüdung eines Benutzers eine Pause einlegen zu müssen. Die Kinder
können sich in die Sendung einklinken, wenn sie wollen und so lange sie wollen. Für sie
spielt es keine Rolle, dass es Mister Jingle gar nicht gibt oder dass Mister Jingle in
Wirklichkeit mehrere Personen sind. Was für sie wichtig ist, ist das Gefühl dabei zu sein.
Zum anderen ist Mister Jingle auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Wirtschaft sich das Netz
fast einverleibt hat. So verpasst Onkel Jingle keine Gelegenheit, die Kinder unermüdlich dazu
aufzumuntern, neue Spielsachen zu kaufen. Man könnte fast sagen, die Sendung selbst ist
vielmehr eine reine Werbesendung mit Showeinlagen als eine Kindersendung.
Für die älteren Kinder, Teenager oder auch junggebliebene Erwachsene bietet die
mittelalterliche Simulation Mittland eine langfristige Herausforderung. Benutzer können sich
einen Onlinecharakter aufbauen und ihn verschiedene Aufgaben bewältigen lassen. Die
gesammelten Pluspunkte kann man zum Aufrüsten, zur Entwicklung seines Sims oder
anderen Tasks verwenden. Man kann aber auch ziellos durch die Mittland-Welt
herumstreichen und Attraktionen genießen, die man in der reellen Welt nicht erleben könnte:
Trolle, mittelalterliche Burgen und Drachen.
Auch außerhalb der Onlinespielwelten kann man herumschlendern und seine Freizeit im Netz
verbringen - im Inneren Distrikt beispielsweise. In Cafés kann man mit der richtigen
Ausrüstung sogar Getränke und Speisen genießen; außerdem Veranstaltungen buchen, sich
verabreden oder einfach nur dem Treiben auf der Straße zusehen. Der sehr kostspielige Innere
Distrikt wurde anfangs verstärkt über Urlaubspakete gebucht. Die Bevölkerungsschichten, die
sich einen ständigen Aufenthalt dort nicht leisten konnten, wollten sich in ihrem Urlaub etwas
gönnen und die neuen technischen Möglichkeiten genießen. Auch nachdem die anfängliche
Euphorie verflogen ist, gab es immer noch Benutzer, die es vorzogen, dem bunten Treiben in
den Gassen zuzusehen – das alte Spiel: Sehen und Gesehen werden. Darin zeigt sich, dass das
Netz nichts weiter als eine Reproduktion der Wirklichkeit mit Einschränkungen einerseits
aber auch mit mehr Möglichkeiten andererseits ist.
Als eine letzte Nutzungsmöglichkeit des Netzes sei noch das Einkaufen in der Lambda Mall
erwähnt. Hier verschlägt es jeden, der die Waren nicht einfach nur bestellen will, sondern
anfassen, ansehen und auch virtuell beraten werden will.
Die Lambda Mall ist das „Hauptkommerzzentrum des ganzen Netzes... von der Größe eines
ganzen Staates“5. Es ist ein virtuelles Einkaufsviertel mit Straßen und teils sehr aufwendig
gestalteten Geschäftsknoten. Die Unternehmen lassen es sich einiges kosten, ihre Knoten
attraktiv zu machen. Am visuellen Auftreten in der Lambda Mall kann man die Größe und
den Erfolg der Firma in der Realität messen.
Im Zentrum der Mall befinden sich die teuren Geschäfte, während zum Rand hin der
Anspruch fällt. Kann sich ein Unternehmen den teueren Aufenthalt in der Lambda Mall nicht
mehr leisten, lässt er das Gebäude auf ein Minimalniveau reduzieren, bis sich auch hier
sprichwörtlich der Putz von den Flächen löst.
Im Einkaufszentrum kann man schlendern, die Passanten beobachten, welche ihrerseits von
Geschäft zu Geschäft ziehen oder sich gezielt mit Hilfe des Indexes zu einem bestimmten
Knoten hinbegeben. Man kann gestört oder ungestört einkaufen. Je nach Voreinstellung wird
man alleine mit der Ware gelassen, d.h. man sieht nicht die anderen Kunden, die ebenfalls im
Geschäft sind. Man kann es sich auch aussuchen, ob man selbst von anderen gesehen werden
will oder nicht.
