Gespräch mit Claude Nobs

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Gespräch mit Claude Nobs
Das Kulturmagazin – Du 808 – Juli /August 2010
Geniessen Sie Gauguins «Der Markt»,
ohne an Börsen denken zu müssen.
Montreux Jazz Festival
Das Kulturmagazin – Nr. 808 – Juli /August 2010
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Inhalt
I. Thema
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Der Sammler und sein Festival – Christian Rentsch
Seit 1967 gibt es das Gesamtkunstwerk Montreux Jazz Festival – ein
bunter Mix aus Pop, Jazz, Blues und World Music. Das grösste und spektakulärste
Sommerfestival der Schweiz war aber stets auch eine Fabrik für hochkarätige
Ton- und Fernsehaufnahmen. Dank Claude Nobs, dem Mitbegründer und
langjährigen Festivalleiter.
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«Ich hasse dieses Spiel» – Gespräch mit Claude Nobs
Er ist kontaktfreudig und charmant und hat nach 43 Jahren inmitten
der besten Musiker der Welt viele Anekdoten auf Lager. Er ist aber auch bissig
und streitbar und immer schwer zu packen. Claude Nobs, der 74-jährige Festivalleiter von Montreux, hat uns ein unüblich offenes und nachdenkliches Gespräch
gewährt über die Veränderungen im Musikgeschäft und in seinem Leben.
I.
Festivalgeschichte – Christian Rentsch
12
Archiv der Rhythmen
22
«Ich mache das Spiel mit, aber ich hasse es auch»
32
Wo die Musik zu Hause ist
Es wird viel geschimpft über das Montreux Jazz Festival:
zu wenig Jazz, zu viel Fest. Tatsächlich befindet sich der
Anlass in einer Art Midlife-Crisis. Doch wie gefährdet ist
der «Mythos Montreux»? Ein Blick hinter die Kulissen
zeigt: Das Herz der Musik schlägt weiterhin am Genfersee.
Jamie Lidell im Gespräch mit Adrian Schräder
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«Quincy Jones nahm mich in den Schwitzkasten»
Er kommt im Morgenrock auf die Bühne, wo er den Soul in
einen neuen Morgen führt. Mit seiner Improvisationsgabe
und dem Willen, sich nie zu wiederholen, hält der Engländer
Jamie Lidell den Geist von Montreux am Leben.
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Nach der Landung
Der Basler Fotograf Matthias Willi hält Musiker unmittelbar
nach Konzertende fest. Im Zwischenreich von Rausch, Einsamkeit und Erschöpfung, im Niemandsland hinter der
Bühne, wo sie ihre professionelle Maske sinken lassen, entstehen sehr persönliche Offenbarungen.
Gespräch mit Claude Nobs – Jean-Martin Büttner, Christian Rentsch
Festivalszene – Ane Hebeisen
Portfolio – Matthias Willi
Herbie Hancock im Gespräch mit Albert Kuhn
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«Montreux ist mein Lieblingsfestival»
Keiner ist so häufig in Montreux aufgetreten wie der vielfach
ausgezeichnete Pianist und Komponist Herbie Hancock.
Er hat den Jazz erneuert, indem er ihn mit anderen Stilen
verwob. Dasselbe Konzept, den Kulturaustausch, sieht er
für die Zukunft der Musik – und der Welt.
Nachwuchswettbewerb – Adrian Schräder
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Besser als Norah Jones, besser als Jamie Cullum
Musik von Welt zu Gast in der Provinz: Die Gewinner des
Nachwuchswettbewerbs von Montreux trafen sich im Januar
2010 zu Aufnahmen im Toggenburg. Zwischen geräuchertem
Fisch und Individualistentum zeigte sich viel junges Talent.
Lori Immi im Gespräch mit Adrian Schräder
48
«Der Kampf wird härter»
Lori Immi ist seit 1994 Programmleiterin der Miles
Davis Hall am Montreux Jazz Festival. Sie stellt fest:
Das Publikum zahlt gerne einen Aufpreis, wenn es
dafür mehr erwarten darf. Gleichzeitig liegt im ständig
wachsenden Festivalbusiness die Latte immer höher.
