Armut und soziale Ausgrenzung

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Armut und soziale Ausgrenzung
Armut und soziale Ausgrenzung
Projektbericht
an der Fakultät 11 für angewandte Sozialwissenschaften
der Hochschule München
im Studiengang Soziale Arbeit
WS 2007/2008
N. N.
1. Semester
Matrikelnummer: xxxxx
Veranstaltungsleitung: Prof. Dr. Juliane Sagebiel
Abgabe: München, 08.01.2008
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Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung .............................................................................................................. 3
2.
Interview ............................................................................................................... 4
3.
Auswertung ........................................................................................................ 21
4.
Schluss ............................................................................................................... 28
5.
Anhang ............................................................................................................... 29
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1. Einleitung
Das Interview findet in der Wohnung des Interviewpartners Frau R. H. statt.
Frau R. ist eine 51-jährige Frau aus der Volksgruppe der Sinti, die in einem Münchner
Stadtteil im Osten in einer 3-Zimmer Wohnung lebt. Sie ist seit fast 10 Jahren von
ihrem Mann geschieden, zu ihm besteht keinerlei Kontakt mehr seit 5 Jahren. Frau R.
hat drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen im Alter von 25, 21 und 19 Jahren.
Der älteste Sohn verbüßt im Moment eine Haftstrafe, seine Ehefrau lebt mit Frau R. in
deren Wohnung.
Der zweite Sohn hat eine ca. zwei-jährige Tochter, die Mutter des Kindes hat sich
gerade von ihm getrennt. Es besteht nach wie vor Kontakt, das Enkelkind besucht öfters
die Oma, Frau R. Der Sohn leidet sehr unter der Trennung.
Die jüngste Tochter ist fest liiert seit 5 Jahren, ohne mit ihrem Partner
zusammenzuleben. Sie haben einen gemeinsamen 18 Monate alten Sohn. Die Tochter
wohnt in der Nähe in einer eigenen Wohnung.
Frau R. lebt von Arbeitslosengeld II seit dessen Einführung, davor von Sozialhilfe.
Herr Alexander Diepold, von Madhouse gGmbH, hat mir Frau R. H. empfohlen, um
Interviews zu machen, da sie sehr aufgeschlossen und offen ist.
Die Madhouse gemeinnützige GmbH ist eine Einrichtung der Flexiblen Jugendhilfe. Sie
bietet überregionale ambulante Erziehungshilfe an. Im Mittelpunkt der pädagogischen
Arbeit stehen die ganzheitliche Betrachtung des Menschen und das Aufrechterhalten
von Wert und Würde des Einzelnen. In Krisensituationen besteht rund um die Uhr
Rufbereitschaft über das Mobiltelefon. Ein Sonderschwerpunkt der Madhouse gGmbH
ist die ambulante Betreuung von Sinti- und Romafamilien.
In diesem Zusammenhang hat Herr Alexander Diepold auch die o.g. Familie kennen
gelernt. Seit 14 Jahren besteht der Kontakt, der von gegenseitigem Vertrauen geprägt
ist. Herr Diepold ist zurzeit mit ca. 5-6 Stunden ambulanter Hilfe zur Erziehung wegen
dem zweiten Sohn bei der Familie.
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2. Interview
Teil 1 am 06. Dezember 2007 (Gedächtnisprotokoll; Seite 3-11)
Erzähl mir aus deinem Leben…1
Ich bin 1956 geboren, in der Maiklinik in München. Ich habe noch 7 Geschwister und
zwei Halbgeschwister, mein Bruder ist der Jüngste. Wir haben auf der SteinhausenWiese gelebt, wir hatten einen VW-Bus und ein großes Zelt, in das haben wir dann
einen Ofen gestellt. Ach, das war schön damals. Dann durften wir nicht mehr auf dem
Platz bleiben. Sie haben uns ins Hasenbergl geschickt (die Behörden), zuerst haben wir
in einer Steinbaracke gewohnt, ich kann mich da noch gut erinnern. Dann haben wir
eine Drei-Zimmer-Wohnung bekommen, in der wir alle zusammen gelebt haben, am
Anfang war das Klo auf dem Gang. Später sind dann noch meine zwei Halbbrüder dazu
gekommen.
Mein Vater war im KZ und konnte nicht mehr arbeiten. Wir haben von Sozialhilfe
gelebt und er musst immer im Winter „Verpflichtungsarbeiten“ machen, Schnee räumen
und so. Ja, er hat so eine einmalige Opferentschädigung bekommen, aber das hat ja
nicht für unser Leben gereicht. Wir sind manchmal, wenn das Geld nicht gereicht hat,
zum Haussieren gegangen. Da war ich noch klein, ich bin da gerne mitgegangen. Er hat
Scheren geschliffen. Er konnte nicht lesen und schreiben, aber er hat nie etwas
durcheinander gebracht, wusste immer wer in welchem Haus war. Ich habe einmal ein
paar Socken verkauft, meine Mutter hat mir alles beigebracht. Ich bin gerne zu den
Bauern gegangen. Am Freitag gab es da meistens Dampfnudeln, ach, das habe ich
geliebt. (Ihr Gesicht wird ganz weich dabei).
Ich bin erst mit 9 Jahren in die Schule gekommen, normalerweise bist du mit 7 Jahren
dahin gegangen, aber ich wurde zurückgestellt. Und dann bin ich mit meiner Schwester
in die Schule. Wir waren in der Sonderschule, warum, das weiß ich nicht. In der Schule
mussten wir Zigeunerkinder links sitzen und die anderen Kinder mussten rechts sitzen.
Da habe ich gemerkt, dass das mit uns anders ist. Ich hatte auch ein paar
Schulfreundinnen unter den Deutschen – ich sage immer Deutsche, ich bin ja selber
In der Sprache der Sintis gibt es kein „Sie“. Dies wird gerne auf das Deutsche übertragen und
kann als Indiz für einen freundschaftlichen Kontakt gewertet werden.
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Deutsche, hier geboren, aber ich bin auch Zigeuner. Ja und die deutschen Freundinnen
haben halt Taschengeld bekommen, hatten ein Zimmer, ich habe da schon gemerkt, dass
das bei denen anders ist. Ich wollte immer raus, was Besseres werden, nicht so leben
wie daheim. Aber na ja…..
Also in der Schule, der Hausmeister war total gegen uns Zigeuner. Der hat oft was nach
uns geworfen und geschimpft, ihr Zigeunerpack. Irgendwann hat die Lehrerin in der
Schule mich geschlagen und an den Haaren gepackt. Ich habe es daheim erzählt, sie
haben sofort gesagt, ich muss da nicht mehr hin. Meine Eltern sind dann in die Schule
gegangen und haben sich beim Rektor beschwert. Das war eine große Leistung, weißt
du, sie waren doch im KZ und haben sich gar nichts mehr getraut. In der Schule haben
sie dann gesagt, ich bekomme einen Bescheid, wo ich hingehen kann. Es gab eine
Untersuchung, die Lehrerin wurde irgendwann versetzt, aber ich habe nie einen
Bescheid bekommen. Da war ich ungefähr 14. Ich bin dann nie wieder zur Schule
gegangen. Meine Geschwister waren dann in einer anderen Schule.
Ich hätte gerne etwas gelernt, einen Beruf und danach gearbeitet. Aber es ist alles so
nicht gekommen. Deswegen möchte ich auch, dass es meine Kinder besser haben. Ich
habe versucht, zu arbeiten. Habe mich beworben, bei einem Cafe an der Kaffee- und
Kuchentheke oder in einem Kaufhaus als Verkäuferin. Überall da, wo stand, dass man
angelernt wird. Am Telefon waren sie immer sehr nett, aber wenn ich dann da war und
sie mich sahen …… Es hat nie jemand zurück gerufen.
Das ist ja heute noch so. Wenn du bei einer Firma erzählst, du wohnst im Hasenbergl,
dann kriegst du keine Arbeit. Die kennen schon die ganzen Straßen. Ich bin fast mit
dem halben Hasenbergl verwandt, habe in der Wintersteinstraße gewohnt Geschwister,
Cousins, usw., die erleben alle dasselbe. Wir Zigeuner sind nicht gerne gesehen. Das
war immer schon so. Früher mussten wir aufs Amt um unser Geld zu holen. Da gab es
einen Tag, wo alle mit Familiennamen W. und K. dran waren, weil wir so viele waren.
Also bin ich mit meiner älteren Schwester dahin gegangen. Meine ältere Schwester ist
viel heller als ich. Da hat die Sachbearbeiterin zu ihr gesagt, „was wollen Sie denn hier,
heute gibt es nur Geld für die Zigeuner“. Und auf den Akten von uns stand immer ein
großes „Z“.