Neben der Lambda Mall ist der Innere Distrikt eines der Highlights des Netzes. Es ist die
„erste wirkliche Weltstadt aus simulierter Einwohnerschaft aus den 10 Mio. einflussreichsten
Bürgern des Planeten“. Hier spielen physikalische Gesetze oder Regeln keine Rolle mehr.
Gebäude stoßen in allen möglichen Winkeln aneinander an. Es gibt „keine irdischen
Gesetzmässigkeiten, kein oben und unten, phantastische Gebäude, Kunststücke des
Computerdesigns über nacht aus dem Boden gesprossen und vielleicht genauso schnell
wieder verschwunden“ 6.
Auch die Sims können mit einem einzigen Wort beschrieben werden: phantastisch.
Der Aufenthalt und die Mode, die man mitmachen muss, um zur Elite zu gehören, sind sehr
kostspielig. Wer sich Steuern und Anschlussgebühren leisten kann, läuft als hoher Riese
durch die Straßen und verbringt die Zeit damit, sich der Öffentlichkeit zu zeigen; der Innere
Distrikt ist der Spielplatz der Reichen.
Nicht ohne Grund konnten sich in den Anfängen des Netzes Normalbürger diesen Luxus nur
als einen gebuchten Urlaub leisten.
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Eine Adresse hier hat Prestigefaktor. Doch nicht jeder kann sich das leisten. Die Firmen, die
sich gerade noch den Aufenthalt leisten können, ziehen in die ärmeren und angestaubten
Sektoren des Distriktes: „Die meisten Knoten waren hochgradig funktional – weiße, schwarze
oder graue Boxen, die keinen anderen Zweck hatten, als das Unternehmen eines um seine
Existenz ringenden Bürgers von dem des nächsten abzugrenzen...Einige lösten sich sogar
nach und nach auf.“ 7
2.2.2 Treehouse
Treehouse, dessen Bewohner es gerne als der "letzte freie Ort im Netz" sehen, ist im
Gegensatz zu den anderen großen Knoten nicht von wirtschaftlichen oder staatlichen
Sponsoren abhängig. Es ist auf die Apparate seiner Benutzer verteilt und so redundant
programmiert, dass man es jederzeit wie ein „Zigeunerlager“8 abbauen kann, um es dann
woanders wieder genau so schnell wieder aufbauen zu können.
Es ist ein Hackerparadies, eine Arche Noah für selbsternannte Anarchisten, die es sich zur
Regel gemacht haben, keine Regeln zu dulden.
Der Vergleich mit einer Escher-Grafik liegt auf der Hand: das Auge sieht, aber das Gehirn
möchte verstehen und greift auf Bekanntes zurück, kann das Gesehene nirgends einordnen.
Abb. 2: Escher-Grafik
Es gibt keinen Horizont. Das Netzwerk ist ein Durcheinander von phantastischen Strukturen,
welche man als Neuling nie als Wohnhäuser oder als Sims identifizieren würde. Ein Haus
kann hier genauso gut „ein leuchtender orangeroter Pilz von der Größe einer Flugzeughalle“9
sein, wie ein Sim durch eine Farbwelle oder auch durch rein gar nichts nach außen sichtbar
sein kann. Dementsprechend gibt es auch andere Formen der Datenverarbeitung. Die vom
„normalen“ Netzwerk bekannten Handbefehle haben hier keine Wirkung. Die Simulation
lässt sich stattdessen per Gedanken steuern.
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Die Treehouse Benutzer dulden nicht jeden. Zum einen ist das ein Selbstschutz, zum anderen
aber auch eine Art elitäres Denken. Treehouse kann man nur mit persönlicher Einladung
betreten oder wenn man bereits einmal eingetreten ist und den Eingang zum Netzwerk kennt.
