Indianepalis neu

Transcrição

Indianepalis neu
Michael Mergler´s
Indianepalis
"Zurückdenkend glaube ich, daß ich in keinem Alter
hätte mögen, nach Nepal zu fliegen. Nö !
Sich nicht waschen kann man sich auch in Deutschland. Oder sich Dünnschiß holen. Natürlich ist Dünnschiß in Nepal 3000 mal besser, wegen der Flugkosten.
Ich bin zu alt, um das zu verstehen..."
...mit
Bus und Bahn
durch
Desaster-Area
Indianepalis
von Michael Mergler
Ein Leser dieses Manuskriptes schrieb dazu:
Text, Layout................... Michael Mergler
Fotos............................... M.Mergler & W.Geppert
Lektorat....................... Winfried Geppert
Druck........................
Bindung..................
Xerox
Xerox
Auflage........... 2./50 Stück
Dieses Buch wurde in Eigeninitiative hergestellt.
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Kritiken oder Bestellungen
bitte richten an:
Michael Mergler
Brettnacher Str.18
14167 Berlin
Tel. 0177 - 293 36 98
(C)1996 Alle Rechte bei Michael Mergler - BERLIN
KapitelVerzeichnis
Vorgeschichte
1 - 24
Kathmandu
25 - 70
Varanasi
71 - 114
Gangotri
115 - 162
Jaisalmer
163 - 206
Pushkar/Agra
207 - 234
Letzte Tage...
235 - 260
In Ewiger Erinnerung
an meine malträtierten Füße,
Hunger, Kälte, Durchfall
und eine einsame Flasche Sonnenmilch
irgendwo im Himalaya,
widme ich dieses Buch
dem unbekannten Peanut-Yogi in Gangotri
und all jenen, die uns auf unserem Trek
aus der Not geholfen haben.
Vorgeschichte
Übersetzung nächste Seite
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Pokhara, 25.12.89
Hey Man!
Wenn Du mal irgendwann irgendwie für
länger reisen willst, dann kann ich Dir Nepal
empfehlen. Wahnsinnsessen für wenig Geld,
Wohnen kostet 1.- am Tag, die Leute total nett,
und man kann hier den ganzen Schrott verkaufen, den man zu Hause nicht mehr braucht
- alte Sachen, kaputte Turnschuhe, zerfledderte
Bücher, "Werbegeschenk"-Uhren, etc etc. Hier
wird mit allem gehandelt, nur um zu handeln;
total abgefahren. Die Landschaft ist voll abgedreht, hier in Pokhara angenehm warm, und
die Bergspitzen des Himalaya sind nur 30 Km
Luftlinie entfernt.
Allerdings: Um ins Annapurna-Base-Camp zu
kommen, war ich fast eine Woche unterwegs.
Hier kommt man nur zu Fuß vorwärts, über
uralte Steintreppen kilometerlang (!) bergauf
und bergab, wie in einem Fantasy-Film. Ich
melde mich, wenn ich wieder zurück bin.
Rocky
2
I
m Sommer 1990 rief mich Rocky, alias Winfried Geppert,
an, erzählte mir von seiner geplanten zweiten Nepal-/
Indienreise, die er zusammen mit seiner langjährigen
Freundin Dörthe unternehmen wollte, und bot mir während
unseres Gespräches an, bei der von Januar bis März 1991
dauernden Tour mit von der Partie zu sein.
Wer träumte nicht von wilden Abenteuern in fernen, exotischen Ländereien außerhalb der europäischen Bannmeile ?
Meine Begeisterung jedenfalls kannte keine Grenzen. War
ich doch froh, endlich diesem elenden Alltag eines neurotischen Großstadtbewohners entfliehen zu können. Seit zehn
Jahren wurde ich durch berufliche Interessen oder finanzielle
Notstände daran gehindert, überhaupt zu verreisen. Mein damaliger Arbeitgeber, die Firma ESOTRONIC COMPUTER, hatte glücklicherweise nichts gegen meine ausschweifenden Reisepläne einzuwenden, und so war die Sache für mich geritzt.
Weil Nepal und Indien in jeder Hinsicht außergewöhnliche
Länder darstellen - speziell was die Hygiene betrifft -, Rocky
und ich in Indien auch trekken gehen wollten, versorgte er
mich erst einmal mit Informationen, welche vorbereitenden
Maßnahmen ich einzuleiten hatte.
Da war zum einen die körperliche Fitness. Unabdingbar für
den geplanten Trekking-Abstecher nach Gaumuk im nordindischen Himalaya, wo auf dreieinhalbtausend Metern Höhe
eine der heiligen Quellen des Ganges entspringt. Ich wurde
angehalten, Beinmuskeln und Kondition entsprechend zu trainieren.
D ann die medizinische Seite. Es kann sich ja niemand vorstellen, gegen welche Krankheiten man gewappnet sein muß,
um in diesen Gegenden der Dritten Welt den drängenden
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Grundbedürfnissen wie Essen oder Trinken nachgeben zu
können, ohne gleich in einem Forschungslabor der westlichen Welt als hochsensibler Versuchsnährboden für längst als
ausgerottet geltende hyperaktive Bakterienkulturen zu enden. Besondere Vorsorge war also zu treffen gegen Krankheiten wie Cholera, Dyphtherie, Hepatitis, Poliomyelitis, Tetanus, Tuberkulose.
Die Reiseapotheke enthielt entsprechende Mittelchen gegen weitere Schweinereien wie Augenentzündungen, Zerrungen, Erkältungen, Hals-, Zahn- und sonstige Schmerzen,
offene Wunden, Malaria und den obligatorischen D u r c hf a l l sowie einige Einwegspritzen mit Einwegkanülen, Elastische Binden, Mineral- und Vitamintabletten, Traubenzucker,
Sonnenschutz, Desinfektionsmittel, verschiedene Antibiotika
und Micropur zur Trinkwasseraufbereitung.
D ie Ausrüstung bestand aus einem kälteunempfindlichen
Bundeswehrschlafsack für kälteunempfindliche Grenzgänger,
einem selbstgefertigten Leinenschlafsack aus Baumwolle, einem Traginnengestellbilligrucksack, zwei Zeltplanen, einer mit
tausenden von Taschen übersäten, robusten Armyhose, Jakke, Bauch-Geldgurt, Moskitonetz, zwei Holzkohle-Taschenwärmern, Taschenmesser, Badelatschen, Wasserfiltergerät und
Wassersack, alten T-Shirts, Sweaters, Aufschneider-Sonnenbrille, Weltempfänger, Feuerzeug, einer vietnamgetesteten
Army-Umhängetasche für Kleinkram, einem massiven 1KGSicherheitsvorhängeschloß und einem Paar Springerstiefel für
unter hundert Mark.
Ergänzt wurde das ganze durch eine klitzekleine knuddlige
Kleinbildkamera Olympus XA, die mir mein Bruder Kai billig
überließ, zehn Farbfilme dafür, eine Tube RAI-Waschmittel,
Zahnpflegeset, Handtücher, Seife, wirksames hautverätzendes
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Mückenschutzmittel, eine Auswahl Paßfotos, eine Handvoll
Visitenkarten zum Angeben sowie einer Tonne Toilettenpapier - zum Schutz gegen Feuchtigkeit eingeschweißt in
Gefrierbeutel.
Das zur Einreise benötigte Single-Visum für Nepal im Super-
sonderangebot für nur neununddreißig Mark - inklusive Mehrwertsteuer -, sollte ich mir bereits in Deutschland beim "Königlich Nepalesischen Generalkonsulat" in München besorgen.
Zwar war dieses auch in Kathmandu direkt auf dem Flughafen erhältlich und das sogar für die Hälfte, aber nicht auszuschließen, daß einen ein schlechtgelaunter Zollbeamter dieser politisch unruhigen `Bananenrepublik´ abblitzen ließ und
unverrichteter Dinge auf die Heimreise schickte.
Sicher war sicher !
Doch zuallererst mußte ein internationaler Reisepaß her,
denn zur Beantragung des begehrten Visums sollte dieser,
zusammen mit zwei Paßfotos neueren Datums, dem ausgefüllten Antrag, einer Bankbürgschaft über zweihundert Mark
je in Nepal verbrachter Woche, einem Verrechnungsscheck
in Höhe der Bearbeitungsgebühr und frankiertem Rückumschlag dem in Bayern beheimateten Konsulat zugesandt werden.
Kein Problem für die deutsche Bürokratie: innerhalb von
lächerlichen 8 Wochen war ich stolzer und international anerkannter Besitzer eines Passes der Europäischen Gemeinschaft und konnte als solcher weitere Schritte in die Wege
leiten.
Während ich auf meine abgestempelten Reisepapiere wartete, beschäftigte ich mich ausgiebig mit angebotenen Flügen
und Flugrouten, die mich zum Ziel führen konnten, verwarf
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dabei die überteuerte deutsche LUFTHANSA und ebenso die
Dumping-Offerte der russischen AEROFLOT(T) - die sogar
schon das Fliegen zu einem wirklichen Abenteuer machte -,
da ich mein Leben nicht in einem fliegenden Schrotthaufen
beenden wollte und entschied mich schließlich für die bengalische Fluglinie BIMAN-AIRLINES, deren Maschinen vom Typ
DC-70 angeblich die LUFTHANSA wartete.
Der Preis konnte sich sehen lassen: DM 1490.- für den
Hin- und Rückflug von Frankfurt mit Zwischenstop in Dhaka,
der Hauptstadt von Bangladesh. Brauchte ich also noch eine
Bahnkarte, die mit DM 162.- zu Buche schlug. Somit waren
alle wichtigen Vorbereitungen abgeschlossen, und ich konnte
gelassen in die Zukunft sehen.
R olf, ein ehemaliger Klassenkamerad, langjähriger `Freund´
und Lebenskünstler, hörte von dem geplanten Asientrip und
verspürte ebenso den unbändigen Drang, den entnervenden
städtischen Einflüßen zu entkommen. Rocky und Dörthe hatten keine Einwände, und so beschäftigte sich auch Rolf in der
Folgezeit mehr oder weniger mit Reisevorbereitungen.
Rocky, der gerade sein Germanistik/Sport-Studium beendet
hatte und noch auf keiner Arbeitsstelle verplant war, reiste
bereits im November alleine nach Kathmandu, der Hauptstadt des anvisierten asiatischen Königreiches, trainierte im
"Nepal Bayam Mandir" und bei der "Nepal Boxing Association"
im Stadion von Kathmandu, um für seinen Freundschaftskampf mit Mike Tyson fit zu sein, der später leider aus ungeklärten Gründen abgesagt wurde, absolvierte verschiedene
Treks in Pokhara und Umgebung und versorgte uns Zuhausegebliebene per Luftpost mit nötigen Infos, wie: "...sieh´Dir
nochmal den Blade Runner an, damit Du Dir in etwa vorstel-
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len kannst, was hier auf den Straßen abgeht, wenn´s dunkel
ist ! Absolute Oberhärte, sieht irre aus, aber völlig harmlos.
Überall Händler, Musik, Feuer und Bumm ! fällt auf einmal
der Saft aus, und alles steht im dunkeln, und es wird richtig
gemütlich..." oder etwa "Bereite Dich schon auf die Taxifahrt
vom Flughafen nach Kathmandu vor ! Verbinde Rolf die Augen, stell´die Musik volle Lautstärke, die Hupe auf Dauerton,
und dann mit 140 Sachen den Ku´Damm rauf und runter natürlich nicht auf der Straße, sondern auf dem Bürgersteig !"
Dörthe wollte am 7.Januar hinterherfliegen, und Rolf und
ich buchten unseren Flug zum 14.Januar 1991.
J e näher aber der Termin rückte, desto mehr überschlugen sich die Ereignisse, und wenn man abergläubisch gewesen wäre, hätte man glauben können, irgendetwas wollte
einem die Reise vergraulen:
Im Oktober trennte sich meine damalige Freundin Marina
von mir, am 12.11.1991 erhielt ich von der Fa. ESOTRONIC
meine fristlose Kündigung, und im Dezember stellten die Amis
dem irakischen Diktator Sadam Hussein, der mit seinen Truppen im Reichtum-Scheichtum Kuwait einmarschiert war, um
den dort lebenden Machos in Morgenmänteln etwas Öl zu
klauen und - ganz nebenbei - Israel ein bißchen mit russischen
Scud-Raketen bombadierte, ein ultimatives Ultimatum, das
am 15.Januar auslaufen sollte.
Das Problem dabei: fanatische Muslime der gesamten Welt
schlugen sich dank geschickter Propaganda auf Sadams Seite,
der mit einem "Hatschiii" den `Heiligen Krieg´ ausrief und
allen ihm bekannten Teufeln in Menschengestalt in allen ihm
bekannten Galaxien die Eier abschneiden und gut durchgebraten zum Frühstück verspeisen wollte.
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Seine bis zum Äußersten entschlossenen Generäle versprachen ihm dabei zu helfen.
In Erwartung blutigster Vergeltungsterroranschläge wurde
allen schweinefleischverarbeitenden, schweinefleischverzehrenden und schweinischen Reisenden, sowie reisenden Schweinen und insbesondere denen, die Teufel oder ähnlich hießen, geraten, die bösen, bösen moslemischen Staaten
zu meiden, da gar niemand für unbeschädigte Eier garantieren konnte.
In den Nachrichten hörte man, daß die selbsternannten Guten, die `weltverbessernden´ Amerikaner, bereits sämtliche
Flüge ihrer Landsleute über Moskau umleiteten. Internationale Kampfeinheiten wurden in den Vereinigten Arabischen
Emiraten zusammengezogen. Endzeitstimmung - das konnte
sich zu einem größeren Krieg ausweiten. Und Bangla Desh,
wo wir am 15. Januar einen Tag Aufenthalt hatten, war zu
zwei Dritteln moslemisch.
Ich hatte jedoch bereits eine Menge Geld investiert und
mich schließlich lange genug auf die Reise gefreut, daher gab
es kein Zurück mehr - trotz Einwänden aus dem Freundeskreis. Da ich nun arbeitslos war und mich eventuell während
meiner Abwesenheit beim Arbeitsamt melden mußte, beauftragte ich meinen alten Freund Lutz, wenn nötig knallhart
meine Unterschrift zu fälschen, denn das Geld vom Arbeitsamt benötigte ich auf alle Fälle zur Deckung der in Deutschland weiterlaufenden Kosten. Anfang Januar nahm ich dann
die letzten Termine beim Arzt und Zahnarzt wahr und fieberte dem Abflugtermin entgegen...
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Am Montag, dem 14.Januar schließlich, gegen 22:30 Uhr -
eine halbe Stunde zu spät -, holte mich unser Privat-Chauffeur Daniel mit meinem Gepäck zuhause ab, und dann düsten
wir von Zehlendorf im gestreßten Sauseschritt zur Wohnung
von Rolf irgendwo in Tiergarten. Dort angekommen stellte
ich mit Widerwillen fest, daß mein Reisegefährte anscheinend
ganz andere Vorstellungen von einer supergeilen Abenteuerreise in den geheimnisumwitterten Himalaya hatte. Da er
nicht nein sagen konnte, war er einem feuchtfröhlichen Abschiedsumtrunkextremgelage zum Opfer gefallen. Sturzbesoffen lallend hing er auf seiner Couch, war kaum in die
Gänge zu bringen und hatte sein Gepäck noch nicht fertig
gepackt.
Es fing ja gut an !
Ich war stinksauer, denn viel Zeit blieb nicht mehr, um
unseren Zug Richtung Frankfurt zu erreichen, und ich mußte
vorher unbedingt noch Geld vom Geldautomaten abheben.
Seine Südtiroler Freundin Monika, die ebenfalls mit uns fuhr,
um von Frankfurt aus weiter in ihr Heimatdorf zu reisen,
packte schnell seine Klamotten zusammen, dann schleppten
wir die halbtote Schnapsleiche ins Auto, und ab ging´s zum
Bahnhof Zoo.
Glücklicherweise trafen wir dort noch rechtzeitig genug
ein, stürmten den Zug und fanden sogar ein Abteil für uns
alleine, wo wir es uns die nächsten zehn Stunden gemütlich
machen konnten. Denn so lange sollte die wenig aufregende
Reise auf dem Schienenwege bis nach Frankfurt dauern, deren überwiegenden Teil wir im Schlafe dahindämmerten.
Trotzdem wurde uns gewahr, das Rolfoholics des Nachts,
unartikulierte Würglaute von sich gebend, wie etwa "ürgmbh,
ürgmbh, üührll !", hastigst die Toilette frequentierte und diese
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während seines Besuchs mit säuerlich riechenden und ein
wenig vorverdauten Speiseresten bestrahlte.
Danach fühlte sich Lebemann Rolf schon sichtlich besser
und reagierte wieder auf seine Umgebung. So erfuhr ich auch
endlich, daß er es weder für nötig befunden hatte, eine
Reisekrankenversicherung für mich abzuschließen, wie wir es
laut mündlicher Absprache ausgemacht hatten, noch mich
früh genug davon zu unterrichten, so daß ich nun ziemlich
blöd dastand. Ihm schien das auch vollkommen scheißegal zu
sein, denn auf seinen Namen war bereits eine Versicherung
abgeschlossen.
Dieses gottverdammte Arschloch ! Warum hatte ich mich
bloß auf ihn verlassen ? Ich bereute in diesem Moment wirklich bitterlich, mich um Medikamente, Visa, Bahn- und Flugtikkets für uns beide gekümmert zu haben.
Mit neunzig Minuten Verspätung fuhr unser Zug gegen 11:30
Uhr im Frankfurter Hauptbahnhof ein, und so blieb wenigstens noch etwas Zeit bis zum Abflugtermin um 14:25 Uhr.
Ich bestand weiterhin darauf, daß Rolf seinen Teil der Vorarbeit leistete und sich um meine Reisekrankenversicherung
kümmerte. Da er mir jedoch unmißverständlich klarmachte,
daß die Angelegenheiten, die er noch erledigen müßte, weit
wichtiger wären und ich mich gefälligst selber darum bemühen sollte, war endgültig der Scheideweg unserer Freundschaft erreicht.
So ging nun die Hetze los, von einem Reisebüro ins nächste. Doch nix zu machen, entweder gab´s keine entsprechenden Formulare, die Versicherungen waren zu teuer oder
die Anzahl der versicherten Reisetage zu knapp bemessen.
Meine Hormone spielten verrückt - ich kochte bereits.
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Als alles nichts mehr half, mußte ich mich mit einer 62Tage-Versicherung für DM 37.- zufriedengeben, deren Angebot nicht ganz den gesteckten Zeitplan abdeckte, und voller
Vertrauen in Gott und die Wahrscheinlichkeitsrechnung
knapste ich bei dem anzugebenden Reisezeitraum mutig jeweils vorn und hinten ein paar Tage ab. Murphy´s Law blieb
außen vor...
Am Flughafen dann Abgabe unseres voluminösen Gepäkkes und Tränen des Abschieds bei Monika. Verständlich, denn
schließlich würden sich die beiden ca 3 Monate lang nicht
mehr sehen. Doch so schwer die Trennung auch fiel, sie
mußte sich auf den Weg zurück zum Hauptbahnhof machen,
und kurze Zeit später wurde es auch für uns ernst, als der
Aufruf zum Einchecken bei BIMAN durch die Schalterhalle
schallte.
Es folgte die gewohnte Paßkontrolle und Leibesvisitation,
Viertelstunde im Warteraum abhängen, und schon forderte
eine freundliche Dame der LUFTHANSA zum Besteigen der
Maschine auf. Nach einer weiteren halben Stunde schwebten
wir bereits durch die Lüfte unserem 4 Stunden entfernten
Zwischenstop in Athen entgegen, tankten dort kurzfristig auf
und fetzten volle 17 Stunden weiter gen Osten zu einem der
bevölkerungsreichsten Staaten unserer Erde: Bangla Desh.
D er Flug verlief sehr ruhig, doch hatte ich so meine Probleme mit der extrem trockenen und stickigen Luft. Über
dem Sitz befand sich nämlich kein Gebläse, wie ich es von
Inlandflügen her kannte. Ist alles computergesteuert und voll
auf die Bedürfnisse der Passagiere angepaßt, wie mir die Crew
erklärte. Komisch, auf meine nicht.
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Den Konstrukteur dieser Maschine hätte ich gerne mal unter vier Augen `gesprochen´. Da der aber schon lange nicht
mehr lebte, half nur die Flucht in den Schlaf.
Neunzig Minuten vor der Landung wachte ich wieder auf
und fühlte mich schon etwas besser. Bis uns ein anderer
Trekker erzählte, er hätte in Frankfurt erfahren, daß alle Flüge
von Dhaka nach Kathmandu gesperrt wären !
Gerüchteküche ???
Rolf im Aufenthaltsraum des Flughafens von Dhaka
Schwer lastete die feuchtwarme Tropenluft auf dem von
der langen Reise müden Körper, als wir gegen Mittag die von
schwerbewaffnetem Militär eskortierte Maschine in Dhaka
verließen und mit einem Bus zum fünf Meter entfernten Eingang des Flughafengebäudes kutschiert wurden, vor dem sogar ein MG-Nest aufgebaut war.
Irgendein wichtiger Herr in Uniform machte uns Reisenden
freundlich klar, daß tatsächlich alle Weiterflüge nach
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Kathmandu für den heutigen Tag eingestellt waren, daß wir
warten müßten, bis uns ein Bus zu einem Hotel bringen würde. Vorher aber sollten wir ihm die Reisepässe und Tickets
aushändigen.
Bogdan, ein Pole, Rolf und ich machten es uns auf den
gepolsterten Sitzbänken im Wartesaal der zweiten Etage gemütlich, während der Rest der Passagiere auf den weniger
bequemen Holzbänken im Erdgeschoß ausharrte, und als Bogdan zwei Stunden später nach unten ging, um sich nach dem
Verbleib des Busses zu erkundigen, stellte das Personal erschrocken fest, daß sie uns vollkommen vergessen hatten Bus und Mitreisende waren schon lange weg !
D as sollte nicht noch einmal vorkommen, deswegen nagelte man uns drei diesmal mit einem scherzhaften "Please sit
down there and if you wanna sleep - sleep. But dont´t move."
im unteren Raum fest, und etliche Stunden später, als wirklich niemand mehr mit dem Verlassen des nicht klimatisierten
und von Fliegenschwärmen heimgesuchten Gebäudes rechnete, folgten wir einem Mitarbeiter des Flughafenpersonals in
eine große Halle, wo das gesamte Gepäck in einem Metallkäfig eingeschlossen lagerte. Jeder hatte nun die Aufgabe, seines zu identifizieren und zu prüfen, ob irgendwas fehlte.
Als das erledigt war, bestiegen wir endlich, zusammen mit
den Passagieren der nächsten Maschine, zwei von einer aufdringlichen Schar bettelnder Kinder belagerte Busse, die uns
für die Nacht in das von BIMAN angemietete Hotel befördern
sollten.
Aber wieder hieß es warten. Warten auf eine Handvoll
bewaffneter Soldaten, die den mit Europäern besetzten Bussen sicheres Geleit und heile Eier garantieren mußten.
Erster Eindruck: Waouh !!! Mann, hier ging ja wirklich die
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Mit dem Bus vom Airport zum Hotel
Post ab. Aber auch Nervosität keimte auf. Schließlich lief ich
hier rum wie ein kampferprobter Ledernacken: kurze Haare,
Muskelpakete, Armeehose, Springerstiefel, Trägershirt (wegen der Hitze) und Army-Umhängetasche. Ich sah ungewollt
so aus, als hätte ich mich auf der Suche nach meiner Einheit
verflogen.
Peinlich ! Rolf hatte wenigstens Jeans an.
D ie Fahrt zum Hotel "Purbani" bescherte uns weitere Ein-
drücke dieses an den Unterläufen des Ganges und Brahmaputra gelegenen Tieflandes, das regelmäßig Schlagzeilen machte
durch verheerende Überschwemmungen, die fast jedes Jahr
Zehntausende das Leben kosteten. Daß dieser Staat außerdem Probleme mit seiner Überbevölkerung hatte, war deutlich zu sehen, denn die Straßen quollen fast über vor größ-
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tenteils ärmlich gekleideten Menschen, die allesamt ein
Hungerdasein fristeten. Überall Rikschas, Fahrräder, Motorräder, Busse und Menschen, unglaubliche Massen von Menschen.
Das verloren dastehende Hotelhochhaus, trotz verranzter
Ostblockendzeitfassade wohl eines der besseren am Platze,
glänzte mit einem hervorragenden Mittagessen, der bengalischen Spezialität Chicken Curry. Doch zuvor quartierte man
alle Reisenden, überwiegend Globetrotter wie es schien, in
die klimatisierten Zimmer ein, mit Bad, WC, Fernseher und
klammen Betten. Das Zimmer mit der Nummer 526 gewährte uns zudem einem prima Ausblick auf den knapp einen Meter entfernten Betonrohbau des Nachbarhauses.
N ach dem Essen, gegen 17:00 Uhr, waren einige der Rei-
senden, so auch Rolf und ich, daran interessiert, einen kleinen Ausflug in die nahegelegene Innenstadt zu unternehmen,
wozu wir gezwungenermaßen vorübergehenden Frieden
schlossen, um nun die zwei mitgeführten 5-Dollar-Noten auf
den Kopf zu hauen.
Doch kaum hatten wir nichtsahnend einen Fuß vor die Tür
gesetzt, stürmte ein laut durcheinanderschreiender Pulk von
vielleicht zwanzig besessenen Fahrradrikscha-Fahrern samt
Gefährt auf uns ein, von denen jeder den sehnlichen Wunsch
äußerte, für noch weniger Geld als jeder seiner Kollegen wenigstens einen Teil unserer Körper durch die Straßen fahren
zu dürfen.
Im ersten Moment standen wir vollkommen verdattert da;
umringt von dieser quäkenden fremdländischen Meute berieten wir, ob wir denn fahren wollten und wenn ja, wohin dann
überhaupt ?
Wir entschieden uns aber dagegen und bewegten uns lang-
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samen Schrittes Richtung Innenstadt, verfolgt von diesen Halbwahnsinnigen, die uns die Ohren vollbrüllten, versuchten festzuhalten und mit ihren Rikschas extrem auf die Pelle rückten.
Das ging etwas zu weit ! Waren die Leute denn von allen
guten Geistern verlassen ?
Energisch, manchmal mit körperlicher Gewalt, setzten wir
uns zur Wehr, bis wir diesem Chaoten-Terror ein Ende bereitet hatten und die verblüfften Stresser zurückblieben. Nur
ein junger Bengale, der gut Englisch sprach, war uns weiterhin in Ruhe mit seiner Rikscha gefolgt und bot an, für fünf
Dollar würde er mit uns eine kleine Sightseeing-Tour durch
die Stadt unternehmen. Das schien uns ein faires Angebot,
und so nahmen wir Platz.
Keine zwei Minuten waren vergangen, da steckten wir auch
schon wortwörtlich dick in der Klemme: Irgendein nicht auszumachendes Hindernis auf einer weit entfernten Kreuzung
verursachte einen totalen Verkehrsstau, legte den gesamten
Verkehr in der Innenstadt lahm.
Nichts ging mehr - weder vor noch zurück
Auf Tuchfühlung dicht gedrängt standen Menschen und Fahrzeuge kreuz und quer auf den Bürgersteigen und über die
Straße verteilt, hunderte von Metern die Straße rauf und
runter, links und rechts; hupten, klingelten oder qualmten
motorbetrieben vor sich hin, während wildes Durcheinandergeschnatter in den verschiedensten Tonlagen einen nicht
unerheblichen Teil zu der extremen Lärmkulisse beitrug.
Und wir waren mittendrin !
Im Stehen auf der Sitzbank versuchten wir einen Überblick
zu bekommen, stellten aber fest: sinnlos. Dieser erstarkte
Mensch-Maschinebrei schien sich bis zum Horizont zu erstrecken. Ein wahrer Leckerbissen für alle Chaos-Forscher.
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Wie kamen wir da bloß wieder raus ?
Am besten mit der asiatischen Methode ... Geduld.
Und siehe da: ca 30 Minuten später ließ einige Bewegung
um uns herum erkennen, daß das Warten ein Ende hatte,
sich das Knäuel langsam aber sicher auflöste. Es wurde geschoben, rangiert, geruckelt, gezuckelt, geächzt und gestöhnt,
geschimpft und gelacht, dann waren wir wieder frei und bewegten uns mit hemmungslos lautem Geklingel durch das
stürmisch wogende Meer dieses wahrlich anarchistischen
Straßentumults, wo wir mit einem hysterischen "Iiiiaaarrrhhh"
übelste und unvermeidliche Zusammenstöße mit den an diesem Irrsinn Beteiligten erwarteten, die sich aber jedesmal
erst im allerletzten kritischen Moment sozusagen in Wohlgefallen auflösten und wir mit einem erleichterten "Pfffhht !"
entkrampften.
Während sich der redselige Fahrer, seines Zeichens gemä-
ßigter und friedliebender Moslem, wie er beteuerte, mit ca.
150 Kilo Fahrgastmasse durch die Straßen quälte, unterhielt
er uns mit kurzen Hinweisen und Erklärungen zu der jeweils
durchfahrenen Gegend, oder wir diskutierten eifrig über
Sadams "Krieg der Welten".
Zuerst klapperten wir verschiedene Friedhöfe ab: einen russisch-orthodoxen, einen englischen und dann einen deutschen
mit angeschlossener Kirche, und auf Wunsch beförderte er
uns zu einer sehr schönen kleinen Moschee, wo wir als einzige Weißhäuter weit und breit unverzüglich in den Mittelpunkt
des allgemeinen Interesses rückten, da sich die rasch sammelnden Neugierigen anscheinend dachten, jetzt sind die Amis
hier, die Moschee wird beschlagnahmt !
Auf Anraten unseres Chauffeurs entledigten wir uns der
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klobigen Stiefel, und über den mit schönen Mosaiken verzierten Vorplatz, unter den wachsamen Augen der tuschelnden
Versammlung um uns herum, strebten wir in Socken dem
Gebäude mit der runden Kuppel zu.
Gerade als wir ein paar Meter geschafft hatten, erschien
der energische Imam mit einem kleinen, in weite Gewänder
gekleideten Gefolge, um unserem Eindringen Einhalt zu gebieten. Er verlangte Aufklärung über unser Begehren, wollte
wissen:
"American ?"
"No. German..."
"Aahhh !"
Er schien uns wohlgesonnen, blieb aber mißtrauisch.
"What´s your religion ?", fragte er interessiert.
Rolf war katholisch, da schien die Sache klar. Ich dagegen
mußte mal wieder meine Extrawurst braten.
"I have ... no religion."
"No religion ?"
"No ?!"
"...mmmhhh... no religion ... but - do you believe in god ?"
Das ganze begann mir unheimlich zu werden, zumal mein
Englisch nicht gut genug war um derartig tiefgreifende theologische Fragen zu diskutieren, aber...
"Yes, I believe that there is something ....ääähh...maybe a
god, that..."
Der Iman und einer seiner ihm nahestehenden Mitbeter
wechselten einige Worte in der landesüblichen Sprache, und
man kam zur alles entscheidenden Frage:
"Ok, ok ! Why you coming here ?"
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Wir erklärten ihm, wir wollten nur mal schauen, vielleicht
könne er uns sogar ein bißchen was über seine Religion erzählen. Das schien ihm zu gefallen, und er gab uns ein Zeichen, ihnen zu folgen. Dann begann er anhand der an die
Wand der Moschee gemalten Bilder die Geschichte des Propheten Mohammed zu erzählen.
Einer seiner weniger intelligenten Mitarbeiter tanzte dabei
leicht irre, gebückt wie "der Glöckner von Notre Dame",
um uns herum und betrieb verbale Allah-Onanie, indem er
ununterbrochen und ziemlich lautstark was von einem
"Challaaah ... melechaaah ma mechemm ... Challaaah,
Challaaah Challaaah ... jihedda kem meha ... Challaaah..." oder
so ähnlich quasselte, bis es uns und besonders mir extrem
auf den Keks ging und ich den verwirrten Muselmanen den
Wunsch äußerte, diesen Teil der diesjährigen Bildungsreise zu
beenden. Wir bedankten uns für das entgegengebrachte Vertrauen und schlidderten über den glatten Mosaikfußboden
zurück zu unserem Schuhwerk, wo die Meute interessierter
Glotzer immer noch auf uns wartete und jede unserer Bewegungen oder Sätze leidenschaftlich analytisch diskutierte.
Bloß weg hier...
Also ratterten wir in der anbrechenden Dämmerung wei-
ter durch staubige breite Straßen und enge Gassen, speckige
Stadtviertel mit teils verrotteten Häusern und armseligen Hütten, genehmigten uns an einem der vielen kleinen Ladenbuchten zur Erfrischung einen Tee, den Dschai, oder eine
Handvoll Orangen von einem fahrenden Obsthändler und
überquerten auch eine Brücke, die so steil war, daß unser
beinarbeitender Mietling nicht allein in der Lage war, uns dort
hinüberzuschaffen. Aber für derartige Fälle standen an der
Auffahrt der Brücke andere wackere Geschäftsleute parat,
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die der Rikscha für einen kleinen Obolus schiebend oder ziehend auf die Sprünge halfen.
Geradezu gespenstisch mutete die Kulisse an, als wir schließlich den lärmenden `Hafen´ erreichten, wo gerade ein tief
im Wasser liegendes hölzernes Fährschiff vom schlammigen
Ufer ablegte. Im Schein von flackernden Petroleumlampen
entschwand das über und über mit Menschentrauben behängte Schiff in die Dunkelheit, während ehrgeizige Bengalen
immer wieder versuchten, durchs Wasser watend und
schwimmend an Bord zu gelangen, um das Schiff doch noch
zum Kentern zu bringen.
Wir guckten uns das lärmende Spektakel eine ganze Weile
an, und als wir gerade ein paar Meter weitergefahren waren,
entdeckte ich linkerhand einen in einem großen Garten gelegenen beleuchteten Flachbau, durch dessen Fenster Hanteln
und Turngeräte zu erkennen waren. Ich fragte, ob das vielleicht ein dhakaistisches "Body Building Center" oder ähnliches sei ? Weil die Frage mit "Ja" beantwortet wurde, ließen
wir noch einmal halten, um der Sache auf den Grund zu
gehen, und betraten den Laden kurzerhand, denn unser Fahrer war wie immer der Meinung, wir dürften dies ohne weiteres tun, es gäbe da "no problem, no problem."
D rinnen sah es alles andere als hip aus, es glich vielmehr
einem zum Abriß freigegebenen vergammelten Kellerraum.
Aber immerhin - zum Trainieren war alles vorhanden. Eine
Handvoll gut durchtrainierter und aufgepumpter Jungmannen
versammelte sich auf der einen Seite des großen Raumes und
betrachtete uns fragend, da anscheinend niemand was mit
uns anzufangen wußte.
Auf die Frage "Does anybody of you speak English ?" tat
sich erst gar nichts - alles starrte uns weiterhin an. Aber
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Im modernsten Body-Building und Fitness-Studio von Dhaka
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schließlich löste sich ein gutgekleideter Tennis oder Golf spielender Lacoste-Oberschichtler aus der Gruppe, von dem wir
mit unserem holprigen Englisch in Erfahrung brachten, das
dies tatsächlich ein Kraft-Studio, der "Naboje Exercise Club"
war. Dann wollte er wissen, wo wir herkommen:
"American ?"
"Yes, from Kuwait."
"..."
"No, no. German..."
"Aaah. Germany ! Do you come from Berlin ?"
Als wir verblüfft bejahten, erzählte er, daß er, Sohel Rana,
dort einen Onkel habe, der irgendwo in Wedding wohnte
und ein indisches Lokal betrieb. Er selber sei der Sohn eines
bengalischen Diplomaten und würde im April nach Berlin fliegen, um in Deutschland für einige Jahre zur Schule zu gehen.
"Bha !", da waren wir jetzt aber echt platt.
D aß die Welt SO klein und Berlin eine Vorstadt von
Bangladesh ist, hätten wir doch wirklich nicht für möglich
gehalten. Aber damit war das Eis gebrochen, und nun wollte
man wissen, was wir als zivilisierte Weltmänner in unserer
ungewöhnlichen Kluft so vorhatten, ob wir uns für Wasser
und Brot als Rambos in der Armee verdingten oder einfach
nur durchgeknallt waren.
Muskeln wurden bestaunt, ein Ringer, seines Zeichens Landesmeister, vorgestellt und alle Mann brachten sich in Positur, damit ich ein paar Fotos schießen konnte, von denen
leider alle, bis auf ein falsch belichtetes, das unscharf ist, nichts
geworden sind.
Zum Schluß fand der übliche Adressenaustausch statt, und
schon zogen wir mit dem biologisch wertvollen Fußtaxi weiter durch die düstere Stadt, auf zu neuen Abenteuern.
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D as letzte erwähnenswerte Erlebnis, an das ich mich von
diesem Streifzug erinnere, war der aufregende Besuch einer
butzigen verqualmten Teestube, an deren Wänden einige Poster des Diktatiraki Sadam Hussein prangten und die dort
versammelte Manschaft finsterer Gestalten in ein schallendes
"Sadam, Sadam, Sadam !!!“ ausbrach, als wir den Fuß über die
Schwelle setzten.
Alles halb so schlimm: wie sich herausstellte, waren dies
gute Freunde unseres Rikscha-Fahrers. Den Tee bekamen
wir dort umsonst, und die netten Leute waren interessiert zu
erfahren, ob wir Sadam überhaupt irgendeine Chance gegen
den Rest der Welt einräumten - was wir verneinten.
Gegen 22:00 Uhr trafen wir mit unserem fix und fertigen
Fahrer wieder vorm Hotel ein. Nun ging es ans Bezahlen.
Unser Mann war mittlerweile der Meinung, ihm stehe mehr
als die vereinbarten fünf Dollar zu, was zu einer längeren
Diskussion führte. Doch Rolf, der Eigentümer der heißbegehrten Dollars, blieb stur und beharrte auf der ursprünglich
ausgemachten Summe. Mir wär´s ehrlich gesagt scheißegal
gewesen, denn schließlich waren wir 4 Stunden lang gut unterhalten worden. Rolf ließ sich aber nicht erweichen, und so
blieb es bei einem schlappen Fünfer.
Sogar um diese Uhrzeit war die Luft immer noch erdrükkend schwül, und wir glänzten vor Schweiß, den wir im Hotelzimmer unter der Dusche abspülten, bevor wir um Mitternacht dank einem erfülltem Tagewerk in einen tiefen, aber
kurzen Schlaf sanken. Um ca 5 Uhr mußten wir wieder
aufstehen.
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N ach einer kurzen Nachtruhe klopfte es vorsichtig an die
Tür: „Sir ? ... Hello, Sir ? ... Breakfast ...“
Langsam verschwand der Nebel des Schlafes aus dem Kopf,
und schwerfällig stiegen wir in unsere Klamotten, packten die
Sachen zusammen und suchten den Speisesaal auf, wo wir
die anderen Mitreisenden bereits mit der Vernichtung des
Frühstückes, bestehend aus Spiegelei, Toast und Marmelade,
beschäftigt fanden.
Dann mußten wir warten, denn unser Begleitschutz war
bisher nicht im Hotel eingetrudelt. Erst gegen 6:30 Uhr fuhren wir mit dem vollbeladenen Bus zum Flughafen. Hier erhielten wir unsere Reisepässe und Flugtickets zurück, und das
örtliche Militär unterzog unser Handgepäck genau wie am
gestrigen Tage einer intensiven Kontrolle; will sagen, alles aus
den Taschen auspacken, vorzeigen und dann ratz fatz schnell
wieder reingestopft, weil sie bereits den nächsten abfertigten
- nervig !
Sobald das erledigt war, hieß es wieder warten, warten und
nochmals warten, bis wir, Allah sei es gedankt, um 8:45 Uhr
endlich in der Maschine saßen, die um 9:00 Uhr mit Ziel
Kathmandu von der Startbahn abhob...
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Kathmandu
E
ine Stunde später warteten wir bereits wieder auf
unser Gepäck im Flughafengebäude von Kathmandu,
das in seiner Größe ungefähr der Berliner U-BahnStation "Rathaus Spandau" entspricht.
Entsetzt stellte ich kurz darauf fest, daß irgendjemand Gefallen an einem erklecklichen Teil meiner lebensnotwendigen
Ausrüstungsgegenstände gefunden hatte, denn das obere Packfach des gutverschnürten Rucksacks stand offen, mein geliebtes Taschenmesser, das Netzteil für den Weltempfänger und
die sportliche, als Tauschobjekt gedachte zweite Stopuhr fehlten ! Diese Saubande !
Nichtsdestotrotz begrüßten wir nach der Zollkontrolle freudestrahlend Rocky und Dörthe, die bereits in der Eingangshalle warteten, und schleppten unseren Krempel zu den vorm
Flughafen lauernden Crash-Cars, die in Nepal als 1A-Taxis zum
Einsatz kommen. Auch hier fielen die abgerissen aussehenden Fahrer dieser rollenden Särge wie wilde Mongolenhorden
über den ahnungslos Phantasiepreise zahlenden Gringo her,
und kaum hatte man sich versehen, ballerte der furchtlose
`Pilot´ mit Tempo 100 durch die geschlossene Ortschaft,
jagte Fußgänger, Radfahrer und Getier von den Straßen und
setzte seinen benommenen Passagier in einem von ihm gewählten Etablissement ab - denn diese Burschen vergnügten
sich außerdem als Hotelvermittler auf Provisionsbasis.
Welch ein Glück - Rocky kannte die `ährlischen´ Preise !
Umgerechnet DM 2,50 kostete die rasante Fahrt vom abseits gelegenen “Tribhuvan International Aiport" bis nach
Thamel, dem legendären Touristenviertel von Kathmandu.
A nders als erwartet hatten sich Rocky und Dörthe im
“Norbulinga Guest House” anstatt im bereits ausgebuchten
“Dreamland” einquartiert. Für uns war ebenfalls ein nettes
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Doppelzimmer (Nr.105) mit Dusche und kränkelndem WC
für 140 Rupies pro Tag reserviert. Die Zimmer lagen im
ersten Stock und waren durch eine um den Innenhof führende `Galerie´ zu erreichen.
Direkt unter unseren mit Fliegengittern versehenen Fenstern führte die tagsüber recht belebte und von Schlaglöchern gezeichnete Ladenstraße vorbei, in den folgenden frostigen Nächten überwiegend heimgesucht von herumstreunenden Rudeln halbverfaulter Straßenkläffer, die auf ihrem
Beutezug durch die Stadt die überall angehäuften stinkenden
Müllhaufen nach Nahrhaftem durchwühlten.
Für die schmutzige Wäsche fauler Zeitgenossen stand eine
preiswerte, hauseigene Laundry zur Verfügung. Wäsche, die
auf eigene Faust in dem angeforderten und kostenlosen Bucket
behandelt wurde, durfte auf dem Dach, aus dem noch immer die Bewehrungsstähle ragten, getrocknet werden. Hier
standen auch die ‘Warmwasser-Kollektoren´ und der isolierte Warmwasserspeicher: das Ah und Oh für den Genuß einer einigermaßen umweltverträglichen warmen Dusche. Auch
ein Sonnenbad in den wärmeren Morgen- und Mittagsstunden tat hier oben gut, wie wir bald herausfanden.
Z udem verdienten sich direkt vor unserer Residenz ein
paar Kids etwas Geld mit der "Theorie und Praxis über Schuhe,
ihre Bedeutung, Pflege und Haltung", und jeden Morgen, wenn
wir es wagten einen Fuß vor die Tür zu setzen, trat die
gröhlende Werbetrommel dieses recht spaßigen JugendSchuhputzdienstes in Aktion, um uns ein paar Rupies aus den
Rippen zu leiern. Klappte das nicht oder doch - also in jedem
Fall - erschien gleich darauf das unbarmherzige "Take That"Tiger-Balm-China-Oil-Rollkommando, das uns solange über
Vorzüge und Anwendungsgebiete jener braunen oder auf
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Erstes Frühstück im "Scala"
Wunsch farblosen Paste in Kenntnis setzte, bis wir wenigstens eine Handvoll Dosen dieser asiatischen Heilsalbe erhandelt hatten, von denen ich noch heute an die fünfzig Stück
besitze.
D och bevor wir das alles kennenlernten, kippten wir zu-
erst mal unsere Sachen auf dem Zimmer ab, enterten kurzerhand einen Tisch in der Idylle des nachbarlichen Gartenrestaurants “Scala” und frühstückten ausgiebig mit Kaffee, Tee,
Kakao, Lassi, Brötchen, Kuchen, Müsli und Eier-Omelette,
kurzum, wir mußten auf nichts verzichten. Pappensatt und
zur Akklimatisation wollte Rolf sich danach aufs Ohr hauen,
tat dies und wachte erst am nächsten Tag wieder auf.