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Ich war sogar in Amerika und habe Englisch gelernt, ich habe mir alles selbst
beigebracht. Wollte so gerne arbeiten. Mein Vater hatte Angst um mich, dass ich nicht
mehr wieder komme oder mir was passiert. Aber er hat dann schon gemerkt, dass es mir
so wichtig war. Ich bin mit einer Freundin gefahren, war ein halbes Jahr drüben, das
war schön. Aber ich habe keine Arbeit hier gefunden. Schon mal so Putzjobs, wenn sie
5 Frauen am Abend gesucht haben, die schnell mal was sauber machen oder in der
Küche helfen, aber…… (seufzt).
(Kürzere Pause zwischen uns beiden)
Wann und wie hast du deinen Mann kennen gelernt?
(Lächelt) In der Wirtschaft. Er war da und gefiel mir.
Bei uns Sinti ist das so: Ein junges Mädchen sieht einen Jungen und er gefällt ihr. Sie
gefällt ihm auch. Die beiden finden Gefallen aneinander, ohne dass die Eltern es
merken. Wenn dann so 3-4 Wochen vergangen sind, verschwinden die beiden für eine
Nacht, schlafen bei Freunden. Dann weiß die Familie des Mädchens und die Familie des
Jungen Bescheid. Beide Familien sprechen miteinander und die beiden sind danach
dann offiziell zusammen. Wenn die Familien nicht einverstanden sind, bleiben die
jungen Leute so lange weg, bis die Familien nachgeben. Irgendwann geben sie nach.
Dann leben die jungen Leute normalerweise für ein Jahr bei der Familie des Mädchens
und dann ein Jahr bei der Familie des Mannes. Auch wenn schon ein Kind da ist. Das
macht nichts. Bei uns leben alle zusammen. Auch die Omas und Opas. Die sind niemals
in einem Altenheim so wie das bei euch der Fall ist. Meine Oma war schon fast blind
und trotzdem war sie bei uns und hat noch für uns gekocht, hihi, auch wenn sie mal was
verwechselt hat. (Sie erzählt mir eine Anekdote von früher, als die Oma noch lebte).
Na ja, ich war fünf Jahre mit diesem Mann zusammen, aber es ging nicht gut. Wir
haben uns dann getrennt. Ja, das gibt es auch bei uns. Normalerweise, wenn es
Probleme gibt in einer Beziehung, dann spricht als erstes die Frau mit ihrer Mutter. Die
Mutter ist die erste Ansprechpartnerin bei solchen Sachen. Die Mutter spricht dann mit
dem Vater. Und der Vater der Frau spricht dann mit dem Vater des Mannes. Er sagt,
dass sich der Mann bessern muss, sonst holt er seine Tochter zurück. Das kommt auch
vor. Die Kinder gehen dann mit der Frau. Der Mann wird dann zwar nicht geächtet,
aber jede neue Frau ist jetzt vorsichtiger mit ihm. Schlimme Sachen sind, wenn der
Mann gewalttätig ist oder fremdgeht. Die Frau darf auch nicht fremdgehen.
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Ich hatte mit diesem Mann keine Kinder. Ich bin schon so früh operiert worden, ich
dachte immer ich kann keine Kinder mehr kriegen. (Sie erzählt mir genau, was alles
passiert ist und wie krank sie war). Ich war dann schon 24 Jahre alt, als ich schwanger
wurde. Mein ältester Sohn ist jetzt 25, dann kommt M., der ist 21 und dann noch meine
jüngste Tochter, sie ist 19. Nach meinem ersten Mann war ich dann noch 15 Jahre mit
einem anderen Mann zusammen. Ihn habe ich auch offiziell geheiratet. Aber es gab
dann viele Probleme, er war alkoholkrank und es gab viele schlimme Situationen.
Irgendwann konnte ich nicht mehr und bin dann gegangen. Ich bin gegangen, weil ich
das auch meinen Kindern nicht mehr antun wollte. Es ging ihnen nicht gut damit. In
dieser Zeit habe ich auch den Herrn Diepold kennen gelernt.
Ich hatte noch die ersten fünf Jahre Kontakt mit diesem Mann, aber seit fünf Jahren
überhaupt nicht mehr. Er lebt jetzt auch nicht mehr in Deutschland, hat wieder eine Frau
und zwei Kinder mit dieser Frau. Ich habe zu meinen Kindern gesagt: Das was
zwischen mir und eurem Vater ist, das ist unsere Sache. Ihr könnt jederzeit, wenn ihr
wollt, Kontakt mit ihm haben. Aber sie wollten das auch nicht. Er hat so oft etwas
versprochen, was er nicht gehalten hat. Irgendwann wollten sie auch nicht mehr.
Also, ich bin dann mit den Kindern aus der Wohnung weg gegangen und wir waren
vorübergehend in einer Pension untergebracht. Alle in einem Zimmer, in der Küche
waren die Kakerlaken. So was gibt es bei uns nicht. Wir sind total sauber.
Ich habe versucht, eine Wohnung zu bekommen. Aber niemand wollte uns haben. Wenn
ich die Wahrheit gesagt habe, dann wollten sie uns nicht, wenn ich nicht die Wahrheit
gesagt habe, wollten sie uns auch nicht. Keiner wollte uns. Die vom Amt hatten mir
eine Bescheinigung gegeben, dass die Mietkaution bezahlt wird und die Miete. Aber
dennoch, keiner hat uns gewollt. Einmal hat jemand zu mir gesagt, wir könnten
deswegen nicht einziehen, denn sie würden nur an intakte Familien vermieten.
Irgendwann hat Herr Diepold einen Brief an den Herrn Ude geschrieben. Dann habe ich
diese Wohnung hier bekommen. Für diese Wohnung war ich die einzigste Bewerberin.
Früher waren das Sozialamtswohnungen, jetzt nicht mehr.
Du lebst seitdem nicht mehr im Hasenbergl, in der Nähe deiner Verwandten….
Das macht nichts, wir sehen uns trotzdem. Ich kann jederzeit hinfahren. Außerdem hat
meine Tochter bis vor kurzem da drüben gewohnt. Mir gefällt die Wohnung, aber es
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war auch sehr schwierig hier. Die Nachbarn haben sich viel beschwert: dass wir zu laut
sind, die Kinder über den Balkon springen, die Eingangstüre zum Haus offen lassen und
die Türen in der Wohnung zu laut knallen. Einmal haben sie sich sogar beschwert, dass
wir zu laut reden. Ich habe meine Kinder ständig angehalten, tu dies nicht, tu das nicht.
Irgendwann haben die Kinder gesagt, wir leben hier wie im Gefängnis. Am Anfang
habe ich jede Woche zwei Schreiben von der Hausverwaltung erhalten. Einmal kam
sogar die Polizei. Wir hatten ein Geburtstagsfest und ich hatte sogar einen Zettel in den
Hausflur gehängt, dass wir feiern werden. Dann kam die Polizei, weil es zu laut war.
Der Nachbar hatte sich beschwert. Ich habe ihn gefragt, warum er denn nicht zuerst mit
mir sprechen würde, er hätte mitfeiern können. Da hat er gesagt, „mit so einer wie dir
rede ich nicht.“
Überhaupt die Nachbarn. Zwei Stockwerke über mir wohnt Frau G. Wir mögen uns,
einmal war ich bei ihr oben zum Kaffee trinken. Da saß ihr Mann und hat gesagt, dass
er auch dem Hitler gedient hätte und mit den Schäferhunden die Leute ausfindig
gemacht hat. Da musste ich einfach wieder gehen ……
Letzthin hat meine Tochter die Treppenreinigung für mich übernommen, weil ich krank
war. Da hat der Hr. H. von oben gesagt, „tu fei sauber putzen, nicht so dreckig wie ihr
seid.“
(Seufzt, es ist wieder Stille zwischen uns.)
Die Leute mögen uns nicht. Sie kennen uns nicht, aber sie wollen uns auch gar nicht
kennen lernen. Vor ca. zwei Jahren sind meine Tochter und ich nach Lourdes gefahren.
Du musst wissen, wir sind sehr gläubig. Am Flughafen sind wir von einem Bus
abgeholt worden, der uns ins Hotel gefahren hat. Während der Busreise hat der
Reiseleiter eine Durchsage gemacht: Es wären im Moment sehr viele Zigeuner in
Lourdes anwesend, wir sollten verstärkt auf unser Gepäck achten. Meine Tochter und
ich haben uns angesehen und gar nicht mehr getraut zu sagen, dass wir Sinti sind. Wir
haben dann einfach gesagt, dass wir aus Ungarn sind. Man hat doch einfach irgendwann
keine Lust mehr. Freilich die anderen Sinti haben schon gemerkt, dass wir nicht aus
Ungarn sind. Da haben wir dann schon gesagt, dass wir auch Zigeuner sind.