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Inhalt
II. Horizonte
74
«Ich wollte die Grimms rausholen aus dem 19. Jahrhundert»
– Gespräch mit Günter Grass über sein neues Buch
Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm ist das Standardwerk der deutschen
Sprache schlechthin. In seinem neuen Buch Grimms Wörter greift Günter Grass
dessen Entstehungsgeschichte auf und macht zugleich eine Liebeserklärung – an
die Sprache, die Literatur und die Leser.
74
III. Sélection
114
Ausstellungstipp, Theatertipp
Voyeurismus ist älter als Google Street View, YouTube und Handykameras. Die spannende Ausstellung zum Phänomen findet in der Londoner Tate
Modern statt: Exposed. Voyeurism, Surveillance and the Camera. Martin Heckmanns
und Rebekka Kricheldorf begeben sich auf Geschichts- und Geschichtensuche in
Ostdeutschland – dem Zentrum der deutschsprachigen Dramatik.
II.
III.
Günter Grass im Gespräch mit Thomas David
110 Urs Stahels Sichtweisen: Luigi Ghirri
«Die Geschichte der Grimms ist auch eine politische
Geschichte»
112 Raffinierter leben mit Ludwig Hasler
114 Bice Curigers Ausstellungstipps
Vorabdruck – Günter Grass
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Der Engel, die Ehe, das Ende
Die Brüder Grimm und der Buchstabe E: Du präsentiert in
einem exklusiven Auszug aus Günter Grass’ neuen Buch.
Kunst – Brigitte Ulmer
88
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118 Stefan Zweifels Literaturtipps
120 Filmtipp: Martin Walder über «Romans d‘ados»
121 Theatertipp von John von Düffel
Leuchtturm im Niemandsland
Wie kommt Aarau zu einem der engagiertesten Kunsthäuser
der Schweiz? Das anstehende Jubiläum von Kunstverein
und Kunsthaus ermöglicht spannende Einblicke.
122 Jazztipp: Steve Tibbetts
Madeleine Schuppli im Gespräch mit Brigitte Ulmer
126 Migros-Kulturprozent: Der Dirigent John Eliot Gardiner
«Schweizer Kunst entsteht in globalen Zusammenhängen»
Die Direktorin des Aargauer Kunsthauses, Madeleine
Schuppli, hat ihre «Nationalgalerie der Schweiz» spürbar
verjüngt. Das Haus steht nun vielen Künstlern offen.
Kunst – Felicity Lunn
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116 Fotobuch: «The Ruins of Detroit»
Gestern wird es besser
Eine Gruppenausstellung mit nationalen und internationalen
Künstlern ums Thema der Erinnerung und deren Bedeutung für die Zukunft.
123 Klassiktipps ⁄ Poptipps
124 Opernhaus Zürich: Die Szenografin Penelope Wehrli im
Dialog mit Kurator Detlev Schneider
130 Vorschau «Du» 809: Dayanita Singh
–
3
Editorial
8
Impressum und Bildnachweis
66
Back-Issues und Abonnementkarte
Musik – Albert Kuhn
104 Die Speerspitze der Evolution
Die Plastic Art Foundation ist vielleicht das ungewöhnlichste
musikalische Unternehmen der Schweiz: Es plant einen Aufstand der Musik zur Umwälzung der Gesellschaft.
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I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen
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Ray Charles, zur Zeit der Rassentrennung in den USA aufgewachsen, war einer der bedeutendsten Wegbereiter des Soul. In Montreux begeisterte er ein hauptsächlich
weisses Publikum. Heute ehrt eine Bronzeplastik gegenüber des Palace Hotels den erfolgreichsten schwarzen Entertainer seiner Generation.
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Archiv der Rhythmen
Seit 1967 gibt es das Gesamtkunstwerk Montreux
Jazz Festival – ein bunter Mix aus Pop, Jazz, Blues und
World Music. Das grösste und spektakulärste Sommerfestival der Schweiz war aber stets auch eine Fabrik
für hochkarätige Ton- und Fernsehaufnahmen. Dank
Claude Nobs, dem Mitbegründer und langjährigen
Festivalleiter.
Von Christian Rentsch
«Ohne eine Reihe glücklicher Zufälle gäbe es kein Montreux Jazz
Festival …», sagt Claude Nobs; den Rest des Satzes lässt er unausgesprochen im Raum stehen. Denn man weiss es sowieso: Nobs hat
den glücklichen Zufällen immer wieder tatkräftig nachgeholfen.