Ich jedoch mochte mich nicht hinlegen. Obwohl müde und
matt, war ich geistig total aufgedreht und wollte mir unbedingt die Gegend ansehen. Am Nachmittag schlenderten Rok-
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ky, Dörthe und ich
dazu durch die verwinkelten Gassen des
schaurig-schönen
Kathmandu gen Westen zum heiligen Fluß
Vishnumati, der zu dieser Jahreszeit eher einer Pfütze glich.
Erst im Sommer,
wenn die schmelzenden Gletscher unterstützt durch den Monsun den Fluß speisten,
würde das Gewässer
wieder sein brachliegendes breites Bett
ausfüllen. Auf einer
der Brücken galt es
das andere Ufer zu er365 Stufen ins Nirvana !!!
reichen, wollte man
etwas noch Heiligeres als heilig sehen. Denn das hatten wir
uns vorgenommen.
N ur ein Stückchen die jenseitige steile Straße hinan und
schon standen wir am Fuße eines Hügels, auf dessen mit
Laubbäumen bewaldeten Hängen sich steinerne Götzenskulpturen, heidnische Händler, furchtlose Schlangenbeschwörer und eine erkleckliche Anzahl schweinischer Affen tummelten. Mit Ächz und Stöhn mußte jetzt noch die 365 Stufen
zählende Steintreppe erklommen werden, dann stand man
vor einem riesigen goldenen Donnerkeil, Insignie für die En-
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Der STUPA von Swayambunath
ergie der Götter, und im Hintergrund erhob sich der von
Tauben in Besitz genommene Stupa von Swayambunath. Im
Uhrzeigersinn um den Stupa herum gehen, schleichen oder
hetzen den ganzen lieben langen Tag die Gläubigen und drehen dabei ora et labora vorsichhinmurmelnd die einhundertelf
`Gebetsmühlen´, kleine Dynamos, die zusammen mit den
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an dem Stupa in Boudanath installierten den täglichen Energiebedarf der Klöster des Kathmandu-Tales decken. Gespeichert wird die anfallende Energie in dem weißen meilerähnlichen Korpus des Stupa (STUpid-Power-Akkumulator), einem riesigen prähistorischen Akkumulator.
Für die private Energieerzeugung gibt es Dynamo-Handies
in den verschiedensten Größen. Hier befindet sich der Akku
in dem hölzernen Handgriff eines jeden Gerätes. Fast überall
in Nepal sieht man die Leute bei der andächtigen Erzeugung
kostengünstiger göttlicher Energie, deren Herstellungsverfahren in den buddhistischen Ländern der Erde schon seit hunderten von Jahren bekannt ist.
U nter den eindringlichen Blicken der vier aufgemalten
Augenpaare des Stupa verkaufen Händler in der räucherstäbchengeschwängerten warmen Luft Schmuck, wollene
Touristenkitschteppiche, Messingschalen für alle Fälle,
kratzfeste Pullover aus fetter Yakwolle, Räucherstäbchen jeglicher Geruchsrichtung, Wahr- und Unwahrheiten, glückverheißende Mandalas, unheilverkündende Ultra-Brutalo-Messer,
menschliche Schädel- und tierische Wolldecken, Bücher aus
aller Welt, billigste Postkarten, irre Musikinstrumente und vieles
mehr. Bettler bitten um ´ne Rupie als kleinen Bakshisch, und
heilige Männer, die Yogis, zeigen ihre Künste. Zwischen den
verschiedenen kleinen Stupas und Tempelchen tummeln sich
jede Menge verfressene Hunde und hemmungslos rumvögelnde Affen, die frech die von den Gläubigen niedergelegten
vegetarischen Opfergaben klauen.
Nicht zu vergessen der Tempel mit der großen goldenen
Buddha-Statue, das tibetische Kloster, der der Göttin Sitala
Devi geweihte Hariti-Tempel und eine buddhistische Bibliothek. Die ganze Anlage ist an strategisch wichtigen Stellen mit
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einer hüfthohen Mauer und darauf eingelassenem Metallgeländer umgeben, damit niemand die steilen Abhänge herunterpurzelt, wenn er sich beim verträumten Blick über tieferliegendes Terrain zu sehr gehen läßt und ungewollt versucht,
es den unter ihm im lauen Aufwind schwebenden Greifvögeln gleichzutun.
R ocky zerrte mich gleich in ein kleines dunkles Loch, das
sich bei genauerer Betrachtung als kurioser Ramschladen für
Silber- und anderen Schmuck herausstellte, und verwies auf
die Auslagen mit diversen klobigen Silberringen, von denen er
beabsichtigte, einige Wagenladungen zollfrei nach Deutschland zu schaffen.
So hatte ich das erste Mal Gelegenheit zuzusehen, wie das
traditionelle und zeitraubende Feilschen vor sich ging:
Der staubige Händler zeigt frohgestimmt die gewünschte
Ware.
Der Kunde betrachtet das ersehnte Kleinod mißmutig ohne
besonderes Interesse und fragt lächelnd, welcher Preis für
diesen Mist zu berappen sei.
Jener an einem Gehörsturz leidende Händler wiederum verlangt ohne rot zu werden das zehnfache des üblichen Preises, erklärt, das wäre eigentlich geschenkt und beginnt das
gute Stück mit Tränen ob der baldigen Trennung in den Augen zu polieren.
Da sich die Privatwirtschaft in einer Flaute befinde und wegen des schlechten Einflusses der Kaltwetterfront am kommenden Dienstag sei es ihm nicht möglich, mehr als ein Fünftel des verlangten und bestimmt korrekten Preises zu zahlen,
entgegnet König Kunde.
Krampfgeschüttelt wälzt sich der erniedrigte Händler wimmernd im Staube seines Fußbodens und bittet alle ihm schlecht-
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gesonnenen Götter herzzerreissend um Erbarmen für soviel
ihm zugedachte Schande.
Der offensichtlich unbeeindruckte Kaufinteressent kniet vor
dem am Boden liegenden, schwer nach Luft Schnappenden
und flüstert ihm leise ins Ohr, er stehe zwar auch in Verhandlungen mit der indischen Silbermafia, lege aber zur Not noch
ein Paar alte Socken oben drauf, obwohl er damit verflucht
sei, den Rückweg in die weit entfernte Heimat barfuß anzutreten.
Socken könne niemand essen und daher nehme er das
Geschenk gerne an, wenn selbiges mit einigen zusätzlichen
Rupies gefüllt sei, stöhnt der vermeintlich schwer angeschlagene Ladenbesitzer.
Ok, ok - zwei Fünftel seines Preises und das Paar Fußpelze
als Beigabe sei jetzt aber wirklich das Höchste der Gefühle !
Mit bleichem Gesicht und kraftloser, schwankender Stimme schlägt der Händler nach einer geschlagenen Stunde harter Verhandlung notgedrungen in das Geschäft ein, entgegnet, er müsse den Laden jetzt leider schließen, da er nun
pleite sei, und schließt ihn dann auch wirklich - um eine Woche lang von dem reichlichen Gewinn Urlaub zu machen...
Keine Lüge.
Passiert einem in Nepal und Indien andauernd !
Ich blickte der ganzen Angelegenheit eher cool ins Auge,
war ich doch immun gegen dergleichen weltlichen Glanz und
Glitter. Wozu braucht der Mensch so unnötigen Tand wie
silberne Ringe, Edelsteine oder güldene Ketten ?
Rockys Euphorie und Kaufrausch waren für mich vollkommen unverständlich - geradezu abstoßend !
Aber toll sahen die Ringe schon aus...
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V on Swayambunath zurückgekehrt ging der erste Tag ei-
gentlich recht schnell zu Ende. Nach dem Abendessen in irgendeiner indischen Spelunke, wo wir leckere undefinierbare
Speisen in uns hineinschlangen, suchten wir zeitig unsere Schlafgemächer auf .
Da es in den Zimmern unserer Pension - wie in allen Pensionen Nepals - keine Heizung gab, begann es zu dieser Jahreszeit ab dem späten Nachmittag kalt zu werden, denn wir
befanden uns immerhin in einer Höhe von 1300 Metern über
Normalnull.
Dieser Zustand verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde,
und abends war es dann meist dermaßen arschkalt, daß man
sich ganz schnell in seinen ebenfalls noch kalten und klammen
Schlafsack verkroch und mit deutlich sichtbaren Atemfahnen
und klappernden Zähnen versuchte, dem Schlaf entgegenzudämmern, während draußen vor den Fenstern bereits einige
Hunde ihr Unwesen trieben und die ersten Lagerfeuer auf
der Straße entzündet wurden.
Auf unserem Nachttischchen krümelten derweil die neuentdeckten Erdnußkekse zwischen Räucherstäbchen, Bananen, Maggi-Brühwürfeln und verschmierten Blechtassen vor
sich hin, und gegen ein Uhr morgens schaltete sich endlich
der teuer erworbene, ununterbrochen "Kratz- und Pfeifgeräusche aus aller Welt" plärrende Weltempfänger automatisch ab, so daß wir in Ruhe weiterfrieren konnten.
N ur knapp eine Woche wollten wir in Nepal verbringen,
dann war Rockys Visum abgelaufen, und er mußte das gelobte Land verlassen. Seine Planung sah vor, daß wir diesen
Termin nutzten, um zu unserem gemeinsamen Mega-Trip
nach Indien aufzubrechen.
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Rolf, der eigentlich vorhatte, sich Ende Februar mit einem
Bekannten zu treffen, der in Deutschland einen florierenden
Handel mit nepalischen Wollprodukten betrieb, war kurzzeitig auch am Überlegen, ob er mit nach Indien kommen solle.
Da wir aber erst Mitte März zurück sein wollten und er sich
mit Bogdan anfreundete, entschloß er sich erfreulicherweise
doch, die verbleibende Zeit in Nepal zu verbringen, um die
Gegend und einheimische Shit-Sorten abzuchecken. Was mir
auch ganz recht war, wie ich eingestehen muß, denn obwohl
wir uns ein Zimmer teilten, war ich nicht erpicht darauf, mehr
Zeit als notwendig mit ihm zu verbringen.
E s war bereits Freitag, also blieben bis zum kommenden
Dienstag, dem D-Day, nur ein paar Tage, um die Busfahrkarten
für uns drei und speziell das indische Visum für mich zu besorgen, was beinahe in die Hose ging, denn zuerst verlor ich
schon mal drei Tage dadurch, daß man mich von der Indischen zur Deutschen Botschaft schickte, wo ich mir das verlangte Empfehlungsschreiben, den Recommendation-Letter, besorgen mußte. Den erhielt ich erfreulicherweise auch am
gleichen Tag, doch zurück bei der Indischen Botschaft stand
ich vor verschlossener Tür: Wochenende !
Und so gaben wir uns ganz dem nächsten kulturellen Er-
eignis auf unserem engen Terminplan hin: dem Besuch von
Pashupatinath, wo die Hindus am Fluß Bagmati ihre Toten auf
Holzstößen zu Asche verfeuern und Boudanath, der zweiten
und größten Anlage buddhistischer Energieplanung, mit einem 40 Meter hohen Stupa.
Beide Ziele liegen östlich von Kathmandu, und den ansteigenden holprigen Weg dorthin bewältigten Rocky und ich mit
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einem zweigetakteten knatternden Tempo - auch Motorrikscha genannt. Diese asiatischen Kabinen-Dreiräder schütteln ihre Fahrgäste kräftig durch, und wenn es mal etwas
steiler wird, kann es passieren, daß man gebeten wird auszusteigen, damit die Kiste überhaupt noch vom Fleck kommt.
Auf alle Fälle lustig !
Heilige Verfallsstätte in Pashupatinath
I ch mochte Pashupatinath ehrlich gesagt nicht viel abgewin-
nen, denn Nicht-Hindus ist es verwehrt, sich die komplette
etliche hundert Jahre alte Anlage von innen anzuschauen. Daher blieb uns nichts weiter übrig, als den Fluß auf einer der
zwei Steinbrücken zu überqueren und am anderen Ufer auf
einer weißgekalkten Treppe eine Anhöhe zu erklimmen.
Tempelanlage, Treppe, wie der dort oben befindliche zerrupfte Wald sind Lebensraum für eine Vielzahl abgezehrter
scheintoter, aber heiliger Rindviecher, die den ganzen Tag
wiederkäuend vor sich hinstarren und mit ihrem Dung die
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Gegend vollsauen. Unterstützt werden sie dabei von halbverhungerten herumstreunenden `Wildhunden´, die einem in
ihrem Elend einfach nur leid tun können, und verfressenen
Großfamilien streitsüchtiger Affen, die auch schon mal einem
Touristen in die Tasche greifen, sofern sie etwas Nahrhaftes
darin vermuten. Zwischen den Bäumen stehend kämpfen tagtäglich uralte hinduistische Tempelanlagen gegen Interesselosigkeit, Verfall und Vandalismus an, und niemand scheint sich
darum zu kümmern. Ein Bild des Schreckens !
Im Hintergrund ragt die große durchlöcherte Kuppel einer
von einer hohen Mauer umgebenen Moschee zwischen den
Bäumen hervor - ich denke, die muß übriggeblieben sein von
den muselmanischen Eindringlingen, die den `gottlosen´ Hindus im 14.Jahrhundert zeigen wollten was Sache ist und deren Tempelanlage dem Erdboden gleichmachten - was man
mit ihnen später auch tat...
Vorsicht vor den menschenfressenden Yeti-Tempelaffen
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Die Besucher vertreiben sich die Zeit im Wald, auf einer
nahen kleinen Wiese oder sitzen auf einer der hinter einer
steinernen Brüstung stehenden hölzernen Sitzbänke, von denen aus das bunte Treiben am Fluß und zwischen den Tempelanlagen am gegenüberliegenden Ufer gemütlich beobachtet
und gefilmt werden kann. Vorsicht ist hier allerdings vor den
soeben genannten diebischen Affen geboten, die über, unter
und neben einem herumwuseln und keine Scheu haben, einem Nackten in die Tasche zu fassen, wie Rocky entgeistert
feststellten mußte.
Z eitig machten wir uns wieder auf den Weg, um nach
Boudanath zu gelangen, das nur drei Kilometer von
Pashupatinath entfernt liegt. Schon von weitem wird man der
dem Kuppelbau aufgemalten allessehenden Augen Buddhas
gewahr, des Urvaters dieser Anlage, die so riesig ist, daß die
Menschen auf dem weißgetünchten Bauwerk herumlaufen
können. Das nur von tibetischen Buddhisten verehrte Heiligtum gilt als einer der Welt größten Stupas. Wie in
Swayambunath, so wandert auch hier ein nicht endenwollender
Strom murmelnder Gläubiger um den Stupa herum und dreht
die mit Schriftzeichen versehenen, gebetemahlenden Energiespender. Von der goldenen Spitze des Stupa sind lange Leinen bis zum Boden gespannt und mit lustig im Wind flatternden, bunten Batik-T-Shirts zum Auslüften behängt, die überall
in den Haute Couture-Läden des Kathmandu-Tales für wenig
Geld zu haben sind.
Rings um den Platz verteilt findet der interessierte
Konsumtourorist viele kleine Lädchen und fliegende Händler
(!!!), wo er dies, das, jenes und welches, meist aus tibetischer
Produktion stammende erwerben kann. So richtete Rocky
sein Augenmerk z.B. auf eine übel verformte Schädeldecke,
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Boudanath-Stupa
die von einem solchen Hochgebirgsbewohner hier am Platze
angeboten wurde. Leider war der verlangte Preis so hoch
und der Mann so handelsunwillig, daß das gute Stück nicht
den Besitzer wechselte.
S chädeldecken sind keine, wie der Unkundige vielleicht ver-
muten mag, wärmenden Wolldeckchen, die sich Mama oder
Papa aufs Haupt legen, falls ihnen friert, sondern von in Todesangst schreienden Menschen - meist ahnungslosen Touristen - mit stumpfem Werkzeug, bei lebendigem Leibe abgesägte Kopfoberteile, die in noch warmem Zustand vom Skalp
befreit, mit Silberblech ausgekleidet werden und poliert und
mit Türkisen, Silberblech, Sea-Corral oder eingeschnitzten
Mandalas verziert als skurrile Dessert-Schalen in den Handel
gelangen. Der restliche Körper wird zu Spottpreisen ans `be-
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freundete´ China verscherbelt, wo das Fleisch in den lokalen
Suppenküchen verschwindet, wohingegen die restlichen Knochen in den staatlichen Eßstäbchenschnitzereien Verwendung
finden.
Kleiner Scherz - Schädeldecken werden natürlich nicht als
Dessert-, sondern als Trinkschalen verwendet !
91er Schädeldecken-Sommer-Kollektion `Chainsaw-Desaster´
D och außer Schädeldecken gab es natürlich noch andere
interessante Dinge, die man mit nach Hause bringen konnte.
Da mich Rocky mittlerweile mit seiner ewigen Aufkauferei
kompletter Ladeninventarien angesteckt hatte, versuchte ich
mein Glück bei einem Laden für wollene Handarbeiten und
wurde stolzer Besitzer eines stark kratzenden, aber sehr warmen Pullovers aus reiner handverarbeiteter Yakwolle, der
mir auf unserem Trek gute Dienste leistete. Und der Preis
war einfach unfaßbar: fünfzehn Mark !
Zwei Läden weiter erstand ich zudem ein Paar dazu passende Wollhandschuhe für nur eine einzige Mark und
Wollsocken für lächerliche zwei Mark ! Ein kleiner Schmuckladen erregte ebenfalls meine Aufmerksamkeit: Ich fand,
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feilschte und erstand dank Rockys Unterstützung für ganze
zehn Mark einen sehr schön geschliffenen, in Silber eingefaßten golden Topas, wie der Händler versicherte, den ich im
nachhinein aber eher als weniger wertvollen Citrin einschätze.
Der Preis für einen Silberring mit einem dicken fetten Citrin
von drei Zentimeter Kantenlänge überstieg aber dummerweise meine derzeitige Hemmschwelle, was ich später bereute.
Die anfänglichen Berührungsängste mit dem ewigen Herumgefeilsche für Alles und Jedes waren damit auf jeden Fall
beseitigt und ich wurde später nur noch mutiger und ... unverschämter.
Was für ein tolles Spiel !
Z urück in Kathmandu opferte ich mich, wie jeden der ver-
bleibenden Tage bis zur Abreise nach Indien, dem exzessiven
Schreiben von Postkarten und Luftpostbriefen; hatte ich mir
doch fest vorgenommen, diese quälende Aufgabe möglichst
in der ersten Woche zu erledigen, da ich wußte, wie schnell
bei mir die Lust dazu erlahmte. In meinem Repertoire befanden sich dreißig (30 !) Adressen, und soviel Post wollte erst
einmal geschrieben werden, ohne in das übliche Blabla zu
verfallen.
Die mit Vier-Rupien-Marken (ca. 15 Pfennig !) frankierten
Karten (Luftpostbriefe kosteten 30 Pfennig !), mußten danach zum GPO, dem Hauptpostamt am Bimsen-Tower gebracht und dort von einem staatlichen Spezialisten abgestempelt werden. Dabei war darauf zu achten, daß der entsprechende Staatsdiener auch wirklich das machte, was er machen sollte - aufgepaßt, denn es kommt des öfteren vor, daß
die Angestellten die ungestempelten Briefmarken von den
Karten oder Briefen ablösen, die Post wegschmeißen und die
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Marken aufs neue verkaufen, um ihr bescheidenes Gehalt
aufzubessern. Das ist diesmal kein Witz !
O bwohl wir nur gefiltertes und zusätzlich mit Micropur behandeltes Wasser zu uns nahmen oder die Zähne damit putzten und auf unseren Streifzügen im städtischen Bereich ausschließlich Tee oder Kaffee bevorzugten, war es einem hinterhältigen Bakterium durch irgendeinen dämlichen Umstand
gelungen, mein körpereigenes Verteidigungsnetz auszutricksen und in meinen Organismus einzufallen, wo es sich ungezügelt vermehrte und versuchte, Platz für sich und seine
krankhafte Nachkommenschaft zu schaffen. Das äußerte sich
in gelegentlichem überflüssigen Entleeren des Darmes, der
sich mit ein paar halbherzigen Krämpfen gegen diese Art von
Besiedelungspolitik wehrte, begleitet von leichtem Fieber mit
gelegentlichem Schüttelfrost.
Da es nicht ganz so schlimm war, entschloß ich mich abzuwarten, ob der Eindringling von selber klein beigab und das
Weite suchte, verzichtete also vorerst darauf, einen pharmazeutischen Killer auf ihn anzusetzen.
Vielleicht war es auch nur eine Erkältung oder fiebrige Kaufwut, denn es verschwand viel Geld für Räucherstäbchen,
Täschchen, Silberringe, Messer, Ketten, Reispapier-Heftchen,
Kekse, Schädeldecken, Kuchen, Tiger-Balsam, China-Öl, Versteinerungen, Bergkristalle, Kästchen, usw., während wir zur
Beruhigung des guten Gewissens nur ab und zu mal eine
Rupie oder weniger an einen der verkrüppelten und zerlumpten Bettler oder bunt zurechtgemachten Yogis spendeten, nachdem wir vorher Hunderte für vermeintlich wertbeständigen Krimskrams zum Fenster rausgehauen hatten.
Wenn man drüber nachdenkt, kann einem halt schlecht
werden. Leider - aber so war´s.
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I n diesem etwas angeschlagenen Zustand ging es in die
letzte Kultur-Runde vor unserem großen Aufbruch nach Indien: Wir machten einen ganztägigen Besuch in der "Stadt der
Menschen, die Gott in Hingabe dienen": Bhaktapur; neben
Kathmandu und Patan eine der drei ehemals mächtigen Königsstädte im Kathmandu-Tal. Mit einem Taxi fuhren diesmal Rolf,
Dörthe, Rocky und ich zusammen zu dem 16 Kilometer südöstlich von Kathmandu gelegenen altertümlichsten der drei
Städtchen, das eine Fülle von gut erhaltenen Tempeln sein
eigen nennt.
Es wäre müßig, in diesem Buch jedes dieser sehenswürdigen Kleinode nepalesischer Baukunst aufzuführen und zu beschreiben, denn dafür mag sich der interessierte Leser in die
kaum übersehbare Schwemme unheimlich öder und tödlich
langweiliger Reiseführer am Markte stürzen.
Urgemütlich: Wohnsilos in Bhaktapur
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V iel interessanter war für uns damals auch die Stadt an
sich, ein lebendes Biotop mit seinen uralten, geradezu ineinander verwachsenen und windschiefen Gebäuden, die nur
darauf warteten, entdeckt zu werden. Also hielten wir uns
zuerst mehr im Hinterland auf, guckten hier und suchten da,
um dem unerwarteten Ansturm der Otto-Normal-Touristen,
die sich überwiegend im Bereich Durbar Square und Taumadhi
Tole verteilten, zu entfliehen. Angenehmer Nebeneffekt dabei war, daß wir gleichzeitig den an diesen gutbesuchten Plätzen touristenauflauernden Bambusflöten-, Kettchen-, Messerund sonstigen Kram verkaufenden Straßenhändlern entgingen, die sich für unseren Geschmack etwas zu aufdringlich
benahmen.
A n den `weniger attraktiven´ Orten von Bhaktapur, etwa
bei den riesigen Wasch- oder Badeplätzen, die dort überall zu
finden sind, sah man beispielsweise experimentierfreudige junge Nepalesinnen damit beschäftigt, ihre gerade getrocknete
und garantiert absolut saubere Wäsche in die total verdreckten und von Wasserlinsen zugewachsenen Wasserbecken, den
sogenannten Pokharis, zu schmeißen, um deren Schwimmund Saugfähigkeit zu testen, und andernorts vergnügten sich
zu unserem großen Erstaunen äußerst hungrige
Bhaktapurianer mittleren Alters, indem sie auf dem dreckigen Boden, inmitten der Fußgängerzone, ein auf unbekannte
Art und Weise dahingeschiedenes Rindvieh in seine Einzelteile zerlegten.
Dazu war der bemitleidenswerte Leichnam vorher von ihnen unausgenommen, so wie Gott ihn erschaffen hatte, in
ein Feuer geschmissen worden, um das Fell abzufackeln und dementsprechend unappetitlich sah der verkokelte Kadaver nun auch aus.
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Während die Frauen ihre Wäsche badeten...
Als wir eine halbe Stunde später wieder an der Stelle vorbeikamen, hatten die eifrigen Schlächter bereits alles, samt
Knochen und Eingeweiden, aufgegessen (???), und nur ein
blutiger Fleck zeugte noch von dieser schnellen und reichlichen Zwischenmahlzeit.
G etrennt von Rocky und Dörthe, mit denen wir uns später
wieder am Durbar Square treffen wollten, durchstreiften Rolf
und ich zu zweit die ereignisreichen, trotz des Sonnenscheins
von einem kühlen Wind durchwehten Gäßchen. Als sich nach
dem langen Herumlaufen neben dem Frieren auch noch der
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...widmete sich die Männerwelt mal wieder fleischlichen Genüssen
Hunger knurrend in unseren beiden Mägen bemerkbar machte, suchten wir ein kleines chinesisches Lokal auf, wo wir uns
als einzige Gäste bei andenähnlicher Flötenmusik und einem
leckeren Nudelgericht ein Quentchen Ruhe gönnten. Danach
begaben wir uns in gemäßigtem Tempo in Richtung unseres
vereinbarten Treffpunktes am Durbar Square.
Irgendwo auf dem Weg dorthin glaubte ich meinen Augen
nicht zu trauen, als ich durch ein leicht geöffnetes Tor blickte
und etwas sah, was nun so gar nicht zu dem mittelalterlichen
Ambiente paßte: Da standen doch tatsächlich sauber aufgereiht drei blitzblank geputzte Feuerwehrwagen der örtlichen
Feuerwehr, einer davon ein sehr gut gepflegter Oldtimer mit
Holzleiter, Handglocke und -pumpe !
Genial ! Das mußte ich unbedingt fotografieren.
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Feuer ahoi !!!
A m Durbar Square wieder lustig vereint, stürzten Rocky
und ich uns auch gleich auf das mannigfaltige Angebot jahrhundertealter Antiquitäten und traditioneller Tourismus-Kleinkunst, die dort zu Spottpreisen verramscht wurden, wollte
man den Worten der Händler Glauben schenken, die alles
mit "very old" und "very, very cheap cheap" versuchten an
den Fremdling zu bringen. Wirklich kaufen mochten wir jedoch im Moment nichts mehr, die angeleierten Geschäftsverhandlungen dienten einzig und allein der näheren Information und des Feilschtrainings, und es war schon sehr interessant, wie weit die Händler von sich aus bereit waren, mit den
Preisen herunterzugehen, wenn man nicht unbedingt ein Interesse zeigte.
Solche anstrengenden Gespräche können sehr hungrig machen, weshalb es uns auch bald Richtung Taumadhi Tole trieb,
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wo wir in dem im Pagodenstil erbauten "Restaurant Nyatapola"
Stellung bezogen, das von einem seiner oberen beiden Stockwerke einen wunderschönen Rundblick über den gesamten
Platz bot. Links neben dem Restaurant reckte sich der fast
300 Jahre alte, fünfgeschossige Nyatapola-Pagodentempel mit
einer Höhe von 30 Metern dem Himmel entgegen, und geradezu blickten wir auf den mit `nur´drei Dächern ausgerüsteten Bairabnath-Tempel.
Hochzeit: Im buntgeschmückten Auto sitzt der Bräutigam
Währenddessen schob sich unten auf dem Platz eine große Hochzeitsgesellschaft durch die sowieso schon reichliche
Menschenmenge, begleitet von einer mit Pauken und Trompeten ausgerüsteten und in rote Uniformen gekleideten Kapelle, die laut etwas an `Karneval in Rio´ Erinnerndes zum
Besten gab. Es war die Hölle los !
Sofort Kamera her, runtergehetzt und ein Foto davon gemacht und danach noch eins von der Touristin, die "No, No,
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Mit 30m ist der Nyatapola-Tempel der höchste seiner Art im Kathmandu-Tal
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Nooo !!" schreiend versuchte, Hals über Kopf der Bande von
Straßenhändlern zu entkommen, die ihr u-n-b-e-d-i-n-g-t eine
schmucke Holzkette, ein wirkungsvolles Hackmesser, Armbänder oder vielleicht eine Gebetsmühle? andrehen wollten
und der ängstlichen Dame dabei extrem auf die Pelle rückten...
A lso, man konnte auf keinen Fall behaupten, das dort nix
los wär´, denn allein von dem was so passierte, konnte man
schon ein ganzes Buch füllen. Und noch mehr los war später
im "Norbulinga Guest House", als wir zurückkamen und Dörthe
unbedingt, sofort und ohne Umschweife die 20 Rupies, oder
war´s weniger? zurückhaben wollte, die sie mir irgendwann
am Morgen geborgt hatte. Worauf ich etwas ungehalten reagierte, denn erstens ging ich ja nicht verloren und zweitens
können nur arme Inder an ´ner fehlenden Mark zugrunde
gehen.
Hatte das nicht Zeit bis ...sagen wir mal... morgen ?
Doch weit gefehlt ! Kurze Zeit später erschien Rocky im
Zimmer, kritisierte mein allgemein ungebührliches Verhalten
und setzte mir auseinander, daß er zwar gerne mit mir zusammen verreisen wolle, aber eben nur unter gewissen, von
ihm ins Auge gefaßten Umständen, und schließlich warnte er
mich erbost davor, Dörthe und ihn auseinanderbringen zu
wollen ???
Was 20 Rupies so anrichten können - mein Gott !!!
Vor Verwirrung stand mir glatt der Mund offen. Heilige
Scheiße - was sollte man auf so was antworten ?
Irgendwie lief hier wohl der falsche Film ?
Der Zornesausbruch hatte tiefere Gründe: Dörthe vermutete in mir ein verdeckt arbeitendes Mitglied der internationalen Anti-Frauenfront und teilte Rocky ihren Verdacht mit;
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Rocky erahnte nebulöse frauenfeindliche Intrigen zwecks
Ausgrenzung seiner Herzallerliebsten, und ich dachte einfach
nur, die beiden haben komplett den Verstand verloren Dörthe wegen ihrer andauernden Pfennigfuchserei und Rokky, weil er nicht wußte wovon er redete.
War etwa zwei Tage vor Beginn der eigentlichen Reise alles
zuende wegen solchen Schwachsinns ?
Nein und nochmals nein !
Mit knirschenden Zähnen gab ich klein bei...
A m Montag, dem 21.01.1991 um 08:00 Uhr zeigte die Tür
der Indischen Botschaft leider immer noch keine Regung sich
zu öffnen, denn auch für Blinde und geistig Schwache war die
offizielle Öffnungzeit um Punkt 09:00 Uhr und keine Sekunde
früher.
Nach Öffnung der von mir und weiteren tausend Bewerbern belagerten Eingangspforte schüttelte mich beinahe ein
hysterischer Anfall, als jeder seinen Antrag in die Hand gedrückt bekam und ich erschüttert feststellte, daß ich tatsächlich als einziger weder ein Hirn noch den viel wichtigeren
Kugelschreiber dabei hatte, um diesen Fetzen auch den Vorgaben gemäß auszufüllen. Da aber trat mein ungeahntes
schauspielerisches Talent auf den Plan, und einer der weniger
hartherzigen Fürbittsteller empfand genug Mitleid, um seinen
Faserschreiber an mich abzutreten.
Damit nicht genug, wartete schon der nächste Schicksalsschlag in Gestalt eines uneinsichtigen Sachbearbeiters, denn
um den Antrag innerhalb eines Tages zu bearbeiten, verlangte der Verfluchte zynisch das Busticket der imaginären `Reisegruppe´ zu sehen, die ich zur Unterstreichung der Dringlichkeit meines Falles ins Leben gerufen hatte.
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G-O-T-T I-M
H-I-M-M-E-L - die
Tickets verwahrte
Rocky !!!
Hetz, Hetz, Hetz,
keuch, hechel, hechel zurück ins Hotel, Rocky nicht da ...
ich warten ... und
warten ... und warten und die Zeit rann
dahin. Da plötzlich
tauchte Rocky auf,
und mit einem wehleidigen Aufschrei nervlicher Anspannung entriß ich ihm die unentbehrlichen Busfahrkarten, wollte gerade zur Tür hinausstürzen, als Bogdan sich
anbot, mich mit dem Motorrad zurückzubringen.
S chließlich überreichte ich vollkommen entnervt meinen
sauber ausgefüllten Antrag plus einwandfreiem und rechtsgültigem auf meinen Namen ausgestellten Ticket dem zuständigen Oberabstempler in der Botschaft und schob einen 500
Rupien-Schein zwecks Bezahlung der geforderten Bearbeitungsgebühr in Höhe von 380 Rupies hinterher, worauf diesmal keine irgendwie geartete Gegenwehr erfolgte.
Freudig erregt und mit der Genugtuung es endlich geschafft,
die Bürokratie in die Knie gezwungen zu haben, verspürte ich
den unaufhaltsamen, ja geradezu zwanghaften Drang, diesem
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Gott der Formulare und Bescheinigungen ein angemessenes
Opfer für soviel Hingabe darzubringen, bat ihn darum
unterwürfigst, das mir gesetzlich zustehende Wechselgeld zu
behalten, was ich lieber nicht hätte tun sollen, oder wenigstens nicht mit der langen Schlange anderer Antragsteller und
potentieller Mithörer hinter mir. Es kränkte anscheinend die
persönliche Ehre dieses Schwachkopfs, der urplötzlich mit
einem erbosten Redeschwall von schwerverständlichem
Pidgin-English über mich herfiel.
Ich war perplex - was war los ?
Hatte ich irgendwas Falsches gesagt ?
Doch mein Schicksal ließ mich nicht im Stich, und ein Schutzengel in Gestalt eines hinter mir stehenden deutschsprechenden Ceylonesen, mit Namen Krishna, sprang in die Bresche,
erklärte mir, der Beamte wolle wegen der versuchten vorsätzlichen Bestechung meinen Antrag nicht bearbeiten - die
Sache könne ich vergessen !
Ich entschuldigte mich für dieses `Mißverständnis´, und der
gewiefte Krishna erklärte dem Erbosten schließlich in Hindi,
Deutsche wären halt so überaus reich und blöde, daß sie
andauernd Unsummen von Geld an vollkommen wildfremde
Menschen verschenkten. Er wüßte das: er lebe schließlich in
Deutschland.
Der Sachbearbeiter beugte sich aus seiner Kabine, und sein
ungläubiger Blick wanderte zwischen unseren verschworenen Unschuldsmienen hin und her. Ende vom Lied: Das 45Tage-Visum konnte am Nachmittag abeholt werden, und ich
erhielt das `korrekte´ Wechselgeld in Höhe von 115 Rupies
sofort zurück !
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D er Tag der Abreise war gekommen ! Mit unserem Ge-
päck stapften wir um 06:15 Uhr in der feuchtkalten Morgendämmerung zur nahegelegenen Bushaltestelle am Kanti Path
und warteten, wie wir festellten als einzige Ausländer, auf
den Local-Bus nach Varanasi.
Als der abgewrackte Müllhaufen nach einer halben Stunde
endlich eintraf, das Gepäck auf dem Dach des Busses verstaut war und die Türen zum Einsteigen geöffnet wurden,
entstand ein tierisches Gedränge, denn jeder wollte zuerst
hinein, um einen Sitzplatz zu ergattern.
Nach einigem Kampf saßen auch wir, es sollte gerade losgehen, und ich werde es nie vergessen, wie Rocky dann meinte: "So, nochmal gucken, ob alles da ist...", seine Unterhose
kontrollierte, in die das Bargeld eingenäht war, die Taschen
abklopfte, ganz still und bleich wurde und mit dem Aufschrei
"Jetzt gibt´s Tote !" und auf Dörthes erstaunte Frage "Was ist
denn los ?", "...die Drecksäcke haben mir meine Brieftasche
geklaut !!!" aufgeregt seine seitlich angebrachte Hosenbeintasche betrachtete, aus der die abgeschnittenen Lederriemen
seiner Superspezialdiebstahlsicherung herausbaumelten.
Der Täter, wahrscheinlich ein indischer Taschendieb, hatte
die Tasche vorsichtig aufgeknöpft, die Sicherheitsnadel, mit
der die Brieftasche innen an der Hose gesichert war, geöffnet, die an der Brieftasche angenähten Lederriemen mit einer Rasierklinge fein säuberlich gekappt, und schon waren
Reisepaß, Flugticket, sowie einige AMERICAN-EXPRESS-Reiseschecks auf Nimmerwiedersehen verschwunden - regelrecht
unheimlich !
Sofort quetschte sich Rocky durch die Menschenleiber nach
draußen, um dort zu suchen, fand nichts und niemanden,
dem er für diese Schandtat eine aufs Maul hauen konnte und
begab sich nach kurzer Aussprache mit Dörthe und mir zum
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Ticket-Office, um den Kauf der Buskarten zu annullieren. Also
alles wieder aussteigen, die kürzeste Busfahrt der Welt war
beendet, Gepäck runter vom Bus und Arrivederci !
Die Leute im "Norbulinga Guest House" staunten nicht
schlecht, als wir uns eine Stunde nach unserem Aufbruch
wieder in unsere alten Zimmer einquartierten. Ich legte mich
eingerieben mit Tigerbalsam und vollgepumpt mit Aspirin sofort ins Bett, nutzte die günstige Gelegenheit, die äußerst
unangenehme Erkältung, die mich seit Tagen plagte, auszukurieren, und Rocky düste nach dem ersten Schreck sofort
los zum Immigration-Office, da mit dem heutigen Tag sein
Visum abgelaufen war, zur Polizei, Deutschen Botschaft, Filiale von AMERICAN EXPRESS und zum Büro von BIMAN-AIRLINES, um den Schaden zu melden.
D ank der gebunkerten Fotokopien hätte es eigentlich kei-
ne großen Wiederbeschaffungsprobleme geben dürfen.
Die gab es aber mit dem, sagen wir mal, pseudo-professionellen Polizei-Apparat in Nepal, als er eine Anzeige aufgeben
wollte, um seine Traveller-Schecks ersetzt zu bekommen.
Nicht interessiert an einer Anzeige, `empfahl´ man ihm, seine Sachen "verloren oder verlegt" zu haben.
Daraufhin mietete sich Rocky zum Erstaunen der Beamten
kurzerhand für einige Stunden im Polizeirevier ein, bis die
Staatsgewalt sich fügte. Das, und später bei unserer Rückreise auftretende Probleme erhärteten den Verdacht, daß Nepals Polizei anscheinend saumäßig korrupt ist und entgegen
der guten Sitten und dem Bestreben Nepals, ein zivilisiertes
Land zu sein, illegale Geschäfte mit Verbrechern macht.
Das Ersatzticket kostete 25 Dollar und wurde nicht mehr
sofort ausgehändigt, sondern mußte drei Tage vor Abflug im
Büro von BIMAN AIRLINES abgeholt werden. Prima, das war
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ein Unsicherheitsfaktor weniger. Auch der Reisepaß bereitete keine großen Schwierigkeiten. Doch sein neues indisches
Visum sollte er erst in drei Tagen erhalten. Das bedeutete, er
benötigte ein neues Nepal-Visum für volle vier Tage zu 150
Rupies, zuzüglich eines Zwangsumtausches von 10 Dollar täglich.
Als Rocky endlich von der Polizei wiederkam, erzählte er,
daß dort bereits einige andere Reisende Schlange standen,
die noch viel verrücktere Geschichten zu Protokoll gaben.
Einem von diesen Leuten hatte der Dieb mit einer Rasierklinge fein säuberlich von hinten das Hosenbein, dann die Halteriemen seiner Beingeldtasche aufgeschnitten und das ganze
Ding herausgezogen, ohne daß er was merkte. Einem anderen war der mit einer Kette umwickelten Rucksack, den er
locker über der Schulter trug, aufgeschlitzt worden und zwar
genau an der Stelle, wo das Heft mit seinen Reiseschecks
lag. Und weil der Täter nur die untersten Schecks herausgezogen hatte, war dem Opfer die Sache erst etliche Tage
später aufgefallen !
D iese Langfinger schienen ihr Handwerk gut zu verstehen.
Ich mußte mir was einfallen lassen, wenn ich in Zukunft ruhiger schlafen wolllte. Gleich am nächsten Tag, als es mir wieder besser ging, suchte ich den tibetischen Taschennähdienst
im Nebenhaus auf und gab eine speziell erdachte Tasche mit
Hals- und Bauchgurt in Auftrag, die seitwärts zwischen Brust
und Arm zu tragen war. Da ging mehr rein, und es schien
mir sicherer als der Kunststoff-Bauchgeldgürtel, den ich bisher mit mir herumschleppte.
Außerdem erfuhren wir von der Möglichkeit, nicht dringend benötigte Wertgegenstände für wenig Geld in einem
Schließfach der Deutschen Botschaft abzulegen, die wir nach
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dieser schlechten Erfahrung natürlich gerne in Anspruch nahmen. So wanderten unsere Flugtickets, Billets der Reisekrankenversicherungen, ein Teil des Geldes sowie Fotokopien
der Pässe und Schecks hinter Stahl.
Der größte Teil meines Bargeldes aber war von vornherein
in Plastik verschweißt, eingenäht in den Hosenbund und unter den Einlegsohlen meiner Stiefel verstaut.
Zur Eindämmung des ständigen alpinen Weltraumkälteein-
bruches in unser geliebtes möbliertes Zimmer beschlossen
Rolf und ich, präventive Gegenmaßnahmen zu treffen. So zogen wir am Nachmittag entschlossen los, um Mittel für
eine solche ausfindig zu machen.
Und wir hatten Glück !
In einem dieser archetypischen Elektro-Schrott-Shops
erstanden wir schließlich einen tönernen elektrischen
`Heizlichtkocher´, der eher
an ein Stövchen für ein Käsefondue erinnerte, nach Aussage des hiesigen Elektrofachhandels aber voll und ganz
Unser geliebter Heim-Hochofen.
seinen Zweck erfüllte. Kosten: drei Mark !
Da das ungeTÜVte Gerät ausschließlich aus einer offenliegenden Heizspirale bestand, die mit einem angeknoteten
(!) dünnen Draht und Bakelitstecker direkt an das flatterhafte
220V-Netz der nepalischen Stromindustrie angeschlossen wur-
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de - was deutschen sicherheitsbewußten Elektrikern schier
die Tränen in die Augen treiben würde -, machten wir uns
mit unserer preiswerten Neuerwerbung etwas ungläubig auf
den Heimweg.
Dieses kleine Ding hatte allerdings ungeahnte Fähigkeiten,
wie sich sehr bald zeigte. Die urgewaltige Heizkraft dieses
kraftstrotzenden Elektro-Meilers reichte nicht nur zur Beheizung und Beleuchtung unseres Zimmers, dem Trocknen der
selbstgewaschenen Wäsche oder zum Kochen von Kaffee,
Tee und leckeren Eintopfgerichten, sondern auch zur
geruchssinnbelastenden Beseitigung eines Teiles der dem Fußboden anhaftenden roten Auslegware.
A ls wir unserem wirklich netten Hotelboß den angerichteten Schaden am nächsten Morgen zeigten und uns auf eine
fette Rechnung gefaßt machten, lächelte der zu unserem Erstaunen bloß albern, schob mit einem „Oh, no problem !“
unseren Kleiderschrank über das schwarze, ausgefranste
Brandloch, und die Sache war für ihn erledigt. Zur Vermeidung weiträumiger Flächenbrände und peinlicher Schlagzeilen
in allen Tageszeitungen der Welt, wie etwa
„Nepal: Stadtteil Thamel in Kathmandu
vollkommen abgebrannt. Brandstiftung !
Täter: Zwei frierende Deutsche !“
entwendeten wir vom Dach des Hauses ein paar herumliegende und - wie wir hofften - nicht benötigte Ziegelsteine als
hitzebeständigen Unterbau - und das Problem war für uns
gelöst.
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Nun fand auch Bogdan Gefallen an unserem Brenner Marke `Fegefeuer´. Oft tauchte er mit seiner kompakten ReiseEspresso-Maschine bei uns auf, um seinen aus Polen mitgeschleppten Kaffee aufzubrühen und redlich mit uns zu teilen.
Umständehalber stand uns nun wieder etwas mehr Zeit
zur Verfügung, um das reizvolle Kathmandu-Tal zu erkunden.