Die meisten wissen gar nicht, wie wir sind. Der Herr Diepold hat mal so Gespräche in
der Schule organisiert. Da habe ich mit denen gesprochen und erzählt, wie das bei uns
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ist. Die von der Schule haben gesagt, dass wir Zigeunerkinder immer mal 2 oder 3 Tage
fehlen. Ja, habe ich gesagt, das ist so bei uns. Wenn in Nürnberg eine Tante stirbt, dann
fahren wir da alle hin, auch die Kinder. Die fehlen dann in der Schule, aber so sind
unsere Bräuche. Auch wenn wir arbeiten, ihr Deutsche sagt dann, ist doch nur deine
Tante. Aber für uns ist das anders. Wir fahren auch zu der betroffenen Familie, wenn es
die Tante ist. Wir können dann nicht einfach so weiterarbeiten, als wenn nichts passiert
wäre. Die in der Schule waren ganz überrascht, dass das wirklich so ist und die Kinder
nicht lügen. Ihr wisst das halt nicht von uns …... Wir müssen uns gegenseitig
informieren, das ist gut.
Wie sieht dein Alltag so aus, was machst du den ganzen Tag?
Ich helfe meinen Kindern, ich mache den Haushalt, koche, unterstütze sie bei der
Erziehung ihrer Kinder. Meine Tochter z.B., die wollte eigentlich noch gar nicht so früh
ein Kind. Sie wollte erst einen Beruf lernen, sich eine Wohnung nehmen, den
Führerschein machen, ein Auto haben, dass sie ihrem Kind auch mal was bieten kann.
Schau, die Kleine von meinem Sohn wünscht sich ein Prinzessinnenkleid, jetzt habe ich
eines gekauft bei KIK, ganz billig. Aber es wäre schon schön, ihnen was schenken zu
können. Also meine Tochter, ja, dann ist sie halt doch schwanger geworden, so früh.
Gibt es denn Empfängnisverhütung bei den jungen Frauen?
Ja, das gibt es auch, ist unterschiedlich. Meine Tochter hatte eine Hormonbehandlung,
da ist alles durcheinander gekommen, so ist sie schwanger geworden. Sie hat überlegt,
es abtreiben zu lassen, sie wollte halt noch nicht so früh ein Kind. Aber dann konnte sie
ja doch nicht. Ich habe zu ihr gesagt, dass ich ihr helfen werde, dass wenn es zuviel für
sie ist, sie mir das Kind bringen kann. Aber sie hat es wirklich gut alleine hingekriegt,
mein Mädchen….
Mein jüngerer Sohn hat eine Tochter, die ist zweieinhalb Jahre alt. Seine Frau hat sich
jetzt von ihm getrennt, das ist schon sehr schwer für ihn. Aber die Kleine will gerne
hierher kommen, mein jüngerer Sohn wohnt noch bei mir. Die haben erst mal alle bei
mir gewohnt. Er hat seine Frau kennengelernt, da waren sie noch sehr jung. Irgendwann
hat die Mutter von seiner Freundin gesagt, dass sie keinen Zigeuner in der Familie
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haben möchte und dass sie sich trennen soll. Das wollte sie aber nicht. Daraufhin hat sie
die Tochter rausgeworfen. Mein Sohn hat zu mir gesagt, Mama, die C. steht auf der
Straße, sie weiß nicht wohin. Ich habe dann gesagt, sie kann mit zu uns kommen. Sie
haben dann über ein Jahr hier in seinem Zimmer zusammen gelebt, dann wurde sie
schwanger. Dann haben sie mit dem Baby bei mir gelebt, so eineinhalb Jahre, bis sie
eine eigene Wohnung hatten.
… Die Kinder, die sind doch unsere Zukunft. Wir lieben unsere Kinder. Für uns sind sie
das Wichtigste. Es ist auch nicht schlimm, wenn wir sie verwöhnen oder enge
Beziehungen zu ihnen aufbauen. Meine Kinder lieben mich auch und ich würde alles
für meine Kinder tun. Ich habe ihnen gesagt, dass sie immer meine Kinder sind, egal
was sie machen. Aber sie dürfen mich nicht anlügen.
Was macht dich glücklich, was machst du gerne? (Sie ist ganz irritiert bei dieser
Frage.)
Was ich gerne mache, nun, ich bin gerne mit meinen Kindern, mit meiner Familie, ich
koche gerne, und ich habe gerne Musik, unsere Musik.
(Wir unterhalten uns ein wenig über das Kochen, sie erzählt mir von speziellen
Zigeunergerichten und beschreibt mir die Rezepte. Es herrscht eine gute, offene
Stimmung zwischen uns beiden.)
Wie sieht es mit den Finanzen aus, wie geht es Dir finanziell?
Nun, ich habe genug zu Essen. Ich kaufe bei Aldi und Lidl ein, das geht schon. Aber
man braucht ja auch mehr als nur zu essen. Die Waschmaschine geht kaputt, du
brauchst Kleidung, die Wohnung müsste mal renoviert werden. Das geht alles nicht. Es
gibt ja keine Sondersachen mehr. Ich habe seit Jahren eine Zahnbrücke, eine Prothese.
Die ist jetzt in der Mitte auseinandergebrochen, aber ich kann mir nichts anderes leisten.
Ich klebe sie immer mit Sekundenkleber, das habe ich schon zweimal gemacht. Das ist
aber für meinen Magen nicht gut. Eine Brille müsste ich auch haben, ich kann nur noch
sehr schlecht sehen. Aber das kann ich mir auch nicht leisten, wie soll das gehen? Weißt
du, ich kenne Familien, da gehen sie gar nicht mehr zum Arzt, weil die Mutter das Geld
für Essen braucht.
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Der Sachbearbeiter hat zu mir gesagt. Wir sind kein Sozialamt mehr, sie können gar
keine Forderungen mehr stellen. Wenn die Waschmaschine kaputt geht, dann können
wir nur hoffen, dass irgendjemand in der Familie gerade eine übrig hat. Ohne die
Familie würde es nicht gehen. Alle geben was. Aber man will ja auch nicht immer nur
nehmen, man will ja auch mal gerne geben. Hartz IV ist wirklich schwierig und es wird
noch schwieriger. Mein Sohn arbeitet Vollzeit in einem Lager und bekommt knapp 800
Euro netto raus. Davon muss er rein rechnerisch mir die Hälfte der Miete zahlen und
anteilig Unterhalt für Essen und Strom. Dann hat er noch seine Tochter, die will er ja
auch unterstützen, dann bleiben ihm noch 250 Euro und mir wird die Summe
abgezogen. Aber ich will ihm doch nicht das Geld wegnehmen. Dann hat er überhaupt
keine Motivation mehr, arbeiten zu gehen. Der will halt auch seinen Führerschein
machen.
Er hatte ja eine Lehrstelle, als Maler. In der Berufsschule hat ihn der Lehrer immer
wieder mal blöde angeredet, Zigeuner und so. Da hat er gesagt, dass er nicht mehr
hingeht oder ihm eine rein schlägt. Die Fahrtkosten zur Berufsschule hatten wir auch
nicht. Manchmal saßen meine Kinder in der U-Bahn, immer in der Angst erwischt zu
werden und kein Stück Brot zum Essen dabei. Und selbst wenn du was dabei hast. Die
anderen können immer an die Imbissbude oder zum Kiosk gehen, mein Sohn konnte das
nie.
Weshalb ist das so ein Problem mit dem zur Arbeit gehen?
Schau, meine Kinder haben keinen Schulabschluss. Sie waren in der Sonderschule. Der
jüngere Sohn ist immer hin und her gependelt zwischen Sonderschule und Hauptschule.
Er war auch so hyperaktiv, konnte nie still sitzen. Ihn hat das alles nicht interessiert.
Warum sie auf der Sonderschule waren. Ich weiß es nicht, ich war auch von Anfang an
auf der Sonderschule.
Dann ist es schwer, eine Arbeit zu finden2. Die beim Amt sagen, ihr müsst jetzt mal
arbeiten, ihr seid arbeitsscheu. Dieses „ihr“, ihr Zigeuner!
In diesem Zusammenhang erzählt mir R. auch, dass viele junge Leute auch denken, „nein, da
geh ich nicht hin zur Arbeit, von dem lass ich mich nicht blöde anreden. Sein Vater oder
Großvater hat meinen Vater oder Großvater im KZ gefoltert oder umgebracht. Da arbeite ich
nicht.“ R. findet, dass solches Gedankengut noch sehr verbreitet ist.
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Glaubst du, dass der Sachbearbeiter „Ihr Zigeuner“ gemeint hat oder vielleicht auch
„Ihr Hartz IV-Empfänger“?