Oder anders: Ohne Claude Nobs gäbe es das Montreux Jazz Festival
noch viel weniger. Wann das genau begonnen hat mit dieser Geschichte, verliert sich im Dunst jener Anekdoten, die er selber immer wieder gerne erzählt. Etwa diejenige über seinen Vater Henri
Nobs, den Dorfbäcker von Territet bei Montreux, der offenbar an
derselben Krankheit litt, die später auch seinen Sohn befallen hat:
die Leidenschaft des Sammelns. Wie dieser einem Nachbarn, der
einen kleinen Musikladen betrieb und nebenbei alte Schallplattensammlungen auf- und per Kilo weiterverkaufte, zwanzig Kilo
78er-Schellackplatten abkaufte. Wie der siebenjährige Claude so die
Musik entdeckte, mit der er bald seinen ganzen Lebenstraum verband: den Jazz und den Blues.
Auch das gehört zur privaten Vorgeschichte des Festivals:
Nobs junior verstand sich nie als blosser Zuhörer. Er wollte mitmachen, dazugehören zu dieser faszinierenden Glitzerwelt. Stundenlang, so erzählt er, habe er vor dem alten Grammofon die Bigbands
von Basie und Ellington dirigiert, auch wenn die Musiker seine
Einsätze noch nicht immer genau befolgt hätten.
Dann folgten einige eher ruhige Jahre, die letzten ruhigen
im Leben des umtriebigen Musikfans: eine Kochlehre in Basel –
«Weil man als Koch nicht ganz so früh aufstehen muss wie ein
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I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen
Bäcker» –, erste Anstellungen im Grand Hotel von Territet, im
Kongresshaus Zürich, in Düsseldorf, bei der Bankgesellschaft in
Montreux. Dazwischen die Hotelfachschule in Lausanne. Immer
aber spielten im Hinterkopf der Jazz und Blues. In Basel entdeckte
Nobs die Radiosendungen von Frank Tenot und Daniel Filipacchi
auf Europe 1 – in den 1950er-Jahren neben Joachim-Ernst Berendts
SWF-Jazzsessions die einzige brauchbare Quelle für junge Leute,
die sich ernsthaft mit dem Jazz befassten. Im Zürcher Kongresshaus sah er erstmals live amerikanische Stars auf ihren noch seltenen
Europatourneen: Ella Fitzgerald, die kunterbunt zusammengewürfelten Allstar-Bands von Norman Granz mit Roy Eldridge,
Coleman Hawkins, Count Basie und Lester Young. In Lausanne
lernte er Willy Leiser, den Veranstalter von Blues- und Gospelkonzerten, kennen und dessen beträchtliche Plattensammlung.
Als Nobs mit Pfadikollegen auch in Montreux Blues-Konzerte veranstalten wollte, warnte ihn Leiser: «Da musst du aber viel
Geld in die Hand nehmen, mindestens 250 bis 300 Franken.» Dennoch verschaffte Leiser seinem Freund die notwendigen Kontakte,
und bald waren in Montreux regelmässig Bluesmusiker wie Curtis
Jones, Champion Jack Dupree, John Lee Hooker und Willy Dixon
zu Gast. Anfang der 1960er-Jahre holte Raymond Jaussi, der Vater
von zwei Pfadifreunden und Chef des lokalen Verkehrsvereins, den
musikversessenen Koch als Buchhalter in sein Team.
Das war der vermutlich folgenreichste Zufall im Leben von Claude
Nobs wie auch in der Vorgeschichte des Festivals. Denn Raymond
Jaussi war ein unverbesserlicher, aber auch äusserst geschäftstüchtiger Visionär; er hatte weit früher als selbst die meisten Experten das
Zukunftspotenzial des Fernsehens erkannt und wollte dieses für
Montreux nutzbar machen. Denn Montreux war nach dem Zweiten
Weltkrieg von einem mondänen Sommerkurort für den europäischen Adel und für amerikanische Millionäre zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. In langen Gesprächen gelang es Jaussi, die
Bosse des Schweizer Fernsehens zu überzeugen, 1954 in Co-Produktion mit der eben erst gegründeten Union Européenne de
Radio-Télévision (UER/EBU) das legendäre Narzissenfest von
Montreux zu produzieren und in sieben Länder auszustrahlen –
die erste offizielle Eurovisions-Sendung.
