carnaby street - Tapperpress.com
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REPORTAGE D as ist cool. Man sieht’s an der langen Schlange. Bei Liam Gallagher, 38, Ex-Sänger der Britpop-Band Oasis, drängeln sich die Teens: Im „Pretty Green“, seiner Boutique auf der Carnaby Street, verkauft er schwarz-weiß gestreifte Sakkos für stolze 475 Pfund, umgerechnet 570 Euro – anwesend aber ist das Idol nicht. Dafür ist er da: Philip Townsend, 70 Jahre, Leibfotograf der Beatles, Chronist einer Ära, Mitbegründer eines Mythos, dem das US-Magazin „Time“ 1966 einen treffenden Namen gab: die Swinging Sixties. Als ich mit ihm über die Carnaby Street schlendere, trägt er gelbe Turnschuhe zu rosa Socken, ein schwarzes Polo-Shirt, ausgebeulte Jeans. Sein rötliches Haar mag schütter und grau meliert sein, doch seine Erinnerungen an die wilden Zeiten auf der berühmtesten Straße Londons sind lückenlos. Er hat sie alle fotografiert: die Beatles, die Rolling Stones, das superdünne Model Twiggy mit den Kulleraugen und aufgemalten Wimpern. Townsends Lieblingsmotiv jedoch war weder Paul McCartney noch das knappe Kleid der Minirock-Erfinderin Mary Quant, sondern die legendäre Meile selbst. Was auf dem kleinen Straßenzug im Herzen Londons vor fünfzig Jahren passierte, hat das MIT LEOPARD DURCHS Bild einer ganzen Generation geSZENE-VIERTEL GING prägt: Auf der Carnaby führte Tom Jones einen Leoparden an der Leine spazieren. Hier wurden die ersten Miniröcke verkauft, hier rüttelten junge Männer mit Pilzkopf-Frisur, geblümten Hemden und spitzen Schuhen am Bild vom steifen England. „Jede Woche kamen Aufträge von Zeitungen aus ganz Europa und Amerika, und alle wollten, dass ich Swinging London fotografiere“, erinnert sich Townsend. Das einst arme Viertel, Auffanglager während der Pest von 1665, Fleisch- und Gemüsemarkt seit 1730, wurde zur Keimzelle der π Als Tom Jones HAPPY BIRTHDAY CARNABY STREET 70 FÜR SIE 21/2010 Wer gern auffällt, findet auf der Carnaby Street das passende Outfit – in den Sechzigern (diese Seite) und heute (links) In den Swinging Sixties machten Musiker und Designer die Straße zu Londons Kult-Meile. Jetzt wird sie 50 – und ist wieder richtig hip REPORTAGE DIE STRASSE ROCKT! 2 Citylage umfasst: eine Schnittstelle zwi- weil er eine Smith & Wesson in der schen dem bunten Soho mit seinen Bars Hosentasche hatte. Nur die Beatles zeigund Theatern und dem feinen Mayfair. ten sich nach ihren Meditationen mit Überraschenderweise hat der Kommerz dem indischen Guru Maharishi Mahesh den Kult noch nicht überrollt. Carnaby Yogi, der mitsamt seinem silbernen ist eine Oase der Kreativität geblieben. Rolls-Royce der Carnaby einen Besuch Immerhin 60 Prozent der Geschäfte abstattete, bereits erleuchteter. 1967 versind keine Kettenläden, sondern unab- öffentlichen sie ihr Carnaby-inspiriertes Kultalbum „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts hängige kleine Boutiquen. Der Fotograf weiß auch nicht mehr so Club Band“. genau, wann alles anfing. Aber wie. Im Und heute? Ist die Carnaby Street noch London der Nachkriegszeit war das alte immer unvergleichlich, meint Philip Klassengefüge noch intakt. „In die Stadt Townsend. „Sie hat ihre Identität bekamen nur die Reichen“, erzählt wahrt.“ Mit gezielter Förderung junger Talente durch die Townsend. Die Jungen Stadt ist der Bezirk, lebten in den Vororten der in den 80er Jahren oder in Manchester, im Touristen-Nepp Birmingham, Liver- MIT SEINER versunken war, wiepool. „Niemand hatte LINDA FLIRTETE der hip geworden. Geld, alle warteten daJetzt mischen Frauen rauf, das was passierte.