Während Bogdan mit Rolf als Sozius per gemietetem Motorrad zur chinesischen Grenze düste und Rocky unendliche Stunden der Warterei und den Formalitäten opferte, um seine
Papiere wieder zusammen zu bekommen, nutzten Dörthe
und ich die Zeit, um mit dem gemieteten Drahtesel dem
zehn Kilometer nördlich von Kathmandu gelegenen Städtchen
Budhanilkantha einen Besuch abzustatten. Fahrräder aus indischer Produktion gab´s gleich um die Ecke für wenig Geld zu
mieten. Klar, die Dinger sahen auch dementsprechend aus,
aber Hauptsache die Bremsen funktionierten, die Klingel war
laut genug, um Autos, Fußgänger und Viehzeug von der Straße zu jagen, und das Fahrradschloß ließ sich auch wirklich
abschließen. Dann mußte man sich nur noch auf den hiesigen
Linksverkehr einstellen, und ab ging die Luzie zum Kreisverkehr am Kanti Path, von da nach links, vorbei am neuen,
1847 erbauten Royal Palace seiner Royal Majestry, König
Birendra, und dann immer geradeaus - raus aus der Stadt,
raus aufs Land.
A ch, ... eins habe ich noch vergessen: Vergiß niemals, Dir
irgendein Tuch vor Mund und Nase zu binden gegen die
Abgase und den extrem feinen Sandstaub, der überall in der
Luft herumschwirrt und der nach so einer Fahrradtour sonst
noch jahrelang überall in deinem Körper nachgewiesen wer-
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den kann, oder laß´ ganz einfach das Atmen und denke immer daran, daß Fußgänger und Fahrradfahrer in Nepal nur
Menschen zweiter Klasse sind und somit Freiwild !
Per Fahrrad auf Entdeckungstour
D ie sonnenbeschienene Landschaft, durch die wir mit unseren `Low Budget´-Maschinen `heizten´, beeindruckte mich
mal wieder total, und auf meinen Wunsch hielten wir des
öfteren an, damit ich schnell ein paar Fotos schießen konnte,
sei es von den auf den Terrassenfeldern arbeitenden Bauern,
den an einem Fluß wäschewaschenden Frauen, der von tropischem Grün bewachsenen rot- oder gelbbraunen Landschaft
oder den am Weg liegenden Gebäuden, und trotzdem benötigten wir nur eine Dreiviertelstunde, dann war´s geschafft,
und wir stellten die Fahrräder ab.
S ah alles ziemlich heruntergekommen aus, wo wir uns da
eingefunden hatten: die verstreut stehenden Häuser verranzt,
der Putz fiel von den Wänden, Schmutz lag auf der Straße,
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aber trotzdem urgemütlich - halt typisch Nepal. Durstig geworden und etwas hungrig kauften wir uns in einem dieser
ebenfalls typischen `Tante Kali´-Läden, die man auch als Kolonialwaren-Kiosk umschreiben könnte, eine Selter und ein
paar Kekse und ruhten uns ein wenig aus.
"Am Anfang war (nicht nur) das Feuer"
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein mit großen verdreckten Reklametafeln wie "ICEBERG - Premium
BEER", "PEPSI COLA", dem einheimischen "MARSHAL RUM"
und halb abgerissenen Wahlplakaten bepflastertes `Abrißhaus´,
an deren Seitenfront die ebenfalls feilgebotenen Wollpullover
hingen, und ein Stückchen die Straße runter parkte - man
traute seinen Augen kaum - ein deutscher LKW, Marke Sternkreiszeichen. Um uns herum lungerten ein paar Hunde und
Hühner, sonst war es ziemlich leer im Ort.
Aber dann sahen wir mal wieder etwas, "was nie ein Mensch
zuvor gesehen hat": Ein schätzungsweise dreijähriger Junge
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tauchte von irgendwoher auf, hockte sich vor uns auf den
Boden, reckte uns seinen Hintern entgegen und machte in
aller Ruhe sein großes Geschäft, wobei wir ihn ungestört
beobachteten. Neben ihm saß ganz aufgeregt einer dieser
Straßenköter, und nachdem der Kleine seine Wurst herausgedrückt hatte, stürzte sich Hundi wie wild darauf und vertilgte den anscheinend leckeren Scheiß.
Wir waren zwar beide etwas baff, aber obwohl mir der
Appetit davon verging, hätte ich diese Trash-Metall-HyperHeavy-Szene doch ganz gerne auf Videoband festgehalten.
Aber leider besaß ich zu der Zeit noch keine Video-Kamera.
Z u Fuß ging´s weiter zur heiligen Stätte hier am Ort, dem
steinernen, in einem Wasserbassin `schlafenden Vishnu´, für
viele Hindus sogar der leibhaftige Vishnu, den der amtierende
König von Nepal niemals zu Gesicht bekommen darf, da er
nach der alten Überlieferung eine Reinkarnation eben dieses
Vishnus ist und somit ein Paradoxon.
Er wäre auf der Stelle mausetot !
Aber Normalsterblichen ist es dort gestattet, die Anlage
des Allerheiligsten zu betreten; jedweder Art von Leder aber
wurde der Zutritt verwehrt - also runter mit der ledernen
Unterwäsche.
Hindus, darunter auch einige Inder, die extra aus Indien
angereist waren, liefen in der kleinen umzäunten Anlage herum und warfen zur Opferung Blumen auf den im Wasser
liegenden, bemalten und von einer Taubeninvasion geplagten
5-Meter-Koloss. Um den auf einem Bett aus Schlangen dargestellten `Gott´ in seiner ganzen Pracht auf Film bannen zu
können, mußte ich mich jedoch wieder nach draußen begeben, und durch den Zaun hindurch fotografiert, gelangen mir
zwei, wie ich glaube, ganz gute Fotos.
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"Schlafender Vishnu" in Budhanilkanta
Sofort war einer der fanatischen indischen Beter, ein
Mr.Sanjay Lama, mit seiner Frau zur Stelle und bat mich innigst, ihm doch bitte, bitte einen der Abzüge zuzuschicken.
Ich erklärte ihm, daß das aber ein paar Monate dauern würde. Das jedoch war vollkommen egal. Ich erhielt die übliche
Visitenkarte, und zurück in Deutschland bekam er seine Abzüge, wie so viele andere Einheimische auch, die wir auf der
langen Reise trafen und die uns um ein Foto baten.
W eiter die Straße rauf, vorbei an einer jungen Spinnerin
und auf der warmen Straße träumenden Hundebabies, entdeckten Dörthe und ich rechterhand per Zufall ein kleines
trügerisches Paradies in Form eines wunderschönen Bambushains, durch den ein kleiner klarer Bergbach, zwischen dikken Findlingen sich seinen Weg bahnend, talwärts plätscher-
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te. Trügerisch deshalb, weil man mit diesem Wasser lieber
nicht seine Lippen benetzte, denn kaum waren wir dem Wasserlauf ein paar Meter aufwärts gefolgt, fanden sich - man
glaubte es kaum - überall am Ufer mit Fliegen übersäte
Fäkalienhaufen - dies war das dörfliche Wasserklosett mit
Dauerspülung.
Tja, so sah die - im wahrsten Sinne des Wortes verschissene Realität aus !
Die spinnen, die Nepalis !
Doch unbeirrt kletterten wir weiter auf den Steinen nach
oben und erreichten wieder die Straße und die nahegelegenen Terrassenfelder, wo Dörthe in Ruhe ihr Tagebuch schreiben und ich in erwachtem `Bergwahn´ die dahinterliegenden
begrünten Höhen erklimmen wollte. Da mußte ich allerdings zuerst zusehen, wie ich ohne naß zu werden über den
kleinen Bach rüberkam, der dort nach einem Linksschwenk
vor den `Highlands´ meinen Weg kreuzte. Als das geschafft
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Deutsches "Kulturgut"
war, erstieg ich auf einem nur zwanzig Zentimeter breiten
Fußpfad schnaufend den steilen Hang.
Eine halbe Stunde dauerte der Aufstieg, und oben angekommen genoß ich in den warmen Sonnenstrahlen die herrliche Ruhe und den grandiosen Blick auf die unter mir und auf
den anderen Hügeln rundum liegenden Terassenfelder. Hinter mir ging es weiter hinauf, und dort oben waren etliche
Behausungen an den mit Bäumen und Sträuchern zugewachsenen Hang geschmiegt, die fast täglich über diese Pfade mit
dem Nötigsten versorgt wurden.
Das ist der pure Wahnsinn, wenn man bedenkt, daß sich
bei uns in der Stadt die Leute schon beklagen, wenn sie ihren
Kram in den zweiten Stock schleppen müssen. Da muß dann
ein Fahrstuhl her, oder ´ne Rolltreppe oder am besten gleich
´n schicker Rollstuhl. Was sind wir doch für jämmerliche Kreaturen gegen diese topfiten nepalischen Freiluftfanatiker, die
von frühester Kindheit an bis ins hohe Alter tagtäglich stun-
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denlange Wanderungen in Kauf nehmen, um z.B. Brennholz
zu holen oder zur Schule zu gehen, ohne sich zu beklagen !
Die Leute leisten mehr und sind nahrungstechnisch viel
schlechter versorgt als wir, was mich auch später in Indien
immer wieder in den Bann gezogen hat.
D och ehe ich mich hier in weitausschweifenden Weltanschauungen verzettele ... zurück zur Sonne, dem dämlichen
Hügel, dem folgenden Abstieg aus luftiger Höhe und der anschließenden Rückfahrt ins geliebte Thamel, die ohne weitere
Probleme - mal abgesehen von der vertrackten Fahrradkette,
die gern und oft vom vorderen Zahnkranz abfiel - vonstatten
ging. Schmerzen bereitete mir die Fahrradtour aber dennoch,
denn diesen Hinweis mit dem Tuch vor Nase und Mund, den
hatte uns niemand gegeben.
Ich weiß zwar nicht mehr, ob Dörthe damals auch solch
einen stechendes Ziehen von der Nase bis ins Hirn verspürte, aber mich machte der Schmerz am nächsten Tag fast
wahnsinnig und ich bekam unangenehme Kopfschmerzen davon. Es fühlte sich an, als hätte ich Salzsäure durch die Nase
gesogen und alles verätzt. Auch mit hektischen, erstickungsanfallauslösenden Wasserspülungen und literweise verabreichten Nasentropfen war dem nicht gleich beizukommen. Erst
am nächsten Tag zeigte sich eine Besserung, und nach zwei
weiteren Tagen hatte der Schöpfer Erbarmen mit mir.
S chließlich und endlich wagten wir mit dem Fahrrad einen
letzten Abstecher in das südlich von Kathmandu gelegene
Patan oder Lalitpur, die Stadt der Schönheit und ganz nebenbei Heimathafen der Singenden Eintöpfe, den Singing Bowls,
die mir Rocky unbedingt vorführen wollte. Dann war auch
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schon der 28ste Januar gekommen, Termin für den zweiten
Versuch, Indien mit dem gesamten Hausrat auf dem entbehrungsreichen Landwege zu erreichen.
Pünktlich um 6:30 Uhr in der Früh, wie beim ersten Mal,
standen wir in der exotischen Menschenmenge am Busstop
und warteten diesmal gut vorbereitet auf den Bus nach
Varanasi. Angespannt hatten wir uns zu einer abschreckenden `Dreier-Wagenburg´ formiert. Mit fest umklammertem
Rucksack und wildem Blick wurde jeder um uns herum eingehend gemustert.
War der ein Dieb, oder der da ... oder etwa der da ?
Vielleicht wurde ja Dörthe diesmal ausgeraubt, oder ich, oder
alle drei und wir kamen nie mehr weg von hier ? Vielleicht
waren wir reinkarnierte Diebesopfer !?
Einander die Flanken sichernd quetschten wir uns mit den
anderen Fahrgästen hinein in die Rostlaube von Bus und hechteten unbestohlen auf die reservierten Sitzplätze zwei
hintereinanderliegender Zweierbänke auf der linken Seite.
Entgegen der ersten Wahnvorstellungen, zur eigenen Sicherheit gleich den kompletten Bus zu kaufen und zusätzlich
entlang der Straße speziell ausgebildete Streckenposten aufstellen zu lassen, hatte ich mich aus Kostengründen für die
billigere Variante entschieden und - koste es, was es wolle eine komplette Bank reservieren lassen, denn so blieb der
Rucksack direkt am Mann, wanderte also nicht aufs Dach,
wo er auf einem der Zwischenstops ebenfalls geklaut werden konnte und - niemand durfte neben mir sitzen !
Hä ... hähä ...hä !!! Mit mir nicht, liebe Brüder und Schwestern !
D a der Bus nur 48 Sitz- und 62 Stehplätze besaß, wurde
das Gepäck der restlichen 200 Reisenden, zuzüglich deren
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kompletter Haushaltsauflösungen auf dem Dach verstaut und
mit einer Plastikplane gegen Flugversuche gesichert. Der mitgeführte Kleintierzoo, bestehend aus Hühnern, Ziegen,
Wasserbüffeln und Trichinen durfte drinnen mitfahren. Alle
Passagiere waren vollzählig, der Fahrer nüchtern, die Musik
voll aufgedreht, die Götter gnädig, nichts geklaut, alles drin,
alles dran - wohlan denn, auf auf zur Grenze, auf nach Sunauli,
das nur läppische zwölf Stunden Dauerstreß entfernte
Grenzstädtchen zwischen Indien und Nepal.
Erst im vierten Gang setzte sich das hupende Ungetüm von
Bus unter Abgabe unheilverkündender Rauchschwaden, die
dem Auspuff entströmten, langsam und scheppernd, schwer
von einer auf die andere Seite schaukelnd in Bewegung, beschleunigte mehr und mehr und konnte nun aufgrund seiner
bewegten Masse nicht mehr zum Stehen gebracht werden,
bevor der Sprit alle, also das Ziel erreicht war, das Ding
während der Fahrt auseinanderfiel oder einen Abhang herunterstürzte, was bei dem ignoranten Fahrstil der meisten
Fahrer nichts Ungewöhnliches war. Die Straßen wurden zwar
in den letzten Jahren mit indischer und chinesischer Hilfe leidlich befestigt, aber an den engen Serpentinen gab es nach wie
vor keine Schutzplanken, so daß sich die Räder bei den teils
haarsträubenden Kurven- und Überholmanövern meist nur
einige Zentimeter vorm Abgrund befanden. Und Abgrund
hieß dort auch wirklich Abgrund, denn es ging bestimmt hundert Meter bergab !
A ls sich am späten Vormittag die Kälte und der dicke un-
durchdringliche Nebel verflüchtigten und die Sonne durchbrach, gewahrten wir weit unten, eingebettet im grünen Tal
einen Fluß und links von uns die steil aufsteigenden, teils mit
Bananenpalmen und tropischen Sträuchern bewachsenen
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Bergwände, die nur knapp am Fenster vorbeihuschten. Ab
und zu konnte man einzelne Hütten und kleinere Wohnorte
in den Bergen ausmachen oder Arbeiter auf den Straßen und
Feldern, und manchmal passierten wir kleine Wasserfälle, die
zwischen den verwinkelten Felsen ins Tal stürzten.
Zwischendurch nickte ich vor Müdigkeit immer mal wieder
ein, denn es wurde zunehmend wärmer im Inneren des Busses. Aber die Fenster mußten wir leider zulassen, da die einheimischen Reisenden das nicht so vertrugen und als Folge
davon die ganze Breitseite des Busses mit ihrem Frühstück
verschönerten. Ich aber saß im Bus mit Jogginghose, Armeehose, Sweatshirt, Pullover und dicker Jacke !
Wir hatten Glück und kamen ohne Verluste an Körper und
Geist in Sunauli an, marschierten mit Sack und Pack rüber
über die deutlich sichtbare Armutsgrenze zum Zoll auf der
indischen Seite, füllten auf Wunsch einige Dutzend nichtssagender Formulare aus, und Rocky korumpierte die drei dort
darbenden Beamten mit heißbegehrter Mangelware:
EINEM Plastikwerbegeschenkbilligkugelschreiber.
Das war fast nichts ! Im Jahr davor verlangte die original
gleiche Mannschaft seinen handgegossenen Colani-Kugelschreiber samt Mine, eine Jahresration MAGGI-Brühwürfel "Golden
Label", eine Sammlung in Indien seltener Multivitamintabletten
und ein Jahresabo der BILD-Zeitung !
Rockys Kommentar: "Ich denke mal, daß meine freiwillige
Spende die Jungs so überrascht hat, daß sie nicht mehr daran
dachten, mich bzw. uns noch mehr auszuplündern. Man könnte auch so über die Grenze; dann läuft man allerdings Gefahr,
geprüft, gegengeprüft, durchleuchtet, zerlegt und anschließend
falsch wieder zusammengesetzt zu werden."
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Eine Stunde später traf auch schon der indische Anschlußbus nach Varanasi ein, der diesmal reichlich leer war, wie wir
verwundert feststellten. Das lag wahrscheinlich an dem ununterbrochenen Abspielen der grausamsten indischen Pubertätserotikaction-Videos, die dort untermalt von ebenfalls indischen
Jammer-Lovesongs über den eingebauten Bildschirm flimmerten und die ihre Botschaft so lautstark in die Fahrgastkabine
schickten, daß niemand mehr das Motorgeräusch wahrnahm.
Irgendwo auf der elf Stunden dauernden Fahrt stieg auch
noch ein ca zwanzigjähriger Deutscher zu, und sein aus
Deutschland mitgeschlepptes Mountain-Bike wanderte aufs
Dach. Wie wir feststellten, sah er ziemlich mitgenommen
aus, zombiemäßig, und er erzählte uns auch, woran das lag:
Er quälte sich seit Tagen mit der übelsten Scheißerei herum
und besaß nicht ein einziges Medikament dagegen. Zwar hatte ihm unterwegs irgendjemand Tabletten in die Hand gedrückt - aber die zeigten keinerlei Wirkung. Na, wir schleppten ja genug davon herum, und so fanden wir uns in der
glücklichen Lage, ihm als Wegzehrung einige Hände voll zuzustecken, rieten ihm aber, auf jeden Fall einen Arzt aufzusuchen, falls er am Leben bleiben wollte.
Spät in der Nacht wurde der Bus dann nochmal angehalten,
und indische Zivilfahnder enterten den Bus zur Kontrolle unserer Papiere. Wir tippten auf Rauschgiftfahndung oder Einwanderungsbehörde. Jedenfalls schleppten sie einen heftig gestikulierenden glücklichen Gewinner nach draußen, und er
ward nie mehr gesehen...
69
70
Varanasi
Stadtplan von Varanasi
71
G
anz früh am Morgen, um 06:30 Uhr, entließ uns
der Bus hungrig und müde in Varanasi, jener hindu
heiligen Stadt an den hochverehrten Ufern des Ganges. Sie wirkte trist und düster, voller Nebel, und es war
immer noch sehr kühl.
Wir wurden unverzüglich von einigen Rikscha-Fahrern umzingelt, die, durch den Geruch einer Handvoll `reicher´ Touristen aus ihrem Schlaf gerissen, uns unbedingt irgendwohin
bugsieren wollten, sich aber nicht an den Gedanken gewöhnen konnten, daß wir schon wußten, wo wir unsere Zelte
aufzuschlagen gedachten - denn Rocky war schon einmal hier
gewesen und kannte sich ganz gut aus. Wild durcheinanderschnatternd mochte uns ein jeder der Fahrrad- oder Motorfahrkabinen-Kutscher nur ganz spezielle, von ihm im Kampf
ums Überleben unterstützte “Cheap! Not far!”-Herbergen zumuten und war schwer enttäuscht, das wir in einem solchen
`Loch´ abzusteigen gedachten.
Dagegen übertraf es unsere Vorstellungskraft, daß ein Mann
mit der alleinigen Kraft seiner dürren Beine das Gewicht einer kleinen wohlgenährten europäischen Reisegruppe samt
Gepäck befördern könne, und daher entschieden wir uns
dann für einen der bemotorten Varanasen, der leider sofort
den ganzen Haß seiner Mitbewerber zu spüren bekam, denn
die wollten ihm gleich an die Wäsche, und es gab ein kleines
handfestes Gerangel. Bald jedoch war die Situation geklärt,
und wir machten uns mit dem gewählten Kandidaten auf den
Weg.
Mit drei dicken, aus allen Nähten platzenden Rucksäcken
und vier Personen war es in einem solch´ indischen TöffTöff jedoch etwas eng, so daß wir uns, eingeklemmt zwischen `Karosserie´ und Gepäck, kaum bewegen konnten.
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Der Fahrer hatte beteuert, er wüßte, wo´s langgeht, doch
sehr schnell fing Rocky an, das zu bezweifeln und bekundete
dies mit der in den Raum geschleuderten Frage
“Wo will der denn hin ?”
“Wieso, fährt er falsch ?”, fragten Dörthe und ich müde.
“Klar vollkommen - aber lassen wir ihn mal fahren. Mal
sehen wo er uns hinbringt...” entgegnete Rocky gelassen sarkastisch.
So quälte unser Fahrer seinen hustenden Zweitakter mit
angestrengt konzentrierter Miene durch die engen und total
verdreckten Gassen, wurde unsicher, hielt ab und zu, wenn
er jemanden sah, der schon schlaftrunken durch den Morgen
schlich, fragte ihn nach dem Weg und fuhr sinn- und ziellos
weiter, als er nur ein Achselzucken erntete.
Aber heissa ! - irgendwann trafen wir einen älteren zerlumpten Herrn mit Krückstock, der zustimmend nickte und
ihm bekundete, wenn er ihn auch noch mitnehmen würde,
könnte er uns sogar den Weg weisen. Gesagt, getan. Nun
krochen wir zu fünft in einer kränkelnden und laut knatternden Motorriksha über holpriges Straßenpflaster durch den
anbrechenden Tag, - auf der Suche nach unserer Unterkunft.
Da gemahnte jener zugestiegene Passagier auch schon pathetisch zu halten, stieg aus, erklärte dem Fahrer, er müsse
noch ein ganzes Ende weiterfahren und verabschiedete sich,
denn er wohnte hier. Angeschissen - Ha, ha, ha !!!
Nach einer nervenaufreibenden Dreiviertelstunde (!!!) nahm
das Gerüttel und Geschüttel in der beklemmenden Enge der
Fahrkabine endlich ein Ende, als wir am Ort unseres Begehrs
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eintrafen. Dadurch ermutigt, daß er uns endlich aus der Pein
erlöst hatte, verlangte dieser dreiste `Blinde-Kuh´-Fahrer allerdings eine zusätzliche und nicht geringe Rikscha-Verirr-Gratifikation, wegen der unverschämt langen Strecke, den während der Fahrt plötzlich gestiegenen Benzinpreisen auf dem
internationalen Markt und seinen fünf hungernden Frauen mal ganz abgesehen von seinen zweiundzwanzig weinenden
Kindern ! Diesen energisch beteuerten Wunsch mußten wir
ihm allerdings schleunigst ausreden, denn schließlich war es
auf seine Dämlichkeit zurückzuführen, wenn er uns durch die
halbe Stadt kutschierte, obwohl die Herberge eigentlich nur
5 Minuten vom Busstop entfernt lag.
Doch damit nicht genug: Am Haltepunkt warteten noch
andere hysterische Fahrer und cholerische Hotelvermittler,
von denen uns nun zwei bethelkauende Nervensägen folgten
und unsere militante Interesselosigkeit ignorierend, lauthals
mit ihren Hotelempfehlungen traktierten, bis es dem mittlerweile etwas gereizten Rocky schließlich zu bunt wurde, er
sich mit Schaum vorm Mund umdrehte, den einen wütend
beim Kragen packte, vorsichtig an sein Gesicht hob, wobei er
ihm tief in die Augen blickte und ein wenig laut und unfreundlich anfauchte:
“Verpißt euch endlich !!! Wir wissen schon wo wir hinwollen. Nix Vermittlung, nix Provision !"
"W-I-R B-R-A-U-C-H-E-N E-U-C-H N-I-C-H-T !
GO AWAY !
No Bakhshish ! No Hotel ! L-a-ß-t u-n-s i-n
Ruuuuuuhhhhheeeeee !!!!!!
A-U-F W-IIIIIIII-E-D-EEEE-R-S-EEEEE-H-EEEEE-N !!!"
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Verdattert machten sich die beiden, wegen der Kälte in
Decken gehüllten, penetranten Turbanträger vom Acker, und
wir beschleunigten unsere Schritte, falls wir von einer stärkeren Nachhut jener extrem geschäftstüchtigen Asiaten verfolgt wurden, denn durch solcherlei Gebaren wurden diese
durchgeknallten Inder meist nicht entmutigt, da sie in Ihrer
Naivität glaubten, daß sie ihrem Gegenüber irgendwie noch
nicht die richtigen Argumente vorgebracht hatten und vielleicht doch ein bißchen mehr Überzeugungsarbeit leisten mußten. Also - schnell weg !
Die von Rocky ins Auge gefaßte Pension "Shangrila" war
jedoch leider voll ausgebucht, und so blieb uns nichts weiter
übrig, als etwas anderes ausfindig zu machen.
Aber zuerst schleppten wir uns mit den vollgestopften Gepäckstücken zu einem steinernen Pavillon bei den Ghats am
Ganges, um uns die frühmorgendlich beginnenden nationalen
Totenverbrennungen anzusehen. Kamera ist hier verboten !
Sollte einer der heiligen Feuerteufel einen Touristen mit Kamera im Anschlag erwischen, dann war es unter Umständen
sogar möglich, daß von ihm aufgewiegelter fanatischer Pöbel
zur Selbstjustiz griff und versuchte, uns inquisitionsgerecht anzuzünden, wie Rocky verlauten ließ, als ich aufgeregt den
Rucksack nach meiner Kamera durchwühlte. So mochte keiner von uns enden, und daher betrachteten wir stumm die
vorsichhinkokelnden Leichenteile eines Dahingerafften, der
am diesseitigen Flußufer buchstäblich in Rauch aufging. Währenddessen verflüchtigte sich langsam die feuchte Kälte, und
die Sonne brach durch.
Alsdann begannen wir schlaftrunken mit der Suche nach
einer günstigen Schlafgelegenheit. Dabei trafen wir auf einen
zugedröhnten, mit Geldbündeln um sich werfenden indischen
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Bekannten von Rocky, der uns den Weg zu einem ehemaligen englischen Nobelhaus beschrieb, in dem die "Tourist
Shankeri Lodge" residierte. Wie alles in Varanasi, so rottete
auch dieses Gebäude vor sich hin: Die Farbe blätterte von
den schimmelnden Wänden, der Zustand des Brunnens im
Innenhof spottete jeder Beschreibung,
und die Zimmer im
gegenüberliegenden
Haus der Dienstboten
- jetzt ebenfalls zu
mieten - waren nur
noch über einen hohen
Schuttberg zu erreichen, der schon jahrelang dort liegen mußte.
Unsere Zimmer machten jedoch einen ganz passablen Eindruck, und so mieteten wir uns ein, bestellten Frühstück und
ruhten uns erst einmal aus.
Rocky und Dörthe bewohnten ein tolles ZweibettApartement auf dem Dach des mehrstöckigen Hauses, hatten ihre eigene Außentoilette und Probleme mit den frechen
und neugierigen Affen, die hier überall frei herumliefen.
Mein Zimmer dagegen, das gleich durch zwei zweiflüglige
Türen erreicht werden konnte, die von einem großen zentralen Raum auf der Etage abgingen, lag im zweiten Stock,
und ich war gezwungen bis nach unten zur Gemeinschaftstoilette zu laufen, wenn meine Blase des Nachts drückte.
Das stählerne graue Bettgestell, in dem ich die folgenden
schwülen Nächte unter meinem mitgeführten aufgespannten
Moskitonetz verbrachte, schien noch übriggeblieben aus alten englischen Militärbeständen der Zeit britischer Kolonial-
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herrschaft, wie auch die darauf arrangierte fleckige und durchgelegene Matratze - und das war immerhin schon an die
vierzig Jahre her !
Gegen Mittag, als die Sonne endlich restlos den Grauschlei-
er aus Varanasi verdrängt hatte und - damit nicht genug - die
Gegend bis auf 40 Grad im Schatten aufheizte, begaben wir
uns aufs Dach des Hauses und flößten uns während des Sonnenbades, das wir auf unseren ausgebreiteten BundeswehrZeltplanen genossen, kannenweise Tee - “Sugar separated,
please !” - ein. Hier oben störte es auch niemanden, wenn
wir in Badehosen herumliefen. Ganz im Gegenteil: Die Jugendlichen aus der Nachbarschaft lagen auf einem der angrenzenden Dächer gierig auf der Lauer, um diese
weißhäutigen `Halbnackten´ bei ihrem Treiben zu beobachten.
Auf einem etwas tiefergelegenen Dach eines anderen angrenzenden Hauses trockneten Öko-Kohlen aus mit Stroh
vermengtem Rind- oder Ziegendung in der Sonne, und hinter
unserem Haus schob sich träge der verdreckte Ganges durchs
Bild.
Die Luft flirrte vor Hitze.
Von hier oben sah es aus, ging mir durch den Kopf, als
wäre gerade ein Krieg über die Stadt hinweggezogen. Varanasi
glich einer einzigen verfallenen und verschimmelten Ruine, in
dessen engen und verschlungenen Gassen sich Kot und Tod
vermengten. Trotz unserer Abscheu gegen die Menschen,
die eine Stadt so dermaßen vergammeln ließen, war ein besonderer Reiz, der von ihr ausging, nicht abzustreiten.
Am späten Nachmittag gelüstete meinem Körper danach,
endlich den Staub der Anreise loswerden, begab sich dazu
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Auch auf dem Dach einer Ruine in einer der ältesten Städte dieser Welt...
...ist man vor Spannern jüngeren Datums nicht sicher
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mit Badelatschen und Handtuch bewaffnet in den Waschraum und genoß ein angenehmes Bad mit der vorher georderten Schüssel lauwarmen Wassers, das uns unsere zuvorkommenden höherkastigen Gastgeber extra berechneten. Gebadet wurde hier im Stehen oder Hocken:
Mit möglichst wenig warmem Wasser wird sich eingeseift
und dann mit dem in der Schüssel verbliebenen Rest abgespült. Wem das nicht reichte, der mußte mit dem kaltem
Wasser aus einem großen Holzfaß nachspülen, was bei dieser Hitze sehr angenehm und erfrischend sein kann.
Danach ein erlösender Gang aufs landesübliche Klo: ein
Hockloch am Boden. Die Benutzung desselben wollte gelernt sein !
Nachdem die richtige Stellung herausgefunden war, bedurfte es schon einiger Übung, unbekleckert auch bis zum Ende
in dieser zu verharren, ohne Krämpfe in den Beinen zu bekommen. Hinterher kam das in Massen mitgeschleppte Toilettenpapier zum Einsatz, weil Inder nämlich sehr umweltbewußt sind und sich die linke Hand grundsätzlich nur mit Wasser am Hintern abwischen. Das benutzte Papier durfte aber
nicht etwa in das Loch im Boden geworfen werden, sondern
wanderte in einen eigens dafür vorgesehenen Mülleimer und
später ins Feuer.
Die Stinkefinger der linken Hand gelten logischerweise als
UNREIN, weshalb Linkshänder und Leute mit zwei linken
Händen keine Überlebenschance in diesem Land haben, wo
sich Trichinen und Staphyllokokken "Gute Nacht !" sagen.
Z um Abendessen fanden wir uns auf dem gemütlich-
versifften Slum-Hinterhof des mit wertvollem No-Future-Interieur ausgestatteten India-Trendsetters "Aces New Deal" ein,
bei dessen angrenzendem `Tiergarten´ sich eine Ähnlichkeit
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mit einem aufgewühlten Schlachtfeld aus dem Ersten Weltkrieg nicht verleugnen ließ.
In diesem von uns in den nächsten Tagen favorisierten Speiselokal servierte der Maitre exzellente kontinentale Küche
und Fast-Food-Spezialitäten, die so richtig Lust auf mehr machten.
A ls wir danach in der anbrechenden Dunkelheit durch die
Gassen nach Hause schlenderten, lief uns just ein stämmiger,
pausbäckiger Inder mit Namen Bablu Vijay, kurz `Baba´, über
den Weg, der Rocky sofort von seinem letzten Besuch her
zu kennen glaubte und als guten alten Freund identifizierte.
Auch Rocky war freudig überrascht, ihn hier zu sehen, obwohl er ihn überhaupt nicht kannte, wie sich später herausstellte.
Da Rocky dringend Geld tauschen wollte und `Baba´ eine
gute Quelle zu kennen schien, die nichts mit Ladenschlußzeiten im Sinn hatte, trabten wir nun in der Dunkelheit von
einer spärlich beleuchteten Gasse durch die nächste.
Die Stadt war wie ausgestorben.
Auch nach einer guten Viertelstunde hatte `Baba´ nichts
anderes im Sinn, als mit uns im Gefolge wieder und wieder in
neue und uns gänzlich unbekannte, menschenleere Gäßchen
einzubiegen, in denen nur ab und zu irgendeine vermummte
Gestalt unseren Weg kreuzte und so plötzlich, wie sie erschien, wieder unseren Blicken entschwand. Menschliche
Stimmen und Hundegebell hallten von irgendwoher durch
die schwüle Nacht, und vor uns war das eintönige KLAPP
KLAPP der auf den Steinfußboden aufklatschenden Sohlen
von `Babas´ zerlaufenen Ledersandalen zu hören. Schnell
hatten wir drei in Varanasis umfangreichem Gassenlabyrinth
vollkommen die Orientierung verloren, und die ganze Situati-
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Schaurig-schön: Das Feinschmeckerlokal "Aces-New-Deal"
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on erschien uns zunehmend unheimlich, zumal unser `Leittier´ ein ziemlich rasantes Tempo vorlegte. Würden wir ihn
dort irgendwo verloren haben, wäre es recht schwierig gewesen, auf Anhieb zurückzufinden. Immer wieder fragten wir
nach, wann wir denn nun endlich da wären.
"Oh, no problem. It´s not far from here !", war jedesmal
die für uns unbefriedigend knappe Antwort.
Langsam, aber sicher machte sich ein mulmiges Gefühl in
unseren Köpfen breit. Was bedeutete dieses nicht endenwollende Herumgehechle ? Versuchte man uns `wohlhabende´ Europäer etwa in die Irre zu führen, zu überfallen, auszurauben und danach vielleicht sogar ... zu entsorgen ? Verstärkt durch die trostlose Abfallkulisse dieser Stadt, gingen
uns urplötzlich all diese schlechten Mord- und Totschlaggeschichten durch den Kopf, während wir weiter unserem
imaginären Ableben entgegenstrebten.
"Ich mach´ sie alle platt. Laß´ sie nur kommen", war Rockys
beruhigende Antwort auf solcherlei jämmerliches Gedankengut, während er der nervösen Dörthe einen kleinen Stichel
zur Selbstverteidigung zusteckte und mir der Angstschweiß
bereits literweise aus den Stiefeln schwappte.
"Oh, Gooooootttttt, have mercy !!!"
M it einemmal war diese nächtliche Rumrennerei zu Ende.
Wir befanden uns in einer etwas breiteren dunklen Gasse,
umringt von einem tuschelnden Pulk finsterer Gestalten, die
bereits auf uns gewartet hatten und von denen einige losliefen, um noch mehr tuschelnde finstere Gestalten herbeizurufen, die nicht auf uns gewartet hatten.
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"Gut, scheiß´ auf´s Geld, ich habe keine Lust mehr. Es ist
schon spät, ich bin müde. Laßt uns umkehren und Tee trinken", zischelte ich Rocky und Dörthe durch die Zähne zu.
Doch schon wurden wir bedrängt, uns unserer Schuhe zu
entledigen, durch ein großes Fenster ins Innere eines Hauses
zu treten und auf der den pinkfarbenen Raum ausfüllenden,
weiß bezogenen Matratze Platz zu nehmen. Es seien Boten
im ganzen Lande ausgeschickt, um den Herrn des Hauses
von der Kunde unseres Eintreffens in Kenntnis zu setzen. Zu
siebt hockten wir dann auf dem Boden und harrten der Dinge, die da gleich kommen würden.
"We have to wait a little bit. Do you want some tea ?"
"Ääääh. Nö, ...ääh ... thank you - Ach, why not !"
"Die haben bestimmt irgendein Mittelchen in das Zeug gemischt", lächelte Rocky uns hintersinnig an.
"OK, ich trinke dann halt doch nichts."
"Du kannst jetzt nich´ unhöflich sein. Wenn einer von euch
beiden umkippt, misch´ ich sie auf."
"Scheiße, ich will nich´ umkippen. Kipp Du doch um."
"Danke, aber Du weißt ja: Ich trinke weder Kaffee noch
Tee."
"Arschloch !"
A ls der Tee serviert wurde, ruhten unsere Blicke erwar-
tungsvoll auf den Tassen unserer Gastgeber, und erst nachdem sie genußvoll an ihrem Tee schlürften, tranken auch wir.
Keiner wußte so recht, was er sagen sollte, und glücklicherweise erschien nach kurzer Zeit auch schon der Erwartete in
der Türschwelle, begrüßte uns und nahm Platz. Ob wir hungrig wären, wurden wir gefragt. Nein, danke - wir hatten schon
gegessen. OK !
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Auf ein Zeichen verließ einer der Männer den Raum und
erschien wieder mit einem Packen von bunten Stoffen, die er
vor uns auf dem Boden ausbreitete. Seide !
"Very good quality", meinte der Hausvorsteher und "...for
you special Prices !" fügte er hinzu.
Tja, wahrscheinlich spezial teuer !
Aber ich mußte zugeben, daß dies wirklich sehr schöne
Stoffe waren. Bloß ... was sollte das Ganze ?
"Ich schätze mal der is´ Seidenhändler und will uns was
verkaufen", war Rockys Anwort auf meine fragenden Blicke.
Klar doch ! Varanasi war ja berühmt für seine Seidenprodukte - jedenfalls in Indien. Aber wir hatten doch überhaupt nicht vor, irgendwas zu kaufen ?! - geschweige denn
mitten in der Nacht.
Da ich jedoch schon angefangen hatte, mit Ausrufen, wie
"Aah", "Ooh" und "Very nice" die Stoffe durchzusehen, gab es
kein Zurück mehr. Ich wurde aufgefordert - natürlich ohne
jegliche Kaufverpflichtung, versteht sich - die mir gefallenden
Tücher auf die linke und die weniger guten auf die rechte
Seite zu häufen.
Naja, damit die liebe Seele Ruhe hatte...
Als ich damit fertig war, entfernte einer der Herren den
rechten Stapel, und das merkwürdige Spielchen begann von
neuem mit den verbliebenen Teilen. Anderthalb Stunden später waren zwei verschiedene Stoffe übriggeblieben und das
Spiel zu Ende. Aber wer hatte gewonnen ?
"O k, you want this ? The price is 180 Rupees per meter.
This one is cheaper, only 150 Rupees."
"Wenn das tatsächlich richtige Seide ist, dann ist das echt
billig !" gab Rocky erstaunt von sich.
Aber ich will doch gar nichts kaufen, ging mir wieder durch
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den Kopf - wozu denn ? Unsere Reise hatte gerade erst
begonnen, und was sollte ich denn mit Seide ?
"T-Shirts !", sinnierte Rocky. Stimmt ! So teuer war das
Zeug auch gar nicht und außerdem "unheimlich leicht, bequem und strapazierfähig", ergänzten Rocky und Dörthe, die
nun ihrerseits in den Stoffen wühlten und Überlegungen zum
Kauf einiger Kilometer ausgewählter Stoffbahnen anstellten.
"Hmmh ?! I mean ... it´s real silk ? I don´t wanna buy - but
... may be I would, ... what´s the price, if you make a T-Shirt
of this blue one ?", ruschte mir blöderweise die Frage raus,
und schon hatte ich eine Bestellung über zwei weite KimonoSeidenhemden aus Rohseide nach eigenem Schnittmuster, zwei
normale billigere Hemden aus einem Seide/Baumwollgemisch
und eine Rechnung von knapp achtzig Mark am Hals.
"Aaaaaaaaaahhhhhhh !"
Rocky bestellte ebenfalls einige Baumwollhemden mit Monogramm "Rocky" für drei Mark das Stück. Alles weitere sollte dann morgen um 12:00 Uhr beim Schneider besprochen
werden, denn es war spät und wir sehr, sehr müde geworden. Zum Schluß wechselte Rocky noch sein Geld zu einem
sehr guten Kurs (Eine Mark ca 13 Rupien), wir verabschiedeten uns und wurden von Strahlemann `Baba´ in einer erneuten Wallfahrt durch nun noch dunklere und düsterer wirkende Gassen zurück in unsere Unterkunft geleitet, wo wir müde
in unsere Betten fielen.
A uch der nächste Tag versprach sehr interessant zu wer-
den. Kurz nach dem Frühstück, das wir beim Sonnenbad auf
dem Dach einnahmen, materialisierte `Baba´ freudig lächelnd
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an der Tür unseres Asyls und begehrte Einlaß zwecks Geleit
von Rocky und mir zum Schneider, wo Maß für die Hemden
genommen werden sollte, mußte aber draußen warten, denn
der jederzeit präsente Herbergsvater mochte keine Händler
auf seinem Grund und Boden - jedenfalls nicht, so lange er
keine Provision erhielt !
Es folgte wieder endloses `Gassensurfen´ - doch diesmal
bei Tageslicht und weniger bedrohlich. Wir landeten schließlich bei der gleichen Adresse, wie vom Vortag, was hieß,
Stiefel aus, rauf auf die Matte, die pinkfarbenen Wände auf
sich wirken lassen, abwarten und Tee trinken.
Ca. 10 Minuten später traf der Schneider ein: Ein kleines
schmächtiges Kerlchen mit Oberlippenbärtchen und Brille. Er
schritt sofort zur Tat, nahm die Maße auf, und ich erklärte
ihm, wie ich mir den Schnitt meiner neuen Herrenseidenoberbekleidung vorstellte. Daraufhin überreichte er mir ein
Stück Papier und einen Stift. Er verlangte genauere Kenntnis
über meine Modevorstellungen. Vage schwebte mir ein Schnitt
im Kimono-Stil vor, mit weiten Ärmeln und so, aber ihm
schienen die wüsten Kritzeleien auf dem Papier mehr dem
Geist eines Irren zu entspringen, weshalb er dem lachhaften
`künstlerischen´ Treiben entnervt Einhalt gebot und härteres Kaliber auffuhr: Ein zu seinem Laden entsandter Kurier
erhielt Order, zwei dicke Bände japanischer Modemagazine
zu holen, aus denen ich wählen sollte.
Das bedeutete ... warten ... und ... Tee trinken...
In diesem `Standardwerk´ japanischer Streetwear hatte ich
bald gefunden, was ich suchte. Mit Händen und Füßen debattierten wir noch einige kleine Änderungen des gewählten Modells, wobei uns `Baba´ tatkräftig unterstützte, und wurden
endlich einig. Der Schneider veranschlagte zuerst erschrek-
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Straßenszene in Varanasi-City
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kende drei Meter Stoff für diese Arbeit, ließ sich aber überzeugen, daß Zirkuszelte auch aus weniger Material hergestellt werden können, und schließlich ergab sich folgende Rechnung:
2,25 m Seide zu 180 Rupies/Meter
Arbeitslohn Schneider
= 405 Rupies
= 15 Rupies
Ich zahlte eine Summe von 250 Rupies an, was in Rockys
Notizbuch quittiert wurde, und die Arbeit für das erste Hemd
konnte beginnen. Am Abend um 18:00 Uhr sollte ich zur
ersten Anprobe wieder erscheinen.
J etzt benötigte ich aber dringend wieder Geld. Wir düsten
also zur Bank. Auf Anraten von Rocky löste ich gleich zwei
Zweihundert-Mark-Schecks ein und erhielt nach erstaunlich
kurzer Wartezeit 2410 Rupies als Gegenwert, was ungefähr
zwei durchschnittlichen indischen Ingenieurs-Monatsgehältern
entsprach.
Es folgte das Sichten, denn bei Geldscheinen mußte stets
darauf geachtet werden, daß sie nicht beschädigt, sprich eingerissen waren, da man sonst auf Gedeih und Verderb darauf
sitzen blieb - niemand außer der Bank würde einem diese
Dinger wieder abnehmen, es sei denn, sie waren mit Tesafilm geklebt oder wie die meisten `nur´ vollkommen zersiebt,
weil die Inder Stecknadeln zum Bündeln des Geldes verwenden.