Die Erbauer von Treehouse waren damals Kinder und so haben sie sich ihr Baumhaus (daher
der Name des Netzwerkes: Treehouse) im Netz erschaffen, welches man mit einer Leiter
erklimmen kann. Nur wer die Leiter schon einmal benutzt hat, weiß, wo er sie beim nächsten
Mal finden kann.
2.2.3 Otherland
Otherland, die Entwicklung der Gralsbruderschaft, ist ein Netzwerk voller Fantasiewelten, die
sich ihre reichen Erzeuger für ihren Eintritt ins virtuelle, ewige Leben erschaffen haben. Für
jeden Geschmack ist etwas dabei: zum Beispiel eine Odysseus-Simulation, in welcher der
Benutzer die Abenteuer des Helden erleben kann, oder eine Comic Simulation, die sich in
einer Zeichentrick-Küche abspielt.
Durch jede dieser Welten fließt ein Fluss, der auch gleichzeitig die Verbindung zwischen
ihnen darstellt. An beiden Seiten des Flusses befindet sich je ein Gateway, das den Benutzer
in die nächste Simulation führt. Die Stelle ist durch „irrlichternde Phosphoreszenz“10
gekennzeichnet; durch blaue Lichter. Hierbei entscheidet die Voreinstellung, wohin man
gelangt.
Abb. 3: Der Fluss als Gateway
Andere Gateways, meist in der Nähe von Totenstädten, sind für die Mitglieder der
Gralsbruderschaft oder den Besitzern der jeweiligen Simulationen bestimmt. Die Mitglieder
können die Simulationen per Gedanken steuern und haben überall Zugang. Sie können über
diese zusätzlichen Gateways zwischen den Welten beliebig hin- und herspringen. Um ihre
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Auswahl treffen zu können, begeben sie sich zunächst zur Einsprungebene, wo man diese
aber auch andere Voreinstellungen wie z.B. Aussehen des Sims, vornehmen kann.
Alle anderen Benutzer werden über den Fluss von Welt zu Welt geführt, um dann im Kreis
wieder zur Anfangswelt zu gelangen.
Die Technologie, die hinter Otherland steckt, ermöglicht es, jede dieser Simulationen so
fotorealistisch und echt zu gestalten, dass die Grenze zwischen Realität und Virtualität
verwischt. Wenn die menschlichen Sinne nicht zwischen der realer und der virtuellen Welt
unterscheiden können, ist die Definition des Wortes „real“ überholt.
Das Erlebte kommt den Personen so „echt“ vor, dass sie ohne das Wissen, sich tatsächlich in
einem Netzwerk zu befinden, Otherland für real halten würden. Überwältigt von den
Eindrücken, übersehen die Personen die Indizien, die dafür sprechen würden, dass die Welt,
in der sie sich befinden, nicht real sein kann.
Allein die Tatsache, dass in diesen virtuellen Welten physikalische Gesetze nicht gelten
müssen und man sowohl auf Essen als auch auf Trinken - aber seltsamerweise nicht auf das
Schlafen - verzichten kann, ist ein Hinweis, dass das Erlebte nicht real sein kann.
Speisen und Getränke kann man in Otherland zwar genießen, aber das virtuelle Essen ersetzt
nicht die Kalorienaufnahme. Auch der Genuss einer Zigarette ist möglich: „Als sie inhalierte,
spürte sie heiße Luft in der Kehle und hatte das Gefühl, dass etwas ihre Lungen füllte. Sie
konnte fast schwören, dass sie den Tabak schmeckte.“11
Da die Otherland-Welt so real ist, erscheinen Tricks, mit denen man die Simulation
beeinflussen kann und welche dadurch die Illusion einer Realität zersprengen, als „gemogelt“:
„..dies ist VR, Frau Otepi – alles nur Schwein. Ich weiß ganz einfach, wie man den Schein
verändert...- ihr erster Impuls war gewesen zu sagen: <Das ist gemogelt!>, was zweifellos
eine sensationell dämliche Bemerkung gewesen wäre...“12
Zu solchen Tricks gehört beispielsweise auch, dass man Highlights wie z.B. die wichtigsten
Stationen der Irrfahrt des Odysseus in der Simulation schneller erreicht. Damit wollten die
Programmierer verhindern, dass sich die Benutzer wegen den monatelangen Fahrten aufs
Meer langweilen. Agenten - Programme in Tiergestalt – helfen außerdem mit Wissen und
Tips aus. Eine Wachtel erklärt einem Unerfahrenen, wie er ein Floß bauen muss oder um
welche wichtige Persönlichkeit es sich bei dem Gesprächspartner handelt.