“ Dann wurden die ersten Stipendien wie Wafa, 24, mit. Die junge Designerin vergeben, etwa für das College of Arts mit arabischem Elternhaus ist Herausund das London College of Fashion. geberin des Magazins „Sketchbook“, das Auch Arbeiterkinder konnten so ihre teilweise öffentlich im Kingly Court produziert wird. Fiona Deffenbaugh, 28, Kreativität ausleben. Psychedelische Stoffmuster, Regenbo- Schmuckdesignerin aus Glasgow, vergen-Plattenhüllen, Papierkleider, Ja- kauft in ihrem Retro-Lädchen „Black cketts, bedruckt mit der britischen Flag- Pearl“ Vintage-Kostbarkeiten – ganz in ge, Herrenslips mit Zebrastreifen – der Carnaby-Tradition, Newcomern von plötzlich war alles möglich. Arbeiter- außerhalb eine Chance zu geben. Laura 8 Jungs rebellierten mit Hipster-Hüft- Thomas lässt Brautträume mit Hochhosen und bis zum Nabel geöffneten zeitsklassikern aus den 20er bis 60er Revolte gegen das Establishment. Schrä- Hemden gegen Schirm, Charme und Me- Jahren wahr werden. Schon der Name ge Typen gab’s hier schon immer. Apro- lone. „Wir waren keine Hippies“, betont ihres in Mint und Schwarz gehaltenen pos, wie war das eigentlich damals mit Philip Townsend, „wir waren Dandys.“ Ladens ist Programm: „Fur Coat, No KniTom Jones und dem Leoparden? „Der Die schrägen Mode-Gags lockten Musi- ckers“, was zu Deutsch heißt: „Unterm Leopard war der einzige in ganz Lon- ker an. Ein Agent namens Andrew Loog Pelzmantel kein Slip.“ don“, erzählt Townsend. „Ein Freund Oldham suchte die perfekte Rock-’n’-Roll- Typisch britischer Humor, typisch CarBand – und fand die naby Street. Davon hat auch Martin von mir hielt ihn Rolling Stones. Paul Brighty genug, Krawattenverkäufer an im Hinterhof seiMcCartney flirtete der feinen Newburgh Street. Sein Lädnes Hauses und verseine erste Frau Lin- chen mit dem spitzfindigen Namen mietete ihn zu Wer- ENDETE DIE da im „Bag of Nails“- „Peckham Rye“ – englischer Slang für bezwecken.“ Philip Nachtclub an. Heute Krawatte – misst keine zehn QuadratTownsend bestellt PARTY IM GEFÄNGNIS sitzt in dem Gebäu- meter, dabei gehört dem 38-Jährigen uns zwei Earl Grey Tee im Kingly Court, einem lauschigen de der „Kingly Club“, immer noch eine und seinem Partner David Walker eines der größten Krawatten-Imperien des KöInnenhof. Genau das richtige Plätzchen, angesagte Adresse in London. Tagsüber wurde entworfen und ver- nigreichs mit Filialen in Moskau und um über alte Zeiten zu plaudern. Der Kingly Court gehört auch zum Car- kauft, nachts gefeiert. „Im Grunde war New York. Aber nur in London steht naby-Viertel, das heute zwölf Straßen- alles harmlos“, meint Zeitzeuge Town- der Unternehmer selbst im Laden. Das, züge mit 185 Geschäften, Bars, Cafés send. Trotzdem „waren Festnahmen an so findet Brighty, ist er dem Erbe der x und Restaurants auf nur knapp einem der Tagesordnung“. Mick Jagger traf’s Carnaby Street schuldig. halben Quadratkilometer in teuerster wegen Marihuana-Besitz, Keith Richards, ANDREA TAPPER Wo McCartney 1 5 3 4 6 7 FOTOS: Bruce Adams/Camera Press/Picture Press, Bulls/Infgoff, Carl Court/PA Wire/ Picture-Alliance, Drysdale/Camera Press/Picture Press, Yui Mok/PA Wire/PictureAlliance, Rex Features (2), Tapperpress, Tapperpress und Townsend/Tapperpress (2) 1 Buntes Pflaster: die Carnaby Street in London. 2 Sixties-Ikone: das Model Twiggy. 3 Der Mythos wird exportiert: Für die TV-Serie „Ugly Betty“ wurde in New York die Carnaby Street nachgebaut. 4 Man sieht’s noch heute: Blumenkinder liebten das Viertel. 5 Retro-Chic auch auf der Bühne: die Britpop-Band Connett beim jährlichen Straßenfestival. 6 Ließ sich vom Leben auf der Kultmeile inspirieren: Paul McCartney. 7 Erlaubt ist, was gefällt: Kleine Szene-Boutiquen prägen das Straßenbild. 8 BeatlesFotograf Philip Townsend (70) plauderte mit uns über die 60er Jahre Für Mick Jagger FÜR SIE 21/2010 73