W ar aber alles ok und wir konnten den Besuch des hiesigen Basars starten. Wollten doch mal sehen, was es hier so
alles zu ergattern gab. Rocky schwärmte die ganze Zeit von
irgendwelchen dubiosen Blechbooten, die sich, mittels eines
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kleinen Stückchens glühender Holzkohle angetrieben, mit leisem Geknatter auf dem Wasser fortbewegten und die man
als erwachsener eingeschworener Kindskopf u n b e d i n g t
haben mußte. Auch mein Herz war gleich Feuer und Flamme
beim Anblick dieser bunten scharfkantigen und nutzlosen
Metallfahrzeuge, und das `Glücksgefühl´ war erst perfekt, als
ich gierig zehn dieser Dinger zum Stückpreis von nur 39 Pfennig an mich gerafft hatte, von denen ich noch heute vier
unbenutzte Exemplare besitze, die in einem Regal auf meinem Flur vollstauben. Auch Rocky ließ sich einige Hundert in
eine Plastiktüte stopfen, bevor wir unseren Beutezug fortsetzen konnten.
Es war schon interessant, wie schnell westlicher Verstand
beim Anblick des mannigfaltigen Angebots in den Auslagen
eines orientalischen Basars aussetzte und man genötigt wurde, Dinge zu erwerben, die weder Sinn hatten, noch einen
Zweck erfüllten, die man aber im Verlauf der weiteren Reise
im Schweiße seines Angesichts mit sich herumschleppen mußte. Vielleicht wurden wir Abendländer berauscht durch das
laute Stimmengewirr der dichtgedrängten Menschenmassen,
den starken exotischen Gerüchen oder waren einfach nur
blöd. Wer weiß das ?
P lötzlich erstarrte Rocky und sein glasiger Blick fraß sich an
der Auslage eines Standes für Glasblaskleinkunstgewerbe fest.
"Gla-Gla-Glas ... Gla-Glastiere", flüsterte er vor sich hin und
zückte unverzüglich und entschlossen sein Portemonnaie zum
Kauf zweier Kartons mit einer zerbrechlichen Auswahl von
jeweils vierundzwanzig zoologischen Kostbarkeiten wie Giraffen, Elefanten, Löwen, usw., die er - man höre und staune
- im Rucksack heile zurück mit nach Deutschland brachte,
wo sie bis auf den heutigen Tag in seinem Bücherregal im
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Wohnzimmer das gleiche Schicksal ereilt hat wie meine Blechboote. Welch ein Jammer !
Glücklicherweise konnten wir uns nach dem Kauf einiger
billiger Holzkreisel und einer erklecklichen Anzahl possierlicher Wackeltierchen in schlecht imitierten, aufklappbaren
Walnußschalen von dem irritierenden Zauber indischer
Kinderspielzeugproduktionen losreißen, und nachdem ich mir
einen Satz Räucherstäbchen undefinierbarer Geruchsrichtung
zugelegt hatte, um damit dem fliegenden Ungeziefer in meinem Zimmer zu Leibe zu rücken, machten wir uns auf die
Suche nach einer annehmbaren Verköstigungsstätte, wo wir
den erwachten Hunger stillen konnten. Das Lokal unserer
Wahl servierte ein hervorragendes Essen, beherbergte aber
leider auch große fette Spinnen, von denen eine direkt neben
mir an der Wand nach ihren Appetithappen Ausschau hielt,
und der Inhaber des Etablissements lächelte nur tierlieb, als
ich ihn darauf aufmerksam machte. Diese Inder konnten einen wahrlich krank machen...
D as Essen hatte gut gemundet, und dem furchtlosen Rok-
ky gelüstete es gleich darauf nach einer zünftigen Rasur beim
hiesigen Barbier.
Da aber weißhäutige Menschen in Indien nunmal recht rar
sind, löste dieses Ansinnen einen kleinen Menschenauflauf aus,
was den dunkelhäutigen Schaumschläger und Messer-wetzer
etwas nervös und seine Hand ein wenig zittrig machte. Leider war Rocky der Leidtragende, denn immer wieder gab
der Barbier ein "Auh" oder "Uuh" von sich, wenn er seinen
deutschen Kunden mit dem scharfen Messer verletzte. Der
jedoch ließ die ganze Prozedur ohne mit der Wimper zu
zucken über sich ergehen und amüsierte sich am Ende auch
noch köstlich über die ganze blutige Geschichte.
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Z usammen liefen wir
danach noch etwas in
der von Menschen brodelnden City herum,
auf der Suche nach was
weiß ich und trafen dabei mal wieder auf jemanden, der glaubte, in
Rocky einen guten alten
`Freund´ wiederzuerkennen - was sich im
Laufe unserer Reise erfahrungsgemäß als `guter kaufwilliger Kunde´
übersetzen ließ, denn in
Indien wollte einem jeder penetranterweise
irgendeinen Scheiß verkaufen, und jeder be- Rocky zur Rasur beim Zahnarztfriseur
kam für alles und jedes
irgendeine Provision. Dieser Jemand entpuppte sich als vielleicht 20-jähriger indischer Händler, den Rocky bereits in
Kathmandu getroffen hatte und der ihm nun zu seinen heißbegehrten Schachbrettern verhelfen wollte. Doch zuerst wurden wir, trotz Beteuerung, daß wir es s e h r eilig hätten, zu
ihm nach Hause eingeladen, trabten deshalb zu seiner `Junggesellen-Wohnung´.
Er wohnte hier in Varanasi bei seinem verheirateten Bruder
zur Untermiete, in einem als Loch getarnten Appartment,
dessen Einrichtung sich auf eine speckige Matratze und einen
Walkman mit kleinen krächzenden Lautsprechern beschränkte. Ablenkung von diesem Elendsquartier verschaffte ihm an-
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scheinend das Betrachten der an den Wänden hängenden,
überbunten hinduistischen Götzenbilder, bei gleichzeitiger
Abfackelung alle Sinne betäubenden Räucherwerks. Und diesem Mann mußte es finanziell vergleichsweise gutgehen.
Wie konnte der so leben, fragten wir uns kopfschüttelnd ?
Den ganzen lieben Tag zugedröhnt, oder was ?
N ach Genuß des hier üblichen Tees, der aus einem Teil
Tee plus fünfzig Teilen Zucker bestand und ein bißchen
Smalltalk bedeutete er uns, ihm zu seinem Geschäftsfreund,
der mit diesen Spielbrettern handelte, zu folgen.
Dort wieder großer Raum, weißbezogene Matte auf dem
Boden, Schuhe ausziehen, hinsetzen, Tee schlürfen und andächtige Vorführung aller, aber auch wirklich a-l-l-e-r verfügbaren Modelle in allen Formen, Farben, Materialien und Gewichtsklassen.
Unheimlich zeitintensiv diese Inder !
Rocky und ich scherzten, daß das wohl der Grund für die
horrende Armut der indischen Bevölkerung sein mußte. Jedenfalls zog sich die Angelegenheit dermaßen hin, daß wir
uns den geplanten Zoobesuch aus dem Kopf schlagen durften, denn es war bereits 16:00 Uhr vorbei. Um 18:00 Uhr
würde uns `Baba´ beim "Aces New Deal" abholen, wo wir
vorher mit Dörthe essen gehen wollten. Dörthe mußten wir
aber auch erst im "Shankeri Guest House" abholen, und Rocky
war gerade dabei, einen weiteren Termin dazwischenzuschieben, denn wie sich herausstellte, besaß unser Gegenüber außer den zwei großen augenblicklich nur ein einziges
kleines Schachspiel, wollte aber ein weiteres plus verlangtem
Schachfigurenextraersatzsatz besorgen, und jener Freund des
Schachspielverkäufers mit einem als Loch getarnten Apartment erklärte sich bereit, um 17:30 Uhr unsere zeitlich kurz
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bemessene Nahrungsaufnahme zu stören, um die bestellte
Ware dort abzuliefern - und der ganze Tag war dahin...
S chachbrett und Figuren wurden auch pünktlich geliefert,
aber schließlich versagte das Termingeflecht des schwerbeschäftigten `Baba´. Erst eine geschlagene Stunde später,
also um 19:00 Uhr
erschien er an der
Pforte des Speisepalastes "Aces New
Deal", und in der
Dämmerung reisten wir per pedes
zum pinkfarbenden
Zimmer mit der
Matte, wo wir wieder einmal in einer
Teeorgie versunken die Zeit totschlugen, denn
Meister Nadelöhr
beliebte eine halbe
Stunde auf sich
warten zu lassen.
Das von ihm gelieferte Kleidungsstück war allerdings Anprobe des neuen Campingzeltes
exzellente Arbeit,
schien für meine Begriffe aber etwas zu weit, doch der begeisterte Rocky überzeugte mich, daß das hervorragend verarbeitete Stück Seidentuch ja notfalls als superrobuster Leinenschlafsack, Abdeckplane oder Notsegel verwendet werden
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könnte, und so bezahlte ich voller Stolz den Rest des veranschlagten Preises für dies einzigartige Multifunktionsgewebe,
was wiederum mit ernster Miene im Notitzbuch von Rocky
quittiert wurde. Das zweite in Auftrag gegebene KimonoShirt, ein dunkelblaues, würde diesmal einen farblich abgesetzten Kragen, eine verdeckte Knopfleiste und einen Gürtel
erhalten - alles curryfarben - und aus einem Batiktuch, das die
Göttin Kali zeigte, sollte der Schneider ein T-Shirt herstellen.
Nach den Formalitäten zauberte Schneiderman plötzlich ein
helles indisches Seiden-Jacket und eine sehr schöne Seidenbrokatweste aus dem Nichts, und die versammelte Gesellschaft seidendealender Varanasen nötigte den vermeintlich
sehr finanzkräftigen Autor selbige anzuprobieren, um auf plumpe Art und Weise seine Kauflust anzuheizen. Paßte auch alles
prima - wie für mich gemacht !? Aber ich lehnte freundlich ab,
und wir verabschiedeten uns, nicht ohne einen Termin für
den kommenden Tag klargemacht zu haben.
Im Hotel nochmals einige Hektoliter Tee inhalieren und
abschnarchen, denn morgen wollten wir zum Bahnhof, um
Fahrkarten nach Rishikesh zu kaufen.
F rühstück mit Rührei, Toast, Tee-Exzess und anschließen-
der Dusche hatten wir bereits hinter uns, als `Baba´, der
kleine Dicke, in der schwülen Hitze des Tages erneut vor
der Tür unserer Unterkunft aufschlug und seine Dienste als
Fremdenführer anbot, die wir mittlerweile zu schätzen gelernt hatten.
Im schweinefarbenen, bematteten Zimmer des Seidenhändlers angekommen - warten. Natürlich ! Was sonst ?
Das weiträumige Seidenzelt war ok, aber der alles entscheidende Gürtel fehlte und der Schnitt des Batik-T-Shirts
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glich mehr einem zu groß geratenen Windbeutel. Es mußte
trotz Widerstand des sonst fähigen Stichlings, der seine mißratene Création mit Vehemenz verteidigte, geändert werden.
Daher brachen wir erneut zu einer mehrtägigen GassenExpedition auf, vorbei an herrlich verfaulen- und verwesendem Unrat, wunderschönen von Rotz, roten Bethelaulen und
sonstigem Dreck verschmierten Häuserwänden, halbverhungerten, meist übel verstümmelten Bettlern und den bisher
noch mit keiner Silbe erwähnten heiligen Kühen, die, teils
abgemagert bis auf die Knochen, überall in den Straßen der
Stadt darauf warteten, daß sie mal ins Gras beißen durften,
anstatt dauernd nur den überall herumliegenden krankmachenden Müll in sich hineinzustopfen. Ungeniert entleerten
die angebeteten Tiere pladdernd ihren fragwürdigen Darmund Blaseninhalt auf die Straße, und man mußte aufpassen,
nicht eine ordentliche Ladung davon abzubekommen. Plagte
einen der vielen Menschen die Blase, so hockte er sich im
Getümmel ebenfalls einfach an den Gassenrand und pinkelte
auf den Weg.
Insofern empfanden wir es trotz der Hitze als äußerst angenehm, in Stiefeln durch die Gegend zu wandern und nicht
in Sandalen oder gar barfuß wie viele Einheimische, denn ich
möchte nicht wissen, wieviele der hier bekannten Krankheiten allein auf Haut-Bodenkontakt zurückzuführen waren.
A n einer kleinen butzigen Höhle, die durch eine ebenso
kleine Türöffnung erreicht werden konnte, machten wir wieder Halt. Dies war die Wirkungsstätte des meine Hemden
schneidernden Modepapstes, der gerade mit dem Einpassen
eines anderen Kunden in ein Hemd beschäftigt war.
In diesem Mikrokosmos, der durch eine von der Decke
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Das fleißige `tapfere Schneiderlein´ bei der Arbeit
baumelnden Glühbirne beleuchtet wurde, befanden sich zwei
Arbeitsplätze, jeweils bestückt mit einer von Großmutters
SINGER-Tretnähmaschinen, und ein Angestellter war gerade
dabei, eines der beiden Relikte mit Leben zu erfüllen. Der
hintere Teil des Raumes war durch einen Vorhang abgetrennt
und diente als Rumpelkammer. Genau dort hing auch die
Brokat-Weste vom gestrigen Tag.
Und je länger wir warteten und ich dort hinstarrte, desto
mehr reizte mich das Ding, denn es sah wirklich einen Hammer aus - ich mußte gestern blind gewesen sein ! Die erneute Anprobe des handgeschneiderten Kunstwerkes, dessen
Knöpfe sogar mit Brokat überzogen waren, schaltete endgültig jegliche Art von Vernunft und Bedenken aus, machte mich
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frei im Sinne von "Kaufe was Dir gefällt, egal was es kostet"
und zum Sklaven der Weste. Nun gab es kein Zurück mehr,
mein Entschluß stand fest: Die oder keine !
Der Preis betrug saftige sechshundertfünfzig Rupies, also
fünfzig Mark. Für Indien viel Geld, aber für unsere Verhältnisse so gut wie geschenkt. Da konnte man eigentlich gar nichts
falsch machen. Als ich aber meinen Entschluß zum Kauf äußerte und freudig lächelnde Gesichter wegen der wieder einmal bestätigten Dämlichkeit von Touristen erwartete, gab es
ein "Äh" und "Oh" im Laden, und man versuchte mir verlegen
Kleines Erinnerungsfoto: Schneider,
Ich, `Baba´ und der Tuchhändler
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klarzumachen, daß das nicht möglich sei. Ich sollte doch lieber das schleunigst herbeigeschaffte Seiden-Jacket kaufen. Diese Weste gehörte ihnen gar nicht, wäre ausschließlich Dekoration und nicht zu verkaufen. Man könne mir eine neue
machen, aber leider nicht in dem gleichen Muster, da dieser
Stoff zur Zeit nicht am Markte sei.
Nein, nein, nein - die oder keine.
Tuschel, tuschel und Vorschlag zum Besuch des rechtmäßigen Eigentümers, ebenfalls Seidenhändler, der die schwerwiegende Entscheidung treffen sollte.
Schuhe aus, Matratze, warten ... "you like some tea ?"
Dieses Schlitzohr trieb den Preis gleich auf siebenhundertfünfzig Rupies nach oben, da bereits eine Bestellung vorlag,
und man müsse verstehen....Bla, bla, bla ... könnte auch jede
Menge andere Westen haben, ... usw., usw. Aber ich hatte
bereits dazugelernt.
Nein danke, die Sache hätte sich erledigt entgegnete ich,
zwinkerte Rocky zu und wir machten gaaaaaannnz laaangsaaamm Anstalten, das Schuhwerk überzustreifen und uns zu
verabschieden, während die in dieses verlorene Geschäft verwickelten Inder nervös miteinander berieten. Geschlagen und
schweren Herzens pfiff man uns zurück.
Sechhundertfünfzig und keine einzige Rupie mehr bezahlte
ich, es wurde ein Erinnerungsfoto des Westen-Mafiosi mit
Tatwerkzeug gemacht, und schon düsten wir wieder zum
Schneider, holten die geänderten Klamotten ab, bezahlten
und trugen uns in das Gäste-und Referenzbuch des Schneiders ein. Beim Tuchhändler noch schnell ein zweites
Erinnerungsfoto gemacht und dann konnten wir uns endlich
Wichtigerem zuwenden, denn wir wollten ja eigentlich Bahnkarten kaufen.
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Von diesem Herrn kaufte ich meine erste und einzige Brokat-Weste
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B eim überfüllten Bahnhof angekommen, in dessen Eingangs-
halle sich die Reisenden mit ihrem gesamten Hausrat breitmachten, suchten wir zuerst das vielversprechende Tourist
Office im ersten Stock auf. Dort würde einem meist geholfen
werden, traute man den optimistischen Beschreibungen im
verklärten Reiseführer. Aber alle verfügbaren Karten der 1.
Klasse waren auf vier Wochen im voraus ausverkauft. Da
war nichts zu machen. Also wieder runter zum menschlichen
Ameisenhaufen in der Eingangshalle und am Schalter für die
Tickets der 2. Klasse angestellt, wo eine deprimierend lange
Warteschlange darauf erpicht war, von den unfreundlichen
und sturen Schalterbeamten abgearbeitet oder auch einfach
nur verarscht zu werden.
Während ich mich in die Reihe der Wartenden eingliederte,
kommunizierte Rocky bereits mit einem Engländer oder Australier über die ungewöhnlichen Gepflogenheiten beim Kauf
einer Bahnkarte in Indien. Demnach erhielt jeder zuerst einen ellenlangen Antrag zum Kauf einer Fahrkarte und das
auch nur am Tag der Abreise. Vorbestellungen gab es nicht !
Also beschlossen wir, die Karten erst direkt am Tage der
Abreise zu kaufen, verließen unverrichteter Dinge den Bahnhof und fuhren zurück in die Stadt.
A bends beim tea-dinner in unserer Pension fragten wir versuchsweise den Hausherrn, ob er vielleicht eine bessere Möglichkeit sähe, ohne lästiges Anstehen irgendwie an Fahrkarten
heranzukommen und siehe da, er bot an, das Gewünschte
zu besorgen, und wir hatten den Kopf frei für andere Dinge,
wie zum Beispiel für den verstärkt auftretenden wässrigen
Durchfall, der, so rätselten wir, entweder mit dem übermäßigen Konsum von Tee und der wegen der enormen Hitze
stark gedrosselten Nahrungsaufnahme zusammenhing oder
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aber - grübel, grübel, übel, übel - mit der Einnistung eines
ganz und gar unerwünschten, ekelhaften Bakteriums ?
Erstmal abwarten und IMMODIUM kauen, sagten wir uns,
und die verlorengegangenen Liter an lebensnotwendiger
Körperflüssigkeit ausgleichen durch Trinken von Tee und Brühe. Wird schon wieder ok, kann gar nichts pa ... oh mann,
schon wieder ... urrhh ...
D er folgende Tag gebot es, wieder zeitig aufzustehen, denn
wir wollten um 5:00 Uhr in der Frühe die Ghats aufsuchen,
um den in der ganzen Welt bekannten und sagenumwobenen Sonnenaufgang mitzuerleben, von dem ich bisher allerdings nie etwas gehört hatte.
Bei Erreichen des Flußufers waberten uns dicke und dichte
rauchige Nebelschwaden über das Wasser entgegen. Das gelbliche Licht einiger zerschundener Laternen hatte seine Mühe
damit. Trotzdem erkannten wir, wie dreckig die steinernen,
ins Wasser führenden Treppen waren, auf denen sich bald
hunderttausende von Millionen gläubiger Hindus tummeln würden, um in den heiligen Abwasserfluten des Ganges ihr morgendliches Bad zu nehmen.
Wir warteten gespannt auf die Sonne, die heute morgen
anscheinend keine rechte Lust hatte aufzugehen und sich in
dem wattigen Dunst dann doch endlich als kleiner verschwommener orangener Punkt bemerkbar machte, der wuchs und
wuchs und mit zunehmender Größe mehr und mehr Einfluß
auf den Nebel nahm. Langsam aber sicher verflüchtigte sich
der feuchte Schleier, der während der Nacht Ufer und Fluß
verbarg, und gab den Blick frei auf das nun rege Treiben um
uns herum. Dicht an dicht standen die Gläubigen dort und
tauchten freudig ein in das dreckige graugüne Naß, auf dem
101
Die Sonne löst den dichten Nebel auf, der morgens über dem Ganges hängt
Blumenblüten, Abfall, verschimmelter Kot und manchmal vergammelte Tierkadaver trieben. Tauchten ein mit dem Kopf,
falteten ihre Hände zu einer Schöpfkelle und tranken in kleinen Schlucken vom Strom des Lebens und des baldigen Todes. Uns wurde ganz schlecht, als wir das sahen, und daher
zogen wir uns nach einiger Zeit zurück, zum Genuß unseres
Frühstücks mit einem Sugar-Separated-Big-Pot-Of-Milk-Tea, und
ich zelebrierte anschließend das morgendliche Bräunungsritual
auf dem Dach.
G egen zehn Uhr trafen wir wieder bei den Ghats ein, denn
uns zog es zu einer steinernen Feste am jenseitigen Ufer:
Fort Ramnagar. Dazu benötigten wir eines der vielen hier
vertäuten und zu mietenden Ruderboote, die zusammen mit
ihren menschlichen Motoren in der Sonne brieten.
Gerade als wir uns anschickten, mit dem Aushandeln eines
102
solchen hölzernen Gefährtes zu beginnen, hörten wir plötzlich freudige Rufe, die uns galten. Renate, René und Sher, ein
Nepali, begrüßten uns - Bekannte von Rocky, die er in Nepal
kennengelernt hatte. Wir unterhielten uns eine Weile, teilten
uns mit, wo wir untergekommen waren, verabredeten uns
für später zur gemeinsamen Besichtigungstour im Fort und
waren gleich darauf wieder in einen heftigen Handelsstreit
mit einem jungen Inder verstrickt, der uns die Vorzüge seiner
Dienstleistung schmackhaft machte.
Belagerung europäischer Bleichgesichter
durch indische STASI (Stare Sect of India)
Wir handelten einen annehmbaren Preis von 30 Rupies für
eine Tour aus, doch als wir in das Boot einstiegen, guckten
wir mal wieder dumm aus der Wäsche, denn unser
Gespächspartner war keinesfalls der Fahrer dieses Bootes.
Das war nämlich ein knochiger und weißhaariger alter Mann,
der nicht unbedingt so aussah, als würde er mit diesem wack-
103
Heitere Kloakenidylle am Ufer des Ganges
ligen Ding einige Kilometer flußaufwärts gegen die Strömung
anrudern können - geschweige denn mit uns als zusätzlichem
Ballast.
Der alte Mann aber, von dem eine tiefe innere Ruhe ausging, beruhigte uns und strebte mit gekonnten Ruderschlägen
dem Ziel entgegen. Zuerst fuhren wir noch in der Nähe der
steinernen Uferbefestigung, auf der die Frauen jetzt ihre Wäsche wuschen und in der Sonne trockneten, bald aber strebte der Kahn mehr und mehr der Mitte zu und genehmigte
einen Blick auf eine öde Sandwüste auf der anderen Flußseite, wo die Geier in kleinen Gruppen hockten und auf Nahrung lauerten, sofern sie nicht hoch über uns ihre Kreise in
der Luft zogen. Ab und zu kamen wir an grünen Flecken
vorbei, wo kreischende Kinder in der Gesellschaft von Wasserbüffeln im Wasser plantschten und so den Tag herumbrachten, und einmal trieb zu Dörthes Entsetzen backbords
eine angekohlte Kinderleiche an unserem Gefährt vorbei.
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D ie Sonne knallte immer schlimmer auf unsere Köpfe, und
bei mir machten sich nach kurzer Zeit erste Anzeichen eines
Sonnenstichs bemerkbar, denn ich war bereits extradry durch
das morgentliche Sonnenanbeten und besaß dummerweise
keinerlei Kopfbedekkung zum Schutze
meines gequälten
Denkorgans. Da blieb
mir nichts weiter übrig als den Ekel zu
überwinden, Rocky
um sein Halstuch und
die Genehmigung zu
bitten, es mit den mit
Abfällen menschlichen wie tierischen
Ursprungs versetzten
Abwässern des Ganges zu tränken und
dieses dann um meinen Kopf zu wickeln,
was mir tatsächlich
erhebliche ErleichteFlußpiraten !!!
rung verschaffte.
Ca zwei Stunden glitten wir in aller Stille über das Wasser,
bis wir aus der Ferne ein nicht endenwollendes TSCHAATONG-TONG, TSCHAA-TONG-TONG vernahmen und uns
erst nicht erklären konnten, was die Ursache dieses Geräusches war, bis nach einiger Zeit am Horizont eine quer über
den Ganges führende Linie sichtbar wurde, die sich beim Näherkommen als riesige, den Fluß überspannende Ponton-
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Fort Ramnagar liegt in der Nähe einer Ponton-Brücke
Das Forttor von vorne
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Brücke herausstellte, auf der reger Verkehr herrschte. Und
genau dort in der Nähe der Brücke hob sich auch der Umriß
des gewaltigen Fort Ramnagar ab, das wir besuchen wollten.
Der von uns unterschätzte weißhaarige Alte steuerte das
Boot nun auch flink Richtung Ufer und suchte sich eine Anlegestelle an dem mit Booten gesäumten Sandstrand. Wir bezahlten ihm die Überfahrt und fragten ihn, ob er warten würde, bis wir wieder zurückkämen, und er nickte zustimmend,
als wir ihm versprachen, nicht länger als ca. zwei Stunden
unterwegs zu sein.
Dann trieb es uns erst einmal zu einem der überall in Indien
zu findenden kleinen Straßen-Imbisse, denn wir hatten einen
mordsmäßigen Hunger und noch viel größeren Durst. Nach
der Verköstigung versorgten wir uns noch schnell mit einer
Handvoll Apfelsinen vom Markt und betraten das eindrucksvolle Fort durch das große rote Portal.
D ie Gebäude innerhalb der weiträumigen zerfallenen
Befestigungsanlage beherbergten eine stattliche Anzahl an Relikten aus der längst vergangenen Zeit der Maharadschas, die
in überschwenglichem Reichtum und Pomp gelebt hatten,
während die immense Bevölkerung Indiens in Armut und
Elend dahinvegetierte - was sie übrigens heute im Zeitalter
der Atombombe auch noch tut.
Zu sehen waren mit Gold und Edelsteinen besetzte Sänften
und Kutschen, reich ausgestattete Limousinen, edle Schmuckund Kleidungsstücke, Möbel und jede Menge brutalste Waffen. Fotografieren war verboten. Der ganze verblichene und
wenig gepflegte Reichtum wurde beschützt durch eine kleine
Abteilung der indischen Armee. Von Sonne und Geschmeide
geblendet und sichtlich beeindruckt, mußten wir bald unsere
Besichtigungstour beenden, um rechtzeitig unseren Kontakt-
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mann am Fluß zu treffen. Von Renate, André und Sher sahen
wir keine Spur. Später erfuhren wir, daß sie gerade angekommen waren, als wir den Rückzug antraten.
P ünktlich zur vereinbarten Zeit langten wir an der Brücke
an, aber von dem alten Herrn war nichts zu sehen, so daß
wir zuerst dachten, er hätte uns im Stich gelassen und wäre
schon wieder auf dem Heimweg.
Es lag nämlich eine erkleckliche Anzahl von Wasserfahrzeugen am Strand, und wir konnten uns partout nicht mehr
darin erinnern, wie dieses verdammte Boot genau aussah.
Also klapperten wir den gesamten Strand ab, bis wir ihn plötzlich mit geschlossenen Augen andächtig versunken in seinem
Kahn knieen sahen. Wir störten ihn nicht, sondern ließen ihn
gewähren, um zu beobachten, was da vor sich ging.
E r verbeugte sich tief bis auf die Holzplanken und murmelte anscheinend irgend ein Gebet, dann kramte er ein kleines
Päckchen aus der Seitenverkleidung des Bootes, wickelte es
ruhig und bedächtig aus. Zum Vorschein kam ein stark beanspruchtes Shillum, etwas Tabak, Marihuana, ein paar KandisZuckerstücke, Streichhölzer: Aha, ein Kiffer schoß es mir
durch den Kopf. Tatsächlich fing er auch schon an, die Pfeife
mit diesem indischen Bier zu stopfen.
Alkohol war in allen verheiligten Hochburgen des Hinduismus bei Strafe verboten - nur milde Drogen, wie Gras oder
Haschisch, in einigen Orten erlaubt oder geduldet.
Sobald die Pfeife qualmte, bot er sie uns ebenfalls an und da
wir, des Rauchens nicht mächtig, dankend ablehnten, offerierte er seine paar kümmerlichen Kandisstückchen. Es konnte
einem schon anders werden, wenn man bedachte, daß wir
mit einem kleinen Teil unserer Reisemittel 5 Tonnen Kandis108
zucker hätten kaufen können. Zum Dank bot ich ihm eine
meiner gekauften Apfelsinnen an, die er gleich darauf einem
anderen Landsmann, der plötzlich bei unserem Boot auftauchte, in die Hand drückte.
So war das aber nicht gedacht !
Als wir uns schließlich auf dem Wasser befanden und er sich
- durch die Droge benebelt - untätig an den Bug hockte und
daß Boot treiben ließ, startete ich mit einer weiteren Orange einen zweiten Versuch. Da er sich jedoch mit Händen und
Füßen gegen meine aufdringlichen Versuche, ihm den Genuß
einer saftigen Citrusfrucht schmackhaft zu machen, wehrte,
unterstrich ich mein Angebot mit den Worten:
"Please keep it. It´s good for your health. There are
Vitamines inside and a lot of minerals. It makes you strong."
"Das ist ungefähr so, als würde ein Außerirdischer auf die
Erde kommen, Dir irgendwas vor die Nase halten und sagen:
Da ist Ukkabukka drin. Mußt Du essen. Ist gut für Dich.
Mmmmh.", ließ Rocky verlauten, worauf wir uns mit erheblichen epileptischen Lachkrämpfen an der Bootswand festkrampften.
"Hoffentlich hat er nicht vor, sich die ganze Strecke zurücktreiben zu lassen", fragte sich Rocky nach einer Weile, denn
wir mußten pünktlich zurück bei den Ghats sein, wegen einer
Verabredung zum Essen mit André und Renate. Nichtsahnend über unsere weitausschweifenden Pläne für den heutigen Tag, genoß unser neugewonnener Freund lächelnd das
ruhige und faule Dahintreiben in die beginnende schwüle
Abenddämmerung auf dem in der untergehenden Sonne golden glitzernden Wasser.
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Ganz versessen darauf zu erfahren, wie sich dieser große
Kahn wohl von mir bewegen ließe, schnappte ich mir, nach
Genehmigung des Alten, die derben Ruder und versuchte
mein Glück. Ich muß sagen, keine leichte Angelegenheit - und
ich ruderte immerhin mit der Strömung ! Zum einen waren
die etwas krumm geratenen Bambusstangen der Paddel
schwer zu koordinieren, und zum anderen trieb die starke
Strömung ihr Spiel mit dem Gefährt. Trotzdem ging es recht
gut voran. Der Alte setzte sich zur Erleichterung mit einem
Ersatzruder ans Heck und steuerte den Kahn.
Kleiner `Kraftakt´ auf heiligen Gewässern
Auch Rocky verspürte irgendwann den wilden Drang, überflüssige Energien loszuwerden, und so erreichten wir mit vereinten Kräften doch noch zu einer angemessenen Zeit unseren Ausgangspunkt, wurden von den am Ufer stehenden obligatorischen Glotzern bestaunt, zahlten unsere Rechnung für
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die `Do-It-Youself´-Rückfahrt und trabten durch die Straßen
zum vereinbarten Treffpunkt. Nach dem Essen dann flugs
zum "Shankeri Guest House", zehn bis zwölf Tassen Tee den
Garaus machen und dann ab in die Heia, denn wir mußten
morgen früh raus.
Am anderen Morgen highspeed-frühstücken, die überall ver-
teilten Klamotten zusammenräumen und packen. Wir wollten uns mit André, Renate und Sher, die uns ab nun für einen
Teil der Reise begleiteten, vor deren Hotel treffen, um von
dort gemeinsam zum Bahnhof zu fahren. Der Zug nach
Rishikesh sollte um 10:05 Uhr abfahren.
Die Drei wären jedoch nicht in ihrem Hotel aufzufinden,
wie uns der Portier versicherte. Panik und Verärgerung machten sich breit, denn schließlich waren wir verabredet und
wollten eine Stunde vor Abfahrt am Bahnhof sein. Man konnte ja nie wissen, ob die angegebenen Abfahrtzeiten auch wirklich stimmten.
Doch der Hotelwächter hatte uns dreisterweise mit Fehlinformationen versorgt: Die Gesuchten saßen auf ihrem Zimmer und warteten ihrerseits. Diese Inder !!!
Es folgte hektisches Sammeln auf der Straße und Verhandeln mit den Haifischen der indischen Städte, den RikschaFahrern, die bereits Fährte aufgenommen hatten und uns
umlagerten.
Mit zwei Rikschas zu je zehn Rupies ging´s schließlich ab
zum Bahnhof. Dort angekommen, begann die wirre Suche
nach dem richtigen Bahnsteig, denn jeder der befragten (Vara)
Nasen erzählte einem eine andere Geschichte über den Verbleib der gesuchten Örtlichkeit. Am besten gar nicht mehr
fragen.
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E ndlich standen wir richtig und mußten jetzt nur noch Ge-
duld haben. Wieviel, stellten wir bald fest. In der Zwischenzeit vergnügten Rocky und ich mich damit, die gesamten
Schokoladenbestände der auf dem Bahnsteig werbenden
Händler aufzukaufen: acht Tafeln! Das dürfte für die mehrstündige Reise gerademal so reichen. Wir waren voll entschlossen, unsere Körper mit den nötigen Kalorien zu versorgen. Auch wenn alles um uns herum an Unterernährung,
Scheißerei und Blödheit zugrunde ging - wir nicht !
Wir warten ... und warten ... und warten ...
Dann wieder warten. Es war 10:00 Uhr und ein neuer Zug
fuhr ein. Hurra, unser Zug. Juchheh. Welche Freude - überpünktlich.
Gucken, fragen "unser Zug !?"
Nein, wurde uns erwidert, der hier führe woanders hin.
Unserer käme aus der anderen Richtung. Wir waren echt
aufgeregt, weil wir auf gar keinen Fall den Zug verpassen
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wollten, denn wer wußte, wann der nächste fuhr. Ein Zug
aus der Gegenrichtung schob sich heran.
Nein, schade ... nicht unserer... vielleicht später ...
Oh, Elend. Es war bereits 10:30 Uhr !
Als wir verunsichert am Schalter nachfragten, kriegten wir
zu hören, der Zug hätte eine Stunde Verspätung. Na gut eine Stunde.
Wir warteten und warteten und ... 11:00 Uhr ... warteten.
11:45 Uhr und wir warten.
"Wer fragt gewinnt !" - Rocky ging fragen.
Erschütterung legte sich aufs deutsche Gemüt, als die ganze
Wahrheit ans sonnige Tageslicht kam. Wie konnte das passieren: Unser geliebter Zug sollte erst um 13:00 Uhr einfahren.
Wurde der vielleicht aus Kostengründen von Kühen gezogen ?
W - A - R - T - E - N !!!
Die Schokolade war bereits alle, als der große Zeiger der
Bahnhofsuhr das Ereignis des Jahrtausends mit einer kurzen
Bewegung auf die Zwölf ankündigte: Es war ohne Wenn und
Aber 13:00 Uhr !
Verdammt ! Und kein Zug !
Fragen ohne klare Antworten.
Um 14:30 Uhr schließlich, mit viereinhalb Stunden Verspä-
tung, fuhr der vor Menschen berstende und mit dick vergitterten Fenstern versehene Zug auf dem Gleis ein. Jetzt hieß
es zusammenbleiben und sich elegant hineinquetschen. Die
Wagen hatten innen auf der rechten Seite geschlossene Abteile und auf der linken Seite des Ganges einfache Holzbänke.
Leute ohne Sitzplatzkarte standen oder lagen in den Gängen,
und es war schwer, mit dem Gepäck beladen an ihnen vorbeizukommen oder über sie hinwegzusteigen. Doch wir er-
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reichten unser Abteil, das wir mit einer Familie - Vater, Mutter, Frau und einem Söhnchen - teilten, die einen wohlhabenden Eindruck machte und sehr nett war.
Wir bekamen immer wieder was von ihrem mitgebrachten
Essen ab. War alles sehr lecker. Den englischsprechenden
Mann interessierte vor allem mein Weltempfänger, der mal
wieder keine richtige Lust verspürte, zu zeigen, was in ihm
steckte. Kein Empfang.
Drinnen war es mehr als nur warm, aber die toll aussehenden Deckenventilatoren waren partout nicht dazu zu bewegen, die Luft etwas umzuwälzen: Kein Strom !
Unterwegs mit dem `India-Railway-Express`
114
Gangotri
I
n Rishikesh, dem Meditationsmekka der Beatles in den
Sechzigern, kamen wir in den frühen Morgenstunden
ziemlich geschlaucht an und marschierten in der einsetzenden Hitze des Tages vollbepackt vom Busbahnhof durch
die Stadt, zu einer etwas auswärts gelegenen Unterkunft,
deren Name mir zwar entfallen ist, die aber laut Dörthes
Reiseführer "Mit einer einzigen Mark quer durch Indien" das
Nonplusultra für Rucksackfetischisten darstellen sollte.
Sah auch alles ganz nett aus: ruhige Lage, Kieswege mit
kleinen Blumenrabatten und rundum alles voll tropischer Vegetation; Gemeinschaftstoiletten und -duschen waren in einem extra Bau untergebracht.
Wir entschieden uns zu bleiben. Es folgte die in Indien immer wiederkehrende, teils recht nervige Eincheckprozedur:
Reisepaß rauskramen, drei Formulare pro Person ausfüllen,
und erst dann durften die Zimmer gestürmt werden. Einzelzimmer gab es nicht und schon gar keine mit heilen Fenstern,
also mußten Sher und ich uns eins teilen, bei dem wenigstens
nur eine Scheibe aus dem Fensterrahmen rausgefetzt war Indien wie es leibt und lebt !
N ach Aussage des `Hotelmanagements´ war die gesamte
Anlage zwar ausgebucht, doch obwohl wir suchten und suchten, wir sahen nicht einen einzigen anderen Menschen weit
und breit. Auch beim anschließenden nicht sehr befriedigenden Frühstück in dem riesigen, halbdunklen und recht kühlen
Speisesaal ließ sich niemand blicken. Wahrscheinlich meinte
man, alle Gäste hätten sich ausgebucht, wie wir das am nächsten Tag auch taten, denn hier wollten wir nun doch nicht
länger als nötig verweilen.
Beabsichtigt war, daß Dörthe, Renate, André und Sher am
nächsten Tag rüber über den Fluß in einen der dort gelege115
Frühstück bei strahlendem Sonnenschein
nen Ashrams zogen. Rocky und ich würden morgen früh bereits auf dem Weg nach Uttarkashi sein - dem Ausgangspunkt
unseres geplanten Treks.
Während sich die anderen gegen Mittag am Flußufer um-
sahen, um einen Platz in einem Ashram zu bekommen, zog
ich zusammen mit dem Nepali Sher los, die malerische Gegend erkunden. Stundenlang wanderten wir in der dichtbewaldeten Hügellandschaft der Siwaliks herum, die von jeder Menge ziemlich großer, weißgrauer Affen, den Hulmans,
bewohnt ist, und trafen irgendwann auf zwei mit sehr gefährlich aussehenden Erste-Weltkrieg-Karabinern ausgerüstete jugendliche Jäger, die unbedingt wissen wollten, was denn so
ein Fotoapparat koste, den ich da mit mir herumschleppte.
Sher erzählte ihnen irgendein Märchen, damit sie nicht auf
dumme Gedanken kamen, und ich bannte die beiden wunschgemäß auf Zelluloid. Etwas hungrig und durstig geworden fragten wir an, ob irgendwie die Möglichkeit bestünde, an was zu
116
In den Siwaliks
Die netten Nachbarn von nebenan
117
essen oder zu trinken heranzukommen, wobei sich herausstellte, daß einer der Freizeitjäger gleichzeitig Bauer war und
mit seiner Familie einen Hof ganz in der Nähe bewohnte. Die
übermittelte Einladung zu Tee und Kuchen nahmen wir selbstredend dankbar an.
A uf dem Rückweg verliefen wir uns dann aber leider etwas, ich bekam erste Blasen an den Füßen, und meine `unverwüstlichen´ Lederstiefel gaben den Geist auf, als die nagelneue Sohle des linken in der Mitte durchbrach. Das hatte
natürlich gerade noch gefehlt - wollten wir doch morgen ins
Gebirge !!! Bedingt durch diesen Schicksalsschlag blieb uns
keine andere Wahl, als den Rückzug anzutreten, und zum
Schluß unserer Wandertour gelangten wir über eine Steintreppe direkt an das felsige Westufer des Ganges, wo sein
noch klares blaugrünes Wildwasser nach einem leichten Gefälle in einer großen breiten Kurve die Südrichtung einschlägt.
Etwas träger geworden fließen die kühlen Wassermassen
vorbei an kleinen Kiesstränden auf der gegenüberliegenden
Uferseite, wo die Menschen zum Sonnenbad liegen, den
Ashrams und farbenprächtigen Tempeln und unter der
"Laksham Jhula" hindurch, einer 1939 erbauten stabilen Hängebrücke mit einer Spannweite von 140 Metern, auf der die
Fußgänger manchmal stehenbleiben und die Schwärme der
recht großen Fische füttern, die, wie so vieles in Indien, heilig
sind und nicht gefangen werden dürfen.
In der Stadt versuchten wir dann einen Schuster oder wenigstens jemanden aufzutreiben, der sich in der Lage sah, die
vermachte Sohle zu reparieren, was aber fehlschlug. Lederstiefel sind halt etwas Außergewöhnliches in einem Land, wo
der größte Teil der Bevölkerung barfuß herumläuft, und daher war weder eine Ersatzsohle noch ein entsprechender
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Gummiflicken aufzutreiben, mit dem der Riß überbrückt werden konnte. Keine Chance !
A n einem Sonnabend, dem 02.02.1991, fuhren Rocky und
ich frühmorgens um sechs Uhr mit der Rikscha zum Busbahnhof, kauften unsere Tickets, und mit dem vollbesetzten
Lokal-Bus reisten wir mit angespannten Nerven wegen des
tolldreisten Fahrstils des lebensmüden Fahrers 200 km über
übelste Gebirgsstraßen dem in einer erdbebengefährdeten
Zone liegenden Zehntausend-Seelen-Städtchen Uttarkashi entgegen, wo knapp ein Jahr später ein starkes Erdbeben hunderte von Menschenleben forderte.
Dort in 1158 Meter über dem Meeresspiegel angekommen, gab´s nach dem Einchecken in einem Superbillighotel
von der Stange erstmal 222 tolle asiatische Nudelgerichte
vom Wok für ´ne Mark in einem ganz kleinen 4qm-Ranzladen,
und als wir zum Erstaunen des Kochs endlich satt waren,
wurde es langsam Zeit, uns in das Getümmel auf den Straßen
zu stürzen, denn meine ramponierten Lederstiefel hatte ich
in Rishikesh gelassen. Unbekümmert, todesmutig oder lebensmüde hatte ich beschlossen, in meinen Turnschuhen zu
laufen, und wollte mir sicherheitshalber ein Ersatzpaar zulegen.
Das war aber gar nicht so einfach.
Ich dachte, ich bekäme schon irgendwie ein paar anständige
Schuhe, doch leider war in den zwei Schuhläden vor Ort
nichts derartiges zu finden, was meinen Ansprüchen an Verarbeitung und Stabilität auch nur annähernd gerecht wurde,
und so mußte ich mich wohl oder übel mit einem Paar primitivster indischer Negativ-Turnschuhe für den unglaublichen
Wucherpreis von achtzehn Mark zufriedengeben.
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Vorm Schlafengehen wollte ich noch schnell die angepriesene heiße Dusche unseres `Hotels´ in Anspruch nehmen, aus
deren fünf nicht verstopften Düsen aber nur Eiswasser in alle
Himmelsrichtungen davonstob. Muß man wohl länger laufen
lassen, dachte ich mir, nachdem ich eine erhebliche Anzahl
der verstopften Düsen mit einer Nadel gesäubert hatte. Als
die Wassertemperatur nach einer guten halben Stunde aber
immer noch keine Lust hatte sich zu ändern, beschloß ich,
den Vermieter zur Rede zu stellen. Der versprach, mir einen
Eimer mit heißem Wasser zuzubereiten und versagte dabei
kläglich: Das Wasser blieb auch um 23:00 Uhr nur lauwarm.