Nein, nein, der meint schon uns Zigeuner!
Da vorne im Wohnblock lebt ein alleinerziehender Vater mit seiner Tochter, auch Sinti.
Die Mutter ist gestorben, er hat die Tochter alleine groß gezogen. Jetzt ist sie 18 Jahre
alt geworden und die vom Amt haben gesagt, sie muss arbeiten gehen. Aber wie soll sie
denn arbeiten, sie hat ja nichts gelernt. Wir Frauen kümmern uns halt auch um die
Kinder, dass die sauber aussehen, wir sorgen dafür, dass die Wohnung sauber ist, wir
kochen das Essen…
Weißt du, viele von uns reden auch nicht richtig gut deutsch. Wir haben ja unsere
eigene Sprache. Dann sind wir oft nicht gewohnt, deutsch zu reden und können uns
nicht wirklich gut ausdrücken. Ja, ich kann das, ich habe das auch viel gemacht. Habe
immer wieder gearbeitet.
Was möchtest du gerne, dass sich ändert in der Zukunft?
Ich wünsche mir, dass meine Kinder es mal besser haben als ich. Und meine Kinder
wünschen sich das auch von ihren Kindern. Der Kleine geht jetzt in die Kinderkrippe.
Das ist schon gut, ich bin auch für die Frühförderung.
Und ich freue mich auf Weihnachten, da kommen alle zu mir. Weihnachten wird mit
der Familie gefeiert.
(Zeigt auf das Foto über dem Sofa):
Schau, das ist mein Ältester, der kann an Weihnachten nicht dabei sein. (Seufzt, ich
habe sofort den Gedanken, dass er im Gefängnis ist, ohne, dass sie es explizit sagt.)
Ist er schon lange weg?
Ja, schon ca. ein Jahr.
Kommt er bald?
Nein, erst in einem knappen Jahr. Ich besuche in immer jeden Freitag und Sonntag.
Dann bringe ich ihm Essen mit, was ich gekocht habe, da freut er sich immer.
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Interview
Teil 2 am 21. Dezember 2007 (Transkribiert; Seite 12-18)
Zur Begrüßung, bevor das Aufnahmegerät läuft, erzählt mir R. von einigen Sitten der
Sintis.
Wir haben ja keine Ärzte. Ja, wir gehen schon auch zum Arzt, aber alles was mit Blut
zu tun hat ist unrein. Wir könnten nicht bei einem Arzt arbeiten, als Arzthelferin oder in
den Praxisräumen putzen. Das geht nicht. Das ist unsauber bei uns. Ich weiß das ganz
genau, ich wollte so gerne was mit Medizin machen. Aber das kann ich meiner Familie
auch nicht antun.
Wenn ich auf der Straße eine Prostituierte treffe, dann darf ich auf der Straße Hallo zu
ihr sagen, aber ich darf sie nicht in meine Wohnung einladen, das geht nicht, sie ist auch
unrein. Du kennst doch das Hasenbergl. Da gibt es ein Altenzentrum und in dem
Gebäude sind auch nebendran Ärzte und es gibt da ein Cafe. Da dürfen wir auch nicht
hingehen, das geht nicht.
Wenn ich etwas nicht weiß, gut, dann kann ich nichts machen, aber wenn ich es weiß,
darf ich es nicht.
[Ab hier läuft dann das Aufnahmegerät:]
Was ist los, was ist ein Problem zurzeit für dich?
Ich sehe ein Problem erst mal mit dem Hartz IV, das ist ziemlich krass finde ich. Wenn
man so bedenkt, die ziehen mir Strom ab und Miete muss ich sowieso bezahlen….. Ich
kriege 116,00 Euro im Monat, wie soll ich davon leben. 116.00 Euro, da kann kein
Mensch davon leben!! Natürlich ist das meine Sorge. Das sind meine Sorgen: Wie
komm ich den ganzen Monat durch mit 116,00 Euro. Wie sollst du damit leben, wie?
Dann sagen sie (die Sachbearbeiter vom Amt), „Gehen Sie halt arbeiten, 1-Euro-Job“.
Ja, 1-Euro-Job, dann hab ich 80 oder 100 Euro mehr, dann habe ich 200 oder 216 Euro
im Monat. Aber das reicht auch noch nicht zum Leben. Oder sich mal Schuhe zu kaufen
oder was zum Anziehen, Klamotten. Also das ist mein Problem, das Finanzielle. Früher
war das schon ein bisschen anders, als die D-Mark noch war. Das hat man es sich schon
noch einteilen können, aber jetzt, jetzt ist alles so teuer, wie willst du denn da was
kaufen?
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Wie machst du es dann?
Ja, wie mache ich es. Ich weiß es selber nicht, wie ich im Monat immer durchkomme.
Dann kommt halt mein Sohn mal wieder oder meine Tochter, da mal 20 Euro, da mal
10 Euro. Ja, so leben wir den ganzen Monat durch. Wir helfen uns halt gegenseitig. Es
hat sich total verschärft durch die Regelung von Hartz IV. Und da musst du immer
überlegen.. . Du bist sogar gezwungen dazu, deine Kinder abzumelden. Mein Sohn ist
21, hat gesagt, er will von Hartz IV nicht leben, hat sich eine Arbeit gesucht und was ist
daraus geworden…? Ja! Mein Sohn muss mir 250 Euro im Monat geben. Er verdient
aber nur 800 Euro netto im Monat. Ja, da ist die ganze Motivation weg. Mein Sohn sagt,
„dann habe ich noch 550 Euro und dafür gehe ich den ganzen Monat buckeln“. Es ist
wirklich harte Arbeit, was er da macht, und draußen auch noch in der Kälte. (Der Sohn
ist als Lagerhelfer Vollzeit beschäftigt, muss sehr früh – 4.00 Uhr – aufstehen, damit er
pünktlich bei seiner Arbeit ist.) Und dann haben die zu mir gesagt, entweder ich melde
ihn ab oder ich bekomme gar nichts. In so einer Situation wenn du bist, was machst du?
Jetzt muss ich ihn abmelden. Dann muss er woanders gemeldet sein, ja. Das sind auch
Sorgen für mich, woran ich denk. Was ist denn los? Früher war das nicht so. Da musst
du deine Kinder auf die Straße schmeißen auf Deutsch g’sagt, dass du ein bisschen was
kriegst von Hartz IV, dass du damit leben kannst.
Und dann ist das so, ich habe das jetzt mitgekriegt bei anderen, die Kriminalität, die
nimmt zu, mit Klauen und so ein Zeug. Weil du es nicht mehr hast. Es ist so!
Gezwungenermaßen
aber
wohlgemerkt,
gezwungenermaßen!
Abrutschen
ins
Kriminelle.
Kennst du schon Fälle, wo das passiert ist?
Ja, ich kenne schon Fälle. Zum Beispiel: da ist eine Frau, die hat sechs Kinder, nein
fünf, eines ist schon weg, ist schon groß. Die anderen Kinder sind auch schon älter, die
hat auch das Ultimatum gestellt gekriegt, entweder abmelden oder sie kriegt nichts
mehr. Na ja, was soll die Frau machen. Und die Frau ist wirklich …… Die kriegt
Kindergeld, für zwei kriegt sie noch Kindergeld. Mit dem Kindergeld kauft sie den
ganzen Monat ein. Jetzt brauchen die Kinder aber Kleidung, brauchen die Kinder
Schuhe, brauchen die Kinder Schulzeug, dies, das, ja woher soll sie nehmen? So wie ich
weiß, ab und zu geht sie in Geschäft und klaut Essen, klaut Essen! Also wenn sie 10
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Euro hat, dann kauft sie Kartoffeln, kauft sie Brot und Butter und das Stück Fleisch, das
klaut sie. Weil es zu teuer ist, das alles. Sie hat selber gesagt, was soll ich machen, soll
ich meine Kinder verhungern lassen? Soll ich jeden Tag Brotsuppe machen oder was?
Der Kleine auch: ja, ich kann meiner Mutter nicht einmal ein kleines Geschenk kaufen.
Der kriegt 150 Euro. Dann gehen die Kinder los und denken na ja, so ein kleines
Parfüm. Früher haben sie es gekauft für 10 DM und jetzt klauen sie es.
Die Armut wird immer mehr. Du kannst dir nichts mehr leisten. Nicht einmal essen.
Wer kann mit 116 Euro leben? Kein Mensch!! Das reicht eine Woche vielleicht, aber
dann ist es weg. Da kannst du noch so billig einkaufen. Das ist unmöglich. Ich habe
meine Kaffeemaschine ausgesteckt, habe sie weggetan, weil ich kann mir keinen
Bohnenkaffee mehr leisten. (…) Das ist wirklich so. In allem tun wir zurücktreten.