Einige Jahre später konnte Jaussi die Vertreter der Dachorganisation der europäischen TV-Sender dazu bewegen, in
Montreux das erste Symposium der UER und die Rose d‘Or zu veranstalten. Ging es beim Symposium vor allem um technische
Fragen, etwa um Normen für die Übertragung, so diente die als
Wettbewerb und Messe konzipierte Rose d‘Or dem Austausch
von Produktionen zwischen den UER-Mitgliedern – Musikshows,
Comedy-Serien, Dokumentarfilme und internationale Sportanlässe.
Nobs erklärt TV-Bossen das Fernsehen
9. 5. –
5. 9. 2010
Um die gewichtigen Herren nach getaner Arbeit bei Laune zu halten, sorgte Jaussi mit exklusiven Galaabenden für Unterhaltung.
Und wer war für diesen Job geeigneter als sein junger Buchhalter,
der längst mehr Beziehungen zum Musikbusiness hatte als sonst
einer in Montreux? Jaussi machte Nobs zum musikalischen Regisseur der Galaabende. Und dieser legte sich ins Zeug: 1964 brachte
er den britischen Sender ITV dazu, seine renommierte Musikshow
Ready, Steady, Go! live in Montreux zu präsentieren. Stars des
Abends waren Petula Clark und Adamo, als Neben-Act brachte
ITV eine auf dem Kontinent noch weitgehend unbekannte Rockgruppe nach Montreux. Noch heute lacht Nobs über die entgeisterte
Frage eines UER-Verantwortlichen vor dem Galaabend: «Wer sind
denn diese Rolling Who?» Es war der erste Liveauftritt der Rolling
Stones ausserhalb Englands.
Zwei Jahre später gelang es Nobs, den Jazzpianisten Erroll
Garner nach Montreux zu holen. Wieder halfen Jaussi und Nobs
der Zukunft etwas nach: «Ich fand es absurd, dass ein Galaabend
der europäischen Fernsehbosse ohne Fernsehen über die Bühne gehen sollte. Nach stundenlangem Feilschen war die Managerin von
Garner dann aber bereit, seinen Auftritt aufzuzeichnen.» So entstand die erste TV-Aufzeichnung eines Montreux-Konzerts – und
eine der ganz wenigen Fernsehmitschnitte, die es von Erroll Garner
überhaupt gibt.
Das Garner-Konzert gab den Anstoss für den nächsten
Coup. Weil die meisten europäischen Sender damals (wie heute)
keine eigenen Jazzsendungen produzierten, überredeten Jaussi und
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Sladjan Nedeljkovic, Ausschnitt aus Konstellationen, 2009
Nobs den Direktor von Radio Suisse Romande, neben Symposium
und Rose d‘Or ein UER-Jazzfestival nach dem Muster des Concours
Eurovision de la Chanson zu initiieren: Jedes Land sollte auf eigene
Kosten eine Jazzgruppe nach Montreux delegieren, dafür erhielten
alle 23 Länder die Senderechte für alle Konzertmitschnitte.
Noch heute wundert sich Nobs, dass es so viel Überredungskunst brauchte, um die Fernsehgewaltigen von den Möglichkeiten ihres Mediums zu überzeugen. Schliesslich war es so weit:
Das welsche Fernsehen übernahm die Produktion, das Tourismusbüro die Organisation, und am Wochenende des 18. Juni 1967 ging
das erste Festival de Jazz Montreux über die Bühne des alten Casinos.
«Es war eine ungeheure Plackerei», erinnert sich Nobs, «die paar
Leute vom Office de Tourisme mussten alles selber machen: Plakate
kleben, die ganze Werbung, die Musiker abholen und betreuen,
Tickets verkaufen, die Eingänge kontrollieren, die Bühnenarbeit –
und das alles mit einem Budget von 10 000 Franken. Wir waren
Tag und Nacht auf den Beinen.»
Um dem ersten Festival ein Glanzlicht aufzusetzen, hatte
Nobs den amerikanischen Superstar Charles Lloyd engagiert, der
mit seinem «Hippie-Jazz» für heftige Kontroversen sorgte, aber
von seinem Album Forest Flower gerade über eine Million verkauft
hatte. Schon bei dieser ersten Ausgabe beschränkte sich das Festival
nicht auf die Konzerte im Casino; im Nebenprogramm gab es eine
Fotoausstellung, eine Schallplattenbörse, einen Schlagzeug-Workshop, die Präsentation von Jazzfilmen und Freiluftkonzerte mit
amerikanischen Highschool-Bands im Schwimmbad neben dem
Casino. Alles ganz nach dem Gusto von Nobs: Das Festival als immenser Rummelplatz – und er, als Dirigent, mittendrin.