Alles hatte sich gegen mich verschworen - aber ich würde
den Göttern trotzen ! Verbissen schrubbte ich mich unter der
kalten Dusche ab und verkroch mich bibbernd in den mit
Taschenwärmern vorgewärmten Schafsack.
N ächster Tag. Um fünf Uhr früh knatterten wir mit dem
üblicherweise vollbesetzen Stockbus Richtung Gangotri.
Es war bereits kalt - bitterkalt. Was darauf hindeutete, daß
wir uns mehr und mehr in gebirgige Höhen schraubten.
Bereits am Fahrkartenschalter oder vielmehr dem Verschlag,
wo man ein Stückchen bedrucktes Papier erhielt, das zur
Fahrt mit dem Bus berechtigte, hatte man uns darauf hingewiesen, daß der Bus oder was wir dafür hielten, aller Voraussicht nach nicht bis zu unserem eigentlichen Ziel Gangotri
fuhr, sondern nur bis Gangnani, je nachdem, wie die Straße,
die stellenweise durch Erdrutsche verschüttet sein sollte, aussah.
Und wirklich, je näher wir Gangotri kamen, desto leerer
wurde der Bus, bis schließlich nur wir beide übriggeblieben
waren, als der Busfahrer an einer uralten, wie von Ratten
120
zerfressenen Eisenbrücke stoppte. Die vier baufälligen Bretterbuden und halbfertiggebauten Steinhütten, die dort in der
Nähe standen, mußten wohl der Ort Gangnani sein. Einwohner: einer, soweit wir sehen konnten. Entfernung bis Gangotri:
60 Km Luftlinie !
Es war eine triste Einöde, arrrschkalt, alles grau-braun, erdfarben und menschenleer, sah man einmal von dem Herrn
ab, der den im Moment nicht sehr gut gehenden Teestubenbushaltestellenschnellimbißkiosk betrieb. Mitleidig blickend verabschiedete sich der Busfahrer von uns, machte kehrt und
sah schleunigst zu, daß er verschwand, um die beiden Vollirren ihrem wohlverdienten Schicksal zu überlassen. Wir hatten es ja so gewollt. Hatten wir. Hätten wir´s gewußt - hätten wir ?
Wandern in Schrottland
121
Zuerst schien noch alles so lustig - die Welt war in Ord-
nung. Wir schossen ein paar Fotos von der Brücke und wie
ich sie überquerte, und dann kam Rocky auf die glorreiche
Idee, den vor uns liegenden Pflichtparcour der sowieso schon
beschwerlichen Expedition etwas abzuändern, das heißt den
Weg abzukürzen, der in einer leicht ansteigenden Kurve nach
oben führte. Er äußerte den zwanghaften Wunsch zu klettern, um das Stückchen Kurve zu umgehen !
Ich dachte, ich hörte nicht recht. Eh Mann, ich wollte nicht
gleich am Anfang unter der Last meines viel zu schweren
Sturmgepäcks sterben. Aber auch längere Diskussionen über
Sinnfindung und Wertschätzung einer gottgewollten Scheißkurve hielten diesen bereits himalayaerprobten Steinbrech nicht
von seinem Vorhaben ab, und schon begann für mich die
elendste Quälerei seit den Hexenverbrennungen des Mittelalters.
Schleimige Schweißspuren zurücklassend zwang ich meine
bereits quietschenden Knochen und schmerzenden Beinmuskeln mit den Worten "Ich habe trainiert, ich habe trainiert, ich habe trainiert, ich habe ... auh ... ouh ... Urrgh !" den
Hang hinauf. Ich mußte wahnsinnig sein. Auf was für ein Abenteuer hatte ich mich da eingelassen ?
Hey Bus, komm zurück !
Unterwegs ohne anständige Schuhe und den Rucksack und
die große Army-Umhängetasche, deren scheuernder Trageriemen mich fast um den Verstand brachte, voll mit sämtlichen Einkäufen der bisherigen Reise. Ich hatte tatsächlich
Metallboote, Holzkreisel und Seidenhemden im Gepäck. Vollkommen krank, aber Dörthe, Renate und André waren nicht
unbedingt erpicht darauf gewesen, die Sachen im Ashram aufzubewahren, um dann von mir hingeschlachtet zu werden,
122
weil irgendein Unbekannter Gefallen an Diesem oder Jenem
fand und unberechtigterweise seinem Besitzstand einverleibte. Also schleppen...
N achdem wir die ersten paar hundert Meter auf der an-
steigenden Straße zurückgelegt hatten und ich mir schon überlegte, wie ich diese teuflisch drückenden Schulterriemen des
Rucksacks für eine Woche ertragen sollte, kam der nächste
Hammer in Form tierischer Darmkrämpfe, die mich laut fluchend veranlaßten, panikartig hinter einen Findling am Wegesrand zu hechten, mich wimmernd von diesem vertrackten
Gepäck zu befreien und die Hose runterzureißen. Dann kam
die Jogginghose - wegen der Kälte - und die war verknotet !
Oh Mann, oh Mann, und das in solch einem Augenblick des
Schreckens. Wenn ich mir jetzt in die Hosen machte, wär
das das Ende der Welt oder die Hölle auf Erden. Der Bus
kam erst in einer Woche wieder und mit vollgeschissenen
Hosen auf einer Trekkingtour im Himalaya verschollen, das
mochte ich mir gar nicht erst vorstellen. Fuchsteufelswild riß
ich mir endlich diese verdammte Hose herunter, und kaum
hatte ich mich hingehockt, da schoß es auch schon in einem
schönen fetten Strahl heraus.
Rocky dokumentierte die Schweinerei als solche fairerweise
mit einem netten Foto - frei nach dem Motto "was Du nicht
willst, das man Dir tut, das füge einem anderen zu." - was an
sich schon eine Schweinerei war. Wie er mir später versicherte, hat er dieses (im wahrsten Sinne des Wortes) Negativ später leider vor einem vereidigten Notar aufgegessen.
Schade - hätte gern ein Poster davon !
Im Moment war mir das aber alles vollkommen gleichgültig,
denn diese Krämpfe machten einen glatt fertig. Man konnte
sich nicht dagegen wehren. Der Körper pumpte auch noch
123
das letzte bißchen an Nahrung aus dem Darm. Bestimmt an
die zwanzig Minuten hockte ich mit heruntergelassener Hose
in der Kälte und wartete auf das Ende der Darmverrenkungen
und die unvermeidlich einsetzenden Beinkrämpfe.
So konnte und durfte das nicht weitergehen ! Also schmiß
ich gleich nach der Aktion zwei IMMODIUM ein und hoffte
auf baldige Besserung. Fürs erste schien die Sache aber überstanden.
On the road
E s war zwar kalt, aber mir wurde im Laufe des Tages
immer wärmer, denn das ungewohnte Schleppen des Gepäcks und das anfangs stetige Bergauf hielten den Kreislauf
unglaublich in Trab.
Die Jacke wanderte zuerst in den Rucksack, und später
folgte der dicke Pullover aus Yakwolle, unter dem das
klitschnaßgeschwitzte Sweatshirt zum Vorschein kam. Schwitzen tat man ja immer noch, aber der unermüdliche Wind
hielt die Klamotten einigermaßen trocken, und der Rucksack
spannte jetzt nicht mehr so.
124
Trotzdem: es war eine unglaubliche Qual. Die Beine
schmerzten, die Schultern schmerzten, das Gedärm, die Füße
und, wie wir zu unserer großen Freude sehr bald feststellten,
waren alle Lodges geschlossen: keine Saison !
Welch ein Glück, da hatte sich der Expeditionsleiter verplant. Keine Unterkunft, kein Essen, keine Freude, keine Kraft.
Genau die richtige Teststrecke für zwei ausgehungerte europäische Survival-Spezies auf Entdeckungsreise. Ein kleiner Wermutstropfen aber war, daß wir aus Eigennutz vorgesorgt und
uns reichlich mit nahrhaften MAGGI-Brühwürfeln eingedeckt
hatten, denn da konnte einfach kein richtiger Hunger aufkommen, wies mich der von diesen Unbilden unbeeindruckte
Teamleiter unwirsch zurecht, als ich auf kleine Unstimmigkeiten zwischen seiner geschönten Theorie und der eindeutigen und unwiderlegbaren Praxis hinwies.
Rebellion am Oberlauf des Ganges !
Irgendwie brachte ich wohl noch nicht das richtige Verständnis für echtes Abenteuer auf. Das sah in Filmen immer
viel einfacher aus.
C a 2-3 Stunden in der mondähnlichen Landschaft waren
vergangen, als wir zu unserem Erstaunen auf Menschen trafen.
Vor einem weißgekalkten steinernen kleinen Dreckloch von
Hütte mit den Abmaßen einer Abstellkammer lauerten zwei
volltrunkene Brandy-Hindu-Himalayasoldiers der heroischen indischen Gebirgsarmee. Welch eine Abwechslung für sie: Weiße
und zwar vollkommen nüchterne !
Dem Delirium Tremens nahe, versuchte der eine torkelnde
Saufbruder uns in unverständlich sabberndem Englischgelalle
beizubringen, wir hätten sozusagen den Sonderauftrag dort zu
bleiben und ihnen Gesellschaft zu leisten. Die Strecke, die wir
vor uns hätten, wäre ihrer Meinung nach sowieso so schlecht,
125
das Wetter und die Menschen auch und sie wären soooo alleine
hier draußen. Er müsse nur mal schnell zurückwanken und in
einem nahegelegenen Dorf den leergesoffenen Plastikkanister
mit Dröhnfusel ‘Spiritus Sancti’ auffüllen, dann könnten wir alle
unheimlich abfahren, fuchtelte er eindringlich mit seinem alten
Karabiner vor unserer Nase herum. Oh, Mann. Das hatte uns zu
unserem Glück gerade noch gefehlt. Wir waren richtig glücklich,
daß uns diese Ehre zuteil wurde.
Da die ‘Spezialeinheit’ partout kein Interesse zeigte uns gehen
zu lassen, versicherten wir, wir würden nur mal schnell gucken,
ob hinter der nächsten Wegbiegung tatsächlich das Ende der
Welt zu finden sei, wie man uns erzählte, und wir wären gleich
wieder da. Ja, er könne schon mal für Nachschub sorgen.
Wir sollten aber bloß vorsichtig sein !
D amit machten wir uns aus dem Staub und waren nicht mehr
gesehen. Die feuchtfröhliche Episode kostete uns allerdings
eineinhalb Stunden unserer kostbaren Zeit. Schließlich mußten
wir zusehen, die Strecke hin und zurück in fünf Tagen zu
schaffen, damit wir den Bus nicht verpaßten. Da hieß es Tempo
zulegen, denn auf jeden Fall wollten wir eine Unterkunft für die
Nacht finden.
Weiter und stetig bergauf marschierten wir auf der Straße
durch eine bisher noch recht eintönige Landschaft gen Norden,
unserem schneebedeckten Ziel entgegen. Die Berghänge um
uns herum waren in dieser Höhe dicht mit Nadelhölzern bestanden, links von der Straße, tief unter uns, floß träge das
blaugrüne Wasser des Ganges in Richtung Süden. Ab und zu
standen kleine Tempelchen am Wegesrand, wo die alljährlich
nach Gangotri pilgernden Gläubigen ihre Opfergaben hinterlegten oder Gebetsfahnen aufhingen. Menschen sahen wir keine,
nicht mal Dörfer an den Hängen.
126
Bald wurde mir die Schlepperei einfach zu bunt. Gewissensbisse quälten mich, mein Hab und Gut so im Stich zu lassen, aber
ich mußte mich leider, leider von einigen Sachen trennen - da
half nichts. Wir stoppten, und ich begann den Rucksack zu
durchwühlen. Es mußte was möglichst Schweres sein. Ich
suchte und suchte ... nein, nein, dies nich’ und das auch nich’ ...
nein ... und jenes hier ganz bestimmt nicht.
Aber, Mann, diese wahnsinnig große Familienflasche Sonnenmilch, die konnte ich bei der Kälte ganz gewiß nicht gebrauchen,
und sie war verhältnismäßig schwer: immerhin 370g !
Sorgsam versteckten wir den ausgewählten Kandidaten hinter einem Felsen vor den Blicken herumlungernder Sonnenmilchdiebe, um ihn auf dem Rückweg wieder einzusammeln,
und dann setzten wir wieder einen Fuß vor den anderen...
D a wir, wie gesagt, nichts weiter zu essen dabei hatten,
mußten die verfeuerten Mineralien, Vitamine und Kohlenhydrate ja irgendwie anders wieder aufgefrischt werden. Wir
ernährten uns natürlich nicht Rüdiger-Nehberg-like von Kakerlaken, Regenwürmern, Spinnen und dergleichen, sondern vertrauten voll und ganz auf die zehn Röhrchen energiespendender
ALDI-Multivitamintabletten, die wir nebst einer Packung
MINALKA-Mineraltabletten im Gepäck mitführten.
Immer wenn irgendwo Wasser in Reichweite war und die
Wasserflasche leer, trat der Wasserfilter in Aktion. Eine Ladung
Tabletten in der Wasserflasche aufgelöst und weiter. Das half
ganz gut, konnte aber den aufkeimenden nagenden Hunger
nicht vertreiben.
S tundenlang hatten wir uns nun schon durch das Gebirge
gearbeitet, trafen auf den ersten Schnee, und als es dunkler und
dunkler wurde und immer noch keine menschliche Ansiedlung
127
gefunden war, setzte zu allem Übel Schneefall ein, und es
dauerte gar nicht lange, da verwandelte sich das Ganze in einen
äußerst heftigen Schneesturm, der einem alles abverlangte. Wir
wateten bald bis zu den Knien im Schnee und konnten in dem
wilden Schneegestöber kaum mehr die Hand vor Augen sehen.
So ging es wieder stundenlang weiter, und irgendwann mochte
ich nicht mehr, war vollkommen ausgezehrt - fix und alle. Meine
Beine spielten verrückt, und ich bat Winfried in alter Indianermanier „laß mich hier sterben. Kein Schritt mehr. Begrab mich
an der Biegung des Flusses“.
Zur Erholung und um eine Besserung des extrem miesen
Wetters abzuwarten legten wir eine kleine Pause ein, stellten
aber fest: Es wurde immer schlimmer. Außerdem kroch einem
die Kälte bis in Knochen, blieb man nicht in Bewegung, denn
unsere Klamotten waren total durchgeweicht, und ich hatte
zusätzlich das Problem, daß auch meine Strümpfe und Turnschuhe klitschnaß geworden waren, was zu weiterer Blasenbildung unter den Fußsohlen führte.
Es war die Hölle. Hieronymus Bosch, die Todgeweihten
grüßen dich !
Voller Verzweiflung - ich, weil ich einfach nur verzweifelt war
und Rocky aus Angst, mich eventuell tragen zu müssen; denn
dann hätte er seine Sonnenmilch ja auch noch irgendwo in der
Landschaft verstecken müssen - kramten wir die derben Bundeswehr-Zeltplanen raus, die wir uns zum Schutz gegen den
Schnee überhingen. So präpariert stapften wir in der Finsternis
als der Welt einzigartiges fluchendes Zeltplanduo durch die
Gegend, bis wir gegen 22:00 Uhr plötzlich aggressives Hundegebell vernahmen !
Hunde bedeuteten bösartige Bißwunden oder aber menschliche Ansiedlungen UND bösartige Bißwunden, denn die in den
128
Dörfern des Himalaya als Wachhunde eingesetzten großen
tibetischen Berghunde reagieren meist sehr ungehalten auf
unangemeldete Besucher. Langsam arbeiteten wir uns vor in
Richtung des Unruhestifters, denn lieber gebissen als erfroren
oder verhungert. Links von uns
stand plötzlich ein mannshoher Maschendrahtzaun, und
schemenhaft konnten wir einen Menschen in dem Schneetreiben erkennen, der sich mit
einem Hund an seiner Seite
auf uns zubewegte.
Wir müßten noch EINEN Kilometer weiter, dort wäre ein
Dorf und wir könnten übernachten, erzählte er uns. EINEN Kilometer ! Wußte der
Mensch, was er da sagte. Ich
mochte nicht mal mehr einen
Meter gehen. Aber es schien
keine andere Möglichkeit zu `Rocky Horror Picture Show´
geben.
Weiter kämpften wir uns durch die naßkalte weiße Wüste,
und plötzlich war da ein Licht in der Finsternis, das wir ziemlich
erschöpft anpeilten. Als wir eine Weile darauf zugegangen
waren, konnten wir eine einstöckige halbverfallene Hütte erkennen. Aus einem Spalt in der unteren Etage drangen Stimmen und das wundersame Licht.
Rocky klopfte an, öffnete die knarrende kleine Holztür, und
wir beide erstarrten buchstäblich mit den Worten „Ooooh
Gott“: Sechs äußerst verwegen aussehende bewaffnete Bandi129
ten hockten in dem kleinen Raum am Boden um ein knisterndes
Feuer und blickten mißtrauisch auf die beiden im Eingang stehenden sprechenden Schneemänner.
Totenstille.
Nach dem ersten Schreck auf beiden Seiten versuchten wir
uns miteinander zu verständigen. Schwerstes Hindienglisch - ich
verstand kein Wort, doch Rockys Ohren waren da schon besser
geschult, und so führte er die Verhandlungen. Auch diese
Gauner rieten uns, weiterzugehen bis zum nächsten Dorf, hier
wäre kein Platz mehr wie wir ja sehen konnten, und es wäre
auch nicht mehr sehr weit.
Da ich aber bereits das Essen erspäht hatte, das auf dem Feuer
brutzelte, hätten mich dort keine zehn Pferde mehr weggebracht. Ich starrte nur gierig auf den großen Topf und drängte
meinen Schicksalsgefährten, den Brüdern klarzumachen, daß
ich mich notfalls am Gebälk festsaugen würde, wenn irgendwer
versuchen sollte, mich von hier wegzuschaffen. Und dem Himmel sei Dank - wir durften dableiben !
A lso krochen wir nach sage und schreibe zwölf Stunden
anstrengendstem Fußtraining in die kleine wohligwarme Butze
und stellten unsere Schuhe zum Trocknen vor den kleinen
Lehmofen, auf dem immer noch das Essen köchelte. Wir
brauchten gar nichts zu sagen - man sah uns wohl an, daß wir
den ganzen Tag nichts gegessen hatten und notfalls die gesamte Belegschaft verspeisen würden.
Während wir den interessierten Gestalten erzählten, was
wir zur falschen Jahreszeit, bei solchem Wetter und ohne
geeignete Kleidung am Ende des Universums zu suchen hatten, häufte man uns einen Berg nahrhafter Standardspeise auf
einen Blechteller: Dhal Bhat - Reis mit Linsenbrei und etwas
Gemüse.
130
Rocky hatte sich bereits hungrig den Mund vollgestopft, als
ich meinen Teller sehnsüchtig in Empfang nahm, und raunte
mir mit blutunterlaufenden Augen heiser mampfend zu "Oh
Mann, Mike, iß lieber nichts davon ! ", denn das Zeug war so
dermaßen scharf gewürzt, es krempelte einem regelrecht
den leeren Magen um.
Aber ich hatte tierischen Hunger und versuchte mein Glück
mit der heißesten Feuerspeise aller Zeiten, mußte jedoch
kurze Zeit später aufhören: Schweiß troff in Strömen, die
Nase lief, die Zunge war taub, Mund und Magen brannten
höllisch - ich mußte fast kotzen. Rocky wollte entweder angeben, oder bei ihm überwog der Hunger, denn er schaufelte die Gastgeber dämlich angrinsend unaufhörlich Löffel um
Löffel in sich hinein.
Wie konnte der bloß sowas essen, fragte ich mich ?
Überwältigt von der schlechten Qualität eines europäischen
Mittelklasse-Magens kam man meinem geröchelten Wunsch
nach ungewürztem Essen nach, und ich erhielt einen neuen
Teller voller Reis mit Zucker, den ich nun ohne etwas zu
schmecken hinunterschlingen mußte.
N ach dem Essen saßen wir noch eine ganze Weile am
warmen Ofen, bis sich die versammelte Gesellschaft gegen
Mitternacht langsam anschickte, die `Schlafgemächer´ im oberen Stockwerk der Baracke aufzusuchen.
Man bot uns ebenfalls an, zusammen mit den anderen in
einem Raum zu schlafen, wohl weil es dann wärmer war,
aber wir lehnten dankbar ab und zogen uns sicherheitshalber
in eine eigene kleine Kammer von ca. 3 x 3 Meter mit Lehmfußboden und klappriger Zweiflügeltür zurück.
Vielleicht würde man ja in der Nacht über uns herfallen, um
an Geld und Ausrüstungsgegenstände heranzukommen, die
131
etwas Geld brachten ? Man konnte in diesen abgelegenen
Gegenden nie wissen was passierte. Etwas mißtrauisch `verbarrikadierten´ wir daher die Tür mit einer Stahlkette und
stellten die Rucksäcke als Hindernis davor.
Eine leere Eintopfblechbüchse und ein Schlüsselbund dienten als Alarmglocke, falls diese Kerle des Nachts versuchen
würden, uns hinterhältig zu meucheln.
D ie Kälte in dem Raum war unglaublich, und der Wind pfiff
durch jede Ritze. Uns schlotterten die Knochen, als wir uns
zum Schlafen umzogen, und ich dachte laut darüber nach, wie
man mich wohl morgen vom Boden lösen würde, an dem ich
während des Schlafes festgefroren war, denn wir mußten mit
den nicht sehr guten Schlafsäcken auf dem nackten Untergrund liegen - Schaumstoffmatten hatten wir keine. Wegen
der extremen Kälte und um meine verkrampften Beine für
morgen fit zu haben, rieb ich sie mit durchblutungsfördernder
ABC-Salbe ein.
Welch eine gute Idee - meine während des Tages malträtierten Gehwerkzeuge fingen an zu glühen !
Geistesgegenwärtig kramten wir schließlich die Taschenwärmer heraus und legten uns zur wohlverdienten Ruhe. Den
dicken Wollpullover hatte ich mir als Unterlage in den Schlafsack gepackt, aber ich brachte trotzdem die ganze Nacht
kein Auge zu. Es war mehr ein bibberndes Dahindösen, denn
die beiden Taschenwärmer, die ich mir an die Hals- und zwischen die Beine an die Beinschlagader geklemmt hatte, gingen
andauernd aus, und durch den eindringenden Nachtfrost wachte man sofort wieder auf. Dann hieß es Taschenlampe an und
versuchen, die Dinger schlotternd wieder in Gang zu bringen
und das möglichst schnell.
Um deren Effektivität zu steigern, hatte Rocky bei seinen
132
Taschenwärmern sogar die Stoffummantelung abgerissen,
brannte sich dadurch aber des Nachts prompt ein Loch in
den Schlafsack.
Gegen 06:00 Uhr wachten wir klitschnaßgeschwitzt auf -
so sehr hatten wir gefroren - und die Nacht war überstanden. Trotzdem machte keiner von uns irgendwelche Anstalten sofort aufzustehen, denn außerhalb der nichtsnutzigen
Schlafsackhülle war es ja noch ungemütlicher. Erst gegen 08:00
Uhr blieb uns keine andere Wahl, als sich draußen Stimmen
und Schritte bemerkbar machten.
"Hello !" klopfte es an der Tür. "Hello ! .... Breakfeast ?",
tönte es erneut und jemand rüttelte nun an ihr, um sie zu
öffnen, und nach einem verdutzten "Uh !" setzte wieherndes
Lachen ein, als die Leute belustigt feststellen, daß wir das
Ding aus Sicherheitsaspekten verbarrikadiert hatten.
Schließlich stellten wir betreten fest: Wir waren in ein Militärlager geraten, und die unrasierten Rauhbeine waren sehr
gastfreundliche Soldaten der indischen Armee, die uns zum
Frühstück mit einem marmeladegefülltem Eierkuchen und
reichlich Tee versorgten.
Das war zwar peinlich, aber wie sagte schon der sonst
nicht sehr bekannte Harry Strelitz aus Lech am Inn: "Lieber
zweimal peinlich als einmal tot !"
Schnell hatten wir uns angezogen - es war immer noch
arschkalt -, das warme Frühstück wurde gierigst hinuntergeschlungen, und danach ging es im knirschenden Schnee auf
die Freilufttoilette zum Eiswürfelkacken. Es herrschte strahlender Sonnenschein, und die schneebedeckte Landschaft glitzerte und funkelte trügerisch in der klirrenden Eiseskälte.
Rocky schoß noch ein, zwei Fotos von unseren Helfern vor
133
Unsere indischen Retter, die nächtlichen `Gangster´
134
der Unterkunft, und dann trabten wir wieder frierend und
schwerbepackt, unter freudigen Abschiedsgrüßen durch
Schnee und Eis. Mann, was waren wir Männer - wir trotzten
Tod und Teufel.
D as Schicksal kannte kein Erbarmen mit zwei mitteleuro-
päischen, suicid-gefährdeten Extrem-Masochisten der besonderen Art und so mußten wir uns gleich zu Beginn des neuen
Tages über eine ziemlich abartige Wegstrecke bergauf kämpfen - Quäl, quäl !
Und das mir.
Nur gut, daß ich meine Beine am Morgen nochmals mit der
berühmt-berüchtigten ABC-Salbe behandelt hatte. Das half wenigstens die zittrigen Muskeln aufzulockern, und die Beine
schmerzten nicht mehr so enorm wie am Vortag.
Allerdings wurden meine Füße kaum mehr trocken, denn
beim ewigen Stapfen durch den Schnee saugten sich weiterhin Wollsocken, Schuhe und nun auch noch die Hose mit
Wasser voll. Um diesem Dilemma entgegenzuwirken, hingen
das unbenutzte Paar Schuhe und die Ersatzsocken hinten am
Rucksack, damit die Sonne während des Tages ihren Dienst
tun konnte. Doch das half wenig; sämtliche Körperflüssigkeiten
schienen unheimlichen Spaß daran zu haben, sich in den blasigen Ausstülpungen meiner Füße anzusammeln.
Wie am Vortag, so wanderten wir auch heute wieder stundenlang, ohne auch nur eine einzige Menschenseele zu treffen, durch eine absolut karge und spacige Gebirgslandschaft.
Unsere zwischendurch oral verabreichte Nährstofflösung hielt
uns mehr oder weniger am Leben, während wir versuchten
den Berggipfeln auf den Leib zu rücken. Immer noch nichts
richtiges zu essen.
Wie sollte das bloß weitergehen ?
135
Es mußte hier doch irgendwo ein Dorf auf unserem Weg
liegen, wo wir was zu mampfen abstauben konnten. Doch
wir fanden nichts dergleichen.
E rst als wir uns am Nachmittag im Schweiße unseres Ange-
sichts einen Berg hochgearbeitet hatten, lag plötzlich ein weites karges, aber sonnenbeschienenes Tal zu unseren Füßen,
in dessen Mitte die heiligen Wasser des Ganges glitzerten, und
am gegenüberliegenden Berghang klebten dichtgedrängt die
Holzhütten eines Dorfes. Auch direkt unter uns waren ein
paar Hütten in Sicht. Das erschien uns als Lichtblick. Auf stark
vereisten Pfaden mühten wir uns den steilen schneebedeckten Hang hinunter, um den Weg abzukürzen, und legten uns
dabei wegen der enormen Glätte etliche Male auf die Nase.
Nachdem wir die Hälfte der Strecke bewältigt hatten, kam
uns ein kleiner einheimischer Junge entgegen, der uns freundlich lächelnd den sicheren Weg nach unten zeigte.
Das Dörfchen, wo wir eintrafen, war jedoch absolut tot,
sah aus wie in einem Western von Sergio Leone. Aber immerhin gab es dort die Möglichkeit, in einer als Tee-Shop
getarnten Bretterbude einige warme Milchtees in uns hineinzuschütten, denn wie jeder weiß: "...etwas Warmes braucht
der Mensch." Zu essen gab es jedoch absolut nichts, und daher setzten wir uns bald wieder in Bewegung.
E s wurde schließlich dunkler und dunkler, so daß wir be-
schlossen, noch maximal eine Stunde zu laufen, denn dann
wäre die Zeit gekommen, uns eine Unterkunft für die Nacht
zu suchen. Zu unserer großen Freude fanden wir unterwegs
eine im Dreck liegende alte versiffte Eintopfdose, die wir mitnahmen. Zu Tieren verwahrloste Hungerleider wie wir konnten ja nie wissen, wozu man die noch brauchte ! Vielleicht
136
Nachdem wir über verschneite Wege ins Tal hinabgestiegen waren...
...herrschte eitler Sonnenschein !
137
ließe sich aus den darin angetrockneten Essensresten eine
tolle Suppe kochen ?
Nachdem wir einen Berg umrundet hatten, sahen wir, daß
uns unser Weg über eine Brücke führen würde, die über eine
tiefe und steile Schlucht gespannt war, in deren Tiefe die
tosenden Wasser des Ganges rauschten. Dahinter stand im
Schutz von Nadelbäumen eine kleine weißgekalkte Hütte.
Wir führten wahre Freudentänze auf, bis wir beim Näherkommen feststellten, daß der Teufel seine Hand im Spiel hatte, denn die Tür war leider mit einer dicken Kette versperrt.
Ausgezehrt und vollkommen wirr im Kopf stellten wir Überlegungen an, dort einzubrechen, aber dann siegte die Vernunft, denn neben der Hütte befand sich ein aus Felssteinen
gebauter, offener kleiner Verschlag: die Kochstelle.
N ach gewissenhafter Inspektion des Inneren zogen wir dort
ein, polsterten den Boden mit Tannenzweigen gegen den
nächtlichen Bodenfrost, entrollten die Schlafsäcke, und vor
den Eingang kam eine der robusten Zeltplanen, um den Wind,
wilde Killer-Bestien, Yetis und einer Anstalt entflohene wahnsinnige Massenmörder abzuhalten.
Dann ging die langwierige Suche nach gutem Brennmaterial
los, denn das herumliegende Holz war durch den Schnee
nicht gerade als trocken zu bezeichnen.
Die bereits erwähnte Büchse wurde mit Seife ausgewaschen,
und nach einer guten halben Stunde war der Survival-Feuerstein Marke "Gemeiner Feuerteufel" gefunden, den irgendwer irgendwo verkramt hatte. Natürlich hatten wir auch ein
Feuerzeug im Gepäck, aber lieber wären wir gestorben, als
etwas derartig Lachhaftes zum Einsatz zu bringen.
138
139
Das `Weiße Haus´: Für Normalbürger leider kein Zutritt, also...
...zogen wir ins Obdachlosenasyl...
...zu den Ratten, Würmern und Kakerlaken !
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D ann war schwarze Nacht um uns, und ein `köstliches´
Abendessen brutzelte über dem entfachten Lagerfeuer:
Wassersuppe mit dem feinwürzigen Aroma von MAGGI-Brühwürfeln. Das Herz erfreute sich an der frischen Luft und
kühlen Witterung.
Frage an Rocky: "Meinst Du hier lebt noch jemand ?"
Eine Antwort erübrigte sich, denn ganz plötzlich trat aus
dem schwarzen Nichts ein zerlumpter, als Pilger getarnter
Außendienstmitarbeiter der indischen Philosophischen Fakultät in den flackernden Schein unseres Feuers und konterte
mit der Frage:
"Woher kommt ihr und wo geht ihr hin ?"
Urgh ! Wir zermarterten uns natürlich das Hirn, wo der so
plötzlich herkam und was er wollte. Vorsicht war angesagt !
Rocky: "Keine Panik. Ich bin schon mit ganz anderen Leuten fertigge...."
Ein Pfiff in der Nacht und Stimmengewirr.
Im Nu hatten wir acht bis neun vermummte Gestalten, Typ
`unrasierter fanatischer pakistanischer Freiheitskämpfer´ am
Lagerfeuer sitzen, die den ersten Herrn anscheinend kannten. Oha - unsere Alarmglocken schrillten und Rocky bekam
sogleich eine kleine Anwandlung von Größenwahn, indem er
seine vorige Aussage revidierte:
"Keine Panik. Ich und mein Rasiermesser sind schon mit viel
mehr Leuten fertiggeworden !"
D er herbe Haufen verlangte zu wissen, was zwei geistlose
europäische Narren um diese Jahreszeit in ihrem vereisten
Stammesgebiet zu suchen hatten und warum wir nicht einfach ein Stückchen weitergingen in ihr Dorf, wo wir gemüt141
lich im Warmen übernachten konnten. Wir bedankten uns
herzlichst für soviel Aufmerksamkeit, gaben aber zu bedenken, daß nordische Bleichgesichter Kälte, Hunger und das
Abenteuer liebten und wir eigentlich schon schliefen, was sie
bloß noch nicht bemerkt hätten. Das beruhigte unsere neuen
Freunde, und kopfschüttelnd verabschiedeten sie sich bald
wieder. Natürlich war uns danach etwas mulmig in der Haut.
Aber was sollte man machen ? Wir waren müde und mußten
jetzt dort schlafen, komme was wolle.
D ie eisige Nacht war ohne Zwischenfälle von uns gegangen
und nachdem wir alles gepackt und zum Frühstück ausgiebig
gehungert hatten, verließen wir gegen acht Uhr wehmütig
unsere kleine heimelige Hütte und kämpften uns durch den
festen Schnee immer weiter bergauf.
Ächz, Stöhn !
Die unglaubliche Landschaft entschädigte für vieles, aber mein
Gepäck vermittelte mir mehr und mehr das erdrückende Gefühl eines riesigen nervtötenden Parasiten, der auf meinen
Schultern hockte und den ich bis zur Rückkehr nach Gangnani
nicht mehr loswerden würde. Rocky nahm mir daher den
mitgeschleppten Wasserfilter ab, was immerhin 600g ausmachte, die ich nun nicht mehr schleppen mußte !
I rgendwann gegen Mittag erreichten wir endlich ein Dörf-
chen, in dem ein Häuflein schmutziger Menschen in abgetragenen schmutzigen Klamotten geschäftig zwischen ein paar
ebenfalls schmutzigen und halbherzig zusammengenagelten
Hütten herumwuselte. Dort konnten wir wieder mal Tee
trinken und sogar Nudelsuppe essen ! In einem kleinen
Kolonialwarenholzverschlag, der bis zur Decke mit verstaub-
142
"These Boots are made for walkin´. This is what they are for..."
143
tem Krimskrams vollgestopft war, fanden sich unter anderem auch ein paar Päckchen Kekse und etwas Schokolade,
die wir sofort beschlagnahmten.
Und weiter im Takt.
Ewig lange balancierten wir durch tief in den Schnee eingegrabene vereiste Reifenspuren, was unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, um nicht auf die Nase zu fallen.
Die konnten nur von einem Militärfahrzeug stammen - zu
sehen war allerdings nichts.
Nichts außer Kühen - diese Dörfer schienen alle wie ausgestorben !
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N ach Stunden der Einöde arbeiteten wir uns einen steilen
bewaldeten Hang nach oben, um den Weg abzukürzen, und
plötzlich befanden wir uns in einem verlassen wirkenden Militärlager der indischen Armee. Aber wir hörten Stimmen und
als wir suchten, fanden wir zwei erbärmlich frierende Einzelkämpfer in einem Schuppen am Feuer hockend. Sehr erfreut
hier andere Menschen zu sehen, wurden wir zum Teetrinken
eingeladen und man löcherte uns mit Fragen. Die beiden
erzählten, daß sie auf diesem Außenposten schon seit einigen Monaten alleine ausharrten. Grauenvoll !
Wir wärmten also etwas unsere müden Knochen, kippten
einige Tassen Tee und wollten uns gerade verabschieden, als
die Einsamen den Wunsch
äußerten, von uns abgelichtet zu werden. Dazu mußte natürlich erst einmal die
Sonntagsgalaausgehuniform
angelegt werden, was einige Zeit in Anspruch nahm.
Dann wurde sich zum
Fototermin draußen in Positur gestellt, die Adressen
aufgeschrieben, an die wir
die Fotos schicken konnten und weiter gings den
bewaldeten Hang hinan.
Eine kleine Gruppe indischer Soldaten mit voluminösen Rucksäcken kam
uns schnaufend entgegen
und musterte uns mißtrauSogenannte `Plaudertaschen´
isch: eine Grenzpatrouille
145
auf dem Weg zurück zur Einheit. Am oberen Ende des Hanges angekommen befanden wir uns wieder auf der Straße,
die nun immer steiler wurde, je mehr wir uns Gangotri näherten.
K urz vor Gangotri trafen wir zu unserem Erstaunen eine
Gruppe ausgezehrter Yogis, die Feuerholz gesammelt hatten
und nun auf der Straße hockten und Pause machten. Außer
einem Latz zwischen den Beinen und einem dünnen um die
Schultern geschlungenen Umhang trugen diese Gesellen keine weitere Kleidung bei der Kälte und großartig zu frieren
schienen sie auch nicht dabei. Respekt, Respekt !
Erste Frage von Ihnen: "Do you have rice ?"
Daraufhin bekam ich fast epileptische Anfälle.
"Waaaas ?! Die haben auch nichts zu essen ??? Ich kotze
gleich !!! Hunger !!!"
Trotzdem boten wir ihnen unverständlicherweise an, zusätzlich zu unserem Gepäck die Kleinigkeit an ganzen Baumstämmen, die sie auf der Straße abgelegt hatten, auf unseren
Schultern nach Gangotri zu schleppen. Wahrscheinlich waren
wir durch den akuten Nahrungsmangel bereits so dermaßen
geistig verwirrt, daß uns sowieso alles egal war.
I n Gangotri angekommen verließen uns nach und nach die
Yogis, um ihre Unterkünfte aufzusuchen, bis auf den, dessen
Jahresvorrat an Holz wir mit uns herumschleppten.
"Das gibt´s doch nich´ !" fluchten wir immer wieder leise
vor uns hin. Hatten wir uns zu allem Übel also auch noch den
richtigen ausgesucht. Durchs ganze Dorf mußten wir mit dem
Zeug, da der freundliche alte Herr wirklich das letzte Apartment vor der Autobahn bewohnte !
Aber dann konnten wir uns mal so richtig satt essen. In
146
Holzauktion
seiner ungeheizten (!) Hütte angekommen, die zum Ashram
"Sivananda" gehörte und die er mit einer nahrhaften Proteinbombe - einem kleinen schwanzamputierten Affen - teilte,
bat er uns Platz zu nehmen, kramte einen stark beanspruchten Kerosinkocher und verschiedene Zutaten aus den bis zur
Decke gestapelten großen NESTLE-Milchpulverdosen und
Holzkisten im hinteren Teil des Raumes hervor und fing an,
in einer kleinen Pfanne eine Handvoll Erdnüsse zu rösten, die
er in aller Ruhe zwischen uns aufteilte. Dazu gab´s süßen
Milchtee. Aaaah, die Vorspeise !
Plötzlich erzählte er uns, daß er sein Nirvana dadurch zu
erreichen gedachte, daß er sich ausschließlich von Erdnüssen
und Milchtee ernährte.
Pruuuust !!! Wie bitte ???
"Sorry, but I have a question. We get something to eat ?
You have Rice ? Knuuurrrrr ! Hungry ! You understand ?"
147
E r beruhigte uns und sagte, das wäre tatsächlich nur die
Vorspeise - sozusagen ein Appetizer. Nachher gäb´s was Deftiges, bloß die Zubereitung dauere halt etwas länger. Mann,
da waren wir aber schwerstens beruhigt und schraubten die
entstandene körpereigene Produktion von nervösem Angstschweiß und kannibalistischem Gelüsten sofort zurück.
Mit ruhigem Gewissen konnten wir uns nun die verschneite
Gegend angucken. Es war total abgefahren. Gangotri, das auf
einer Höhe von 3200m liegt, besteht aus lauter kleinen Hütten, die auf und zwischen großen Findlingen gebaut sind. Überall führten Brücken über die vielen kleinen Sturzbäche und
vereisten Wasserfälle, die sich, je weiter sie dem Tale
entgegenflossen, zum mächtigen und im ganzen Lande verehrten heiligen Ganges vereinten.
Es rauschte und brauste nur so. Im Sommer mußte es dort
wirklich toll aussehen, denn dann war es warm, und viele
asiatische Pilger und internationale Globetrotter machten in
den Ashrams Station ! Jetzt aber war es saumäßig kalt, ungemütlich und wie ausgestorben - sieht man einmal ab von unserem Vollmilch-Nuss-Überlebenskünstler sowie dem Verwalter der hiesigen Unterkünfte und einigen selbstkasteienden
High-End-Edel-Yogis, die sich bei dieser streßenden Kälte in
versteckten Eremitenhöhlen warmmeditierten.
Es fing auch bereits wieder an zu schneien, und der Himmel
bedeckte sich zusehends.
D as Wetter versprach also nichts Gutes, doch Rockys
Leistungsdrang schien seine Sinne benebelt zu haben, und ich
verstand die Welt nicht mehr. Er wollte unbedingt weiter
nach dem gletscherbewehrten Gaumuk.
Warum ? Gab´s da etwa noch mehr zu essen ?
Spaß bei Seite. Ich konnte das ja verstehen - denn schließlich
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149
Das im Schnee versunkene Gangotri
Auch wenn man die Kälte nicht wirklich fühlt,...
...läuft es einem beim Anblick dieser Bilder doch eiskalt den Rücken runter
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wollte ich ja selbst dorthin. Doch wegen meiner mit Blasen
übersäten Füße lief ich nur noch wie auf kochend heißem
Himbeergelee - ohne Zucker !
Nach seinem genialen und wohldurchdachten Plan sollte ich
halt in Gangotri warten, bis er seinen todesverachtenden Mut
bewiesen hatte und eventuell als Held der Arbeit wieder zurückkam. Das konnte doch wohl nur ein alberner Scherz
sein - Ha ha ha !
Bis jetzt war eigentlich alles entgegen seinen Vorstellungen
verlaufen, und daher zweifelte ich in diesem Moment tatsächlich an seinem Verstand. Ich war auch gar nicht gewillt
alleine hierzubleiben, in dieser Kälte, mit kaputten Füßen und
ständigem Durchfall - ich wollte zurück !
Also versuchte ich ihn darüber in Kenntnis zu setzen, daß
wir ein Club-Trek-Adventure-Survival-Spezial für zwei Personen buchten und er sollte mal auf sein Ticket gucken, denn
da stand ganz eindeutig DUO-DESASTER und nicht SUICIDEEGO. Teamgeist war in dieser Situation gefragt, sonst würden
wir katastrophale Kurseinbrüche hinnehmen müssen.
Als die Eingeborenen von seinem Plan hörten, rollten sie
unheilvoll mit den Augen und rieten ganz energisch davon ab,
da Schneestürme und Erdrütsche den Weg dorthin lebensgefährlich machten. Rocky hielt sie für arme ungebildete Irre,
die einfach nur viel zuviel Angst hatten, und wollte den nächsten Tag abwarten...
A m späten Nachmittag dann die Freßorgie: Ein zerbeulter
Edelstahlteller mit einem halben Meter Durchmesser war gefüllt mit einem gigantischen feinkörnigen Reis-Himalaya, durch
den sich ein krätiger grüner Dal-Strom gen Tellerrand wälzte
und dicke Gemüsefindlinge, die überall herumlagen, wurden
warm davon umspült.
151
Bo äeehj ! Ham wa alles weggeputzt, denn wer wußte schon,
wann´s wieder was gab !
Dann schlafen. Wenigstens drang kein Wind, der einen die
ganze Nacht über piesackte, in das Innere der Holzbaracke,
in die wir einquartiert wurden, aber es war trotz der zusätzlichen Wolldecke, die wir bekamen, eine ziemlich eklige Nacht,
während der sich das Wetter extrem verschlechterte.
Der Himmel sah düster aus, und Unmengen Schnee fielen
vom Himmel.
Der "Is cool man"-Yogi-Man
R ocky hatte ein Einsehen - wir gingen zusammen zurück.
Als Wegzehrung bekamen wir auf Wunsch einige Dschapatis,
dünne ungesäuerte Fladenbrote, in die Hand gedrückt und
einen Brief, den wir in einem Nachbardorf abgeben sollten.
Würden wir erledigen ! Zum Abschied schenkten wir den
152
Leuten dort 150 Rupies und der Yogi bekam meine Stopuhr,
die ihm so gefallen hatte. Unser Yogi mit den glänzenden
Augen und seinem frechen Affen - ich würde ihn nicht vergessen.
