Verführung ist die wahre Gewalt

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Verführung ist die wahre Gewalt
Verführung ist die wahre Gewalt
Holger Warnecke inszeniert G. E. Lessings „Emilia Galotti“ an
der Goetheschule Hannover mit viel Schwung als spannende
Geschichte aus dem modernen Popbusiness
„Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater,
so jugendliches, so warmes Blut. Ich stehe für nichts.“
So spricht Emilia, das Objekt der Begierde des Prinzen, das Objekt der finsteren Ränke
Marinellis, des Prinzen rechter Hand, am Ende der Inszenierung. Emilia ist verloren in einer
Gefühlsverwirrung, denn ihr Verlobter, ihr Fast-Bräutigam, der Graf Appiani, ist soeben
ermordet worden, und der mächtige Prinz buhlt unter Zuhilfenahme all seiner Macht um ihre
Gunst. „Ich stehe für nichts“, schleudert sie immer wieder ihrem fassungslosen Vater ins
Gesicht, was so viel heißt, wie: „Ich kann für nichts garantieren.“ Die Lust, die Erotik (der
Macht?) lässt sie an ihrer Standhaftigkeit zweifeln und den moralischen Offenbarungseid
leisten. Dass Emilia am Ende eine Rose demonstrativ entblättert, spiegelt als (Sinn-)Bild den
Satz, der Vater und Tochter zuvor in größter Verzweiflung emotional vereint: „Eine Rose
gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert.“ Während im Drama dieser Satz aber die Tötung der
Emilia durch den Vater rechtfertigt (ein radikaler Schritt, der die Tochter vor der Schande
bewahrt, sich dem Prinz hinzugeben oder hingeben zu müssen), bleibt die Situation in dieser
Inszenierung offen.
Doch fangen wir von vorne an: Das Unheil nimmt seinen Lauf, als der Prinz (Mirco Ahrens),
der seiner bisherigen Geliebten, Orsina (Wiebke Beushausen), überdrüssig und schon in
Emilia (Tamara Semzov) verliebt ist, erfährt, dass eben diese Emilia am selben Tag Graf
Appiani (Volkan Karakale) heiraten soll. Während der fantasielose Prinz vor Verzweiflung in
Hilflosigkeit erstarrt, schlägt die große Stunde des intriganten Marchese Marinelli (Matwej
Novakovski). Dieser erbittet sich „freie Hand“ und lässt sich im Voraus alles genehmigen,
was er tut. Marchese „007“ Marinelli sorgt nun dafür, dass der Bräutigam, mit dem er „privat“
noch ein Hühnchen zu rupfen hat, bei einem vorgetäuschten Überfall ums Leben kommt und
somit aus dem Weg geräumt wird. Gleichzeitig werden Mutter und Tochter Galotti gerettet
und – welch Zufall! – auf des Prinzen Lustschloss in Sicherheit gebracht, sodass sie dem
Prinzen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Alles liefe soweit glatt im Sinne der
Ränkeschmiede, wäre da nicht die gekränkte Gräfin Orsina: Die abgelegte Liebhaberin des
Prinzen kann keine süßere Rache finden, als Odoardo (Mykhaylo Kasay) über das Schicksal
seiner Familie inklusive verschiedenem Schwiegersohn in spe zu informieren, was
unweigerlich zum Showdown führt…
Mit viel Schwung und starker Bühnenpräsenz gelingt den jungen Schauspieltalenten um
Regisseur Holger Warnecke die Quadratur des Kreises: Ein altes Stück modern aufzuführen,
es nicht zu sehr zu verbiegen, aber doch ganz eigenständig zu interpretieren. Erstaunlich
frisch und natürlich wirkt der knapp 250 Jahre alte, behutsam gekürzte Originaltext Lessings,
der nur gelegentlich und mit einem spürbaren Augenzwinkern des Regisseurs z.B. durch ein
eingestreutes „o.k.!“ verjüngt wird. Lessings heute vermeintlich spröde wirkende Sprache ist
„itzt“ überhaupt kein Problem und „beleidiget“ auch gar nicht die Ohren, denn die
Schauspieler verstehen es ausgezeichnet, die Zeilen so zu produzieren, dass das Verständnis
dem Zuschauer überraschend leicht fällt. Manchmal hilft auch eine Wiederholungsschleife,
die mit Intonationsvarianten spielt und Kernstellen geschickt akzentuiert.