Auch die anderen Hartz IV, das ist schon klar. Aber durch das… Bei uns ist halt schon
die Familie die Familie und die Kinder die Kinder. Bei uns geht das nicht so. Aber du
wirst gezwungen. Und das finde ich so krass, das finde ich richtig krass, was die mit uns
machen. Und dann heißt es „du bist arbeitsscheu“. Ich zum Beispiel, ich habe 50%
Schwerbehinderung durch die vielen Operationen. Dann gehe ich zu dem
Arbeitsvermittler, dann sagt er zu mir. „Darf ich Ihnen was sagen, Frau H.? Ich glaube,
Sie wollen nicht arbeiten gehen“. „Sie, ich bin immer wieder krank und einen 1-EuroJob, das sagen ich Ihnen offen und ehrlich, den mache ich nicht, mache ich nicht“. Dann
bin ich gesperrt worden einen Monat aufgrund dessen. Und es stimmt auch nicht, dass
ich arbeitsscheu bin. Ein Jahr lang habe ich Schulkinder gefahren. Und ich habe ihm
auch gesagt, was ich gerne machen würde. Da hat er gemeint in der Küche. Ich habe
ihm gesagt, das ist mir zu schwer. Ich meine, ich koche gerne, aber ich bin ja keine
Köchin dann. Ich bin ja nur Aushilfe oder was weiß ich. Dann die großen Töpfe, ich
hatte eine Nierenoperation, ich hab das alles vorgelegt. Das ist denen alles egal. Ich
habe zu dem Sachbearbeiter gesagt „Sie, ich muss unbedingt zum Arzt, ich habe nicht
einmal 10 Euro“. Er hat mir Antwort gegeben: „Kriegen Sie das nicht in Ihren Kopf
rein. Das ist keine Sozialhilfe mehr, das ist Arbeitslosengeld II“. Ja, was soll ich da
sagen …. (…) Ja, es geht nicht. Die 10 Euro, das sag ich dir ehrlich. Bevor ich das dem
Arzt hingeb’, da kauf ich lieber was zum Essen. (…3) Es ist halt so, wie ich es dir schon
gesagt habe, wir helfen uns halt untereinander immer. Mal 10 Euro, mal 20. Mein
3
An dieser Stelle traue ich mich nach dem Rauchen zu fragen. R. meint, das wäre halt ihr
einzigster Luxus und sie würde schon so lange rauchen, da fällt das Aufhören schwer. Das Geld
hierzu kommt von den Kindern oder anderen Verwandten.
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Bruder hat mir auch was gegeben zu Weihnachten. Es ist nicht viel, aber wir helfen uns
halt gegenseitig. Also hungern oder verhungern, das muss ich nicht.
Die Verwandten, die Kinder helfen. Ich wenn ganz alleine wäre, drei Wochen lang täte
ich hungern. Nur Brühe schlürfen und ein blankes Brot dazu, na, das tät gehen. (Sie
schmunzelt).
Gut, wenn du alleine wärst, dann würdest du den vollen Satz kriegen, aber ….. Es ist
halt schon eine sehr enge finanzielle Situation, auch für die Kinder.
Ja, mein Sohn kriegt 900 oder 1000 Euro, dann wird das abgezogen,
Krankenversicherung und Steuer, dann bleiben ihm 750 Euro im Monat und davon soll
er mir 250 Euro geben. Er hat ja auch ein Kind, der will ja für sein Kind auch was
geben. 4 Dann arbeitet er ja nur noch für nix, für andere. Er will ja für sich auch was. Er
will ja auf die Beine kommen. Er will später eine Wohnung, er will dies und das
(Führerschein). Er ist 21 Jahre alt, die haben doch auch ihre Träume, ihre Ziele. Aber
das ist das, was ich net verstehe. Da sagen sie immer arbeiten gehen und wenn dann
jemand arbeiten geht, dann ziehen sie dir schon wieder so viel ab, dass du schon gar
nichts mehr hast. (…)
Er hat halt keinen Beruf gelernt. Er hat zwar Schulabschluss und alles, aber …. Die
Arbeit ist ihm halt durch Freunde zugekommen. Dann hat er gemeint, „na Mama, besser
wie gar nichts“. Ich kann ihm nichts geben, ich kann ihm nicht mal 5 Euro geben.
Und ne Ausbildung noch machen?
Kein Bock mehr (seufzt). Weißt du es ist einfach gesagt, weißt du, viele sagen, Schule
nachmachen oder Beruf lernen, dies und das, aber …Wir haben es ja noch nie so mit
Berufen gehabt und mit solchen Sachen, weißt, so Schulisches. Ich weiß auch nicht
warum, aber es liegt einfach in der Familie so, ich weiß auch nicht. Überall ist es so.
Überall wo du hingehst sind die ganzen Kinder noch da, ob sie jetzt 18 sind oder über
20, das ist egal. Freilich haben sie ihre Geschäfte. Manche gehen schrotteln, manche
machen dies oder das. Ich kenne einen, der macht unter der Hand, da tut er Auto
4
Der jüngere Sohn hat ein Kind mit zwei Jahren, die Mutter der Kleinen hat sich kürzlich von
ihm getrennt, aber er möchte auch gerne für seine Tochter sorgen.
- 17 -
richten. Er wäre ein guter Mechaniker sozusagen. Aber die Lehrzeit und das ganze
Papierzeug und die Rechnungen und so, das checken sie net. Sie haben es zwar im
Kopf, aber…. Es ist so wie ein Musiker. Bei uns ein Musiker, der spielt ohne Noten.
Das hast du ja schon gesehen, sie spielen ohne Noten. Wenn der das jetzt lernen müsste
mit Noten, das wäre für ihn unvorstellbar. Da würde er sagen, ja das kann ich net.
Sie haben halt so Talent, in vielen Sachen haben sie Talent. Aber was schulische Sachen
angeht, da machen fast alle, die ich kenne, einen Rückzieher, da kommen sie nicht mit,
da fallen sie durch. Und das wissen sie und deswegen machen sie es auch gar nicht. Das
ist das Problem auch. Die sind nicht dumm, auch meine Kinder nicht, die sind nicht
dumm! Aber das Schulische…. Du musst es ja besser wissen. Da muss man Aufsatz
schreiben und ausrechnen von was weiß ich für Rechnungen… Das checken sie nicht,
obwohl sie so jetzt … Sie können rechnen, sie können schreiben, sie können lesen. Zum
Beispiel meine Tochter, die wollte Beiköchin werden, ja eine Ausbildung. Die war
super, aber was Schulisches anbelangt hat, da war sie nicht so gut. Aber in der Küche,
wenn sie gekocht hat, war sie super. Von selber, vom Kopf raus, aber nach Noten nach
war sie net so gut. Warum das so ist, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weil das alles so
kompliziert ist. (Lacht).
Also manche, ist aber selten, schaffen es schon, muss ich sagen, aber die meisten, das
sage ich dir ehrlich, nicht.
Hmm, ja da müsste man als erstes ansetzen….
Ja, aber trotzdem kriegt man das nicht raus, jetzt sage ich das mal ganz krass, unser
Zigeunerleben.
Was meinst du damit?
Ein Zigeuner kann nicht so leben wie ein Deutscher, das ist unmöglich. Das geht nicht.
Er kann sich nicht so einfügen, so wie du oder jemand anderes. Das geht nicht. Das
weiß ich. Ich kann es dir nicht sagen, warum genau, aber es geht nicht. Bis jetzt habe
ich das noch nie gehört. Sie können sich nicht so in Eueres einfügen, ja so, wie wenn
ich auch ein Deutscher jetzt bin. Das ist keine Beleidigung wenn ich jetzt immer sage,
ein Deutscher, aber dass du das auch verstehst.
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Wie würdet ihr denn gerne leben?
Dass wir nicht so eingeschränkt sind gegenüber dem Staat. Dass wir freier sind, dass
wir sagen könnten, im Sommer, wenn die großen Ferien sind, dann nehmen wir unser
Auto, unseren Wohnwagen und gehen auf einen großen Platz, aber das kann man heute
nicht mehr, es geht gar nichts mehr. Es gibt nur noch Campingplätze, da muss man auch
zahlen. Das sind alles so eingeschränkte Sachen, es gibt kein fahrendes Volk mehr wie
früher. Früher waren die Leute viel glücklicher wie jetzt. Jetzt mit „muss“ müssen sie
daheim bleiben. Mehr Freiheit, das würde ich mir wünschen, mehr Freiheit! Und ein
bisschen mehr Verständnis uns gegenüber. Weil wir doch eine andere Kultur sind und
andere Sitten haben. Wir können doch nicht über unseren Schatten springen, das geht
nicht, das ist einfach zu tief noch drin. Wir können unsere Kinder auch nicht so erziehen
wie ihr. Weil wir es auch gar nicht so gelernt haben.