Die Simulationen sind so programmiert, dass jede Interaktion des Benutzers Auswirkungen
auf die weitere Handlung hat.
Was die Welten angeht, so macht jede den Eindruck, unendlich zu sein. Blickt man auf den
Fluss hinaus, sieht man den Horizont und die Illusion eines Landes dahinter, welches man
aber nie erreichen kann.
Neben den Bürgern gibt es hier auch Replikanten. Allein 2 Millionen leben in der virtuellen,
goldenen Stadt Temilún. Doch während diese im normalen Netzwerk lediglich unflexibler
Code sind, hat man es bei den Otherland-Replikanten mit künstlicher Intelligenz zu tun. Jeder
Replikant ist einmalig und hat seine eigenen Geschichte sowie eine Erinnerung an seine
Vergangenheit. Er verfügt über den ganzen Umfang menschlicher Gefühle wie beispielsweise
Ängste, Hoffnungen, Liebe und Hass. Er sieht und verhält sich wie ein wirklicher Mensch
und verfügt über so komplexe Verhaltensweisen wie „erröten“ oder „dahinbrabbeln“. Kurz
gesagt: Replikanten leben. Sie sind mehr als ein Stück Code, denn sie sind einzigartig. Und
sie glauben auch, real zu sein: „...dass diese Anderlandkreaturen sind nicht nur so verhielten,
sondern es auch allen Ernstes selber zu glauben schienen...“ 13
Durch ihr menschliches Verhalten und die Tatsache, dass Menschen sie von „echten“
Menschen kaum unterscheiden können, kommt es des öfteren vor, dass man sie in
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gefährlichen virtuellen Situationen retten und sogar sein Leben für sie riskieren würde. Selbst
Trickfiguren glauben, real zu sein, so dass man als Mensch gewillt ist, in einer
Gefahrensituation sein Leben für diese Kreaturen zu geben: „Wir haben vielleicht die
einzigen richtigen Menschen in diesem ganzen verdumpften Laden verloren, und statt nach
ihnen zu suchen, riskieren wir unser Leben für irgend...so’n Code!“14
Im Unterschied zu den menschlichen Benutzern jedoch, können sie ihre Simulation nicht
verlassen. Sie sind genau wie Accessoires: nicht von einer Welt in die andere überführbar.
Persönliches Eigentum hingegen wird in die nächste Simulation überführt: „...in der einen
Simulation ein Schwert, und in der nächsten hatte er es wieder... Das war persönliches
Eigentum – wie Kleidungsstücke. Das geht überall mit, wo der Sim hingeht. Und einige der
Dinge, die mitgehen...wie zum Beispiel ein Boot, die tauchen in der nächsten Simulation
wieder auf, aber in veränderter Form... Wie das Schiff...das ein Blatt geworden war...“ 15
Replikanten sind weiterhin darauf programmiert, ihre Welt und die eigene Existenz in dieser
Welt nicht in Frage zu stellen. Dazu gehört auch, dass sie über ungewöhnliche Vorfälle oder
Unwissen der menschlichen Benutzer hinwegsehen, anstatt mißtrauisch zu werden.
2.3 Vergleich Virtualität mit Realität
Der Ausgestaltung der Virtualität liegt die Realität zugrunde. Wie in der Realität gibt es
virtuelle Büros, in denen virtuelle Meetings stattfinden. Man kann virtuell wohnen und
einkaufen aber auch spielen und allgemein Zeit verbringen. Gegenüber der Realität hat die
Virtualität jedoch den Vorteil, dass man nicht den physikalischen Gesetzen unterliegt. So
kann man sich beispielsweise direkt zum Ziel hinbegeben, ohne hinlaufen zu müssen.
