Einer flog über das Kuckucksnest
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Einer flog über das Kuckucksnest
Einer flog über das Kuckucksnest Farbig. USA 1975. Produktion: Fantasy Films. Verleih: United Artists. Regie: Milos Forman. Buch: Lawrence Hauben, Bo Goldman, nach einem Roman von Ken Kesey. Kamera: Haskell Wexler. Musik: Jack Nitzsche. Darsteller: Jack Nicholson, Louise Fletcher, William Redfield, Michael Berryman, Sydney Lassick, Brad Dourif. 134 Min. FSK: ab 16; feiertagsfrei. Meinung des Kritikers: Milos Forman gehört zu den wichtigsten Repräsentanten des „Prager Frühlings". Mit „Der schwarze Peter" (1963)„,Die Liebe einer Blondine" (1965) und „Anuschka - es brennt mein Schatz" (1967) formulierte er im Rahmen der Liberalisierung in der Tschechoslowakei ein neues Verhältnis zum Alltagsleben und beschrieb ebenso beißend ironisch wie zärtlich Generationenkonflikte und Spannungen zwischen Individuum und Gemeinschaft, alles wohl im Hinblick auf eine humanere sozialistische Gesellschaft. Die Ereignisse von 1968 setzten der Erneuerung des tschechoslowakischen Films ein jähes Ende. Seinen nächsten Film, „Taking off", drehte Forman 1971 in den USA. „Einer flog über das Kuckucksnest" ist sein zweiter im amerikanischen Exil entstandener Film. Michelangelo Antonioni soll von diesem Werk gesagt haben, es verbinde auf glückliche Weise europäische, oder besser tschechische, Poesie mit einer typisch amerikanischen Story. Allerdings ist es Forman nicht in jeder Beziehung gelungen, sein Gespür für Improvisation und die kleinen, ironisch überhöhten Details mit den perfekten industriellen Produktionsmethoden der neuen Welt nahtlos in Übereinstimmung zu bringen. Zuweilen kollidieren die Intentionen des Regisseurs sichtlich mit stärkeren Gegebenheiten, über die Forman nicht immer den Sieg davongetragen hat. Hatte er bereits in„ Taking off" die amerikanische Gesellschaft kritisch beleuchtet, so ist diese Kritik hier noch umfassender, härter und satirischer geworden. Dafür benutzte er das in Literatur, Theater und Film nicht eben selten benutzte Motiv des Irrenhauses als Spiegel gesellschaftlicher Zustände. Als Vorlage diente ihm ein schon 1962 erschienener Roman von Ken Kesey, der bereits ein Jahr später in einer Bühnenbearbeitung am Broadway gespielt worden ist. Der wesentlichste Unterschied zwischen Buch und Film besteht wohl darin, dass im Buch aus der Perspektive des taubstummen Indianers Chief Bromden erzählt wird, während der Film von einem „objektiveren" Standort aus berichtet. - Randell Patrick Mc Murphy (Jack Nicholson) wird zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. McMurphy gilt draußen als Querulant, der die Arbeit scheut, aber die Unabhängigkeit und die Frauen liebt. Nicht einmal im Arbeitslager ist man mit ihm fertig geworden, weshalb er jetzt auf seinen Geisteszustand untersucht werden soll. McMurphy ist durchaus bereit, aus der neuen Situation das Beste zu machen. Mit seiner frischen Unverfrorenheit und übersprudelnden Vitalität bringt er einen Hauch von Unabhängigkeit und Freiheit in den abgestumpften, eingefahrenen und auch sturen Anstaltsbetrieb. Da er mit den Insassen ohne Herablassung als seinesgleichen verkehrt und sie zu Spiel und Allotria zu aktivieren sucht, strahlt er auf diese mit der Zeit eine geradezu therapeutische Wirkung aus. Dadurch gerät er jedoch mit den Normen, Zwängen und Verhaltensmustern der Klinik, personifiziert in der Oberschwester in Konflikt. McMurphy stößt auch hier, genau wie draußen in der Gesellschaft, auf unverrückbare Mauern, und er