Dieses Feste, wie jetzt zum Beispiel die Nachbarin. Um 5 oder 6 Uhr gibt es
Abendessen und spätestens um 8 Uhr sind die im Bett, weil sie in der Früh ja aufstehen
müssen in die Schule. So eine Struktur. Und dann, es hat alles mit der Erziehung zu tun.
Es wird denen schon ganz früh eingeprägt, mit 16 oder 18 Schule, dann Beruf, Lehre,
und, und, und. Das ist bei uns eben nicht so. So wie es bei euch feststeht, dass es so ist,
so ist es bei uns schon immer festgestanden, dass es anders ist. Unsere Kinder sind halt
anders, wir sind anders. Wenn wir feiern, dann bleiben unsere Kinder halt auf. Bei
denen drüben, da läuft nix, da gehen die Kinder ins Bett, die feiern alleine. Aber das
gibt es bei uns nicht, das können wir nicht. Oder wenn ein Todesfall ist bei uns. Da hat
drüben die Schwester kommen müssen, weil die sind weg gefahren, das ist bei uns
nicht, wir nehmen unsere Kinder mit, die müssen mit, das ist einfach Tradition bei uns.
Mit dem Anpassen da hapert es halt….
Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, in Hamburg oder in Berlin, da gibt es auch eine
Schule, wo unsere Sprache gesprochen wird. Da ist auch einer dabei von uns, ein
Lehrer, wie gesagt, wir sind ja nicht blöd. Von euch ist auch einer dabei, wie
Musiklehrer und Deutsch und Mathe. Aber schon auf unserer Sprache, weil da haben
die (Schüler) auch viel mehr Respekt. Wir haben halt auch eine andere Redensart. Wie
zum Beispiel: ein Lehrer würde nie sagen, „ja willst du immer dumm bleiben, schau,
wie die anderen machen.“ Bei uns würde er sagen, „jetzt bleib mal sitzen und hör mal
zu“. Wir würden halt mehr auf die Kinder eingehen, so „komm, jetzt versuchen wir
beide das mal“, mehr so auf diese Art. Immer wieder motivieren die Kinder, dass sie
- 19 -
auch mitmachen. Ich habe gehört davon, das läuft super. (….) Das wär’s, so eine
Schule, für Erstklässler. Das wäre ganz anders. (….). Als ich da Referate in der Schule
gemacht habe, die haben das extra gemacht, weil sie viele Sinti-Kinder in der Schule
gehabt haben und die dann nicht verstanden haben. Weil wenn die angeschrieen werden
von einer Lehrkraft oder so, die nehmen ihren Rucksack, die nehmen ihre Schultasche
und gehen.
Aber wenn ich zum Beispiel so schimpfen würde, dann gehen sie nicht. Weil sie mich
mehr respektieren, weil es in der Sprache ist und weil dann auch mehr Vertrauen dann
da ist. … Die Lehrerin ist fremd, das ist eine fremde Frau, Deutsch ist sie auch noch,
weil – wie gesagt, das Thema hatten wir ja das letzte Mal schon, mit dem Hitler, das ist
halt auch immer wieder noch drin, weil viele Ältere auch schimpfen über die
Deutschen. Die sagen, ja, die haben unsere Leute umgebracht, der Hitler, verstehst was
ich mein. Die wollen uns nicht, da müsst ihr immer aufpassen, was ihr sagt und was ihr
macht, dass wir keine Probleme kriegen. Ich kann mich noch erinnern, früher, mein
Vater, wenn es geheißen hat, Probleme mit der Polizei wegen Kinder in der Schule:
Hört’s auf, kriegen wir eine Anzeige, werden wir eingesperrt, so… Das haben wir doch
alles mitgekriegt und so waren wir dann auch. (…)
Was könnte helfen?
Wenn so eine Schule kommen würde, das wäre schon gut. Und dann begleiten wir auch
die Kinder bis zum Ende. Dann gehen wir auch zu dem Arbeitgeber, dann kann man ja
mit der Firma sprechen… Wir müssen einfach unsere Kinder mehr fördern. Und zwar
mit unserer Kultur weiterhin und mit unserer Sprache. Aber natürlich auch Deutsch, das
muss ja sein, das ist klar. Aber dass immer eine Person von uns dabei ist. Eine Person,
die sie respektieren, wo sie sagen, da kann ich das nicht machen oder da darf ich das
nicht machen, weil wenn die zu meinem Vater geht und erzählt ihm das, dann ohhh,
dann gibt es Stress. Aber bei dir zum Beispiel, da wäre ihnen das egal, weil du keinen
Stellenwert bei ihnen hast.
Das ist dann für die Lehrer, die Sinti-Kinder unterrichten ja auch nicht einfach.
Nein, das ist nicht einfach. Das ist für beide Seiten nicht einfach. Deshalb haben ja der
Alexander und ich in der Schule Referate gehalten, weil die Lehrer sich erkundigen
- 20 -
wollten, wie unsere Sitten sind. Ob das stimmt mit dem Verreisen bei Hochzeiten und
Todesfällen. Ja, das stimmt, das ist keine Lüge. Oder ob das stimmt, dass bei uns die
Männer keine Toiletten putzen. Ja, das stimmt. Ja oder, bei uns, viele Mädchen schämen
sich, wenn zum Beispiel Schwimmunterricht ist und sie sind schon Fräuleins, bei uns
sagt man Fräuleins, wenn sie ihre Tage haben oder schon Brust, dann schämen die sich.
Die ziehen sich nicht aus, wenn andere Sinti-Jungs dabei sind. Das ist Tabu. Die dürfen
auch nicht im Badeanzug oder Bikini sein. Ich kann mich noch erinnern, meine Mutter
ist mit der Schürze ins Wasser gegangen, das war so ein kleiner See. Und die Männer,
die ziehen dann so Shorts an, aber über die Knie, also keine Badehose, die Männer auch
nicht. Die ziehen lange Bermudas an oder krempeln die Hose hoch, wenn jetzt Frauen
dabei sind, Familien halt. (erzählt von früher).
Und da haben die Lehrer auch wieder gesagt, das kann nicht sein, jetzt ist
Schwimmunterricht. Und wenn die sich geweigert haben, dann haben sie einen Verweis
gekriegt mit nach Hause.
Also, es gibt viele Sachen, wo es gegen unsere Regeln geht.
(Erzählt mir eine Geschichte aus ihrer Kindheit).
- 21 -
3. Auswertung
Auf der linken Seite sind die konkreten Aussagen von R. aufgeführt, auf der rechten
Tabellenseite meine persönlichen Anmerkungen dazu.
Gegenstandswissen: Was und wer?
Finanzielle Situation:
„Nun, ich habe genug zu Essen. (.)Aber man Das größte Problem im Alltag ist
braucht ja auch mehr als nur zu essen. Die die materielle Not, die sich in
Waschmaschine
geht
kaputt,
du
brauchst allen Dingen äußert: Versorgung
Kleidung, die Wohnung müsste mal renoviert mit Essen, Kleidung, Schuhe,
werden. Das geht alles nicht.“
Fahrkarten.
„Hartz IV ist wirklich schwierig und es wird noch Auch so „normale Dinge“ wie
schwieriger. Mein Sohn arbeitet Vollzeit in einem kleine Geschenke für die
Lager und bekommt knapp 800 Euro netto raus. Enkelkinder, z.B. ein neues
Davon muss er rein rechnerisch mir die Hälfte der Puppenkleid sind nicht
Miete zahlen und anteilig Unterhalt für Essen und finanzierbar.
Strom. Dann hat er noch seine Tochter, die will er Die Wohnung müsste dringend
ja auch unterstützen, dann bleiben ihm noch 250 neu gestrichen werden, die
Euro und mir wird die Summe abgezogen. Aber Möbel fallen teilweise fast
ich will ihm doch nicht das Geld wegnehmen. auseinander.
Dann hat er überhaupt keine Motivation mehr,
arbeiten zu gehen.“
„Ich kriege 116,00 Euro im Monat, wie soll ich
davon leben. 116.00 Euro, da kann kein Mensch
davon leben!!“
„Die Fahrtkosten zur Berufsschule hatten wir
auch nicht.“
Gesundheit:
„Ich habe seit Jahren eine Zahnbrücke, eine Die Familie hat keine
Prothese. Die ist jetzt in der Mitte ausein- finanziellen Möglichkeiten zum
andergebrochen, aber ich kann mir nichts anderes Arzt zu gehen. 10 Euro
leisten. Ich klebe sie immer mit Sekundenkleber, Praxisgebühr und noch weitere
das habe ich schon zweimal gemacht. Das ist aber 10 Euro für den Zahnarzt sind
- 22 -
für meinen Magen nicht gut.“
nicht machbar.