Raymond Jaussi hatte seinem hyperaktiven Schützling für
seine musikalisch-touristischen Aktivitäten schon früh jede erdenkliche Freiheit gegeben. Und Nobs nützte das auf seine Weise: Auf
seinem ersten Trip in die USA lief er in New York schnurstracks
zum Headoffice von Atlantic Records, einem der drei grossen internationalen Jazzlabels, das neben Jazzstars wie John Coltrane,
Charles Mingus oder Ornette Coleman auch Rhythm’n’ Blues- und
Soul-Künstler wie Ray Charles, Aretha Franklin, Otis Redding
und Rockgruppen wie Led Zeppelin und Yes produzierte. Zwar tat
die Vorzimmer-Sekretärin, was jede andere wohl auch getan hätte:
Sie beschied dem Jungspund, der subito ein Gespräch mit dem
obersten Label-Boss Nesuhi Ertegün verlangte, er solle doch einen
Brief schreiben und dann abwarten, ob dieser ihn empfangen wolle.
Damit war sie bei Nobs an den Falschen geraten – er sei doch nicht
extra aus der fernen Schweiz nach New York gereist, bloss um sich
hier abwimmeln zu lassen. Wer Claude Nobs’ Überredungskünste
und seine Charmeur-Qualitäten kennt, wird diese Anekdote wohl
glauben müssen. Auf jeden Fall: Beim Stichwort «Switzerland»
brach die Abwehr der Sekretärin zusammen. Denn jedermann im
Unternehmen wusste, dass Nesuhi und Ahmat Ertegun, die beiden
Bosse, als Söhne eines früheren türkischen Botschafters in Bern die
Schweiz enthusiastisch liebten.
Es folgte ein stundenlanges Gespräch mit Ertegün über
die Schweiz, über den Genfersee und seine Weinberge, über die
Alpen und das Schloss Chillon, bis man endlich zur Sache kam und
Nobs dem mächtigen Atlantic-Boss von seiner Vision erzählte, den
Jazz und Soul nach Montreux zu bringen. Worauf Ertegün den
kecken Schweizer sofort und bis zum Lebensende ins Herz schloss
und ihm jede Unterstützung versprach – und ihm diese später tatsächlich auch gewährte. Das blieb so, als Atlantic kurz darauf Teil
des grossen Warner-Konzerns wurde: Nobs übernahm später als
Artists Relation Manager in der Schweiz, als Chef des in Montreux
angesiedelten Departements Video Duplication und als Geschäftsleitungsmitglied über Jahrzehnte wichtige Funktionen im WarnerElektra-Atlantic-Konzern. Und manch einer seiner Kollegen und
Konkurrenten unter den Festivalmachern wunderte sich, dass das
Montreux Festival immer wieder mit Leichtigkeit an AtlanticKünstler herankam, an denen sie sich die Zähne ausbissen.
«Salade Nobs»
Nach dem ersten durchschlagenden Erfolg baute Nobs das Festival
zügig aus. Aus drei Tagen wurden vier, dann fünf. Nach Charles
Lloyd kamen Brian Auger, Nina Simone – und Bill Evans, dessen LP
4. Juli bis 29. August 2010
Sladjan Nedeljkovic
Discovery
Kunst aus Zug – Die Sammlung
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| Mo geschl. | Bundesfeiertag, 1. August und Maria Himmelfahrt, 15. August geöffnet 10 – 17 h.
Kunsthaus Zug
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Oben links: Von den zwei Musikstücken, die die NASA für ihre Weltall-Erkundungsmission ausgewält hat, war eines von ihm: Chuck Berry, Montreux, 1972.
Oben rechts: Nina Simone verlangte zusätzlich zur Gage eine Piaget-Uhr. Die Konzertatmosphäre war geprägt von Ehrfurcht – man hatte Angst, dass sie
einen herunterputzen könnte.
Unten: Jazz-Sängerin Ella Fitzgerald, mit Frank de la Rosa, Tommy Flanagan and Ed Thigpen (von links). Seit den ersten Konzerten immer dabei: Die obligaten
TV-Kameras.