All das wäre nichtig ohne die fesselnde Bühnenpräsenz der jungen Schauspieler. Mirco
Ahrens als Prinz eröffnet den munteren Reigen und legt mit seinem famosen Gitarrenspiel
gleich die Gangart fest: Flott und fetzig! Matwej Novakovski als Schurke schwitzt gerissene
Boshaftigkeit aus jeder Hautpore aus und beherrscht das fiese Grinsen und diabolische
Lachen in Perfektion. Umso erstaunlicher, dass Volkan Karakale als sein Gegenspieler, Graf
Appiani, dem Bösewicht "mit der Lizenz zum Töten" zunächst Paroli bieten kann, obwohl er
einen ganzen Kopf kleiner ist. Appiani, der anfänglich noch fast niedlich wirkt, wie er von
Emilia ganz verzückt ist und den perfekten Schwiegersohn mimt, verwandelt sich in eine
gefährliche Kampfmaschine, sobald er sich von Marinelli provoziert fühlt. Der artistische
Zweikampf der beiden räumt jeden Zweifel darüber aus, ob hier mit vollem Körpereinsatz
gespielt wird. Dass auch Emilias Vater, unter Volldampf gespielt von Mykhaylo Kasay,
angesichts des Gangs der Handlung kaum zur Ruhe kommt, versteht sich von selbst.
Die Frauenrollen sind nicht weniger stark besetzt. Allen voran natürlich mit Tamara Semzov
in der Hauptrolle der Emilia. In ihrem bezaubernden Kleid rauscht sie über die Bühne, ist mal
im siebten Himmel verliebt, mal zu Tode erschrocken. Dass sie selbst Tränen auf Kommando
fließen lassen kann, belegt die exzellente Technik, mit der hier agiert wird. Wiebke
Beushausen als Gräfin Orsina begeistert in ihrer Rolle als realistischer, aber dennoch von der
vergänglichen Zuneigung des Prinzen enttäuschter Vamp, der zum kaltblütigen Racheengel
mutiert. Durch ihre Intensität der Verkörperung schafft sie sich geradezu eine heimliche
weibliche Hauptrolle. Den weiblichen Gegenpart verkörpert Emilias Mutter Claudia, die von
Navneet Klair in ihrer Bravheit und Naivität entzückend gespielt wird. Überzeugen kann nicht
zuletzt aber auch Dana Kaufmann als Künstlerin, die sich nach der Modernisierung des
Stücks als kecke Fotografin entpuppt.
Beim schlichten Bühnenbild ist Regisseur Holger Warnecke seiner Linie treu geblieben.
Wieder einmal schafft er es mit ganz wenig Requisiten, den Raum dennoch zu füllen: Da gibt
es Stühle und Hocker, herumliegende Briefe oder herzförmige Luftballons. Überhaupt - die
Herzen: Die Redensart, dass jemand das Herz am rechten Fleck hat, wird hier sinnbildlich in
kleine rote Herzen übertragen, die die Figuren immer dabei haben: Emilia z.B. an der Brust,
der Prinz dagegen in der seitlichen Jackentasche! So entstehen starke Standbilder, in denen
die Akteure ihre Herzen gemeinsam halten, zerreißen, wegwerfen oder gar dem Gegenüber
den Mund damit stopfen. Das Herz als Sinnbild der Liebe - der Liebesfähigkeit! - wird zum
überzeugenden Leitmotiv.
Die Technik, die für perfektes Licht und gute Abmischung der musikalischen Einlagen sorgt,
tut ein Übriges, um den Zuschauer trotz aller Dramatik der Handlung gut zu unterhalten und
die hochklassige Leistung auf der Bühne abzurunden. Alles in allem kann man der jungen
Schauspieltruppe nach dieser überaus gelungenen Premiere mit lang anhaltendem
Schlussapplaus nur zurufen: „Eure Gestalt ist die wahre Verführung!“
Kai Kämmerer

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