reagiert wie er schon immer reagiert hat: Er beginnt auf seine Weise Widerstand zu leisten, zu rebellieren. Er fängt mit kleinen Tricks und Finten an, dann organisiert er mit einer Freundin einen Fischfang auf hoher See, wobei er die Patienten als Ärztekollegium ausgibt. Als er vernimmt, dass die Behörden beschlossen haben, seinen Klinikaufenthalt auf Grund seines Benehmens zwangsweise zu verlängern, geht er zum offenen Widerstand über. Zur Strafe wird er einer Elektroschockbehandlung unterzogen. Darauf beschließt er, mit dem zum Freund gewordenen Chief Bromden zu fliehen. Dieser riesige Indianer ist die wohl eindrucksvollste Figur des Films. Seine Taubstummheit ist, wie McMurphy herausfindet, nichts anderes als ein stiller, aber totaler Protest gegen die herrschenden Zwänge - eine absolute Verweigerung. Zum Abschied organisiert McMurphy ein Fest, das jedoch ein böses Ende nimmt: Der an einem von der Oberschwester noch bestärkten Mutterkomplex leidende und deshalb stotternde Billy (Brad Dourif) nimmt sich das Leben, worauf sich McMurphy auf die inzwischen völlig verunsicherte und deshalb aggressiv gewordene Oberschwester stürzt, um sie zu erwürgen. Er wird jedoch von den Wärtern überwältigt und einer Lobotomie (operativer Gehirneingriff) unterzogen. Als völlig gebrochenes, passives und fügsames Wrack kehrt er in die Irrengemeinschaft zurück, wo wieder Ruhe und Ordnung herrschen. ('hieb Bromden, der nun nicht mehr mit McMurphy fliehen kann, „befreit" diesen auf endgültige Weise und sucht allein das Weite. - Formans Film ist dort am stärksten, wo er in einem leichten, teils ironischen, teils grotesken Komödienspiel eingefahrene Verhaltensnormen, sture Zwänge und inhumane Machtverhältnisse entlarvt und eine Lanze für die Unangepassten, die Verweigerer bricht. Durch das Verhalten der „Verrückten" stellt er auf intelligente, unterhaltsame Weise dasjenige der „Normalen" in Frage. Bemerkenswert ist auch, wie Forman es verstanden hat, Schauspieler und wirkliche Patienten so zu führen, dass der Zuschauer immer mit den Kranken, nie jedoch über sie lacht. Allerdings erscheint die Welt der Irren doch eine Spur zu beschönigt, ja verharmlost. Auch scheinen die Motive, warum McMurphy und die andern Insassen in die Klinik gelangt sind, etwas zu wenig deutlich herausgearbeitet. Die Oberschwester muss allzu sehr als bloßer Sündenbock herhalten, in dem ein ganzes System der Unterdrückung und des Zwanges verkörpert ist. Die Personifizierung dieser Übel in der Schwester könnte den Blick darauf verbauen, dass sie ja auch nur das Werkzeug eines Systems ist, das von mächtigeren Kräften bestimmt wird. Noch schwerer wiegt vielleicht der Einwand, dass der Umschwung von der Komödie zur bitteren Tragödie zu abrupt, zu schwerfällig und überdeutlich erfolgt. Forman meinte zwar zu diesem Vorwurf, das müsse so sein, um besser erkennen zu können, wie gut die Komödie vorher sei. Forman hat aber doch zu sehr eine Holzhammermethode angewandt und zu einer schreienden Anklage gegen Zwang und Unterdrückung ausgeholt, die streckenweise einen allzu schrillen Klang besitzt. Franz Ulrich Gutachten der Kommission: Ein gesellschaftlicher Außenseiter, der zur Beobachtung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, stellt auch hier das System in Frage und die Klinik auf den Kopf, bis er mit Gewalt „angepasst" wird. Überwiegend gelungene Komödie über das Verhältnis von „Normalen" zu „Verrückten". Trotz des etwas misslungenen Umschwenkens ins BitterernstTragische am Schluss bietet der Film hintergründige Unterhaltung. - Sehenswert.