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Oben: Gehört auch zum
Mythos Montreux,
das Setting am See.
Mitte: Legendär sind
spontane Poolkonzerte.
Frau mit Kontrasbass,
späte 1960er-Jahre.
Unten: Stone The Crows.
Die Hippies schliefen bei
warmem Wetter im
Garten. Morgens kam die
Polizei und erklärte:
«Wenn ihr euch nicht
verdrückt, pissen vielleicht
die Hunde auf euch.»
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I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen
Oben: Das Feuer von Smoke on the Water. Nobs: «Ich ging für einen letzten Check ins Gebäude und fand Mme Nini, die seelenruhig in der Kellerküche weiterkochte.
Wir verliessen als letzte das brennende Gebäude.» Claude Nobs (l.) und Michel Ferla am Feuerwehrschlauch.
Live in Montreux mit dem Schloss Chillon auf dem Cover zur ersten
perfekten Symbiose von Festival und Tourismuswerbung wurde.
Dann kamen Ella Fitzgerald, Eddie Harris und Les McCann, und
mit Colosseum und Ten Years After die ersten Rock-Acts. Auch
die Blueslegenden B.B. King und John Lee Hooker. Und Carlos
Santana. «Klar, Jazz und Blues waren meine Leidenschaft», sagt
Nobs heute, «aber als Unterhaltungsmanager des Verkehrsvereins
wollte ich auch ein grösseres Publikum ansprechen; ich wollte
mehr Happy Music, mehr Unterhaltung, mehr etwas in Richtung
Sommerfestival.»
Ein Unglücksfall sollte ihm dabei zu Hilfe kommen: Am
4. Dezember 1971 brannte das alte Casino während eines Auftritts
von Frank Zappa, einem der vielen Konzerte, die Nobs ausserhalb
des Festivals organisierte, bis auf die Grundmauern ab. Der Brand
hätte noch schlimmer ausgehen können, denn als es im Saal zu räucheln begann, als Zappa «Fire, Fire!» schrie und ein uniformierter
Feuerwehrmann das Publikum bat, den Saal bitte zu verlassen,
glaubten viele an einen typischen Zappa-Gag. Im letzten Moment
konnte eine gefährliche Panik unter den Zuschauern verhindert
werden. Mit von der Partie war an diesem Abend auch Ian Gillan
von Deep Purple, die in den kommenden Tagen im Casino eine LP
aufnehmen wollten – die übrigen vier Deep Purples verfolgten den
Brand vom Balkon des benachbarten Hotels Eden aus. Die Auf-
nahmen fanden dann abenteuerlich improvisiert im leer stehenden
Théâtre Alcazar in Territet statt. Mit dem Song Smoke On The Water
ging nicht bloss der feurige Abend in die Annalen der Rockgeschichte ein, sondern Nobs kam zu seinem berühmtesten Übernamen: «Funky Claude was running in and out / Pulling kids out
of the ground.» Tatsächlich sieht man auf einem berühmten Foto
Nobs und seinen kaufmännischen Direktor Michel Ferla nicht unbedingt fachmännisch, aber doch sehr erschrocken und engagiert
mit einem Feuerwehrschlauch hantieren.
Die folgenden Übergangsjahre im Pavillon des Grand Hotel
Palace und danach im Kongresshaus nutzte Claude Nobs, um dem
(un)glückseligen Zufall das Beste abzugewinnen: Dank der Terminschwierigkeiten des Kongresshauses konnte er endlich das inzwischen zehntägige Frühlingsfestival in die Sommerferien verlagern
und Schritt für Schritt auf sechzehn Tage ausweiten. Als sich kurz
darauf die UER aus der Programmgestaltung verabschiedete,
nutzte er die Gelegenheit, seine Vision in die Tat umzusetzen: In
den folgenden Jahren – erst recht nach dem Umzug ins neu erbaute
Casino 1975 – holte er alles nach Montreux, was im Jazz, Blues,
Soul, Pop und Rock, in der Folk- und Ethnomusik Rang und Namen hatte, von Miles Davis bis Jimmy Cliff, vom Art Ensemble
Of Chicago bis Ray Charles, von Leonard Cohen bis Gilberto Gil
und Maria Bethania. Kunterbunt gemischt, ein Tutti-Frutti-Kon-
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OBEN???