„Eine Brille müsste ich auch haben, ich kann nur Die Brille wird seit zwei Jahren
noch sehr schlecht sehen. Aber das kann ich mir aufgeschoben in der Hoffnung,
auch nicht leisten, wie soll das gehen? Weißt du, dass mal mehr Geld vorhanden
ich kenne Familien, da gehen sie gar nicht mehr ist.
zum Arzt, weil die Mutter das Geld für Essen
braucht.“
Exclusion – Inclusion: Diskriminierung:
„In der Schule mussten wir Zigeunerkinder links Die Familienmitglieder erleben
sitzen und die anderen Kinder mussten rechts in ihrem Alltag immer wieder
sitzen. Da habe ich gemerkt, dass das mit uns Situationen, in denen deutlich
anders ist.“
wird, dass auch heute noch
„Also in der Schule, der Hausmeister war total Diskriminierung stattfindet.
gegen uns Zigeuner. Der hat oft was nach uns Zum einen geschieht das durch
geworfen und geschimpft, ihr Zigeunerpack. Leute, die noch die NS-Zeit
Irgendwann hat die Lehrerin in der Schule mich erlebt haben, zum anderen
geschlagen und an den Haaren gepackt.“
passiert das in Zusammen-
„Am Telefon waren sie immer sehr nett, aber hängen, die von Stress und
wenn ich dann da war und sie mich sahen. Es hat Überlastung (z.B. Sachbearbeiter
nie jemand zurück gerufen.“
in der Arge) geprägt sind. Ich
„Und auf den Akten von uns stand immer ein persönlich glaube, dass hier auch
großes „Z“.
schon viele Kränkungen und
„Ich habe versucht, eine Wohnung zu bekommen. gegenseitige Verletzungen
Aber niemand wollte uns haben.“
gelaufen sind und im Grunde
„Da hat er gesagt, „mit so einer wie dir rede ich beide Seiten sehr emotionalisiert
nicht.“
„Da hat der Hr. H. von oben gesagt, „tu fei sauber
putzen, nicht so dreckig wie ihr seid.“
„Es wären im Moment sehr viele Zigeuner in
Lourdes anwesend, wir sollten verstärkt auf unser
Gepäck achten.“
„Irgendwann hat die Mutter von seiner Freundin
gesagt, dass sie keinen Zigeuner in der Familie
sind.
- 23 -
haben möchte und dass sie sich trennen soll.“
„Die beim Amt sagen, ihr müsst jetzt mal
arbeiten, ihr seid arbeitsscheu. Dieses „ihr“, ihr
Zigeuner!“
Bildung und Beruf:
„Meine Kinder haben keinen Schulabschluss. Sie Fehlende Schulabschlüsse und
waren in der Sonderschule. Der jüngere Sohn ist Berufsausbildungen sind ein sehr
immer
hin
und
her
gependelt
zwischen großes Problem. Ich habe den
Sonderschule und Hauptschule. Er war auch so Eindruck, dass es auf Seiten der
hyperaktiv, konnte nie still sitzen. Ihn hat das Sintis auch eine
alles nicht interessiert. Warum sie auf der Verweigerungsmentalität gibt.
Sonderschule waren. Ich weiß es nicht, ich war Zumindest können sie kaum mit
auch von Anfang an auf der Sonderschule.“
dem üblichen Schulsystem in der
„Aber was schulische Sachen angeht, da machen BRD mithalten. Das führt zu
fast alle, die ich kenne, einen Rückzieher, da großen
kommen sie nicht mit, da fallen sie durch. Und Minderwertigkeitsgefühlen und
das wissen sie und deswegen machen sie es auch entweder zum Rebellieren
gar nicht. Das ist das Problem auch. Die sind dagegen oder zum Resignieren.
nicht dumm, auch meine Kinder nicht, die sind
nicht dumm! Aber das Schulische…“
Erklärungswissen: Warum?
„Weißt du, viele von uns reden auch nicht richtig Die Sintis fühlen sich ihrer
gut deutsch. Wir haben ja unsere eigene Sprache. Kultur und Identität beraubt.
Dann sind wir oft nicht gewohnt, deutsch zu Außerdem haben sie andere
reden und können uns nicht wirklich gut aus- Vorstellungen
drücken.“
von
einem
zufriedenen Leben.
„Ein Zigeuner kann nicht so leben wie ein Ihr
spezieller
Sittenkodex
Deutscher, das ist unmöglich. Das geht nicht. Er verbietet außerdem bestimmte
kann sich nicht so einfügen, so wie du oder Arbeiten (z.B. beim Arzt). Dies
jemand anderes.“
führt
zu
großen
Konflikten
- 24 -
„So eine Struktur. Und dann, es hat alles mit der aufgrund
der
Hartz
IV
Erziehung zu tun. Es wird denen schon ganz früh Regelungen
eingeprägt, mit 16 oder 18 Schule, dann Beruf,
Lehre, und, und, und. Das ist bei uns eben nicht
so.“
….“ weil du keinen Stellenwert bei ihnen hast.“
Wissen über die Geschichte: Woher?
„Die Lehrerin ist fremd, das ist eine fremde Frau, Meiner Meinung nach bestehen
Deutsch ist sie auch noch, weil – wie gesagt, das noch
sehr
viele
emotionale
Thema hatten wir ja das letzte Mal schon, mit Verletzungen aus der NS-Zeit.
dem Hitler, das ist halt auch immer wieder noch Es hat keine offizielle und
drin, weil viele Ältere auch schimpfen über die öffentliche Aufarbeitung stattDeutschen. Die sagen, ja, die haben unsere Leute gefunden.
umgebracht, der Hitler, verstehst was ich mein.“
Darüber
hinaus
ist
uns
In diesem Zusammenhang erzählt mir R. auch, Deutschen die Mentalität der
dass viele junge Leute auch denken, „nein, da geh Sintis auch fremd und nicht so
ich nicht hin zur Arbeit, von dem lass ich mich einfach
zu
tolerieren
(z.B.
nicht blöde anreden. Sein Vater oder Großvater Frauenrolle, Kindererziehung)
hat meinen Vater oder Großvater im KZ gefoltert
oder umgebracht. Da arbeite ich nicht.“ R. findet,
dass solches Gedankengut noch sehr verbreitet
ist.
Verfahrenswissen: Wie?
„Wir müssen uns gegenseitig informieren, das ist Viele kleine Schritte müssten
gut.“
passieren: mehr Bildung, mehr
„Der Kleine geht jetzt in die Kinderkrippe. Das Eigenständigkeit, mehr Miteinist
schon
gut,
ich
bin
auch
für
die ander. Die Volksgruppe alleine
- 25 -
Frühförderung.“
wird das auch sich heraus nicht
„da gibt es auch eine Schule, wo unsere Sprache schaffen, hier müsste auch der
gesprochen wird. Da ist auch einer dabei von uns, Staat tätig werden.
ein Lehrer, wie gesagt, wir sind ja nicht blöd.“
Wertewissen: Woraufhin?
„Dass wir nicht so eingeschränkt sind gegenüber Die Menschen wünschen sich
dem Staat. Dass wir freier sind (…)Das sind alles mehr
Selbstbestimmung
und
so eingeschränkte Sachen, es gibt kein fahrendes Freiheit, ihr Leben so zu leben,
Volk mehr wie früher. Früher waren die Leute wie sie es für richtig empfinden.
viel glücklicher wie jetzt. Jetzt mit „muss“ Insgesamt all diese Sachen, die
müssen sie daheim bleiben. Mehr Freiheit, das in
den
Menschenrechts-
würde ich mir wünschen, mehr Freiheit! Und ein konventionen formuliert sind:
bisschen mehr Verständnis uns gegenüber. Weil Achtung,
Würde,
Selbstbe-
wir doch eine andere Kultur sind und andere stimmung, Wohlbefinden.
Sitten haben.“
- 26 -
Frau Staub-Bernasconi definiert vier große Problembereiche im sozialen Feld:
a) Ausstattungsprobleme
Ausstattungsprobleme sind Probleme, die mit Defiziten in der Ausstattung zu tun haben,
z.B. körperliche Ausstattung, sozioökonomische Ausstattung, Ausstattung mit
Erkenntniskompetenzen und mit Handlungskompetenzen.