Während des virtuellen Aufenthaltes kann man auf Essen und Trinken, nicht jedoch auf das
Schlafen verzichten. Selbst der Onlineaufenthalt macht den Geist und den Körper müde, so
dass man sich Schlaf gönnen muss. Das virtuelle Sterben äußert sich real in Übelkeit aus, hat
aber keine weiteren Folgen auf das körperliche Befinden des Benutzers. Da es aber kein
angenehmes Gefühl ist und zudem bei Onlinespiele den Verlust von Punkten nach sich zieht,
versucht man, es zu vermeiden.
Obwohl man sich mit RL-Alltäglichkeit wie beispielsweise Essen nicht abgeben muss, fällt es
vielen leichter, wenn sie den Tag mit einem Frühstück beginnen können oder gewohnte
Verhaltensweise ausüben dürfen: „... ging ihr das Essen wirklich ab, nicht zur Stillung eines
etwaigen Hungers, sondern zur Einteilung der verfließenden Zeit.“ 16
Der große Vorteil der Virtualität liegt auch darin, dass man sich Träume erfüllen und jeder
Laune frönen kann. Man kann sein, wer man will und sehen, was man möchte. Man muss
nicht weit reisen, um die Welt zu sehen, denn man kann die Welt zu sich ins Wohnzimmer
holen. So kann man sich beispielsweise den alten Menschheitstraum vom Fliegen erfüllen
oder einen Spaziergang auf dem Mars machen.
Das virtuelle Angebot ist jedoch nicht umsonst und so können sich die Reichen jeden Luxus
leisten, während die ärmeren Bevölkerungsschichten auf schlechtes Gear zurückgreifen
müssen. Dieses schränkt die Sinneswahrnehmung ein und macht den virtuellen Aufenthalt
nicht so angenehm, wie es mit einem teuren Equipment sein könnte. Das Netz reproduziert
also das wirtschaftliche Ungleichgewicht.
Erstaunlich ist, dass Kinder im Vorschulalter das Netz vielmehr als Werkzeug begreifen als es
Erwachsene tun. Sie haben keine großen Schwierigkeiten, die Realität von der Virtualität zu
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unterscheiden und selbst realistische Simulationen begreifen sie eher als einen visuellen und
sinnlichen Trick als dass sie diese für real halten.
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Wechselwirkung Mensch-Virtualität
Die Virtualität verhilft den Menschen zu mehr Flexibilität und ermöglicht das Knüpfen
sozialer Kontakte zwischen Menschen unterschiedlichen Kulturen. Sie ist jedoch nicht nur
positiv zu betrachten und kann gerade im sozialen Bereich zur Isolation führen.
Im Folgenden werden die Aspekte aufgelistet und abgewägt.
3.1 Sozialer Aspekt
Im Netzwerk treffen die unterschiedlichsten Kulturen aufeinander. Vor allem für Menschen,
die nicht so oft die Welt bereisen, ist das eine gute Möglichkeit zum kulturellen Austausch.
Man kann räumliche Barrieren überwinden und seinen Horizont erweitern, ohne sich damit in
Unkosten zu stürzen. Beim Spielen oder beim Chatten kann man mit Leuten
unterschiedlichster Kulturen Kontakte knüpfen, was sonst nur schwer möglich wäre. Die
Globalisierung hat durch die Virtualität ihren Höhepunkt erreicht.
Für Leute mit Behinderung bringt die Anonymität der Virtualität den Vorteil, dass sie andere
Leute leichter kennen lernen und sogar Freunde gewinnen können, was sich auf normalem
Weg schwieriger gestalten würde. Selbst wenn sie in der Realität an den Rollstuhl oder ans
Bett gefesselt sind, können sie virtuell körperlich aktiv sein, Abenteuer erleben und ihre
Freizeit nach ihren Wünschen und ohne Einschränkungen gestalten.