Oben links: Bluesgitarrist B. B. King, ein häufiger Gast in Montreux. Oben rechts: Er unterschrieb 1967 den ersten internationalen Vertrag von
Claude Nobs – Charles Lloyd.
Unten: Miles Davis. Nobs: «Ich fragte Miles, wie er weiss mit wem er arbeiten will. Er sagte, er schaue den Leuten gerne in die Augen. Ein paar
Sekunden später wisse er, ob er auch nur mit der Person sprechen will.»
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I. Festivalgeschichte – Christian Rentsch – Archiv der Rhythmen
zept, das der ehemalige Koch selbst «Salade Nobs» nennt. Um die
ganze Dimension dieses Gesamtkunstwerks, die Kombination von
Wasser, Sonne und Unterhaltung zu skizzieren: Vergnügungspark
total, eine Musterfarm der Erlebnisgesellschaft mit Superstars im
Konzertsaal, mit Bootsfahrten, Gratiskonzerten, mit Strassenmusikern und Feuerspeiern auf der Seepromenade, mit Dutzenden von
Ständen mit Fast Food, Spezialitäten aus aller Welt, mit Leder- und
Silberschmuck, amerikanischen T-Shirts und indischen Wickeltüchern. Die institutionalisierte Leidenschaft des unersättlichen
Sammlers. Es war, wie Montreux-Veteranen mit verklärtem Blick
heute sagen, die beste Zeit des Festivals.
4000 Stunden Jazz- und Popgeschichte
Hinter den Kulissen sorgte der Technik-Freak Nobs aber für die
eigentliche Sensation des Montreux Jazz Festival: Im Keller des
neuen Casinos richtete er zusammen mit der Rockgruppe Queen
das Mountain Studio ein, ein Aufnahmestudio der Superlative, das
nicht bloss alle Festivalkonzerte in höchster Qualität aufzeichnete,
sondern unter dem Jahr zahlreichen Gruppen wie Led Zeppelin,
Pink Floyd, Queen und den Rolling Stones für Plattenaufnahmen
diente. Allerdings genügte auch das Nobs noch bei Weitem nicht:
«Es hat mich immer geärgert, dass das Westschweizer Fernsehen
wie damals alle Sender der Welt die Aufzeichnungen mit einer lausigen Mono-Tonspur versahen.» So kombinierte er weltweit erstmals die Fernsehbilder auf einem neuartigen Sony-U-Matic-Band
mit dem Hi-Fi-Stereoton des Mountain Studio. Eine kleine Revolution der Aufnahmetechnik, welche die Manager von MTV so
begeisterte, dass sie Nobs sofort zur Demonstration dieser neuen
Technologie nach Amerika einluden.
«Seit 1974», so Nobs, «haben wir alle Fernsehaufzeichnungen in zumindest annehmbarer Stereoqualität. Bis heute haben
wir dann unser Equipment laufend dem neuesten Stand der Technik angepasst.» Bereits 1984 nahm Sony das Festival versuchsweise
im High-Definition-Format auf, seit 1997 sind weiterentwickelte
Formate, wie sie derzeit von den Fernsehanstalten allmählich eingeführt werden, in Montreux Standard.
Aufgezeichnet wurden sämtliche Konzerte des Festivals,
seit der ersten Ausgabe 1967. «Leider hat das Schweizer Fernsehen
eine ganze Reihe dieser Konzerte wieder gelöscht», ärgert sich
Nobs, «diese alten Bänder brauchten offenbar zu viel Platz.» Weit
über 4000 Stunden Jazz- und Rockgeschichte lagern heute in einem
Schutzraum in Caux, alle inzwischen in digitalisierter Form, archiviert nach allen möglichen Stichworten. Zudem Zehntausende von
Dokumenten über das Festival und rund 40 000 LPs und fast ebenso viele CDs, Laserdiscs und DVDs aus Nobs Privatsammlung.
Öffentlich zugänglich sind die Datenbank sowie zahlreiche Konzertauszüge über Montreux Sounds (www.montreuxsounds.com),
die Betriebsfirma, die Nobs 1973 gegründet hat und die das gigantische Archiv hütet, pflegt und unterhält.
Bislang erschienen rund zweihundert Konzerte auf DVD.