Meiner Meinung nach sind hier auf jeden Fall Ausstattungsprobleme gegeben. Im
körperlichen Bereich scheint es einen geringen Gesundheitszustand zu geben: keine
Bildung darüber (Kinder essen viel ungesunde Süßigkeiten), exzessiver Nikotinkonsum,
um die Perspektivlosigkeit zu kompensieren, Qualität der erschwinglichen Nahrung im
unteren Bereich (Einkauf nur bei Aldi bzw. Lidl möglich, die Lebensmittel der „Tafel“,
z.B. Orangen werden streng rationiert). Weitere Defizite herrschen im Bereich der
Kleidung und Schuhe. Vom äußeren Aussehen her wirken viele sehr dunkelhäutig (das
ist in meinen Augen nicht so problematisch) und von eher zartgliedrigen Körperbau
(das ist meiner Meinung nach gerade für männliche Jugendliche ein Problem). Es
besteht ganz eindeutig ein Mangel an medizinischer Versorgung (Brillen, Zähne).
Es gibt keinerlei finanzielle Rücklagen, keinen Komfort, nur einfachste Ausstattung, die
Wohnung müsste renoviert werden.
Handlungskompetenzen für den eigenen Alltag sind meiner Meinung nach gut
vorhanden, genauso gute soziale Beziehungen (starker Familienverband).
Erkenntniskompetenzen, reflexive Fähigkeiten konnte ich in der Kürze nicht genauer
erforschen. Auf jeden Fall scheinen solche Kompetenzen überlagert von dem Gefühl
der Diskriminierung.
b) Austauschprobleme
Alle Menschen sind zur Existenzsicherung auf den Austausch mit anderen Menschen
und der Umwelt angewiesen. Ausgetauscht werden beispielsweise Güter, Wissen oder
Kompetenzen Soziale Probleme entstehen durch asymmetrische Tauschbeziehungen.
Meiner
Meinung
nach
liegen
hier
fast
ausschließlich
asymmetrische
Tauschbeziehungen vor. Die Familie empfindet sich in fast allen alltäglichen
Situationen als Bittsteller. Dies führt langfristig zu Gefühlen wie Resignation,
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Depression oder, vor allem bei den männlichen Jugendlichen zu erhöhter
Aggressionsbereitschaft, weil „eh schon alles egal ist.“
c) Machtprobleme
Der Zugang zu bestimmten Ressourcen (Bildung, Wirtschaft; Politik usw.) ist von
bestimmten Machtquellen abhängig, nicht nur von menschlichen Bedürfnissen und
Fähigkeiten. Wichtige Machtquellen sind für Staub-Bernasconi beispielsweise
gesellschaftliche Stellung, ökonomisches Kapital, soziale Stellung, Bildungskapital
usw. Soziale Probleme entstehen, da die Regeln zur Verteilung von Macht begrenzt
sind.
Meiner Meinung nach kann man verschieden Einzelregelungen von Hartz IV auch
darunter zählen, z.B. diese ganzen Regelungen für junge Erwachsene unter 25 Jahre.
Der Staat „spielt“ seine Regelungsmacht aus und schafft langfristig noch mehr soziale
Probleme, z.B. verstärkte Obdachlosigkeit unter Jugendlichen, die nicht mehr in ihre
zerrütteten Familien zurück können oder allerlei „Tricksereien“ mit der Meldepflicht.
d) Kriterienprobleme
Nach Staub-Bernasconi sind Werte und Kriterien Elemente einer bestimmten Kultur.
Soziale Probleme entstehen, wenn Kriterien für gewisse Problembereiche fehlen oder
bestehende Kriterien nicht oder willkürlich angewendet werden.
Meiner Meinung nach fehlen in unserer Gesellschaft Kriterien, wie man mit der
ethnischen Minderheit der Sintis und Romas umgehen möchte. Es kann ja nicht
angehen, dass Angehörige dieser Volksgruppen zum überwiegenden Teil ständig
marginalisiert werden.
Zusätzliche Anmerkungen von mir:
Sinti- und Romafamilien gehören einer ethnischen Minderheit an, die unter dem Begriff
„Zigeuner“ bekannt ist. Sie leben in großen Familienverbänden und verfügen somit über
feste soziale Strukturen. Es besteht ein sehr großer Zusammenhalt untereinander mit
großer Unterstützung sowohl im materiellen als auch im immateriellen Bereich. Diese
sozialen Strukturen sind tragend für ihr Leben und lassen sie auch immer wieder
erfahrene Diskriminierungen verarbeiten.
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Sinti und Romas sind von ihrer Kultur her ein „fahrendes Volk“ und wurden in
Deutschland aufgrund der Zwangssesshaftmachung gezwungen, fest an einem Ort zu
bleiben. Die Regelungen von Hartz IV schränken ihre Mobilität noch mehr ein.
In meinen Augen hat überhaupt keine Integration in unsere Kultur und Gesellschaft
stattgefunden. Viele Probleme entstehen aus diesem Umstand heraus.
Die Familien, die ich kennengelernt habe, verfügen über kaum oder keine Perspektiven
in unserer Gesellschaft. Dieser Zustand wird nicht als Phase erlebt, sondern prägt das
gesamte Leben. Erschwerend kommen die Ereignisse aus der nationalsozialistischen
Zeit hinzu. Es gibt keine Familie, in der nicht ein oder mehrere Familienmitglieder im
KZ getötet oder schwer gefoltert worden ist. Dieses Unrecht ist bis heute nicht vergeben
und vergessen, ein Trauerprozess, der auch Vergebung beinhaltet, hat in den meisten
Fällen nicht stattgefunden. Leider findet dieses Thema in der Öffentlichkeit kaum
Beachtung.
4. Schluss
Der Schluss zu diesem Praxisprojekt besteht in einem Resümee, was ich alles gelernt
habe und welche Lernbereiche ich noch gerne vertiefen möchte.
Als erstes: mir hat dieser Praxiseinsatz sehr, sehr viel Spaß und Befriedigung gebracht,
nicht zuletzt auch, weil sich Herr Diepold so kooperativ, unterstützend und persönlich
offen mir gegenüber verhalten hat.
Mit dem vorsichtigen Kennenlernen einer schwer zugänglichen, fast geschlossenen
ethnischen Minderheit bin ich ad hoc mit vielen sozialen und ethischen Problemstellungen konfrontiert worden: materielle Armut, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit,
soziale Gerechtigkeit, Bedeutung von Bildung, Holocaust-Thematik, Schuld und Verantwortung, Wertesysteme, Würde versus Demütigung, Antiziganismus, Soziale Arbeit
von oben – von unten, Integration, eigene Grenzen und Intoleranz.
Am meisten beschäftigt hat mich die Frage der Integration. Wie kann erfolgreiche
Integration aussehen, welche Schritte müssten hier erfolgen, damit Sintis und Roma,
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ohne Vergewaltigung ihrer Kultur, zufriedenstellend integriert werden können. Sind wir
überhaupt bereit, solch einen Preis zu zahlen?
Am meisten berührt hat mich die Tatsache, dass ich quasi zum „Täter-Volk“ gehöre und
zu sehen, dass Vergeben und Vergessen nicht möglich sind, wenn keine Anerkennung
des Unrechts passiert.
Am meisten erschüttert hat mich eine Situation in meinem privaten Bekanntenkreis, die
sich kurz vor Weihnachten ereignet hatte: Ich hatte in meinem Freundeskreis von
meinem Praxisprojekt erzählt. Eine Bekannte, die bei einem gut situierten Notar
arbeitet, der regelmäßig zu Weihnachten an eine gemeinnützige soziale Einrichtung
spendet, bat mich um den Madhouse Flyer, um ihn als Empfehlung für die diesjährige
Weihnachtsspende einbringen zu können. Als sie anlässlich der Weihnachtsfeier ihren
Kollegen davon erzählte, erntete sie volle Entrüstung und Ablehnung. Danach meinte
sie zu mir, dass sie nun wisse, was ich immer mit sozialer Ausgrenzung meine. Ich
glaube, dass offiziell keine Ausgrenzung mehr stattfindet, dass aber im Alltag „kleine“,
„stille“ Diskriminierungen keine Seltenheit sind.
Am meisten fordern würde mich bei so einer Tätigkeit als Sozialarbeiter das tradierte
Rollenbild der Frau, mit dem mir als Frau die männlichen Familienmitglieder
gegenübertreten würden. Dies dann nicht persönlich zu nehmen, erfordert schon sehr
professionelles Verhalten und einen stabilen Selbstwert.
Abschließend kann ich sagen, dass ich alle Bereiche, die ich in diesem Projekt erfahren
habe, wertvoll finde und auf jeden Fall weiter vertiefen möchte.
5. Anhang
Als Anhang beigefügt sind die einzelnen Termine meines Praxiseinsatzes in Form eines
Lerntagebuches sowie die Chronologie, wie ich zu meinem Praxisplatz gefunden habe.