Alter, Geschlecht und Aussehen spielen ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Der
achtzigjährige Sweet William kommt beispielsweise über Online Spiele in Kontakt mit
Teenager und schließt Freundschaften. „Wer schert sich im Netz schon drum, was einer
ist?“17 Die junge Sam kann sich als Junge ausgeben, um eher akzeptiert zu werden und um
Neckereien aus dem Weg zu gehen. In der Virtualität zählt nicht, wie man ist, sondern wie
man sich gibt und auch wie man sein möchte.
Freunde, die man online kennengelernt hat, können zu sehr engen realen Freunden werden. So
hat Orlando Sam zwar krankheitsbedingt noch nie offline kennengelernt, hätte es aber gerne
getan. Während ihrer Abenteuer in Otherland hat sich gezeigt, dass die beiden mehr als nur
das Interesse am Onlinespiel Mittland verbindet. Als Orlando schließlich stirbt, erweisen ihm
auch andere Spielgefährten auf ihre Art die Ehre: „Es war eine schöne Feier...ein paar andere
aus diesem Mittland sandten eine Art Tribut, der auf dem Wandbildschirm der Kapelle
gezeigt wurde. Voll von Ungeheuern und Burgen und solchen Sachen.“18
Ein weiterer sozialer Aspekt ist die Tatsache, dass es unter Teenager und Kinder cool ist, ein
Netgirl oder Netboy zu sein. Man trifft sich nach der Schule im Netz und wer nicht dabei ist,
hat den Anschluss verpasst und kann später nicht mitreden. Wer angeben will, erzählt von
seinem illegalen Eindringen in zensierte Clubs und vom neuesten Equipment, über das er
verfügt. Das hat auch negative Folgen, denn man läuft der neuesten Technik hinterher, wie
man sonst jeden Modetrend mitmachen will und wer es sich nicht leisten kann, der stiehlt sich
die Technik oder benutzt schlechtes Gear, weil er sonst nicht mitreden kann. Über
gesundheitliche Schäden denken vor allem junge Leute nicht nach.
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Zur „dunklen“ Seite des Netzes gehören Clubs wie Mister J’s, dessen Angebote von vielen als
Ventil für Aggressionen genutzt werden. Grausamkeiten wie beispielsweise das Foltern oder
Morden können ausgelebt werden, ohne dafür gesetzlich belangt zu werden.
3.2
Gefahren
Problematisch wird das allerdings, wenn man sich immer mehr mit seiner selbst erschaffenen
VL-Figur identifiziert. Der schwerkranke Orlando, der die meiste Zeit in einem virtuellen
Spiel als starker Barbar Thargor verbringt, kann sich mit seinem Körper fast nicht mehr
identifizieren: „Die Vorstellung, dass er tatsächlich einen anderen Körper hatte, war seltsam.
Er lebte jetzt schon so lange hier in diesem Thargorsim, dass sein sonstiges Dasein ihm
langsam wie eine Fiktion vorkam“. 19
Ist die virtuelle Figur interessanter als die eigene Person, neigt man dazu, sich mehr mit der
erschaffenen Figur zu identifizieren und wird im Laufe der Zeit mit sich selbst noch
unzufriedener.
Schwierig wird es auch, wenn das virtuelle Leben den größten Teil der Freizeit in Anspruch
nimmt und man für sein virtuelles Leben sogar den Bruch sozialer Beziehungen in der
Realität in Kauf nimmt. Man investiert keine Zeit darin, seine Kollegen oder Schulkameraden
kennenzulernen, es sei denn, dies geschieht über das Netz. Alle sozialen Aktivitäten und die
Freizeit beschränken sich auf das Netz. Je mehr der Geist an Bedeutung gewinnt, desto mehr
vernachlässigt man seinen Körper. Muskeln werden durch Sport nicht mehr gefördert und
dadurch leiden viele Benutzer an Muskelschwund aufgrund fehlender Bewegung.