Glaube, Liebe, Hoffnung. Wir glaubten an uns, liebten das
Leben und hofften den Rückweg in zwei Tagen zu machen.
Bergab ging es bekanntlich immer schneller. Mit Blasen an
den Füßen, die bereits die Fünfmarkstückgröße überschritten
hatten und tierisch schmerzten, war ich mir da aber nicht
mehr so sicher. Viel Zeit holten wir jedoch dadurch heraus,
daß wir nicht immer den Serpentinen folgten, sondern direkt
die Hänge hinunterkraxelten, was wegen der Steilheit und
nassen Felsen oft nicht ganz ungefährlich war.
B ei Durchquerung eines menschenleeren Dorfes heftete
sich zu allem Ärger ein wegelagernder, kalbgroßer tibetischer
Berghund, der die Dschapatis gerochen hatte, an Rockys Fersen und zwickte ihn andauernd mit seinen Zähnen ins Bein,
um die seiner Meinung nach berechtigte Forderung nach einem Zollfreßchen zu unterstreichen.
Und da ich mich als `Hüter der Teigwaren´ weigerte, auch
nur eine Krume des jüngst erworbenen Nahrungsvorrates
aufzugeben, nötigte mich Rocky wütend, seinen Teil der Lebensmittel an dieses Mistvieh zu verfüttern, um es loszuwerden, was mit zusätzlichem Steinwurf auch klappte.
Das Vieh war echt bösartig !
War das Dorf deswegen leer ?
Dann kam der Heimatort des Briefempfängers in Sicht, und
schon baute sich der ätzende Schneeberg, den wir auf dem
Hinweg hinuntermußten, vor uns auf. Jetzt hieß es eine volle
Stunde lang im Zickzack dieses Ungetüm zu erklimmen.
Vorher aber präparierte Rocky noch einmal seine vollkom-
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men klammen Lederstiefel in Ermanglung anderer Hilfmittel
mit dem Babypo-Pflegeprogramm aus dem Hause NIVEA. Das
frischte den Teint etwas auf und imprägnierte gleichzeitig.
Meinereiner machte in der Zwischenzeit verschiedene Atemund Augenrollübungen und intonierte immer wieder das geistreinigende Hyper-Power-Mantra "Ich willlll !...jaaa...ich willll,
ja, ja, ja,...ich will, will ???...nein,...nein, ich muß...", um mich
mental auf die große Herausforderung vorzubereiten
Ich rutschte diesmal jedoch trotzdem öfter aus als beim
Abstieg, was mich ziemlich schnell zum heulend-keifenden
HB-Männchen mutieren ließ. Ich fluchte und jammerte wie
blöde, was wiederum Rocky in Rage brachte. War mir aber
scheiß-, scheiß-, scheiß- und nochmals scheiß- ... egal !!!
"Ich will auch immer lieb und artig sein, aber bitte bitte
lieber Gott, Allah, Shiva, Buddha, Thor oder wie auch immer
Du heißen magst, mach, daß dieser Streß vorbei ist und ich
meine Füße und überhaupt meinen ganzen gemarterten
Metabolismus ausruhen kann..."
Weiter, weiter, weiter... vorbei an der Hütte, über die Brükke und weiter...durch dichten Wald... - immer gen Süden,
Stunde um Stunde.
Unterwegs Mittagessen bei dem einer Irrenanstalt entflo-
henen Kommandeur der indischen Gebirgstruppen - draußen
in der Kälte, im einsetzenden Schnee unterm Sonnenschirm.
Wollte wohl zeigen was Inder für Schwachköpfe sind !
Wir wurden von seinen gequält wirkenden Adjudanten bedient wie die Könige, und während ich zitternd vor Kälte und
völlig ausgehungert das leckere Essen in mich hineinschaufelte,
betätigte sich mein Weggefährte als Alleinunterhalter.
Rocky und Mister A.K.Narain spekulierten z.B. über moderne Kriegsführung im Zeitalter der Atombombe, entwik-
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Einladung zur indischen Militärspeisesendung "Der Preis is´ Eis"
kelten Strategien über einen modernen Himalayagrenzkrieg
zwischen Indien und China und bewerteten den Zustand der
indischen Armee durch Inspektion der Rucksäcke, mit denen
seine Soldaten durchs Gelände stapften. Die sahen zwar
hammermäßig schwer aus, waren aber in Wirklichkeit leicht
wie MILKY WAY - die schwammen sogar in Milch !
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Das alles endete damit, daß sein Essen nicht nur eiskalt und
bretthart, sondern auch noch auf dem Teller festgefroren
war, als er einen Bissen zu sich nehmen wollte. Mühsam
mußte er es daher mit der biegsamen India-Qualitäts-Alugabel "Shiva´s trident strikes back" herunterkratzen.
Nach eineinhalb Stunden verabschiedeten wir uns und machten uns wieder auf den Weg, denn es gab noch viel zu tun. In
der Dunkelheit erreichten wir endlich ein Militärlager der Tibetan Mountain Militaries, wo uns die sehr hilfsbereiten Soldaten
mit einem prima Abendessen versorgten und erlaubten, in
ihrer Barracke am warmen Ofen zu übernachten. Wahnsinnig surreal und urgemütlich.
A ufstehen mußten wir aber schon wieder mitten in der
Nacht um fünf Uhr und nach der Morgentoilette spätestens
um sechs Uhr weiter, denn erstens durften die Vorgesetzten
unserer tibetischen Helfer keinen Wind davon kriegen, und
dann hatten wir auch noch viel vor.
Heute sollte und mußte der letzte Tag sein. Am Nachmittag
kam bereits der Bus, der uns zurück in die Zivilisation brachte. Den durften wir auf keinen Fall verpassen - trotz nassen
und defekten Schuhwerks, das mittlerweile aussah wie die
Landschaft, kalten und demolierten Füßen, Regenwetter und
den beiden Posten vom ersten Tag, die sich so dermaßen
betrunken hatten. Um unseren Reisezeitplan nicht zu gefährden, schlichen wir heimlich, still und leise an deren Hütte
vorbei.
Die letzten Stunden eierte ich nur noch wie in Trance auf
meinen wehen Füßen vorneweg, mit starrem Blick geradeaus. Gehen, gehen, gehen, bloß nicht stoppen und auf gar
keinen Fall an die Schmerzen denken. Nichts anderes exi-
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Wie war das ? Sich Regen bringt Segen...?
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stierte mehr für mich: Schmerzen in den Schultern und
Schmerzen in den Füßen und vor mir lag das Nirvana - der
Busstop. Dort mußte und wollte ich hin; so schnell als möglich und dann nur dasitzen und nicht mehr laufen müssen.
Während des Schlußschlurfspurts entwickelte sich noch folgender Dialog, der einen guten Einblick in die feinfühlige Seele
eines körperlich Geschundenen gibt:
"Hey Mike, halt mal an ! Ich mach mal ´n nettes Erinnerungsfoto."
Latsch, latsch, latsch...
"Eh, dreh´ dich doch mal um !"
Latsch, latsch, latsch...
"Maaahhheeiiike, lach mal !"
Latsch...
"Wenn ich..."
Latsch, latsch...
"...jetzt anhalte,..."
Latsch, latsch...
"...dann werde ich..."
Latsch, latsch...
"...nie wieder weitergehen können."
Latsch, latsch, latsch...
A ls in der Ferne plötzlich ein ganz offensichtlich fahr-
taugliches Schrottauto mit einigen fröhlich aufgedreht kreischenden Indern auftauchte und wenige Zeit später an uns
vorbeibretternd in den unendlichen Weiten dieses irdischen
Weltenraumes verschwand, hatten wir es fast geschafft. Aber
mal ehrlich: hätten die nicht vorher kommen und uns mitnehmen können ?
Am Busstop angekommen, stürmten wir gleich die kleine
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Teestube, wo wir im Warmen auf den Bus warten konnten.
Es war herrlich, wir hatten´s geschafft ! Endlich waren wir
wieder zurück. Jetzt freuten wir uns nur noch auf Sonnenschein und Wärme in Rishikesh. Sehnsüchtig beäugten wir
immer wieder die scharfe Straßenkurve, hinter der der Bus
auftauchen müßte. Und soweit ich mich nach sechs Jahren
daran erinnere, dauerte es ganze zwei Stunden, dann röhrte
qualmend der Bus heran, entlud seine menschliche Ladung
und nahm uns mit zurück nach Uttarkashi.
Die Verbindung mit der Außenwelt naht...
D er Fahrer des Busses war ein ruhiger Geselle - nicht so
ein hirnloser Raser wie auf der Herfahrt. Mit Bedacht lenkte
er die Karre durch alle Hindernisse und Baustellen, die durch
die Erdrutsche entstanden waren. Trotzdem sollte man an
manchen Stellen nicht aus dem Fenster blicken, vor allem
dann nicht, wenn der Meister der Serpentinen die Lust verspürte einen anderen - für seine Begriffe - `Schleicher´ zu
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überholen, oder wenn an einer scharfen Kurve Gegenverkehr kam. Dann brodelte es schon mal in der Unterhose,
und die Sitzbank wurde mit einem Feuchtfilm versehen.
Auch Rocky hatte so ein Aha-Erlebnis.
Als wir uns einer Kurve näherten und der Fahrer überhaupt
keine Lust zeigte, das Lenkrad herumzureißen, um rechts
abzubiegen, zuckte Rocky plötzlich angespannt nach vorne,
weil er dachte der Typ pennt und kriegt die Kurve nich´.
Doch es passierte nichts, denn unser Mann war tief religiös
und glaubte nicht an Abgründe, sondern steuerte intuitiv. Das
funktionierte immer - jedenfalls diesmal.
Darum nannte man diese Busse ja auch `Fahrende Särge´
und versuchte wenn möglich auf dem Dach mitzufahren, denn
es kommt immer mal wieder vor, daß einer in den Abgrund
stürzte, und vom Dach hatte man dann einfach eine bessere
Sicht.
Unterwegs gab´s noch eine kleine Unterbrechung: einen
Verkehrsstau, aber gegen Abend rollte der Bus in Uttarkashi
ein. Zur Feier des Tages suhlten wir uns genußvoll im Essen,
und ich ging schlafen. Rocky verspürte Lust auf indische KinoHighlights und sah den, wie er sagt, `netten´ Film "Malkbar".
Der Film handelte seiner Aussage nach von einer Katastrophe auf zwei Beinen: "Der Hauptdarsteller wurde erschossen, hatte aber noch einen Zwillingsbruder, der ebenfalls gemeuchelt wurde; das war aber nur ein Traum. In Wirklichkeit
starb er aber auch und dann kam der Drilling ! Beim Vierling
verlor ich die Übersicht..."
Der komplette Text des überbunten Filmspektakels wurde
natürlich gesungen, und die rührigen Sterbe- und vor allem
die schüchternen Liebesszenen ergossen sich in wahren Tanzorgien über den mitfühlenden Zuschauer.
160
Die Inder stehen auf sowas. Jeder Film und jede Filmmusik
ist ein Hit ! Die indische Filmindustrie ist die größte der gesamten uns bekannten Galaxis, und das ist wirklich wahr !!!
Zurück in Rishikesh
N a, jedenfalls fuhren wir am nächsten Tag weiter mit dem
Bus nach Rishikesh, wo wir am Mittag unter freudiger Begrüßung unserer Freunde im Ashram "Shivananda Das Gangotri"
einkehrten. Da gab´s natürlich viel zu erzählen und die Leute
staunten, daß wir eigentlich nur übers Essen redeten und
ständig den Wunsch nach was Eßbarem äußerten.
Aber das gab sich im Laufe der knappen Woche, die wir
dort verweilten. Denn schon hatten wir den Kopf voll mit
Aktionen wie lustloses Abhängen im Garten, Wäsche waschen, unsere Zeltplanen und andere unbenötigte Ausrüstungsgegenstände einzutauschen, für wenig Geld Ringe, Blechbüch-
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sen, Räucherstäbchen, bunte Götzenposter, Glasperlen und
Unmengen an handgedrechselten Sandelholzketten einzukaufen, die gut rochen, und Eier in den Ashram zu schmuggeln,
denn alle viehischen Produkte waren dort verboten. Wir ließen es uns also richtig gut gehen und waren daher schon
etwas traurig, als wir Rishikesh am 14.März verließen und mit
der Eisenbahn über Haridwar, Delhi und Jodhpur nach Jaiselmer
im Staate Rajasthan ratterten...
PS: Da fällt mir übrigens noch was ein: Die Flasche
Sonnenmilch, die wir hinter einem Felsen versteckten,
haben wir natürlich vollkommen vergessen.
Vielleicht findet sie mal einer der Leser oder kennt
jemanden, der sie dort gefunden hat.
Geschenkt ! Derjenige, der sie gefunden hat darf sie
auch behalten - ich hab´ mir ´ne neue gekauft !
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Jaisalmer
U
m 18:00 Uhr trafen wir in Haridwar ein. Von dort
sollte es um 22:45 Uhr weitergehen. Nachdem
wir in einer Spelunke in der Nähe des Bahnhofs
etwas gegessen hatten, kämpfte ich mich um 21:00 Uhr alleine, in der Dunkelheit und in einer mir fremden Stadt durch
den düster beleuchteten Basar, der um diese Zeit immer
noch voll im Gange war, denn Wörter wie "Schlaf" und "Ladenschlußzeiten" waren indischen Geschäftsleuten vollkommen unbekannt.
Ich befand mich im Moment auf der Suche nach den sagenhaften Sandelholzölquellen, die dort irgendwo entspringen
mußten, denn ein hilfsbereiter Händler in Rishikesh hatte mir
im Vertrauen erzählt, dieser kostbare Duftstoff aus dem Holz
des Sandelbaumes werde aus Haridwar importiert; man bekäme dort auf jeden Fall welches. Die Leute dort schwämmen
regelrecht in dem Zeug. Den Namen eines verläßlichen Ansprechpartners hatte ich in der Tasche.
Wegen Zuhilfenahme von Hinweisen aus der debilen ortsunkundigen Bevölkerung fand ich nach über einer Stunde wildester Herumirrerei in dichtem Menschengedränge endlich
den Adressaten. Doch ich war etwas verwirrt, denn das einzige, was mir der Typ anzubieten hatte, war ein kleines verschmutztes Fläschchen von der Größe eines Fingerhutes, aus
der auch noch die Hälfte fehlte.
U-n-g-l-a-u-b-l-i-c-h !
Der Händler in Rishikesh hatte Kenntnis von dieser winzigen Flasche ?
Ich taumelte wie im Traum zurück durch die Gassen und
fragte dabei wahllos in verschiedenen Läden, die mit Duftstoffen handelten, nach Sandelholzöl, um doch noch irgendwie an dieses Zeug heranzukommen, bevor unser Zug abfuhr. Aber keiner dieser Würmlinge aus dem Paradies der
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Sandelholzmagnaten wußte, wovon ich redete, und aus Wut
darüber kaufte ich mir eine Tüte Erdnüsse und fünf handgefertigte Holzkreisel zu fünf Rupies das Stück. Dann war es
auch schon an der Zeit, den Bahnhof aufzusuchen.
Der Zug kam pünktlich und nachdem wir unsere Plätze
von Menschen freigeschaufelt hatten, die üblicherweise zu
Hunderttausenden kreuz und quer in den Gängen und Abteilen auf dem Fußboden, in den Gepäcknetzen und auf den
Fensterbrettern lagen, standen oder saßen, sausten wir auf
dem Schienenwege schlafend durch die unerträglich schwüle
Nacht gen Süden...
... und schlafen ... und schlafen ... und schlafen ...
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M orgens um 08:00 Uhr trafen wir im menschendurch-
fluteten sonnig-warmen Delhi ein. Unglaublich, was dort auf
den Straßen los war ! Das erinnerte mich wieder an Dhaka:
Zweiundsechzigkommafünf Menschen pro Kubikzentimeter;
diese Unmenge lebenshungriger wabernder Materie, der unglaubliche Dreck und das ganze Elend !
In meinem Tagebuch habe ich dazu vermerkt:
"Delhi ist Chaos - Menschenchaos !"
Und natürlich waren wir auch gleich wieder von einem
Pulk dieser aufdringlichen Rikscha-Kutscher umschwirrt, für
die der Anblick eines Weißen anscheinend jedesmal sowas
wie ein prima Jackpot war, den es zu knacken galt und mit
dem sie im glücklichsten Fall aller Fälle ihrem elenden Leben
eine Wende gaben und sich einen "Platz an der Sonne" sicherten. Zumindest schienen sie dran zu glauben...
Da wir mit den Fahrern aber keinen vernünftigen Preis
aushandeln konnten, beschlossen wir neue Erfahrungen zu
sammeln und mit dem vollbesetzten Linienbus in den Stadtteil New Delhi zu fahren, wo wir uns eine günstige Absteige
suchen wollten.
Ausgepowert wie wir waren, kehrten wir dort erstmal im
superguten Globetrotter-"Preiswert & Gut"-Treff "Metropol"
ein. Hier gab es Essen vom Feinsten; z.B. kulinarische Köstlichkeiten wie Scampi auf Toast für DM 2.-, und während wir
anderen aßen, gingen Rocky und Renate schon mal los und
suchten auf die Schnelle eine Unterkunft für uns.
D as Hotel "Anoop", in das wir dann kurzerhand einzogen,
befand sich sozusagen in der Steinzeit, denn es wurde im
Moment gerade umgebaut und innen in allen Stockwerken
mit polierten Steinplatten verblendet; daher hing überall feinster Steinstaub in der Luft, und es hämmerte allerorten. Hin-
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zu kam die drückende schwüle Hitze - es war äußerst ungemütlich. Doch für heute mußte es einfach reichen.
Mein Zimmer kostete 60 Rupies. Es besaß kein Bad, kein
WC und keine Fenster nach draußen, sondern nur welche,
die in die Vorhalle des Etablissements führten - also keine
frische Luft. Diese waren zudem - genau wie die Tür - nicht
verschließbar, und das war absolut indiskutabel !
Der Besitzer versprach jedoch hoch und heilig, bis zum
Abend alles in Ordnung gebracht zu haben. Auch wollte er
die beiden frisch bezogenen Betten reinigen lassen, da sie mit
feinstem Steinglimmer überzogen waren. So schlug ich in den
Handel ein, und mein Gepäck wanderte solange in den Raum
von Renate und André.
N achdem das alles geklärt war, düste ich mit Sher zur Sight-
seeing-Tour in die Umgebung.
Ein Erlebnis, was sich mir von damals besonders stark einprägte, war ein alter Mann, der mitsamt seiner Habe in einem Bett direkt neben der total belebten Straße lag. Das war
eine Szene wie nicht von dieser Welt, und ich fand das irgendwie schlimmer als all die Habenichtse, die gar nichts besaßen und einfach irgendwo im Dreck auf den Straßen herumlagen um zu schlafen. In Indien war das aber vollkommen
normal; niemand machte sich etwas daraus.
Ein anderes war die Begegnung mit einem ziemlich heruntergekommen aussehenden jungen Inder, der mich am Nachmittag direkt vorm Hotel in perfektem Deutsch anquatschte
und sich in kumpelhafter Weise Geld von mir pumpen wollte
(!), da er ja auf dem Goethe-Institut Deutsch gelernt hatte, er
die Deutschen liebte und all so´n Gefasel. Der wiederum
erinnerte mich irgendwie an die verschlagenen beiden Katzen aus "Pinocchio".
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Und genau diese Dinge machten für einen Europäer wie
mich den ganzen Reiz dieses Landes aus - es war wie eine
Reise zurück in der Zeit, wie in einer dieser Kuriositätenschauen aus dem vorigen Jahrhundert...
A ls wir zurück waren und ich an mein Gepäck wollte, gab´s
Streit mit Renate: Sie verlangte plötzlich, ich sollte mein Gepäck aus ihrem Raum entfernen und - kaum zu glauben, aber
wahr - : Sie warf mir doch tatsächlich vor, daß der ganze
Streit (von dem ich bisher absolut und rein gar nichts wußte),
den sie in der letzten Zeit mit ihrem Freund André hatte, nur
auf mich zurückzuführen sei ?!
Kam mir langsam vor wie´n Problem-Katalysator. Vielleicht
sollte sie mal´n Hormonwechsel machen lassen oder ihre
Handtasche vollheulen. Meiner Meinung nach schien ihr nur
nicht zu passen, daß ich andauernd mit ihrem `Haussklaven´
Sher durch die Gegend zog, denn schließlich war er ihr Liebling und "wir bezahlen schließlich für ihn !" gab sie von sich.
War das nicht traurig ?
Na jedenfalls war die Frau bei mir unten durch. André entschuldigte sich zwar sofort für ihr Verhalten und sie selber
später auch, aber ihr wahres Gesicht, was sie mir damit zeigte, war und blieb für mich das A-L-L-E-R-L-E-T-Z-T-E !
Renate for NEVER !
D amit aber nicht genug: Abends, als ich mich - wie jeder
normale Mensch - zur Ruhe betten wollte, stellte ich zu meinem Erstaunen fest, daß dieser Hirsel von einem Hotelbesitzer natürlich nicht im Traum daran gedacht hatte, auch nur
einen einzigen seiner Finger zu krümmen, um das Versprochene in die Tat umzusetzen, und so mußte ich nochmals
eine Klageschrift bei ihm einreichen.
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Erst um zehn Uhr des nachts war wenigstens ein Schloß in
der Tür und eines der Betten sauber.
Aber was machte das schon ? Schlafen konnte man davon
auch nicht, denn die versklavten Arbeiter befanden sich im
orgiastischen Workaholic-Rausch und beabsichtigten anscheinend nicht mit ihrer Arbeit aufzuhören. Bis spät in die Nacht
wurde gehämmert, geschleppt, geschwitzt und geschrien, und
erst um zwei Uhr morgens war der Spuk endlich vorbei,
nachdem ich dem Hotelbesitzer damit gedroht hatte, ihn gegebenenfalls ans Fensterkreuz zu tackern.
F lucht ! Am nächsten Morgen zog ich sofort aus diesem
idiotischen Katastrophenhotel aus und gewährte Maítre
`Flintstone´ nach längerem Feilschen einen fünfzig prozentigen Preisnachlaß für die letzte Nacht.
Die nächste Bleibe, das Hotel "Vishal", daß Rocky und Dörthe
über Rockys alten Bekannten Nindi aufgetan hatten, war da
schon wesentlich besser: Außenfenster, abschließbare Wandschränke, saubere Betten, und trotz Geschäftsstraße vor der
Tür herrschte fast absolute Ruhe.
Der fröhliche und etwas dickliche mit Jeans, luftigem bunten Sommerhemd, Turnschuhen, Bauchtäschchen aber Turban für seine Volksgruppe etwas ungewöhnlich ausgestattete
Sikh Nindi stammte nicht nur für indische Verhältnisse aus
sehr wohlhabendem Hause: Sein Vater war Architekt und
lebte mit seiner Ehefrau und Nindi in einem dreistöckigen
Wohnhaus in Agra. Sie besaßen ein eigenes Auto und Nindi
sogar ein Motorrad. Rocky hatte ihm einmal bei einem Streit
mit zwei uneinsichtigen australischen Drugheads geholfen, die
sich in seiner Pension eingenistet hatten und die Polizei wegen "Zuviel Rauch um Nichts !" auf den Plan riefen.
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Im Moment befand sich Nindi mit seiner australischen Ehefrau auf Reisen quer durch Nordindien, und Rocky hatte die
Beiden durch Zufall auf der Straße getroffen. Indien - so groß
und doch so klein ! Die beiden waren sehr nett, und wir
verabredeten uns in Pushkar.
D och zurück zu unserer neuen Umgebung:
Trat man aus dem Hotel, so befand sich gleich linkerhand
ein großer Parfüm-Laden "S.K.Chabra", und wenn man Lust
hatte, dann konnte man etliche Stunden damit zubringen,
jene tausende von verschiedenen orientalischen Parfümölen
durchzutesten, die dort für wenig Geld zu kaufen waren.
Und welch ein Glück: Die hatten sogar Sandelholzöl !
Außerdem hab´ ich mir in diesem Laden in einem Anflug
von Habgier 36 täuschend echte und funktionsfähige
Miniaturklapptaschenmesserchen (Länge 2cm) gekauft; das
Stück für 4 Rupien und bei dem Schuhmacher gegenüber der Besitzer war Moslem - ließ ich endlich die Sohle meiner
`unsinkbaren und unzerstörbaren´ Stiefel reparieren.
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Solch eine qualitativ hochwertige Sohle gab es zwar in ganz
Indien nicht, aber zur Not tat´s ja auch der Teil eines Autoreifens. Hat für den Rest der Reise top gehalten; Kompliment
an den Schuhflicker ! Aus Dankbarkeit kaufte ich mir dort
auch noch ein paar Paar orientalischer Leisetreter, wie seinerzeit Aladin sie zu tragen pflegte.
Junkfood: Vegetableburger und Reiswopper von MacGanesh
F liegende Teppiche und sonstiges zauberhaftes Interíeur
waren jedoch nur als Sonderanfertigungen in den Governmentshops am Connaught Place zu kriegen. Dort war unter staatlicher Kontrolle jede kulturelle Region Indiens mit einem eigenen Laden vertreten, und die Preise sollten dementsprechend
korrekt sein, wies der Reiseführer aus, denn alle Preise waren Festpreise; Feilschen war dort nicht möglich.
Ich habe es noch wie damals vor Augen und schon tausendmal im Freundeskreis erzählt: In einem dieser Shops stand
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eine hervorragend gearbeitete Eßtafel, d.h. ein langer Tisch
mit zehn Stühlen, und alles war mit schönsten farbigen
gemäldeartigen Holzeinlegearbeiten versehen, wie ich es nur
von Möbeln aus alten Schlössern kannte, und das Unfaßbare
war, daß der ganze Spaß nur umgerechnet ca DM 5000.- bis
DM 6000.- kostete !
Dafür gibt´s bei uns ja gerade mal ´n Rudelranvik-EinheitsNachttischchen von IKEA...
I n der Dämmerung, auf dem Rückweg ins Hotel, schlen-
derten Rocky, Dörthe und ich noch etwas in der Gegend
herum, und ganz nebenbei klebten wir mit unseren plattgedrückten Nasen an dem Schaufenster eines wahrlich winzigen Schmucklädchens, in dessen Auslage teils sehr hübsche
Handarbeiten zu sehen waren; zeigten mit einem Ausruf des
Entzückens immer mal wieder staunend auf Dieses oder Jenes.
Dort stand unter anderem ein kleiner Buddha-Kopf aus grünem Malachit, der mir sehr gut gefiel. Ans Kaufen dachte
dabei eigentlich keiner von uns.
Da hatten wir, oder vielmehr ich aber die Rechnung ohne
den Freund eines Freundes vom Bruder des Neffen des Ladeninhabers gemacht, der als freiberuflicher professioneller
Kundenwerber sein potentielles Opfer gleich erspähte, aus
dem Laden stürzte und uns unterwürfigst bat, in das Innere
dieser Goldgrube vorzustoßen, um die dargebotenen Kleinode menschlicher Kunstfertigkeit näher unter die Lupe zu
nehmen.
Na gut, sich das Ding gucken konnte man ja mal - aber
Geldausgeben - njet !
Der Kopf wurde aus der Vitrine geangelt und mir mit einem auffordernden "Look, look !" in die Hand gedrückt. War
171
tatsächlich wirklich sehr schön das Teil und handgekratzt. Es
sollte stolze 600 Rupien kosten. Ungefähr DM 45.- !
"Very nice, indeed. Thank you very much, goodbye !"
"You don´t wanna buy ????"
"No, I told you before."
"But...mister...first business...please sit down...look !"
"But, I..."
"Not expensive for you, Sir !"
"Verdammt nochmal, ich will heute nichts mehr kaufen !
I bought enough today and I think it´s too expensive,
goodbye."
"What you give, Sir !"
Aaah, ein Chance das ganze abzubrechen tat sich auf. Man
mußte nur einen Preis nennen, der so beschämend gering
war, daß sie mich verärgert aus dem Laden schmissen !
"Two hundred Rupies."
"Ok, Sir. Take it."
"Was is´ los ?! Das war ein Trick, ein ganz gemeiner hinterhältiger Trick..."
Damit bewies sich mal wieder, daß man am besten gar
nicht erst den Mund aufmachte und schleunigst und ohne
Rücksicht auf weinerliches "My first Business"-Gewimmere
den Laden verließ oder - noch besser - erst gar nicht betrat.
Diese Brüder waren einem einfach über und wenn sie einem was verkaufen wollten, dann taten sie das auch !
F reitag, den 17.02.1991, verbrachten wir größtenteils in
Old-Delhi auf dem allseits gepriesenen Silbermarkt am Chandni
Chowk. Unsere Erwartungen, was die steuerfreie Beschaffung größerer Kontingente an Silbervorräten betraf, wurden
aber nicht so erfüllt, wie wir uns das erträumt hatten.
172
Tolle Sachen gab es dort eigentlich nicht. Ein paar StandardSilberhalsketten zu einem einigermaßen anständigen Grammpreis sowie gebrauchte Ohrenschmalzkratzer, kombinierte
Zahn- und Fußnagelbettstocher und anderer nützlicher Silberkleinkram, den man sich aus Silber-SchlußverkaufGrabbelkisten heraussuchen mußte, waren das einzige, was
für uns abfiel.
Als wir wieder beim Hotel eintrafen, kaufte ich mir noch
die wunderschöne Lapislazulikette, die ein auf mich seriös
wirkender Händler, der direkt neben dem Hoteleingang Posten bezogen hatte, anbot. Dann war es an der Zeit, die
Koffer zu packen, denn um 20:30 Uhr fuhr unser Zug weiter
nach Jaisalmer.
Und dann passierte es !
In Delhi organisierte ich mir als Reiseproviant ein paar von
diesen leckeren Beton-Knabberkeksen aus gepreßten Erdnüssen und Honig.
Die Dinger waren lecker, süß und nahrhaft, aber auch sehr,
sehr hart und in dem Moment, als ich während der Zugfahrt
in einen hineinbiß, machte es plötzlich laut und deutlich
KNACK! und ich merkte, mit der güldenen Dreier-Zahnbrücke rechts unten war irgendwas nicht mehr in Ordnung.
Wenn ich mit der Zunge dagegen drückte, bewegte sie sich.
Zahnschmerzen, die in den tiefsten Tiefen des Nervengewebes lauerten, krochen langsam und pochend an die Enden der verkronten Zahnstümpfe und machten mir beim Essen das Leben zur Hölle. Tage unsäglicher Qual lagen noch
vor mir, die ich dadurch zu lindern suchte, daß ich alle drei
Stunden eine Ladung Aspirin schluckte oder Nelkenöl auf die
Stelle rieb, was einer lokalen Betäubung gleichkam. Die
Schmerzen waren zeitweise so dermaßen schlimm, daß ich
173
Coole Drinks in der Lassi-Bar in Jodhpur
schon Überlegungen anstellte, wie ich im Notfall am schnellsten zurück nach Kathmandu zum Zahnarzt der deutschen
Botschaft kam. Doch diese Frage erübrigte sich recht bald,
da nach einer Woche die Nerven abgestorben waren und die
Schmerzen verstummten.
Später in Deutschland stellte sich heraus, daß zwei Wurzeln
der Länge nach gerissen waren und gezogen werden mußten. Damit verlor ich - bitter, bitter - zwei Zähne !!
M it Zahnschmerzen erreichte ich also Jodphur, wo wir
morgens um zehn Uhr eintrafen. Dort mußten wir auf den
nächsten Zug bis zum Abend warten und während der
Backofenhitze des Tages, die zwischen dreißig und vierzig
174
Grad pulsierte, vergnügten wir uns mit dem Aufschlürfen großer Mengen der besten Lassi aller Zeiten, zumindest aber
ganz Asiens, in einer speziellen Lassi-Bar, deren Namen mir
leider entfallen ist. Als wir am Abend dann zum Bahnhof tigerten, fiel es einem im Suff durch die Straßen torkelnden
Sikh ein, Dörthe sexuell zu belästigen, indem er ihr Hinterteil
im Vorbeigehen begrapschte. Das hätte er lieber nicht tun
sollen. Aber die Zeit, um darüber nachzudenken gab ihm
Rocky leider nicht mehr, als er ihm mit einem gekonnten
JiuJitsu-Griff sein feuchtfröhliches Grinsen und Handgelenk ruinierte.
D er Zug ratterte durch die Nacht, und am nächsten Morgen hatte sich die Landschaft um uns herum schon ganz schön
verändert. Wir merkten, daß wir uns in die Wüste bohrten.
Die Vegetation wurde spärlicher und die Sonne brannte noch
unbarmherziger vom Himmel.
Gegen Mittag stoppte der Zug unerwarteterweise in einem
kleinen Kaff mitten in der Wüste, und niemand hatte eine
Ahnung warum. Die Passagiere vertraten sich im Freien die
Füße, und wir drei wurden von dem Lehrer Surendre Kuma
Mishra und seiner Grundschulklasse umringt, die unbedingt
fotografiert werden wollte.
Dann machte sich unter den Passagieren das Gerücht breit,
der vorige Zug wäre entgleist und die Streckenarbeiter wären dabei, die Schienen wieder in Ordnung zu bringen. Was
zuerst abenteuerlich klang, stellte sich bei der Weiterfahrt
etliche Stunden später als absolut richtig heraus.
Der Zug tastete sich im Schritttempo vor, und bald hatten
wir die Unglücksstelle erreicht, wo jede Menge total zerfetzter Waggons neben den Gleisen lagen.
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´ne klasse wüste Wüstenklasse...
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...und eine holländische Wohnwagen-Kolonie: Die Wüste lebt !
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Wie war denn das passiert ?
Irgend´n Anschlag vonna arschgrapschenden Sikh-GuerillaBand oder etwa ´ne verirrte Scud-Rakete aus´m Irak, die in
den Waggons ungläubige Eier vermutete oder wie ?
Wir konnten uns jedenfalls nicht vorstellen, daß die auf der
geraden Strecke einfach so von der Gleise gekippt waren.
Da hatte doch einer nachgeholfen !
In journalistischem Eifer durchwühlte ich in Windeseile mein
Gepäck nach der Kamera und hechtete mit einem kühnen
Satz auf die Sitzbank unseres Abteils, um sensationelle Momentaufnahmen von immenser geschichtlicher Tragweite auf
lichtempfindliches Material zu bannen - zertrümmerte dabei
aber leider meine einzige Sonnenbrille, die dort lag.
Das Bild auf der vorherigen Seite ist nur eins von den fünf
bewegenden Schnappschüssen, die auf dem Schrebergartenfest in Moers mit internationalen Preisen (Freßkorb mit ungarischer Salami, italienischem Wein, Schweizer Käse, Wiener Gebäckspezialitäten und echtem russischen Wodka) ausgezeichnet wurden. Es erhielt besondere Beachtung wegen
der "...realistischen darstellerischen Leistung der Komparsen
und der bildhaften vorindustriellen Wildheit seiner Kulisse."
I n dem Zwanzigtausend-Seelen-Städtchen Jaisalmer ange-
kommen, mieteten wir uns zuerst einmal im Hotel "Fortview"
ein, mit - wie der Name schon vermuten läßt - Blick auf das
im 12.Jahrhundert aus gelbem Sandstein erbaute gigantische
Fort, das majestätisch auf einer Anhöhe über der Stadt thront.
Die Zimmer waren sauber und spartanisch und absolut ausreichend für den müden Wanderer. Aus meinem Toilettenfenster hatte ich sogar eine wunderbare Aussicht über die
von einem strahlend blauen und wolkenlosen Himmel überspannte Stadt.
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Hinweistafel am Eingang zum mächtigen Fort in Jaisalmer
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Blick aus dem Klofenster im Hotel "Fortview"
Fast alle Gebäude in dieser abgelegenen Wüstenstadt bestanden - mangels anderer Ressourcen - vollkommen aus
gelbem Sandstein. Selbst die filigranen Schnörkel der vielen
verzierten Häuserfronten und Balkone waren aus diesem bevorzugten Material herausgearbeitet. Es war absolut faszinierend - eine verzauberte Stadt aus "Tausend und einer Nacht".
Der Nachteil unseres wunderbaren Hotels stellte sich jedoch nach der ersten Übernachtung heraus: Da die Besitzer
reich geworden waren, noch reicher werden wollten oder
einfach nur Spaß am Bauen hatten, wurde das Hotel in den
letzten Monaten radikal aufgestockt und auf dem Dach des
Hauses ein Restaurant mit Open End installiert. Das führte
leider Gottes dazu, daß bis spät in die Nacht nicht daran zu
denken war, auch nur ein Auge zuzukriegen.
So zog es uns nach zwei mehr oder minder schlaflosen
Aufenthalten in das direkt im Fort gelegene "Hotel Paradise",
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welches seinem Namen alle Ehre machte. Besonders genial
an diesem Hause war das als riesige Sonnenterasse genutzte
Dach des Forts mit Panoramablick über die tieferliegende
Stadt und die endlos scheinende Wüste.
Unter dem fast windstillen azurblauen Himmel machte es
immer wieder Spaß, einfach nur dröge in der Sonne zu brutzeln und dabei die an den Festungsmauern entlanggleitenden
Greifvögel zu beobachten, die hier ihre Kreise auf der Suche
nach etwas Lebendem zum Töten zogen.
Panorama vom Dach des Hotel "Paradise"
Viel ging also nicht ab in dieser wunderbaren Oase Rajasthans
- will man den Reiseführern glauben, einem der ärmsten Ländereien Indiens.
Vielleicht waren die Leute hier arm an Geld, ging mir durch
den Kopf, doch blieb ihnen an diesem abgeschiedenen Ort
das Schicksal der übervölkerten Großstädte Indiens erspart:
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Hatte diese Ziege Drogen zu sich genommen oder einen Sonnenstich ?
Tristesse, Elend, Schmutz, Krankheit, Verfall, Tod. Soweit
wir das abschätzen konnten, hatten alle Menschen Arbeit,
genug zu essen und lebten gelassen und fröhlich in den Tag
hinein. Bettler haben wir dort jedenfalls keine getroffen. Und
bedingt durch die trockene heiße Luft, hatten die Gebäude
eine geringere Chance zu verrotten, wie das in den schwüleren Gegenden des Indischen Subkontinentes der Fall ist.
Dafür war es in Jaisalmer auch vergleichsweise ruhig, und
es gab nicht allzuviel Attraktionen, bis auf das Fort selbst, den
großen, als Wassertank dienenden See, die verschiedenen
angebotenen Safaris in die Wüste und, als ganz besonderen
Clou, ein Flower-Power-Kiffer-und-Junkie-Lokal, in dem jedes Essen und jedes Getränk als nicht standesgemäß galt,
wenn es nicht vor Haschisch triefte oder wenigstens so roch,
was Dörthe dazu verführte, unbedingt ein paar von den an-
182
gebotenen herben `Dröhn-Keksen´ zu sich zu nehmen. Die
von ihr erwartete, wie auch immer geartete Wirkung stellte
sich jedoch nicht bei ihr ein.
André allerdings gab sich mit solchen Kindereien nicht zufrieden und schüttete sich vorsichtshalber mit köstlicher
Nightmare-Lassi die Birne zu. Die Wirkung war eindeutig:
Kreislaufbeschwerden, Sprach- und Orientierungslosigkeit, gefolgt von peinlicher Magenentleerung in aller Öffentlichkeit.
Renate mußte ihn daraufhin in die Unterkunft geleiten, wo er
den Rest des Tages vor sich hinsabbernd im Bett verbrachte.
I n der einen Woche, die wir in Jaisalmer verbrachten, gin-
gen wir immer mal wieder auf Beutezug, um in den wenigen
kleinen Lädchen etwas Interessantes zu finden, was unsere
Herzen höher schlagen ließ und das Gewicht unserer Geldbörsen erleichterte. Auf diese Weise kam ich dann auch zu
meinem neuen Outfit. Mit der erstandenen, mit kleinen runden Spiegeln besetzten, Patchwork-Weste
und dem dazugehörigen Kappi, das ich
183
nun fortwährend trug, den Armee-Hosen und meinem ansehnlichen Rauschebart, sah ich fast aus wie ein durchgeknallter
moslemischer Vollblut-Mudhjahedin und fühlte mich außerordentlich wohl dabei. Ich wurde langsam lockerer. Das machte diese ganze verdammte Kulisse um einen herum. "Mike of
Arabia" - aber ohne Kamel.
Also mußte so ein wiederkäuendes Wüsten-Höckertier her
- und so beschlossen Dörthe und ich, eine Sechs-StundenAbenteuer-Kamelsafari in die uns umgebende Wüste Tharr zu
unternehmen. Als unser Vermieter von unserem Ansinnen
erfuhr, wurde uns sofort ein engster Freund der Familie empfohlen, der sowieso die besten Kamel-Safaris in ganz Jaisalmer
... ach was sag´ ich... in ganz Indien... nein, der ganzen Welt
organisiert.
F linke Füße eilten durch die verwinkelten sonnenbe-
schienenen Gassen des Forts, um den besagten Mann zu uns
zu führen, nachdem wir einiges Interesse bekundet hatten.
Bei unserem Zusammentreffen mit dem sympathischen, fast
schwarz-häutigen, dürren jungen Mann in seinem schneeweißen Gewand vereinbarten wir den Termin unseres Aufbruchs
ins Technicolor-Breitwand-Abenteuer um pünktlich 08:00 Uhr
morgens am nächsten Tag.
Er erklärte uns, was wir alles einpacken müßten: Wasserflasche und eine Kopfbedeckung zum Schutz gegen die Sonne;
kassierte die erste Hälfte seines Lohnes zum Einkauf von
Nahrungsmitteln für den Wüstenlunch und machte sich wieder von dannen, um mit den Vorbereitungen für das unsagbar Unsagbare zu beginnen, und wir aalten uns weiterhin in
den sengenden Strahlen dieses weißglühenden Feuerballs, genannt Sonne.
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Jaisalmers Gassen ähneln denen einer südfranzösischen Kleinstadt
185
A m nächsten Tag, um 07:30 Uhr in der Früh saßen Dörthe
und ich zu allem bereit draußen an einem der Frühstückstische im ersten Stock vom "Paradise" und blickten müde und
erwartungsvoll mit hungrigen Mägen in den Innenhof Richtung Küche, wo wir den Hauskoch mit der Zubereitung unseres Frühstückes beschäftigt hofften.
Als nach einer viertel Stunde immer noch kein Mensch mit
Nahrhaftem an unserem Tisch erschien, fragten wir uns ungläubigen Blickes, was da wohl los sei.
Ich begab mich also nach unten, um nachzuhaken, wie es
denn um unser Frühstück stünde. "Oh, No Problem !", wurde mir aus der dunklen Küche verschlafen zugerufen und ein
beruhigendes "Coming soon !", als ich freundlich darauf hinwies, daß unsere Safari eigentlich um 08:00 Uhr starten sollte
und wir nicht unbedingt gewillt waren, unser Menü in aller
Hast hinunterzuschlingen. Totenstille schrie mir entgegen. Also
begab ich mich wieder in die Gesellschaft von Dörthe, und
wir übten uns in Geduld. Schließlich waren wir hier in Indien !
Die Zeit tickerte so dahin und kein Frühstück, geschweige
denn unser Freund, der Kamelführer, schickten sich an, in
Kontakt mit uns zu treten. Mittlerweile war es 08:30 Uhr
vorbei, und immer wieder riefen wir jetzt von oben gelangweilt fragend herunter, ob unser Koch wohl schon wach sei,
ob das Frühstück geklaut wurde oder gar von Kamelen gefressen ? Doch niemand ließ sich von uns und unserem `unverschämten´ Drängeln aus der Ruhe bringen.
Kurz nach neun Uhr wurden wir endlich von einem müde
dreinblickenden Hausherrn bewirtet, von dem wir in Erfahrung brachten, daß die Reise erst um 10:00 Uhr beginnen
werde. Ahaaa, das war des Rätsels Lösung.
Aber warum wußten wir nichts davon ?
Ach - egal.
186
Auf´m Parkplatz für Kamele
So genossen wir also reichlich verspätet unser Frühstück
und unseren Dschai, während die frechen und allzeit bereiten
Spatzen versuchten, einen Anteil des Essens in ihren Besitz
zu bringen.
K urz nach zehn erschien dann auch tatsächlich "The Ma-
ster Of The Camels", um uns zum Kamel-Parkplatz außerhalb des Forts zu geleiten, von wo die Reise starten sollte.
Vier Tiere lagen dort öde im Sand und harrten kommender
Dinge: Vater, Onkel, Mutter und ihr paar Wochen altes Flaschenkind.