Wenn es nach dem Willen von Claude Nobs geht, soll dereinst,
wenn all die komplizierten urheberrechtlichen Fragen und die Probleme der Piraterie gelöst sind, das ganze Archiv über Bezahlprogramme heruntergeladen werden können. Möglich, dass Montreux dann ein weiteres Mal eine Pionierrolle übernehmen wird. <
Christian Rentsch gehört als langjähriger Musikkritiker und Kulturredaktor
des «Tages-Anzeigers» seit der dritten Ausgabe des Montreux Jazz Festival 1969 und
bis Ende der 1990er-Jahre zu den regelmässigen Festival-Besuchern. Heute arbeitet
er als freier Publizist.
…für die
anspruchsvolle
Fotografie
20
www.graphicart.ch | Zürich | Ittigen-Bern
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Du 808 – Juli /August 2010
Queen in den Mountain Studios im Keller des Casinos. Von 1975 bis 2003 war dies das modernste Aufnahmestudio Europas. David Bowie, Duran Duran, AC ⁄ DC,
Ella Fitzgerald, UB40, die Rolling Stones – alle grossen Namen pilgerten hierher.
Anekdoten I.
Er sei so quasi ein «Freund des Hauses», versicherte unser Kollege, als wir anderen Jungs zögernd
am Eingang von Claude Nobs’ Nobel-Chalet an unserer Erwünschtheit zweifelten. Ein rauschendes Fest war im
Gange. Wir stürzten uns mit bübischer Schamlosigkeit auf das famose Buffet, um gut gefüllt unsere Expedition
durch die Villa in Angriff zu nehmen. Beflügelt von der ungezwungenen Atmosphäre und den Beteuerungen unseres
Freundes des Hauses, dass den Gästen alles zur freien Verfügung stehe, erkundeten wir sämtliche Räume,
durchforsteten Archive, bespielten Instrumente berühmter Musiker … Ich höre sie heute noch, diese kernige Stimme,
die donnergrollend drohend ihre Freundlichkeit nicht verlor – wir hatten zwei Minuten Zeit, das Haus zu
verlassen. (an)
Jahrelang war Champion Jack Dupree Stammgast in
Montreux, allerdings meistens draussen auf der Terrasse des
Casinos, wo er für kreolischen Soulfood sorgte. Auf die Bühne
schaffte es der Blues-Pianist nur selten. So am 18. Juli 1979, als der
irische Blues-Rocker Rory Gallagher endlos auf sich warten liess.
Claude Nobs schickte den alten Kämpen zur Überbrückung auf die
Bühne. Dupree spielte sein stampfendes Piano, sang vom Blues
in der Seele und vom Whisky im Kopf. Der Saal erwartete Gallagher,
buhte und grölte. Da griff sich der Alte das Mikrofon: ‹Ja ja,
ihr braucht meine Musik nicht gut zu finden, ihr verwöhnten Kinder,
ihr habt alle Lesen und Schreiben gelernt. Ich aber bin anders
aufgewachsen, im Elend, ohne Schule, ich habe nur gelernt, auf diesen
Tasten meinen Blues zu spielen. Gewiss, ich beneide euch und schäme
mich über meine Unwissenheit und Armut. Aber ihr habt nicht das
Recht, mich wie einen Nigger zu behandeln.› Drehte sich wieder zum
Klavier und sang weiter vom Blues, vom Whisky, von den schönen
Frauen und der traurigen Liebe. Der ganze Saal hörte aufmerksam
zu. Und der Schlussapplaus klang – sehr beschämt. (cr)
Eine Probe in den 1990erJahren. Miles Davis und seine
Band spielten eine Art von futuristischem
Fusionrock, eine Musikrichtung,
die sich nicht so einfach einordnen lässt.
Plötzlich gab es auf dem grossen Bildschirm eine Fehleinspielung– und Bugs
Bunny erschien. Bassist Joseph McCreary
konnte es kaum glauben und schrie
«Hey, schau mal, das ist Bugs Bunny!
Bugs Bunny!», spielte aber in einem fort
weiter, ohne die kleinste Unterbrechung.
Dieser surreale Moment zeigte etwas
vom Spirit und Kaliber jener Musiker.
Einerseits hatten sie noch genug
Kind in sich, um die plötzliche Präsenz
Bugs Bunnys zu schätzen, anderseits
probten sie mit gnadenloser Professionalität weiter. (rk)
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