Ihre Augen verlieren an Sehkraft, sie leiden an chronischem Stress und Desorientiertheit oder
können sogar den Tod durch Verhungern oder Verdursten erleiden.
Viele Benutzer von schlechtem, billigem Gear bekommen eine Überdosis Charge, die dem
Gehirn schadet und zudem schon früh zur Abhängigkeit führt.
4. Eigenleben der Virtualität
Die virtuellen Welten des Otherland-Netzwerkes wurden nicht fest programmiert, sondern
haben sich aus simplen Automaten heraus selbständig entwickelt. Diese Automaten sind zu
immer komplexeren Organismen herangewachsen und wurden dann zu Bausteinen für
Menschen, Tiere und Pflanzen. So eine Simulation, die Bewohner und Orte wachsen lässt,
wird immer komplexer und kann sich, vor allem, da sie so flexibel ist, zu etwas ganz anderem
entwickeln als das Leben in der Realität.
Es wäre zu überlegen, was passieren würde, wenn die Replikanten zu einem Bewusstsein
außerhalb der Simulation gelangen würden und die Simulation nicht mehr benötigen würden.
Wäre ein Leben ohne Körper die nächste Stufe in der Evolution? Wäre auch der Mensch
reiner Geist? Wird das virtuelle Leben die Zukunft das Daseins darstellen?
Am Ende des Buches fliegen die erschaffenen virtuellen Gestalten, die zu einem eigenen
Bewusstsein erlangt sind, in den Weltraum. „Sie können mit dem Laser fliegen...sind
schließlich nur Daten...Solange das Licht sich fortbewegt, werden sie dort sein...werden sie
ein Zuhause haben.“20
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Sie stellen für Williams eine Weiterentwicklung des Menschen dar, die reines Bewusstsein
ist, reine Information und nicht mehr an Körper, Raum und Zeit gebunden sind. Sie sind die
Kinder der Menschen, die sich ihren eigenen Weg suchen müssen. Obwohl Williams Vision
mehr Fantasy als realitätsnahe Zukunftsvision ist, ist der Gedanke, dass virtuelle Wesen zu
einem eigenem Bewusstsein gelangen und eine andere Art von Leben darstellen können,
meiner Meinung nach nicht abwegig.
5. Zusammenfassung
Die virtuelle Präsenz in Tad Williams Roman „Otherland“ ist im Grunde ein Abbild der
Realität: obwohl physikalische Gesetze nicht gelten, gestalten sich die Menschen die
Virtualität vorwiegend nach dem Vorbild der Realität.
Für Williams ist die Virtualität nicht nur eine positive Entwicklung: die Kluft zwischen Arm
und Reich ist nicht zu übersehen, dubiose Clubs wie z.B. das Mr. J’s bieten ihren Gästen das
Ausleben jeglicher Fantasien (Gewalt mit eingeschlossen) und der Gralsbruderschaft ist jedes
Mittel, sogar vielfacher Mord, recht, um ihrem Ziel, dem ewigen Leben im OtherlandNetzwerk, näher zu kommen.
Hinzu kommt, dass sich die Menschen nicht nur der Technik bedienen, sondern auch schon
abhängig davon sind.
Die Wirtschaft hat sich ebenfalls eingeschlichen und so ist der Traum von einem freien
Netzwerk ein Wunschtraum geblieben. Denn nur wer Geld hat, kann sich einen angenehmen
und längerfristigen Netzaufenthalt leisten.
Obwohl bei Otherland ein wilder Genre-Mix von Fantasy mit Science-Fiction zu finden ist,
hat sich Williams in den vier Bänden bemüht, ein realistisches Bild der nahen Zukunft zu
schildern: seine Vision der Virtualität als ein Teil des Lebens, mit all seinen guten und
schlechten Seiten.
Referenzen
1. Otherland – Band 1: Stadt der goldenen Schatten, Tad Williams
2. Otherland – Band 2: Fluss aus blauem Feuer, Tad Williams
3. Otherland – Band 3: Berg aus schwarzem Glas, Tad Williams
4. Otherland – Band 4: Meer des silbernen Lichts, Tad Williams