Dörthe durfte auf dem stattlichen und ruhigen, mit KamelTatoos verzierten Vati platznehmen und Mutti zeigte laut
rumgröhlend ihre Empörung darüber, daß ich ihr zugeteilt
wurde. Sie mochte keine bärtigen Bleichgesichter und mich
187
ganz besonders nicht. Herr im Himmel ! Das Tier flippte fast
aus, als ich ihm zu nahe kam, um auf den breiten, mit einigen
Decken gepolsterten Holzsattel zu gelangen.
Wie wild drehte sich bei jedem Versuch der gelenkige Hals
dieser blutrünstigen Bestie nach hinten, und tief aus dem großen sabbernden Maul dröhnte es unheilverkündend in mein
Gesicht:
"NJIERROOOOHHHH ! NJIERRROOOOOOHHHH !"
"Aaaaarrrhhh ! Da geh´ ich nich´rauf. Niiiieeeemals ! Das
Vieh muß wahnsinnig sein, es will mich töten !", keuchte ich
entsetzt.
"Ich werde laufen", machte ich dem verwirrten Boss der
örtlichen Kamel-Leasingfirma klar, der immer wieder beteuerte, es könne überhaupt nichts passieren, das Tier wäre
vollkommen in Ordnung, gerade überholt. Muttertiere mit
Kleinkindern benähmen sich halt so, wenn man ihnen und
ihrem Schatzi zu nahe komme - das wäre normal, manche
beißen sogar.
Das hatten wir auch schon gehört, denn im Hotel kursierte
die Geschichte, daß vor einigen Tagen ein Tourist bösartigst
in den Oberschenkel gebissen wurde. Diese Spezies gehörte
zwar zu den friedlichen Pflanzenfressern und hatte demzufolge keine scharfen Zähne, aber die Bisse erzeugten schmerzhafte Quetschungen.
Das wollte ich mir natürlich ersparen, und obwohl sich alles
in mir energisch dagegen sträubte, wurde ein letzter verzweifelter Versuch unternommen, den Rücken dieses Miststückes zu erklimmen. Mit vereinten Kräften machten wir
dem störrischen Biest klar, wer hier sein Herr und Meister
188
war, und dann fand ich mich plötzlich fest im Sattel sitzend
wieder, während Madame sich mit einigem Gemurre ob dieser Schmach langsam - erst hinten, dann vorne - auf ihre vier
Beine erhob, wobei man darauf achten mußte, nicht wieder
kopfüber herunterzufallen. Und dann stand sie, grummelte
noch ein bißchen vor sich hin und ergab sich schließlich in ihr
Schicksal, als ich ihr Freundschaft heuchelnd den Rücken kraulte und tätschelte.
Camel-Tours
L angsam setzte sich unsere kleine Karawane in schwan-
kende Bewegung, immer der Nase nach - mit dem Wüstenschiff auf in das Sandmeer. Vorneweg schaukelte der stolze
Vati, gefolgt von der treusorgenden Mutti mit mir auf dem
Buckel und ihrem Kleinen im Schlepptau, und das Schlußlicht
machte das liebe Onkelchen. Unsere drei menschlichen Begleiter marschierten mehr oder weniger barfuß nebenher,
189
und nur ab und zu, wenn einem die Lauferei zu bunt wurde,
schwang er sich für einige Zeit auf den unbeanspruchten Rükken des Kamel-Oheims.
Die Sonne donnerte nur so auf die Landschaft, und ziemlich bald konnte ich mir einen Begriff davon machen, was es
bedeutete, ohne Wasser durch solch eine Ödnis zu pilgern, zumal die Sonne erst gegen zwölf Uhr ihren höchsten Stand
erreicht und ihre volle Kraft entwickelt haben würde. Dann
erst begann es langsam kühler zu werden, wenn bei Temperaturen von über vierzig Grad eine Rede davon sein kann,
und erst in der Nacht kühlte es mächtig ab - bis zum Gefrierpunkt, denn es gab hier nichts, was vor der aus dem Weltraum eindringenden Hitze und Kälte schützen konnte.
Dörthe trug zum Schutz gegen die belastende Sonnenstrahlung einen Strohhut mit breiter Krempe, ich jedoch hatte nur mein enganliegendes Kappi auf dem Schädel und bekam bald erhebliche Probleme mit der Hitze. Es war ein
Gefühl, als würde die ganze Zeit über ein dämlicher Clown
mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht hinter einem sitzen
und die Sonnenstrahlen mit einer Lupe gebündelt auf den
Hinterkopf lenken. Ätzend ! Ich bereute schon fast, das Angebot ausgeschlagen zu haben, mir für viele Rupies einen
Fetzen Stoff als Turban um den Kopf zu schlingen, das mir
beim Start unseres Ausflugs gemacht wurde.
Dazu gesellte sich bald ein anderes unangenehmes Gefühl:
das Cowboy-Feeling. Cowboys, die wochenlang im Sattel sitzen, sollen ja bekanntlich ziemlich breitbeinig gehen. Als
Camelboy ging´s einem nicht besser. Auf dem breiten Rücken
eines Kamels sitzt man fast im Spagat, was sehr unangenehm
schmerzen kann, da die untrainierten Beinsehnen übermäßig
gedehnt werden und die Holzunterkonstruktion des Sattels
bei jedem Schritt des Tieres ständig gegen die Innenseiten
190
der Oberschenkel schabt. Das machte mich zunehmend wahnsinnig, und daher probierte ich verschiedene Sitzmöglichkeiten
aus, wobei mir das Sitzen mit um den vorderen Sattelknauf
gekreuzten Beinen am angenehmsten erschien. Fast wie im
Schneidersitz. Eine weitere Möglichkeit war das Seitwärtssitzen, das sich ebenfalls als äußerst wohltuend herausstellte.
Während ich also verschwitzt, dem Sonnenstich nahe, wie
blöde auf dem Kamel herumturnte und verbissen versuchte,
mit meiner verspiegelten Sonnenbrille wenigstens den Umständen entsprechend cool auszusehen, zeichneten sich am
Horizont die ersten Umrisse irgendwelcher Gebäude ab, wurden größer und größer, als wir uns daraufzubewegten, und
dann war ich auch schon - für kurze Zeit wenigstens - von
den Qualen des Kamelrittes erlöst, als unser Anführer den
gesamten Troß inmitten einer riesigen Ansammlung von verschnörkelten Steinbauten verschiedenster Größe aus besagtem gelbem Sandstein halten ließ.
Irgendwo in der Wüste reihten sich Tempel über Tempel dicht an dicht
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Jetzt hieß es absteigen vom Killer-Kamel. Dummerweise
verfing ich mich dabei, benommen von den zu ertragenden
Temperaturen, in dem handgefertigten hölzernen Steigbügel
und legte mich buchstäblich auf die Schnauze. Sehr zur Freude jenes geifernden Ungeheuers, das natürlich diese einmalige, nie wiederkehrende Chance nutzte und mit blitzenden
Augen nach mir schnappte, während ich hastigst und um Hilfe schreiend versuchte meinen Fuß zu befreien, um dem
Einflußbereich seines langen, schlängelnden Halses zu entkommen.
Darauf hatte mein mordlustiges Reittier nur gewartet...
"S - C - H - E - I - S - S - E, verdammt nochmal !!! Wann
wurde das Tier eigentlich das letzte Mal gefüttert ?", oder
Ähnliches entfuhr mir, als der Besitzer des Tieres endlich in
die Zügel griff, um dem Treiben der wildgewordenen
Vierbeinerin Einhalt zu gebieten und mir somit die Flucht
ermöglichte. Der Vorfall führte dazu, daß alles vor Lachen
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am Boden lag und sich kaum mehr einkriegte. Alsdann wurden die Kamele an einen schattigen Platz geführt, durften sich
ausruhen und wir ohne Hast die Gegend erkunden.
Die verzierten Ruinen kündeten von längst vergangenen Zeiten.
Um uns herum reihte sich über ein Areal von mehreren
tausend Quadratmetern ein Tempel an den anderen. Es mußten an die Hundert sein, die hier seit ewigen Zeiten fast völlig
unversehrt überdauert hatten. Alle besaßen ungefähr den gleichen Aufbau: Eckiger Steinsockel, an jeder Ecke ein Säule,
die durch einen Bogen mit der nächsten verbunden war und
als Dach eine runde oder eckige Kuppel, die von einer Spitze
gekrönt wurde. Fasziniert kletterten Dörthe und ich durch
die mehr als mannshohen Bögen und bewunderten den überschwenglich verzierten Sandstein, der von hervorragenden
Steinmetzen zeugte, die ihre Kunst bis in die heutige Zeit
weitergegeben hatten, wie man sich in Jaisalmer überzeugen
193
konnte. Ich wüßte gerne, wo wir uns da eingefunden hatten,
kann mich aber beim besten Willen an keine Bezeichnung
dieser Stätte erinnern.
Ein kleines Andenken von dort befindet sich aber noch immer in meinem Besitz, denn ein einheimischer Junge bot mir
damals drei kleine versteinerte Muscheln zum Kauf an, die
ich ihm wegen des geringen Preises auch abnahm. Er hatte
sie dort in der Wüste ausgebuddelt. Man stelle sich vor: Diese ganze Gegend war vor Jahrmillionen Meeresboden !
B ald drängten unsere Begleiter auch schon wieder zum
Aufbruch, da bis zum Mittag unser Rastplatz in der Nähe
eines ehemaligen Ashrams erreicht werden mußte. Also aufsitzen ! Aber, oh Mann - zur allgemeinen Belustigung gab es
erneut ein Heidentheater, als ich versuchte, den Buckel dieses undankbaren Säugers zu erklettern. Am liebsten hätte ich
dem Vieh in den Hintern getreten. Doch gemeinsam waren
wir stark und hatten alsbald zu dritt die Unruhestifterin mit
List und Tücke überrumpelt.
Dann trottete unsere Karawane weiter durch den heißen
Wüstensand, aus dem hier und da nur einige Kakteenarten
oder kakteenartige Sträucher genug Wasser ziehen konnten,
um zu überleben und zu stattlicher Größe heranzuwachsen,
während sonst nichts weiter das Auge erfreute außer Sand
und Steinen.
Aus lauter Langeweile verschwendete ich meine Zeit damit, ein paar Meter Film mit Eindrücken vom Rücken eines
eigensinnigen Kamels zu belichten. Manchmal trafen wir unterwegs andere Meuten in wüste Wüstenklamotten gehüllter
abenteuerlustiger Touristen, die ebenfalls ihre Träume von
der Freiheit und dem Abenteuer, eventuell zu verdursten
oder zu vertrocknen, auslebten. Aber meistens war es ein-
194
fach nur heiß und öde, und um die Mittagszeit, als wir endlich
unser Ziel erreicht hatten, war die Hitze kaum mehr zu ertragen.
E ine mit wenigen Palmen geschmückte, verlassene kleine
Oase, bestehend aus einer Handvoll zerfallener kleiner Hütten, einem Trinkwasser-Brunnen und einem etwas abseits
gelegenen, wunderschönen und dennoch ausgestorbenen Zentrum spiritueller Reinigung, einem Ashram, sollte die Kulisse
für unser Mittagsmahl bilden - dachten wir. Da jedoch auch
andere nationale Kamel-Speditionen ihre internationalen Reisegesellschaften an dieser Karawanserei entluden, hatte sich
u n s e r e Reiseleitung etwas ganz Besonderes, Ursprüngliches ausgedacht.
Nachdem sich die lieben, der Gruppe der Trampeltiere zugehörigen Reittiere ihren Wanst mit köstlichen Naß vollgesogen hatten und man mir - dem Himmel sei Dank ! einen verwegen aussehenden Leih-Turban verpaßt hatte, führte man uns hinaus in die Wildnis der Wüste zu einer Ansammlung dichter Sträucher und Kakteen, wo bereits zwei
Helfer mit dem Herrichten unseres Lagers beschäftigt waren. Ausgestreckt auf einer Decke, die im Schattenbereich
eines üppigen, hinter uns befindlichen, äußerst stachligen
Dornengewächses lag, konnten wir nun unserem Gastgeber
bei der Zubereitung des Mittagessens zusehen, dessen drei
Gänge einzig und allein auf einem verranzten Kerosin-Kocher
entstanden. Das Menü, zu dem man einen starken Wüstentee mit Zitrone kredenzte, setzte sich aus folgenden Kompositionen zusammen:
Honey-Crépe
Pomme de terre et Vegetabile
Fruit de Désert
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Ein herrlich angelegter Ashram mitten in der Wüste...
...dessen Bewohner anscheinend vor der
mörderischen Hitze geflüchtet waren
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E s gab reichlich. Daher zog ich nach dem Essen zu einem
Verdauungsspaziergang los, um ein paar Fotos in diesem
Buddelkasten für Riesen zu machen. Und dabei lernte ich mal
wieder was dazu:
"Unterschätze niemals eine Wüste - egal welcher Größe !"
Tief versunken in die Einmaligkeit dieser Landschaft und
vollbeschäftigt mit der Suche nach Motiven für meine Kamera wanderte ich munter drauflos.
Obwohl ich meinte, genau zu wissen, aus welcher Richtung
ich gekommen war, fehlte mir aber ob der Eintönigkeit des
hügligen Geländes bald der Überblick. Ich war immerhin so
weit gelaufen, daß weder die Oase, noch unser Rastplatz mit
den Kamelen zu sehen war.
"Und du hast nicht einmal Wasser dabei !", drängte sich mir
ins Bewußtsein.
In diesem Moment glich meine Köpertemperatur dem Tag/
Nachtwechsel der Wüste in schneller Folge: Mir wurde heiß
und kalt.
"Ruhig bleiben", meldete sich die Vernunft, und so fing ich
an, mir ins Gedächtnis zu rufen, von wo ich gekommen war,
denn unser kleines Camp konnte eigentlich nicht weit entfernt sein. Glücklicherweise fand ich dann auch nach einigem
Sondieren des Terrains zurück zum Lagerplatz, wo ich mich
erst einmal von diesem verdammten Schreck erholte - aber
das sollte mir eine Lehre sein !
Dörthe hatte in der Zwischenzeit ihr Tagebuch vervollständigt und döste noch in der Sonne vor sich hin, während unsere agilen Helfershelfer bereits am Zusammenpacken waren,
denn wir mußten langsam weiterziehen. So hieß es wieder
aufsitzen, was dieses Mal unglaublich ruhig vonstatten ging.
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Irgendwas konnte da doch nicht stimmen ? Mein Reittier
brütete ganz bestimmt an einer hinterhältigen Gemeinheit oder was !?
Ungefähr eine Stunde strapazierten wir die Rücken der
Kamele in der unbarmherzigen, durch kein Lüftchen gemilderten Hitze, die einem das Hirn rausbrannte, dann erreichten wir unser nächstes und letztes Ausflugsziel: den recht
verwilderten, aber dennoch hübsch bunten Garten einer ehemaligen Maharadscha-Residenz, deren großzügig angelegte Gebäude auf einer weiten Ebene als stumme Zeugen vergangener Reichtümer verlassen und verfallen vor sich hindümpelten.
Wie viele Menschen hatten sich zu Tode geschuftet, um
solche Anlagen zu erschaffen ? Und wie sinnlos wurde ihr
Opfer, weil sich niemand mehr um die Pflege solcher Kulturdenkmale kümmerte ?
Das fragte man sich in Indien immer wieder.
Während ich beim Durchstreifen der Gartenanlage solch
schwermütigen Gedanken nachhing, wurden die Kamele noch
ein letztes Mal aufgetankt, bevor wir uns auf den beschwerlichen Rückweg nach Jaisalmer begaben, der uns über eine
steinige Hochebene führte, die vielleicht zwei Kilometer vor
Jaisalmer abrupt endete und einen wunderbaren Blick auf die
Stadt und das alles beherrschende Fort gestattete.
Da von der Anhöhe nur ein schmaler und steiler Trampelpfad in die Ebene hinunterführte, mußten wir zur Vermeidung von Stürzen von den Tieren absteigen und zu Fuß den
staubigen Abstieg bewältigen. Als wir unten angekommen der
ersehnten Stadt entgegenritten, war es bereits Nachmittag,
und erst gegen fünf Uhr, als die Schatten der im Westen
untergehenden Sonne wieder länger wurden, trafen wir auf
dem Platz vor der Stadt ein, wo wir uns, befriedigt durch das
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199
Dörthe von Arabien mit ihrem Knappen hoch über der Ebene von Jaisalmer
große Abenteuer einer Wüstendurchquerung, von Mensch
und Tier verabschiedeten.
W ie bereits erwähnt, fand man uns an den sonstigen Ta-
gen oft, wenn wir nichts weiter vorhatten, auf der großzügig
dimensionierten Sonnenterrasse des Hotels "Paradise", wo wir
bewegungslos auf unseren Handtüchern in den prallen Strahlen der Sonne liegend unsere Garzeit austesteten; glänzend
von dem hier im Ort erhältlichem hausgemachten Kokosnußöl, in dem wir vor jeder selbst auferlegten Wüsten-Wärmetherapie ausgiebig badeten. Eine besonders drastische UVBehandlung legte ich mir aber erst auf, als ich, zum Erstaunen
meiner gut durchgebackenen Reisegefährten, erschrocken
feststellte:
"Mann, jetzt sind wir schon zwei Monate unterwegs und ich
seh´ immer noch aus, als wär ich überhaupt nich´ im Urlaub
gewesen."
Sagte es und stand erst wieder auf, als meine krebsrote
Haut wäßrige Blasen warf und sich in Fetzen von den Knochen löste. Toll - so sah das schon richtig gut aus !
Aber nicht nur fürs Äußere eignete sich diese solare Intensivbestrahlung - auch unsere in der letzten Zeit durch die in der
indischen Nahrung enthaltenen biologischen Kampfstoffe stark
strapazierten Gedärme atmeten erleichtert auf. Der positive
Einfluß war unleugbar, wurde deutlich in der optimierten Konsistenz und kontrollierten Abgabe menschlicher Ausscheidungen. Kurzum, das allgemeine Wohlbefinden befand sich auf
dem Wege der Besserung.
200
D a machte es auch wieder mehr Spaß, Streifzüge durch die
bereiste Gegend zu unternehmen, wie der Besuch des
jaisalmerischen "Folklore Museum", das in der Nähe des
Trinkwasserreservoirs der Stadt lag. Trotz der geringen Größe des spärlich besuchten Museums beeindruckten die dargebotenen Exponate durch die Willkür ihrer Auswahl. Zu
sehen gab es Handarbeiten, landwirtschaftliche Gerätschaften, Waffen, Möbel, Kleidung, Bilder usw. Erstaunlicherweise
war dieses kleine Museum wirklich gut gepflegt, was man
von größeren und wertvolleren Sammlungen im Lande oft
nicht behaupten konnte.
Auf dem Bildungsweg ins Museum
Nach unserem Besuch verweilten wir an den Ufern des
Sees, aus dem die Bewohner ihren täglichen Trinkwasserbedarf deckten, und lauschten den schrabenden Klängen jener viersaitigen Wüstengeigen, deren Besitzer mehr schlecht
als recht versuchten, ein sehr bekanntes europäisches Volkslied zusammenzuspielen, da sie hofften, auf diese plumpe Art
und Weise leichter einen dieser mit Geld um sich werfenden
201
An den Ufern des malerischen Wasserreservoirs...
...tönen Wüstengeigen "Bruder Jacob, Bruder Jacob, hörst Du mich ?"...
202
...und Touristen fläzen sich auf den zum Wasser führenden Stufen
203
Touristen zum Kauf ihrer aus Kokosnußschalen, Bambusrohr
und alten Blechbüchsen handgefertigten Musikinstrumente zu
animieren. Aber...
"Thank you. No. I don´t wanna buy. "
Sie schrabten und schrabten und schrabten...
"Oh, no. Don´t wanna ... how much is it ? Sixhundred !? My
God..."
...und schrabten...
"It´s too expensive and - remember - I don´t wanna buy. I
can´t play..."
...schrabten, schrabten, schrabten...
"Mann, Mike die gibt´s in Nepal für 100 Rupies. Zwar nich´
so schöne, aber...", warf Rocky ein.
...schrab, schrab, schrabberdischrab...
"Ok, please, I don´t wanna buy this ... very nice, indeed ...
the Coconut sounds good. But..."
...und schrab, schrab, schrab, schrab...
"I lost my money. I only have hundredfifty in my pocket.
You see I can´t buy !"
...
"Mann, den sind wir los. Was sollte ich auch mit dem Riesending. Das Teil würde ja nicht mal in meinen Rucksack passen.
Aber schön war es schon und gut gearbeitet."
...schrab..........schrab, schrab...
"What ? You will sell it for hundredfifty !? Oh, noooo ...god
damned!"
204
"Another Tourist would give you more ! Why me ?"
"Du hättest keinen Preis nennen dürfen, Mike. Jetzt mußt
Du´s nehmen, hahaha !"
...und wenn sie nicht gestorben sind, dann schraben sie
noch heute und schraben und schraben...
Mike der `Wüsten-Paganini´
S o kam ich zu meiner Wüstengeige, die ich eigentlich überhaupt nicht haben wollte - inklusive mit wüsten Glöckchen
behängtem wüstem Geigenbogen. Den geringen Preis hatte
ich wirklich nur genannt, um den anhänglichen Verkäufer für
biologisch abbaubare folkloristische Musizierwerkzeuge loszuwerden. Und dann das.
Da mußte ich mir erstmal einfallen lassen, wie ich dies unhandliche, bestimmt einen Meter lange Teil transportieren
könnte. Dick mit Zeitungspapier umwickelt, das als Polsterung diente, befestigte ich es schließlich mit Riemen außen
205
am Rucksack und hoffte, daß es so keinen Schaden nahm auf
der weiteren Reise. Aber zuerst saß ich damit natürlich im
Innenhof unserer Herberge und versuchte mich zum Schrekken der anderen Mitbewohner in der Kunst des Schrabens.
Vielleicht hätte ich Schrab-Unterricht bei einem der
ortsansäßigen Schrabfidel-Verkäufer nehmen sollen ?
Doch blieb keine Zeit mehr, denn unsere faulen Tage in
Jaisalmer - dem westlichst gelegenen Punkt unserer IndienOdyssee - waren gezählt, unsere Bahnfahrt bereits gebucht.
Die nächsten Wochen bewegten wir uns auf dem Schienenweg in östlicher Richtung über Pushkar und Agra zurück nach
Nepal, wo wir die letzten Tage in Pokhara und Kathmandu
verbringen wollten.
206
Pushkar/Agra
M
it dem indischen Überlandbus schmetterten wir
am 24.Februar auf staubigen Landstraßen, über
denen die heiße Luft nur so flimmerte, zurück
nach Osten. Über Zwischenstation in Ajmer, sprich "im Eimer", erreichten wir schließlich das nördlich davon gelegene
kleine Kaff Pushkar; ein Selbstfindungseinkaufsparadies.
Pushkar ist rings von Bergen umgeben und liegt an Indiens
heiligstem See, der wiederum von etlichen kleinen und großen Ashrams umgeben ist, die wiederum von lauter durchgeknallten New-Age-Aposteln mit lauter tiefsinnigen weltfremdem Lebenseinsichten umgeben sind.
Das einzige, was in Pushkar wirklich zählt, ist das Geschäft.
Und das wird das ganze Jahr über kräftig betrieben. Sei es
durch verblendete Pilger, die ihre Rupien in den zahlreichen
unheimlich heiligen Ashrams verschwinden sehen, oder durch
zahlungskräftige Touristen aus dem In- und Ausland, die sich
geneigt zeigen, all die angebotenen fantastischen Handarbeiten für wenig Geld in ihren Besitzstand zu integrieren. Man
bekommt dort haufenweise Schmuck, Malereien, Teppiche,
Klamotten, Heilslehren, Lebenshilfen, viel Sonne, gutes Essen
und natürlich auch touristischen Murks.
Nach kurzer Suche auf der am See gelegenen staubigen
Geschäftsstraße hatten wir unsere Bleibe gefunden: Ein in
einer bunten Blumenpracht versunkenes Dornröschen-Hotel
mit dem äußerst treffenden Namen "Oriental". Dort waren
wir mit Nindi und seiner Angetrauten verabredet. Wir kippten unsere Sachen ab und relaxten erstmal ausgiebig im Garten. Nachmittags starteten wir eine erste Expedition, um unseren neuen Lebensraum mitsamt seinem Nahrungs- und Warenangebot für uns zu erschließen.
207
Pushkar ist direkt rund um den heiligen See entstanden...
...und somit ist kein Quentchen heiliger Boden mehr frei
208
Unglücklicherweise erhielt Nindi, den wir eigentlich sehr
schätzten, am folgenden Tag Kenntnis von zwei wichtigen
Dingen, die wir besser für uns behalten hätten:
1. Ich hatte Rum im Gepäck
2. Wir waren Kamelsafari-Junkies
Zu 1. muß man wissen, daß fast alle indischen Orte die ich
bis dahin kennengelernt hatte oder vielleicht noch genauer:
die Böden auf dem diese Orte wucherten, irgendwie `heilig´
waren - was auch immer das hieß.
Auf jeden Fall hieß es aber immer: Kein Allohol !
Die Einheimischen qualmten sich dafür lieber mit Dope oder
Marihuana den Verstand weg.
In weiser Voraussicht verschaffte ich mir daher über Kanäle, welche hier ohne Belang sind, zwei winzige Fläschchen,
deren berauschender Inhalt für den Rest der Indien-Reise der
Versorgung meines sündigen Körpers mit Gute-Nacht-Cocktails dienen sollte.
Doch Freund Nindi hatte nun andere Pläne, mit denen er
mich vertraut machte. Ein Freund hier am Orte besäße ein
kleines Lokal, in dem Tee, Kaffee und andere Erfrischungsgetränke ausgeschenkt würden. Unter anderem sei sein Freund
aber auch Fusel-Tester und so böte es sich an, ihn aufzusuchen, um die Qualität meines gehorteten Vorrates zu bestimmen. "Einen kleinen Drink in Ehren kann niemand verwehren", und so machten wir uns auf den Weg.
Mit verschworener Miene wurde der Laden geschlossen,
und um Fehler bei der Bestimmung zu vermeiden, teilte sein
turbotestender Freund sofort die komplette Flasche unter
uns auf. Fünf Sekunden nachdem wir den Laden betreten
hatten war die Flasche somit leer!, leer! und nochmals leer !
209
Aus reinem verbitterten Egoismus verweigerte ich den beiden Schnapsnasen deshalb meine Zustimmung, die zweite
bereits angebrochene Flasche ebenfalls zu testen.
Das war auch ganz gut so, denn Nindis Ehefrau war überhaupt nicht von dem geheimwissenschaftlichen Forschungsdrang ihres vergnüglichen Gatten angetan. Sie war sogar ziemlich entnervt, da sie vor kurzem entdeckt hatte, das Nindi
hinter ihrem Rücken einen Langzeitvertrag als Rauschmitteltester abgeschlossen hatte.
Und dann wurde Mr.Nindi zu allem Übel auch noch von
der Idee beseelt, seinen innig geliebten europäischen Freunden für wahnsinnig günstig eine tolle Kamelsafari zu organisieren. Er kannte angeblich den Besitzer eines Trampeltier-Versandes vor Ort.
Wir drei und auch unsere beiden liebgewonnenen Mitbewohner, ein gewisser `Ralf´ aus `Köln´, Kopf einer weltweit
operierenden Lügen- und Schmuckbastlerbande, und seine
holländische Komplizin Denise waren Feuer und Flamme für
einen kleinen Saunagang in die sandigen Weiten indischer Wüste. Wir erteilten Nindi die Verfügungsgewalt und bezahlten
alles im voraus...
W ährend der organisatorische Gedanke am Wirbeln war,
widmeten Dörthe und ich uns dem Sonnenbade und anderen
faulen Trägheiten.
Rocky spielte sich indes mit Schach die Finger wund und
verwies sämtliche pushkarianischen Schachmajestäten auf die
hinteren Ränge. Manchmal vertraten wir uns auch gemeinsam die Füße und hielten Ausschau nach orientalischen Mysterien hier am Markte, kauften viel Schmuck und ich mir
sogar zwei tönerne Shillums.
210
Bei einem dieser Streifzüge gerieten Rocky und ich zufällig
an einen ganz außergewöhnlichen Laden, den dort bestimmt
niemand erwartet hätte:
In einem kleinen Holzverschlag von den Abmessungen eines kleinen hölzernen Verschlages hockte der etwa vierzigjährige Sohn von Rick und behütete kameratechnische Kostbarkeiten wie alte Leicas, Hasselblad und voluminöse Plattenkameras von Kennstenich. Zudem lag viel anderes an kostbaren Raritäten in den verstaubten Regalen, wie etwa alte Schiffskompasse, Schreibmaschinen, Ferngläser, usw. Die Preise
waren durchaus auf westlichem Niveau, und zu seinem Publikum zählte viel sammelnde ausländische Kundschaft aus
Amerikanien und Japanada, ließ er stolz vernehmen.
Als wir beim zweiten Mal dort aufkeuzten, um unsere Einladung zum Tee wahrzunehmen und Rockys Interesse an
einem Schiffskompass zu befriedigen, schob sich vor unseren
Augen gerade eine fette lautstarke Demonstration der Hindus gegen die Sikhs durch die Straßen, und die durch Sprechchöre mit Megaphonunterstützung angeheizte aggressive Stimmung der Versammelten übertrug sich mysteriöserweise auch
gleich auf das Wetter oder die erzürnten indischen Götter,
211
denn Minuten, nachdem der Zug am Laden vorbeigebrüllt
kam, hagelte es eigroße Hagelkörner vom Himmel. Und während die Wellblechdächer der Häuser durch den Aufprall erschepperten, schüttelte Rickys Sohn verständnislos sein intelligentes Haupt über die reaktionäre "Make-War-Not-Love"-Bewegung seiner Landsleute und Glaubensbrüder.
Das Wetter blieb den ganzen Tag über regnerisch...
`Ralf´ aus `Köln´, Mike of Arabia und Rocky beim Tee-Exzess
D ann kam der Tag X ... und wir bestiegen lässig und guter
Laune die für die Kamelsafari bereitgestellten friedfertigen Dromedare. Soweit hatte alles ganz gut geklappt.
Bis auf das Timing - denn wir waren reichlich spät dran !
Naja, und dann ritten wir fröhlich, ob der Dinge die da
kommen würden, eine halbe Stunde durch eine wenig wüste, geschweige denn interessante Gegend, bis der Kamel-
212
Animateur und Teamleiter plötzlich und zu unserer aller Erstaunen schon wieder stoppen ließ.
An einem im Schatten von ein paar Bäumen stehenden
Gebäude sollte das mitgeführte Essen vernichtet werden; ganz
in der Nähe von ein paar Feldern - also nix Wüste ?!
Verdutzt stiegen wir von den kaum beanspruchten Tieren
und fragten uns, was das nun zu bedeuten hätte. Wollte man
uns verarschen ?
Nindi aber war voll und ganz zufrieden mit der Situation,
denn nach seiner ausgeklügelten Planung würden wir jetzt
und hier ´ne geile Äthanol-Party feiern und mit dem Testen
meines restlichen Rumverschnittes fortfahren.
Moment mal ! Das war auch mir neu. Bei der Hitze Rum ?
Nindi mußte bereits unter der Sonne leiden oder war vom
wilden Weingeist besessen !
Während Rocky vor Wut der Geifer über soviel Dreistigkeit am Kinn heruntertropfte und er bereits Kampftechniken
zur Ausrottung minderwertigen Lebens einstudierte, berieten wir über die Lage und machten Nindi klar, das Safari zwar
wie das deutsche Wort "Sauferei" klänge, aber eigentlich überhaupt und rein gar nichts damit zu tun hatte.
Dann fügten wir uns in die Situation, packten uns in die
kaum zu ertragende drückende Schwüle des Schattens und
warteten aufs spärliche Essen, welches uns die wenig guten
Köche vorsetzten, statteten den nahen Feldern, auf denen
einige Frauen arbeiteten, einen Besuch ab und machten ein
paar Fotos von der Gegend.
S oviel ich auch grüble und grüble, ich kann mich ehrlich
gesagt nicht mehr an viel von dieser Kurz-Saufari erinnern,
und das sagt einiges über die Wertigkeit dieses Unternehmens aus. Ich glaube, der Veranstalter erklärte uns noch, daß
213
Heia Safari !
Nindi mit Ehefrau
214
Zwei Hitzköpfe beim Abkühlen
Rocky beim Versuch, schneller zu sein als der Blitz !
215
dort mit Wüste und Sehenswürdigkeiten sowieso nicht viel
los sei und es sich nicht lohnen würde noch lange in der
Gegend herumzureiten, es also besser wäre, den ersten Gedanken wieder aufzugreifen und nach dem Essen zurückzureiten; was wir dann wohl auch taten.
Die ganze Geschichte war auf jeden Fall ein riesengroßer
Flop und hatte im Endeffekt genausoviel gekostet wie unsere
erste Wüstentour. Das nahmen wir Nindi sehr übel.
N ach diesem schändlichen Reinfall widmeten wir uns wie-
der mehr der interessanteren kaufmännischen Tätigkeit. Wirklich nennenswert war in diesem Zusammenhang zum Beispiel der Laden
Dort gab es die gleichen Patchwork-Stoffe wie in Jaiselmer
zu kaufen; meist verarbeitet als Decke oder Wandteppich.
Als alter Jäger und Sammler konnte ich leider nicht widerstehen; hatte bereits einen dieser mit goldenen und silbernen
Mustern durchwirkten Teppiche in mein Herz geschlossen.
Und weil es solche Schmuckstücke nur in dieser Gegend
gab und ich nicht erwarten durfte, auf einer der nächsten
216
Reiseetappen weitere Angebote zu bekommen, ließ ich ihn
mir für satte sechzig Mark einpacken. Dörthe tat´s mir nach
und zahlte ´n schlappen Hunni für das nächstgrößere Modell.
Für fünfzehn Mark gönnte ich mir noch eine in rot gehaltene `Sergeant-Pepper-Lonely-Hearts´-Jacke aus dem gleichen
Material, und dann kam mir der geniale Geistesblitz, eine
Jeans aus dem Zeug nähen zu lassen. Der im Umgang mit
Phantasten, einfachen Blöden und verkorksten Touristen geschulte Händler erklärte sich zu diesem in der Welt bisher
einzigartigen Experiment bereit und verlangte 30 Mark für
seine Arbeit. Dann wurde ich komplett vermessen und zum
Warten und Hoffen nach Hause geschickt. In zwei Tagen
war sie fertig und wir staunten alle nicht schlecht über das
Ergebnis - aber ehrlich gesagt habe ich sie bis heute niemals
getragen !
N un vollkommen auf Klamottenkauf versessen, gab ich in
einem anderen Laden eine `kleine´ Bestellung über fünfzehn
maßgeschneiderte bunte Sommerhemden in Auftrag; kaufte
im nächsten drei aus Sackleinen produzierte Wüstenhemden
mit eingearbeiteter Seitentasche sowie eine helle windbeutelartige Wüstenleinenhose, die ich in diesem Klima gerne gegen meine dicke dunkle Armeehose eintauschte, und ließ mir
im übernächsten nochmals etwas Extravagantes aus Wandteppichen schneidern: eine barocke Designer-Weste.
Als Vorlage diente dabei Rockys Kutte, da mir der Schnitt
ganz gut gefiel. Allerdings gab es diesmal Streß mit dem aufmüpfigen Ladeninhaber, weil er das Kleidungsstück erstens
nicht wie vereinbart fertigstellte und zweitens auch noch recht
frech viel mehr Geld als vereinbart verlangte, denn sonst wollte
er seine Arbeit nicht fortführen.
217
Das brachte mein wegen der Sonne bereits siedendes Blut
in kochende Wallung und diesmal ergriff ich die Gelegenheit
und ihn beim Kragen, um endlich einmal meinen Unmut über
die im allgemeinen unerhörten Geschäftspraktiken indischer
Geschäftsleute herauszuschreien. Er aber lächelte mich nur
an und wiederholte seine Forderung. Sollte ich ihn verprügeln oder einen Teil seiner Ware hinunterschlingen lassen ?
Ich wußte es nicht.
Zusammen mit Rocky als unparteiischem Schiedsmann suchten ich erneut den Laden auf. Rocky fielen allerdings gleich
die Augen raus, als er die bisher fertiggestellte Arbeit sah, und
er riet mir begeistert, unbedingt auf den Handel einzugehen.
Das tat ich dann auch. Trotzdem fühlte ich mich von dem
Händler vorgeführt...
Wie man sieht, gibt es viele Esel in Indien !
218
Z wischen unseren Streifzügen gingen wir ab und zu auch
mal Essen - man glaubt es kaum !
Wir nutzten z.B. die durch unseren Nachbarn `Ralf´ vorgeschlagene Möglichkeit, in einem Zeltrestaurant zu essen: Man
zahlte glaube ich dreißig Rupien und konnte von dem großen
und vielfältigen Angebot des aufgebauten Buffet dann soviel
essen wie man wollte, bis man platzte oder die Scheißerei
bekam oder die Scheißerei bekam, von der man dann platzte.
Daher war es aus taktischen Erwägungen angeraten, möglichst früh dort zu erscheinen, weil dann die Speisen noch
nicht allzu lange in der bakterienbegünstigenden Hitze gestanden und die immer auf der Lauer liegenden Fliegenschwärme noch keinen Wind davon bekommen hatten. Das
Essen an sich war jedoch hervorragend.
In einem anderen von uns favorisierten Eßlokal erlebten
wir eines Tages zur allgemeinen Erbauung einen handfesten
Streit zwischen einem deutschen Ehepaar, dem RestaurantBesitzer - nennen wir ihn der Einfachheit halber `Heini´ und einer Gruppe geschniegelter Geschäftsleute, dem folgende Geschichte zugrunde lag:
I ndieninteressiertes junges Alternativ-Ehepaar bereiste vor
etwas mehr als einem Jahr unter anderem die Gegend um
Pushkar, lernte `Heini´ kennen, und sie freundeten sich an.
Kurz vor ihrer Rückreise in die Heimat fiel ihnen noch ein:
"Brauchen wir Teppich ! Geschenk für Eltern !"
`Heini´ sagte: "Kann ich euch helfen. Kenn´ ich Händler für
Teppich. Gutes Bekannter. Nooo propplem."
Aus dem Freundschaftssortiment wurde ein genehmer Teppich in einer bestimmten Machart, mit einem bestimmten
Muster und in einer bestimmten Qualität ausgesucht, das Pär-
219
chen bezahlte bar und machte sich zufrieden auf die Heimreise, denn um die Zusendung des wertvollen Webgutes bräuchten sie sich keine Sorgen zu machen; man hatte bereits Erfahrung mit Ausländern - das ginge wie von selbst: Ja, aber
meistens schief !!!
Denn bedenke: Indien ist nicht nur das Land der Lebenden
Toten, sondern auch der Gaukler und Scharlatane.
Z urück in Deutschland ... warten. Nach Monaten erschien
endlich der indische Paketzustellungsdienst an der Wohnungstüre und lieferte die Reste des auf der langen Reise von Asien
übriggebliebenen Teppichs ab. In der Mitte des guten Stückes
klaffte nämlich ein schönes großes ausgefranstes Loch.
Kann ja mal vorkommen - so ein Loch.
Verständnisvoll schickten sie ihn zurück ins Herkunftsland
mit der höflichen Bitte um Ersatz. Da es aber ein verzauberter Bumerang-Loch-Teppich war, erhielten sie ihn zwei Monate später unverändert zurück. Also schrieben sie in ihrer
Verzweiflung einen Bannbrief dazu und schickten das stoffliche Loch noch einmal auf die lange Reise ins Yogi-Land.
Daraufhin kam eine neue Bodentapete, aber mit einem vollkommen falschen Muster, falscher Größe und schlechter Qualität. Jetzt fing das Ehepaar an Teppiche zu hassen...
Da auch nach weiteren heiteren Versandaktionen nichts
gefruchtet hatte, blieb ihnen gar keine andere Wahl, als ihre
Koffer zu packen, nach Delhi zu fliegen und von dort mit der
Bahn nach Pushkar aufzubrechen, um das unredliche Teppichsyndikat zu zerschlagen.
N un saßen alle Beteiligten mit finsterer Miene unter einer
lachenden Sonne im Restaurantgarten, und während am heutigen heiligen Tag `Holi´ die fröhlichen Leute auf den Straßen
220
Am Feiertag `Holi´ toben wilde Farbpulverschlachten auf der Straße
ausgelassen mit buntem Farbpulver um sich warfen und Wasser verspritzten, wurde gestritten, daß die Fetzen flogen.
Unser `Heini´ war einem Herzinfarkt nahe, denn er fühlte
seine Ehre und seinen guten Ruf geschädigt; bekam eine
dermaßene Stinkwut auf die teppichknüpfenden Kameraden,
daß er sich fast besinnungslos brüllte, zumindest aber die Gegend durch seinen Speichel bewässerte. Erst durch einen bösen Brief aus Deutschland hatte er angeblich von dem Teppich-Desaster erfahren. Hätte er sich im Falle einer Freundschaft vielleicht doch mehr drum kümmern sollen, denn wie
sagt schon ein altes Sprichwort: "Wer sich auf andere verläßt
ist verlassen !"
Die Händler rechneten wahrscheinlich gar nicht damit, daß
ihre geprellten Kunden noch einmal zurückkämen. Sie machten überhaupt einen sehr uneinsichtigen Eindruck, denn was
sollte ihnen schon passieren ? Deutsche Gesetze, Moral- und
221
Ethikvorstellungen galten in Indien sowieso einen Dreck, und
wenn unsere Landsleute ohne eine Portion Glück angereist
waren, konnte es durchaus passieren, daß sie auch noch im
Knast landeten, denn die indische Polizei gilt als sehr korrupt.
Für einen Plastikkugelschreiber tun die fast alles !
Wie die ganze Geschichte ausging, kann ich leider nicht sagen, da wir uns irgendwann verabschiedeten. Aber die Polizei
trudelte am Schluß auch noch ein...
D ie meiste Zeit war es in Pushkar aber sehr angenehm,
und kurz vor unserer Abreise fiel es dem Sohn des wohlhabenden Hauses "Oriental" auch noch ein, sein tristes Junggesellenleben aufzugeben und endlich eine von der Familie nach
wirtschaftlichen Gesichtspunkten `Auserwählte´ zu heiraten.
Das würde ein Fest geben ! Früh am Morgen begannen die
Der Bräutigam wartet im Kreise seiner Angehörigen auf die Braut,...
222
ersten Vorbereitungen: Im Vorgarten wurde ein großes Zelt
aufgebaut, und das gesamte Anwesen verschwand unter Tonnen von bunten Kitsch-Lichterketten, wie wir sie von Weihnachten her kennen. Allein der Energieverbrauch dieser
Lampenplage mußte
schon ein Vermögen
kosten !
Dann trafen die auf
keinem indischen Fest
fehlenden Trommler
und andere Musiker
ein, die für die Party
am Abend schon mal
den Rhythm of the day
einübten und die bereits eintrudelnden Gäste zum Tanzen animierten, bis das Mittagbuffet für sie aufgestellt
war. Die Musiker dürfen, wie ich mittlerweile weiß, nicht mit den
anderen zusammen
essen, geschweige
...die im Kreise Ihrer Sippe herannaht.
denn vom gleichen Geschirr, da sie zur niedrigsten Kaste in Indien gehören. Sie sind sozusagen ein notwendiges Übel.
Nachmittags schließlich wurde die in einen kostbaren golddurchwirkten Sari gekleidete Braut von ihrer Familie durch
die Gassen von Pushkar zu ihrem im Wüstenzelt wartenden
zukünftigen Herren geführt.
223
In diesem Falle hätte es sich sicher gelohnt, deutsche Sitten
einzuführen und die Braut oder am besten gleich alle Frauen
zu entführen, denn die Klamotten der weiblichen Gäste mußten ein Vermögen wert sein ! Ich hätte ja gerne gewußt, in
welcher Höhe sich die familiärfinanziellen Transaktionen dieser Hochzeit bewegten. Doch das blieb ein Geheimnis für
uns, und so genossen wir das Fest bis spät in die Nacht, zu
dem wir natürlich alle herzlich eingeladen waren...
D er Tag des Abschiednehmens war mal wieder gekom-
men, und bevor wir mit dem Jeep nach Ajmer rollten, beging
ich noch den größten Fehler meines Lebens:
Ich gab dem Vertrauen erweckenden `Ralf´ aus `Köln´
meinen vor kurzem erworbenen handgearbeiteten supergeilen Spazierstockdegen zur Aufbewahrung, weil ich Angst
hatte, der deutsche Zoll würde mir dieses echt `scharfe´
Spielzeug bei der Einreise kurzerhand wieder abnehmen.
`Ralf´ erzählte uns nämlich, er flöge nicht direkt nach Hause, sondern zuerst nach Griechenland, und von dort würde
er mit der Bahn weiter nach Deutschland fahren, weil´s bei
Einreisen aus dem europäischen Ausland angeblich keine Probleme mit unserem Zoll gäbe. Hörte sich ausgezeichnet an
und daher gab ich das seltene Stück in seine Obhut, wir tauschten unsere Adressen, und dann sah ich meinen Besitz niemals
mehr wieder...
Wie sich später in Deutschland herausstellte, gab es gar
keinen `Ralf´ aus `Köln´, jedenfalls nicht unter der angegebenen Adresse und Telefonnummer. Dieses dumme Schwein
hatte mich echt verarscht !
Mir wollte es gar nicht in den Schädel, wie jemand, mit dem
wir soviel zusammen unternommen hatten, so verlogen sein
224
konnte. Dabei ging es bestimmt nicht nur um diesen dämlichen Degen, denn der kostete nur ein paar Mark.
Was also hatte das alles zu bedeuten ?
Tja, das würden wir wohl auch nie erfahren...
M it dem Zug fuhren wir von Ajmer weiter nach Agra, wo
wir mitten in der Nacht ankamen. Ich glaube es war drei Uhr
morgens oder so.
Wir hatten uns zwar mit Nindi verabredet, der uns am
Busbahnhof abholen wollte. Doch leider erst um acht Uhr.
Also suchten wir uns in der Nähe des Bahnhofes ein Plätzchen zum Schlafen und schlugen unser morgendliches Lager
in Ermangelung weiterer
Alternativen auf einer vor
Pisse stinkenden Mauer
am Busstop auf.
Es war außerdem ziemlich kalt, weswegen wir unsere Schlafsäcke entrollten
und versuchten, trotz des
widerlichen Gestankes ein
Auge zuzukriegen.
Nindi hielt glücklicherweise Wort und kam
pünktlich um acht Uhr mit
einer Royal Enfield vorgefahren. Rocky fuhr als Beifahrer mit; Dörthe und ich
mitsamt dem Gepäck kaperten ein Taxi, das Nindi
Nindi, seine Royal Enfield und Rocky am
zum Haus seiner Eltern Busbahnhof, morgens um acht Uhr
225
folgte. Dort konnten wir uns erstmal frisch machen und erfuhren dann, daß sich Nindis Ehefrau wenigstens zeitweise
von ihm getrennt hatte und auf dem Weg zurück nach Australien war. Armer Nindi !
N a jedenfalls ließen wir
unser Gepäck zurück und
statteten zuerst dem im
17.Jahrhundert von den damals herrschenden moslemischen Moghuln erbauten
riesenhaften Red Fort einen
Besuch ab, das zu einer der
weltgrößten Festungsanlagen zählt.
Das Fort ist von einer 2,4
Km langen und 21Meter
hohen Mauer aus rotem
Sandstein umgeben, und im
Innern der BefestigungsanAbgefahren, oder ?
lage befindet sich nicht nur
eine stattliche Anzahl von Palästen verschiedener Zeitalter
und Erbauer, sondern auch die größte marmorne Moschee
der Welt, genannt Moti Masjid. Alles liegt eingebettet in einer
phantastischen und gut gepflegten Gartenanlage, und von der
zum Ganges gelegenen Umfassungsmauer konnte man direkt auf das auf der anderen Flußseite gelegene Tadj Mahal
gucken. Beeindruckend !
E in paar Stunden ruhten wir uns dort auf einer der Liege-
wiesen aus. Dann mieteten wir uns zur Feier des Tages eines
der originellen Pferdegespanne und ließen uns zum weltbe-
226
Blick vom Red Fort auf das Tadj Mahal
Ein Teil der Gartenanlage im Innern des Red Fort
227
Das Tadj Mahal im Jahre 1991
rühmten 74 Meter hohen Mausoleum Tadj Mahal kutschieren, das Shah Jahan ebenfalls im 17.Jahrhundert für seine verstorbene Lieblingsmaus Arjumand Banu Begum erbauen ließ,
wozu er seine liebevoll geknechteten Untertanen Baumaterial aus ganz Indien, dem fernen Iran und Afghanistan heranschleppen ließ. Das gesamte Gebäude ist mit weißem Marmor verkleidet und aufwendig mit Ornamenten verziert.
Durch ein großes steinernes Tor aus rotem Sandstein gelangt man auf den von Sträuchern und Blumen flankierten
Weg. Rechts und links stehen in Abständen ebenfalls riesige
rote Bauten, deren näherer Sinn mir jedoch nicht bekannt ist.
Der ebenfalls mit weißem Marmor verkleidete Fußboden vor
dem Tadj Mahal durfte nicht mit den eigenen Schuhen betreten werden. Dafür gab es bereitgestellte Filzpantoffeln oder
man ging auf Socken.
228
Der Vorplatz mit dem Hauptgebäude des Tadj Mahal
229
Fotografieren im Innern des Gebäudes war auch nur erlaubt, wenn man vorher eine entsprechende Gebühr bezahlt
hatte. Hatte ich nicht, und daher existieren leider keine Fotos aus der dunklen Krypta.
Es war ´ne ganze Menge los an diesem Tag - viele indische
Touristen. Aber das war auch zu erwarten, denn das Tadj
Mahal ist das Touristendenkmal Numero Uno in Indien.
Kleine Erinnerung von Nindi...
H aben danach etwas in einem exquisit aussehenden Lokal
gegessen. Doch obwohl die Kellner in Livré bedienten, war
das verfütterte Essen nicht den Spitzenpreisen angepaßt. Vielleicht hatten die Köche auch speziell was gegen mich, denn
nur meine Pizza war und blieb kalt. Wie oft ich sie aus diesem Grunde auch zurückgehen ließ, die Temperatur änderte
sich nicht um einen Deut.
Auf Anraten meiner mitfühlenden Reisegefährten gab ich
mich dann kurzerhand geschlagen und freute mich dafür um
so mehr auf den Nachtisch: einen leckeren Eisbecher; dem
teuersten auf der Karte. Aber zu früh gefreut, denn auch das
Eis war reiner Mist ! Jeder Straßenverkäufer verkaufte besseres Material als das, was einem in diesem Restaurant angeboten wurde.
Es war äußerst bunt und schmeckte wie Zuckerwasser !
230
Abends auf dem Bahnhof von Agra
Bleichgesichtanstarren ist Volkssport in Indien
231
A bends holten wir unsere Klamotten und Fahrkarten ab,
die Nindi besorgte hatte, und fuhren zum Bahnhof. Dort zogen wir unbeabsichtigterweise gleich eine Gruppe indischer
Meditationsstarrer in unseren Bann, die uns aus einem Abstand von einem halben Meter so lange bewegungslos anstarrten, bis ich gehässig meine Kamera gezückt und sie mit
dem Blitz aus ihrem hypnotischen Tiefschlaf geweckt hatte.
Geblendet verschwanden sie vollkommen verwirrt, und wir
ratterten kurz darauf mit dem Zug zur Übernachtung nach
Lucknow...
A m nächsten Tag kaufte ich mir dort auf dem Bahnhof eine
gerade neu erschienene Illustrierte, die einen buntbebilderten
Sonderbericht über den Golfkrieg enthielt. Ein anderer Bericht in dieser Zeitung befaßte sich mit einem Bombenanschlag der Sikhs hier auf dem Bahnhof, wobei es zwei Hindus
total zerfetzt hatte. Dieses nicht sehr beruhigende Ereignis
fand erst vor zwei Tagen statt !
Als dann endlich unser Zug einfuhr und wir unsere Plätze
suchten, mußten wir zu unserem Ärger feststellen, das diese
Saubratzen von indischen Fahrkartenverkäufern ganz schön
link waren oder einfach nur total beschränkt: Das Abteil, in
dem sich unsere reservierten Plätze befanden, war vollbesetzt, und die Leute hatten ebenfalls gültige Platzkarten !
Zum Glück gab es aber auch in Indien noch ein paar anständige Leute, die Ausländern in Not vollkommen selbstlos halfen. Auf dem Bahnsteig traf ich solch einen Menschen; einen
jungen indischen Bahnangestellten vom Weltinteressenverband
der Muscle-Monster, der aufgrund meiner nicht verhüllten Bizeps sofort Kontakt aufnahm. Nachdem ich ihm das Geheimnis meines Erfolges mitgeteilt hatte, kümmerte er sich sofort
232
um unser Problem, und innerhalb kurzer Zeit hatten wir ein
ganzes Abteil für uns alleine !
Während der langen Fahrt lernten wir dann einen jungen
freakigen Holländer kennen, der irgendwo an der afrikanischen Westküste aufgewachsen war, was man ihm auch anmerkte, wenn er sich über die Eingeborenen ausließ. Sag
noch mal einer, Deutsche wären Rassisten !
Irgendwo auf der Strecke, bei einem Zwischenstop, wechselten wir zusammen mit ihm von der zweiten in die erste
Klasse; da der Zug immer voller wurde und uns einfach zuviele Leute auf die Pelle rückten. Das löste auch gleich wieder einen kleinen Volksauflauf aus, als der Schaffner draußen
auf dem Bahnsteig unsere neuen Tickets präparierte und das
Geld kassierte, denn es war etwas ungewöhnlich, daß ein
paar abgerissen aussehende Gestalten wie wir locker die fünfzehn Mark pro Person hinblättern konnten, um sich diese
Extravaganz zu leisten. Doch außer einem mehrfachen Preis,
fast nur leeren Abteilen und tatsächlich funktionierenden
Deckenventilatoren gab es eigentlich keinen großen Unterschied zur zweiten Klasse.
In Gorakhpur verließen wir endgültig den Zug und stiegen
nun um auf den Bus, mit dem wir nach Sonauli fuhren. Dort
verbrachten wir die Nacht in einer Pension mit Mehrbettzimmer.
233
D ann weiter Richtung Pokhara. Durch verschiedene nega-
tive Umstände am Grenzübergang mußte unser Busfahrer
leider kapitulieren und stoppte spät nachts in einem kleinen
nepalischen Dorf, wo wir vollkommen übermüdet bei Kerzenschein eine Bleibe für uns suchten und schließlich in einem
windigen und noch dazu dreckigen Holzschuppen bei den
Spinnen und Asseln übernachten mußten, bevor wir am Tag
darauf die letzte Etappe mit dem Bus beendeten...
234
Letzte Tage...
R
ockys Notizen zufolge trafen wir am 8.3.1991 ziemlich durchfallgequält in Pokhara ein - nach über einem Monat akuten Bakterienbefalles waren wir der
Verdauungshölle Indien entronnen und zurück in Nepal ! Wir
hatten uns die Ruhe und Faulheit, zu der das subtropische
Pokhara einlud, wahrlich verdient.
Das westlich von Kathmandu in einem Tal gelegene Städtchen befindet sich in einer Höhe von neunhundert Metern
über Normalnull am fünf Kilometer langen Pheewa-See.
Die überwiegend von Fußgängern und Radfahrern belebte
Straße, die am See entlangführt, mit den vielen, vielen kleinen
Wellblechshops und Restaurants, die Anfang der Siebziger Jahre
ihre Arbeit aufnahmen und sich im Laufe der Zeit immer
mehr auf die Bedürfnisse der MultiKulti-Konsumenten eingestellt haben, ist das Haupttouristengebiet Pokharas. Das Leben dort ist aber vollkommen anders als in Kathmandu nicht so hektisch. Trekker und Bergsteiger nutzten seit eh und
je die ruhige Atmosphäre, um sich von den selbstauferlegten
Anstrengungen ihrer Unternehmungen zu erholen und den
Bauch mit all den schmackhaften Gerichten vollzuschlagen.
D örthe und Rocky mieteten sich bei Bharat ein - einem
der vielen Millionen `alter Bekannter´ von Rocky. Er besaß
eine kleine Pension in der Nähe des Sees; recht hübsch gelegen, mit schönem umweltgerechtem tropischem Garten,
Bananenstauden, etc., und die Leute waren echt nett.
Die Zimmer hatten Lehmwände und -fußböden und waren
recht einfach gehalten. Da ich aber damals der alleinigen Auffassung war, einer strapaziösen Diarrhöe-Forschungsreise müsse unbedingt und auf jeden Fall etwas mehr Komfort folgen,
suchte ich mir ganz in der Nähe ein Doppelzimmer mit richtigem Teppichboden, Doppelbett, Schrank, viel Platz, Zimmer235
Bharats Bananenstauden-Paradies
Rechts meine bescheidene Hütte und geradezu die Küche
236
service und Ungestörtheit. Ich hatte allerdings die Rechnung
ohne den Wirt oder vielmehr den Verwalter der hiesigen
Anlage gemacht, der mir in den nächsten Tagen ununterbrochen mit seinem unerbittlichen Wunsch in den Ohren lag,
ihm doch bitte! bitte! einen Flug nach Deutschland, ins Land
wo Milch und Honig fließen, zu spendieren oder mich zumindest um eine Aufenthaltsgenehmigung dort zu kümmern, da
der `Arbeitsplatz Nepal´ in einer
dicken Krise stecke, und so weiter und so fort.
Nun könnte jemand meinen,
heurio !, eine einmalige Gelegenheit eine Menge quälenden Mammons auf einen Schlag loszuwerden. Aber nein, ganz im Gegenteil
ging mir der aufdringliche Typ mit
der Zeit echt auf die Nerven !
Ich war im Moment selber ohne
geldbringende Beschäftigung - da Suche Arbeit !
hatte ich zuhause bestimmt andere Sorgen, als mich um die Probleme, zwar netter, aber
doch vollkommen wildfremder Menschen zu kümmern.
Diesen Zwiespalt versuchte ich diesem Uneinsichtigen auch
zu vermitteln, doch halfen meine vorgebrachten Argumente
von den endlosen Kolonnen vor den Arbeitsämtern wenig,
denn es gab andere Leute unseres Landes, die ohne weiteres
eine solche Bürgschaft übernahmen und die `guten Freunde´
ins gelobte Land brachten. Alles Lüge !
Was machten diese hilfreichen bürgenden Mitbürger eigentlich, wenn die Fremden - erstmal im Schlaraffenland - einfach
abtauchten? Als Bürge verpflichtete ich mich doch, für den
Lebensunterhalt des Schützlings und die Folgen seines Wir-
237
kens aufzukommen. Auch wenn ich mir den Flug hierher
geleistet hatte und daher in Nepal schon als zu den Oberen
Zehntausend zählte - soviel Verantwortung wollte ich nicht
nicht übernehmen: ohne mich !
N ichtsdestotrotz hatten wir viel Spaß in Pokhara. Wir mie-
teten uns entweder ein Boot und ließen uns in der Sonne
aalend auf dem See herumtreiben, sonnten uns bei Bharat im
Garten oder statteten einem anderen `Alten Bekannten´ mit
Namen Deepak einen Besuch ab, der einen kleinen Getränke-Schuppen besaß und tierisch auf lange Haare, Bier und vor
allem Hardrock abfuhr.
Oder wir hingen in einem der vielen Cafes und Restaurants
am See lustlos ab und genossen dort in Massen das köstliche
Essen, wobei wir eines schönen Tages unter anderem einen
jungen Russen kennenlernten, der nach dem Umbruch in der
einstigen Sowjetunion mit nur zweihundert Dollar Taschengeld zu dem Abenteuer aufgebrochen war, den Himalaya für
sich zu erobern. Die ganze Odyssee bis nach Nepal klang
ziemlich spektakulär und verrückt.
Zusammen mit einem Amerikaner enterte ich anderentags
mit einem Boot das jenseitige Ufer des Phewa-Sees, um das
dortige `wilde´ Land zu erkunden. Wegen einiger dampfender Kothaufen von vermeintlichen Bären im Gestrüpp des
dichten `Urwaldes´ wurde mein Kollege aber sehr schnell
unruhig. Daher brachen wir die Erforschung der unbändigen
Natur frühzeitig ab und kehrten wieder zurück.
238
Der Phewa-See in Pokhara...
...lud ein zum Bootsausflug.
239
I n der Hauptsache aber nutzen wir die Zeit zur Beseitigung
unserer immer noch unerträglichen Geldvorräte, die bei diesen Dumping-Preisen für Unterkunft und Verpflegung einfach
nicht schrumpfen wollten.
Daher beschlossen wir den radikalen Ausbau unserer Andenken-Warenlager und starteten eine erkleckliche Anzahl
konjunkturfördernder Raff-Raubzüge in die Schattenwelt der
trickreichen pokhrischen Souvenirdealer.
Wir kauften z.B. händeweise der von Indianern in aller Welt
geliebten blaugrünen Türkise, von denen Rocky, unsicher geworden, einige mit Hilfe eines Flammwerfers und Hammers
in ihre Bestandteile zerlegte, da ihm jemand erzählte, die
Dinger wären sowieso alle unecht - hergestellt aus gefärbtem
Beton. Zu seiner bitteren Enttäuschung waren sie aber alle
echt !
Schädeldecken gemeuchelter Trekker und verzierte, satanisch blickende Affenschädel standen auf der Wunschliste, Ketten jeglicher Machart, Ringe, Gürtel, günstige grell gellende
Cymbals und Bukschas - tibetische Musikinstrumente, alte vermottete Sherpa-Mützen, schnitzwerkverzierte Holz-kistchen
mit Geheimverschluß, glitzernde Bergkristalle, rituelle Messer, Mandalas aus Messing und Yak-Knochen, mysteriös-ritueller Tand, usw.
Zu guter Letzt ließ ich mir in einem Klamotten-Shop noch
ein Paar exquisite China-Hemden aus robuster Baumwolle
anfertigen; mit schräglaufender Knopfleiste und vielen Taschen.
Leider war der Schneider kein Meister seines Faches und
nicht in der Lage, zwei exakt gleiche Exemplare von seiner
Schnittvorlage zu reproduzieren oder gar etwas von seinem
`Tütenstil´ abzugehen, was mein Nervenkostüm ins Wanken brachte und ihn zusätzliche Arbeit kostete, um die Ware
dem Bestellten anzupassen.
240
Die Einkaufsmeile am Phewa-See mit dem Machapuchare im Hintergrund
Wir bezahlten nicht immer mit Geld, sondern versuchten
zusätzlich weitere Ausrüstungsgegenstände unter die Leute
zu bringen, wie z.B. unsere Schlafsäcke, die ihren Zweck
erfüllt hatten und nur noch unnötiges Gewicht darstellten.
Ich hatte ziemliches Schwein und bekam schon beim dritten Versuch eine Handvoll schöner walnußgroßer Türkise
dafür. Gekauft hatte ich ihn gebraucht für dreißig Mark - ein
gutes Geschäft !
Rocky wollte nun auch sein Glück damit versuchen und
klapperte Tausende von Läden ab. Doch seine aufwendigen
Schlafsackpräsentationen schlugen irgendwie nicht an, so daß
er total entnervt bereits mit dem Gedanken spielte, sich ein
Boot zu mieten, um in einer gigantischen Showeinlage sein
Modell vor den Augen aller Händler im See zu versenken.
Als die Schlafsack-Fachwelt davon hörte, kauften sie ihm
das Teil doch lieber ab.
D ann gibt´s da noch die Geschichte von den wirklich echten ich-schwöre-bei-meiner-Mutter-und-allem-was-mir-heilig-ist241
Ausgefuchste Touristenjägerin im Anmarsch !
Sea-Stones - deren echte Vertreter normalerweise einige hundert bis tausende von Dollar kosten - für n u r hundertfünfzig Rupies das Stück, die uns eine fliegende tibetische Händlern beim morgendlichen Frühstück andrehte, obwohl wir
ganz eindeutig erkannten, daß die angebotene Ware zwar
hübsch war, aber nur aus bemalter Keramik bestand.
Dank unseres Sachverstandes und unserer bereits erprobten, äußerst geschickten Verhandlungstaktik bezahlten wir nur
hammerharte hundertzwanzig Rupies pro Stück.
Doch dann wurden wir blaß: woanders bekamen wir die
schwarzen, weißverzierten `Steine´ schon für neunzig Rupies,
dann für sechzig, kurz darauf für dreißig und fünfzehn und
schließlich schoß Rocky mit drei Rupies pro Stück den Vogel
ab ! Für die langen Winterabende hatten die Händler, die
noch nicht an ihren Lachkrämpfen erstickt waren, also wieder eine nette kleine Geschichte über zwei total bekloppte
242
Individualtouristen zu erzählen, die sich wirklich jeden Mist zu
jedem Wucherpreis andrehen ließen.
D-I-E-S-E A-R-S-C-H-G-E-I-G-E-N !!!
Gott, die Welt war ungerecht und schlecht...
Beim nächsten Supersonderangebot eines erbsengroßen
`superbrillianten Spezial-Brillianten´, mit dem man alle Gläser
zerkratzen und mit Hilfe eines Steines Dellen in jede nur
denkbare Münze schlagen konnte, wie der indische Freilufthändler demonstrierte, winkten die gebrannten Kinder äußerst vorsichtig geworden ab. So billig konnten einfach keine
Edelsteine dieser Größe sein !
A ls Abschluß des vergnüglichen Pokhara-Aufenthaltes erkletterten wir in einem Tagesausflug stundenlang schwitzend
einen Berg, auf dem der kleine Ort Sarankot thront.
Auf dem Gipfel befand sich eine winzige Sendeanlage des
Nepalischen Rundfunks und etwas tiefer gelegen drei, vier
einfache Lodges und zwei `Restaurants´ - das war´s.
Wir hatten vor, dort oben die Nacht zu verbringen und uns
den Sonnenaufgang am nächsten Morgen anzugucken, daher
mieteten wir uns in einer Lodge ein, aßen etwas zu Mittag,
und dann startete ich einen Solotrip über die dicht bewaldeten Hügelketten.
Dazu mußte ich aber erst einmal einen Hang hinunter, wobei mich ein Rudel touristengeiler Bluthunde, das in einem
kleinen Dorf weiter unten seinen Dienst als Bewegungsmelder
und Krachmacher verrichtete, aufmerksam taxierte und äußerst aufgeregt verbellte. Je tiefer ich kam, desto mehr näherten sich mir diese mit gefletschten Zähnen keifenden Beißer. Da blieb nur eins: Augen zu und durch !
Ich hetzte den Rest hinunter und gleich auf der anderen
243
Auf dem Weg nach Sarankot
Oben auf dem Gipfel: Sarankot
244
Das Phewa-Tal und links oben im Bild Pokhara
Auf der anderen Seite von Sarankot der dunstverhangene Machapuchare
245
In Sarankot hatten wir einen sogenannten Lichtblick !
246
Seite wieder nach oben, und dann war ich vor den
menschenfleischgeilen Viechern in Sicherheit.
Es machte richtig Freude, auf den Hügelkämmen herumzulaufen, denn man hatte ein Superpanorama auf das Tal und
über die angrenzenden Berge hinweg auf den gewaltigen
Machapuchare, dessen Gipfel in der Ferne weiß leuchtete.
Da die Sonne hemmungslos strahlte, suchte mir ein geeignetes Plätzchen und verbrachte den Rest des Tages mit dem
alten Ritual des Sonnenanbetens, bis gegen Abend das Wetter schlechter wurde und mir ein Eingeborener, der des Weges kam, riet zurückzugehen.
Nach dem Abendessen begannen dann der Lodgebesitzer,
ein etwas japanisch sprechender Nepali, ein ausschließlich japanisch sprechender Japaner und ein englischstammelnder
Deutscher, nämlich ich, sämtliche Biervorräte, die wir in die
Finger kriegen konnten ihrer Bestimmung zuzuführen, während wir angeheitert, über alle Sprachbarrieren hinweg, verschiedene Themen der Weltpolitik erörterten.
M einer Sinne kaum noch mächtig fiel ich auf meiner Holz-
pritsche sehr spät ins Koma, aus dem ich um fünf Uhr morgens schon wieder erwachte: Wir wollten ja den Sonnenaufgang sehen !
Haben wir dann auch. War schön.
Dann frühstückten wir noch einmal und stiegen wieder hinunter ins Tal, wobei ich versuchte, es den Nepalis gleichzutun, die, über jede Angst umzuknicken erhaben, in einer affenartigen Geschwindigkeit die Berge hinunterrannten und sprangen, was mit einiger Übung auch sehr gut klappte und
unglaublichen Spaß machte.
247
N achdem wir uns über eine Woche lang in Pokhara breit-
gemacht hatten, fuhren wir mit dem Bus zurück nach
Kathmandu.
Die Straße Pokhara/Kathmandu galt als sehr gefährlich, denn
immer wieder verwechselten sich manche Fahrer mit Rennprofis, ihre betagten Gefährte mit spurlagensicheren HiTecAutos und die oft arg zerlöcherte Straße mit dem Nürburgring. Um nicht einem nachtblinden Intuitionsfahrer ausgeliefert zu sein, nahmen wir zwar extra den Frühbus, aber aus
uns unbekannten Gründen gerieten wir trotzdem in die Dunkelheit, und erst spät nachts kamen wir in der Hauptstadt an.
V iel Zeit blieb jetzt nicht mehr. Am Montag, den 25.3.1991
flog unsere Maschine zurück nach Deutschland. War irgendwie ein komisches Gefühl nach etwas mehr als zwei Monaten in der Fremde, denn trotz allem waren Indien und Nepal
eine zweite Heimat geworden.
Rolf war auch schon wieder in Kathmandu und erzählte
ausgelassen, daß er in der Zwischenzeit zusammen mit seinem Kumpel in Dharamsala und zum Zelten am Everest-BaseCamp gewesen wäre.
Kathmandu war voller geworden, denn es hatte die Saison
begonnen und viel mehr Touristen als im Januar drängten
sich zu der Zeit in den mittelalterlichen Gassen.
Unsere letzten Tage gingen so dahin, und jeder kümmerte
sich mehr oder weniger um seinen Kram. Ich z.B koordinierte das Besticken meiner beiden China-Hemden; ließ meinen
innig geliebten Kali-Silberring, der auf der langen Reise Schaden genommen hatte, reparieren und kaufte zusammen mit
Rocky Singing Bowls in Patan. Rocky ließ sich einen Silberring
schmieden, kaufte zusammen mit Dörthe und Rolf abgefahrene Sternkreiszeichen-T-Shirts und wäre beinahe im hiesi-
248
gen Knast gelandet, denn: "zurück in Kathmandu drängte sich
ein Problem auf: noch eine Woche bis zum Abflug, aber das
Visum lief ab. Wir stokelten also zum Immigration Office, und
da ich noch bank receipts hatte, die belegten, daß ich reichlich
Geld auf legalem Wege getauscht hatte, war ich der Meinung,
auf eben diese receipts auch ein Visum zu bekommen. Weit
gefehlt!
Der Kasper in der Office-Bude erkannte, daß ich besagte
Summen vor der Indienreise getauscht hatte und erklärte die
receipts für ungültig. Das brachte mich ziemlich in Rage. Ich
verlangte den Boß zu sprechen, wir wurden ins Hauptquartier geführt, er hörte sich meine Beschwerde an und erklärte
dann ebenfalls meine Zettel für null und nichtig.
Die aufgeblasene Art des Quakfroschs machte mich noch
stinkiger, ich redete mich immer mehr in `Gleich kracht's!´Laune, ohne zu bemerken, daß der dritte Nachschreiber des
ersten Vorschreibers bereits sämtliche verfügbaren Polizeiund Militärstreitkräfte des Landes zusammengerufen hatte,
um dem augenscheinlich durchgedrehten Europäer mal ordentlich Dampf zu machen. Draußen auf der Straße bezog
der erste Trupp Stellung, der zweite schlich sich in den Flur
und verteilte sich im Gang. Ich hatte gerade mal mit der Faust
auf den vor mir stehenden Schreibtisch gedonnert, da brüllte
Quakfrosch los, die Schreiber gingen in Deckung, und innerhalb von Zehntelsekunden war die Bude voll mit Uniformierten, die voller Interesse ausprobierten, mit wieviel Leuten sie
sich auf mich draufschmeißen konnten, bevor ich zusammenbrach.
Da ich zu Beginn der Reise bereits den Knast von Kathmandu
in Augenschein genommen hatte und zu der Erkenntnis gelangt war, daß eine Flucht von dort - trotz in die Hose genähter Sägebänder, Rasierklingen und ähnlicher kleiner Nützlich-
249
keiten - aufgrund der regen, hochgradig bewaffneten und
zeigefingernervösen Wachpostentätigkeit unter Umständen
mit einigen Löchern in der Kleidung enden könnte, beschloß
ich, irgendwelche Mißverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen und den King Kong auf später zu verschieben.
Erst mal raus und dann weitersehen.
Mit holterdipolter ging es auf den Flur, und mit holterdipolter
ging es wieder zurück: Ich hatte nämlich voller Entsetzen
bemerkt, daß mein Reisepaß noch stempelbereit im Zimmer
lag. Ohne Paß viel schlecht. Den brauchte ich. Also zurück
durch den überraschten Haufen gewühlt, den Paß geschnappt
und dann ohne anzuhalten bis zur Deutschen Botschaft, wo
man mir sagte, daß ich ja wohl lange genug unterwegs sei,
um zu wissen, daß ich hier mit `Es geht ums Prinzip!´ keinen
Blumentopf gewinnen könne..."
250
Motoradfahren in Nepal: Gebetsfahnen säumten ihren Weg und trotzdem...
V ier Tage vor unserem Abflug beschlossen Rocky und
Dörthe schließlich noch ein Motorrad zu mieten, um die Gegend damit unsicher zu machen. Doch die war bereits alles
andere als sicher !
Spät am Abend des gleichen Tages, gegen 22:00 Uhr rief
mich der Herbergsvater des "Norbulinga Guest House" hinunter in die Rezeption und sagte, es wäre ein Anruf für mich.
Rocky war am Apparat und erzählte was von einem Motorrad-Unfall, und er riefe aus dem Krankenhaus an. Ich sollte sofort vorbeikommen und ein paar Sachen mitbringen, da
Dörthe ziemlich übel verletzt sei.
Zuerst glaubte ich an einen bösen Scherz, aber ziemlich
schnell war klar, daß das kein Spaß war. Ich erzählte den
Leuten vom "Scala" was Sache war, und der Sohn des Chefs
bot mir sofort an, mich mit dem Motorrad zu fahren. Auf
251
düsteren Schleichwegen pesten wir durch eine von Lagerfeuern, Müll und Dreck bestimmte Endzeitkulisse zum heruntergekommen Bir-Hospital am Kanthi-Path.
Die Fensterscheiben des großen und bestimmt einmal stattlichen Gebäudes waren entweder total schmierig oder zersplittert, und nicht nur draußen lag überall Müll herum. Es
machte einen wirklich schlimmen Eindruck auf mich, und das
Innere wirkte wie ein Feldlazarett aus dem Ersten Weltkrieg.
Rocky wartete bereits auf mich, und zusammen gingen wir
zu Dörthe, die unbeweglich auf einem fahrbaren Krankenbett lag. Sie konnte sich nicht bewegen, denn ihr 6. Halswirbel war glatt durchtrennt - ein klassischer Genickbruch - und
der 7. Halswirbel war durch den Unfall herausgedrückt worden, hatte sich gedreht und verhakte sich in einer für Dörthe
mißlichen Position zwischen seinen Kameraden, den Halswirbeln 5 und 6.
M it ihrem Motorrad waren die beiden unvorhergesehener-
weise in einen Trecker gerast. Rocky hatte bei dem Zusammenprall nur ein paar Kratzer abbekommen und Dörthe war
zwar soweit auch ok gewesen, konnte sich aber vom Hals
abwärts nicht mehr bewegen.
Aus Angst vor der Polizei und bösen Geistern verschwand
der Fahrer sofort von der Bildfläche und ließ sie allein auf
weiter Flur. Dann erschien glücklicherweise ein Taxi, Rocky
lud Dörthe ein, und über Stock und Stein ging es ab ins Krankenhaus.
Dabei hatte sie wahrhaftig "mehr Glück als Verstand" gehabt,
denn normalerweise durfte sie gar nicht bewegt werden !
Wäre durch das Gerüttel das Rückenmark beschädigt oder
gar durchtrennt worden, wäre sie für immer querschnittsgelähmt und im schlimmsten Falle sogar tot gewesen.
252
J etzt lag sie also dort und wartete voller Hoffnung auf eine
skurrile metallene Kopfklammer, die ihr am nächsten Morgen um zehn Uhr eingesetzt werden sollte. Zum besseren
Halt der Klammer waren ihr bereits zwei Löcher links und
rechts in den Schädel gebohrt worden. Und so makaber das
klingt, es gab leider nur eine einzige wundersame Klammer
dieser speziellen Euro-Kopfgröße im gesamten asiatischen
Raum, und an der hing zu diesem Zeitpunkt noch der vorgebohrte Schädel eines anderen Patienten mit ähnlichen Problemen.
Also abwarten und Tee trinken. Rocky hielt Nachtwache
und ich düste zurück ins Hotel.
A ls ich am nächsten Tag wieder im Krankenhaus erschien,
lag Dörthe im versifften Großraumkrankenzimmer mit mindestens zwanzig anderen Kranken, und die mondsichelähnliche
Klammer, die mit spitzen Enden, einer Zange gleich, in die
Bohrlöcher griff, war bereits eingebaut.
An der Klammer selbst war mit einer Schnur, die über eine
Rolle am Kopfende des Bettes lief, ein Sandsack befestigt, der
den Schädel parallel zum ausgestreckten Körper nach hinten
zog. Dörthes restlicher Körper war mit Riemen am Bett fixiert - also etwa sowas wie - hallo Mittelalter! - eine Art
Streckbank.
Die Ärzte hofften, daß durch diese simple Methode der aus
der Reihe getanzte Wirbel total eingeschüchert zurück in seine ursprüngliche Position sprang. Was er aber leider nicht
vorhatte, wie wir erst einen Tag später erfuhren.
Weil Dörthe auch Schmerzen am Unterleib hatte, beschlossen die Ärzte, sie in der Zwischenzeit etwas zu röntgen.
253
Wie das Kranke(n)haus selber, so stammte aber leider auch
das fahrbare Röntgengerät noch aus den Wirren des Ersten,
zumindest aber des Zweiten Weltkrieges, wo es wohl als
geheime Strahlenwaffe seinen Dienst getan haben mag:
Um die durch den Körper gejagten X-Strahlen, die das Innere nach Außen kehren, wieder einzufangen, bevor sie die
unter der Patientin befindliche Bettwäsche zu Asche verbrannten, mußte eine Filmplatte unter ihrem Becken positioniert
werden, und dazu mußten vier Freiwillige Dörthe vorsichtig
anheben, während der bereitstehende Arzt seine Aufgabe als
`Diskjockey´ vorzüglich erledigte.
Nachdem jener "Koloss von Röntgen" über dem geschundenen Körper ausgerichtet war, legte der zuständige Hausfotograf die verwitterte schwere und strahlenundurchlässige Bleischürze an und brachte sich schleppenden Schrittes mit der
Kabelfernbedienung in fünfhundert Metern Entfernung in Sicherheit. Die ihm zugeteilten dreitausend Komparsen jeglichen Geschlechts tatens ihm gleich, hechteten hinter den
schürzentragenden Strahlenbunker auf zwei Beinen und warteten sich totstellend, stocksteif in einer langen Reihe, bis das
elektrische Brummen, der helle Lichtblitz und die Erschütterungen abgeebbt waren.
Das Foto ergab: nichts gebrochen, aber ein Rückenmuskel
gerissen - sonst nur Quetschungen und Strahlenschäden !
W ährend all dieser Vorgänge hatten andere mundartlich
verwandte Mitmenschen, die in Kathmandu lebten oder arbeiteten, von dem Unfall erfahren und kamen nun zuhauf,
um ihre Hilfe anzubieten oder, wie im Falle einer Architektengattin, regelmäßig Essen zu liefern.
Rocky, Rolf und ich hielten nun abwechselnd Wache am
Bett von Dörthe, damit Rocky all die Dinge erledigen konnte,
254
Die letzte Rech
nung vom "Nor
bulinga Guest
House"
die nun getan werden mußten und nichts Unvorhergesehenes eintrat, wie z.B. unfreiwillige Lobotomie. Denn Dörthes
Lieblingsarzt wurde kurzerhand vom mächtigeren Oberarzt
ausgeschaltet. Dieser neue Onkel Doktor äußerte auch sofort den zwanghaften Wunsch zu einem operativen Eingriff.
Das wiederum ließ Rocky den ganzen Wahnsinn der neuen
Situation erst erkennen, und die Panik kam hoch.
Dörthe operieren ? Hier ? In dem Dreck ?
Niiiiiiieeeeeemmmmmmaaaaaalllllllssssssss !!!!
Zur Botschaft, Anruf in Deutschland, Eltern sind entsetzt,
Keine Operation ! Die Mühlen begannen zu mahlen und
Dörthes Eltern standen bald in Verhandlung mit dem
nepalischen Arzt Dr.Rana, der in Deutschland praktizierte.
Demnach blieb erstmal nichts weiter zu tun, als zu abzuwarten...
255
I nzwischen war der dritte Tag gegangen und der Zeitpunkt
meines Rückfluges gekommen. Ein letztes Mal suchte ich Rokky und Dörthe im Krankenhaus auf, um ihnen die restlichen
Medikamente, Vitamin- und Mineraltabletten und sonst Nützliches dortzulassen.
Was weiter passierte erzählte mir Rocky später:
"Dr.Rana stand nach mehreren Telefonaten in Verbindung
mit Dörthes Eltern und erklärte Ihnen, sie sollten ihm die
Röntgenbilder zukommen lassen, er wolle dann seinen Kollegen in Kathmandu erklären, wie sie zu operieren haben. er
bekam diese Bilder einige Tage später über Lufthansa.
In der Zwischenzeit ging es Dörthe immer schlechter, es
kam zu Lähmungserscheinungen; sie konnte das rechte Bein
nicht mehr bewegen, dann den linken Arm.
Als Dr.Rana die Bilder in Augenschein genommen hatte,,
erkannte er, daß die Kathmandu-Ärzte mit diesen Komplikationen nicht fertig werden würden; er telefonierte mit Christine, kündigte sein umgehendes Kommen an, setzte sich
Karfreitag in den Flieger, kam Samstag an und operierte
Samstagabend. Vier Tage später konnte Dörthe das erste
Mal wieder aufstehen.
Eins ist klar: Nach diesen 2 Wochen war nichts mehr wie
vorher. Ich habe noch nie so viele Leute in so kurzer Zeit
sterben sehen - die haben sich teilweise totgeschrien. ich bin
nachts aufgewacht, weil jemand aufgehört hatte zu schreien,
so sehr hatte ich mich an den Lärmpegel gewöhnt.
Ich habe mal gezählt: es waren zwischen 50 und 60 Schwerverletzte, je nachdem, wieviele im Laufe der Zeit so wegstarben, denn regulär entlassen worden ist in den 2 Wochen,
die wir dort lagen, keiner. Dazu kamen dann die Angehörigen, die Ihre Kranken versorgten, denn Krankenschwestern
o.ä.waren nahezu Fehlanzeige. Ohne Christine Hoffmann, die
256
Nach der Operation
deutsche Krankenschwester, die dort schon seit Jahren arbeitete und den Betrieb bestens kannte, wären wir sehr schnell
am Ende gewesen. Sie hat übrigens auch die Klammer für
Dörthe besorgt."
M ein Flug zurück nach Deutschland dauerte ewig lange.
Zuerst flog die Maschine wie gehabt nach Dhaka in Bangladesh,
das wir einige Stunden später wieder verließen. Aber nicht
etwa Richtung Athen, wie üblich, sondern erstmal nach Dubai in die Vereinigten Arabischen Emirate, wo ein großer Teil
der Bomberstaffeln der Alliierten Streitkräfte in der Wüste
257
aufgereiht stand. Der Krieg gegen Sadams Streitkräfte war
noch nicht zu Ende !
Dort in Dubai wieder zwei, drei Stunden Aufenthalt. Dann
weiter nach London, zwei Stunden Aufenthalt. Von da nach
Hamburg und schließlich landeten wir nach 24 Stunden Flug
in Frankfurt. Ich war wirklich fix und alle ! Da muteten die
noch vor mir liegenden zehn Stunden Bahnfahrt geradezu
lächerlich an.
Am Mittwoch, den 27.3.1991 kam ich zuhause an. Zwar
fünf Kilo leichter, mit miesem Durchfall, Kreislaufproblemen
und zermalmten Zähnen - aber ich war zuhause.
Ich fühlte mich so mies, daß ich erstmal in mein Bett fiel
und zwei Tage kräftigst ausschlief.
D ann mußte ich mich schon wieder bei meinem Bekann-
ten Jochen melden, der mir vor dem Abflug eine Anstellung
in seinem Computerladen zugesichert hatte. Das Arbeitsamt
wollte mich sehen, und ich hatte versprochen, die Eltern von
Dörthe anzurufen, um einen kurzen Abriß über die Situation
in Nepal zu geben. Das tat ich dann auch ein oder zwei Tage
später. Doch war in der Zwischenzeit alles am Laufen, wie
ich hörte.
Zum Zahnarzt wollte ich in der nächsten Woche, doch
bereits am Wochenende zerplatzte mir fast der Schädel, als
ich beim Essen zu stark zubiss. Auch die extra-starken
Schmerzblocker, von denen ich mir in der Nacht zum Sonntag eine ganze Packung zuführte, halfen nichts, und so mußte
ich zum Notdienst, der versuchte den Zahn zu retten. Doch
die Schmerzen ließen und ließen nicht nach, und in der kommenden Woche machte mir mein Hauszahnarzt die traurige
Mitteilung: "Zwei Zähne müssen gehen..."
258
Da sich den Würzelchen nicht auf die Schnelle beikommen
ließ und sich zu meinem immer noch angeschlagenen Zustand der Geschmack des aus der Wunde `hervorsprudelnden´ Blutes gesellte, fiel ich zum allgemeinen Entsetzen auch
noch in Ohnmacht und mußte mit Frischluft wiederbelebt
werden. Ich sollte mich erstmal erholen und wurde mit dem
letzten im Kiefer verbliebenen Wurzelrest nach Hause geschickt.
Wegen des Durchfallproblems war ich nicht sofort zum
Arzt gegangen, und deswegen bekam ich noch andere Probleme: Auf dem Weg in den Computerladen verlor ich eines
Tages im Bus die Besinnung, rutschte vom Sitz und schlug
sehr zum Schrecken der Fahrgäste laut scheppernd mit dem
Gesicht auf dem Boden auf. Der Einlieferung ins Krankenhaus durch den Busfahrer konnte ich gerade noch entgehen.
Aber einem Besuch beim Arzt war ich nun nicht mehr abgeneigt, denn ich hatte echt Angst um mein Leben.
Dauernd grummelte und piekste es in meinem Gedärm
und mir schwindelte. In langwieriger Medikamenten-Behandlung wurde schließlich meine durcheinandergewirbelte Darmflora wieder auf Vordermann gebracht, und ich schwor mir,
beim nächsten Mal sofort zum Arzt zu gehen.
N ach der erfolgreichen Operation kamen Dörthe und Rok-
ky im April zusammen per LUFTHANSA-Maschine zurück
nach Deutschland.
Sie waren gezwungen die Fluggesellschaft zu wechseln, weil
BIMAN-Airlines keine Möglichkeit bot, Sitzreihen umzubauen, damit die Patientin liegend transportiert werden konnte.
Was wiederum unerwartete Probleme mit der Fluggesellschaft BIMAN aufwarf, da die sich dummerweise weigerte,
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den nicht in Anspruch genommenen Rückflug zu erstatten.
Dörthe kam ins Rehabilitationszentrum nach Stuttgart, wo
sie wieder laufen lernte und
sich darüber Gedanken machte, welchen Beruf sie in Zukunft ausüben wollte, denn
ihre Karriere als Sportlehrerin
konnte sie an den Nagel hängen. Der Hochzeit mit Rocky
stand jedoch nichts im Wege
und am 18.07.1991 gaben sie
sich in Betzendorf das JAWort. Das Ereignis wurde mit
allen Freunden überschweng- Der rettende Schnitt...
lich gefeiert und Bharat, Dr.
Rana, der deutsche Botschaftssekretär aus Kathmandu Horst,
die Krankenschwester Christine, Renate und André und andere Persönlichkeiten gratulierten dem glücklichen Paar und
wenn sie nicht gestorben sind...
Das war in kurzen und knappen Zügen die folgenreiche
Geschichte einer turbulenten Asien-Reise anno 1991...
260