1999 tmolreg unrechtserleben polit folter therapie

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1999 tmolreg unrechtserleben polit folter therapie
Die Verschränkung von äußerer und innerer Realität
bei politischer Verfolgung und Folter Das Unrechtserleben bei den Betroffenen
und Möglichkeiten therapeutischer Behandlung
Birgit Möller und Freihart Regner
Zusammenfassung:
Politische Repression und Folter dienen der Absicherung von Herrschaft und zielen
neben dem Individuum auch auf die Gesellschaft ab. Durch „Verwissenschaftlichung“ und „Professionalisierung“ im Zusammenwirken mit modernster Überwachungstechnologie entsteht ein Foltersystem, das das Individuum zerstört und in seine
psychischen Strukturen eingreift. Der Einsatz subtiler psychologischer und körperlicher Foltermethoden und die daraus resultierende Regression machen es dem Gefolterten zunehmend unmöglich, die Zerstörung als von außen kommend wahrzunehmen. Die externe Realität zwingt sich in die Psyche des Opfers und beschädigt bzw.
zerstört dessen psychischen Strukturen, was zur Aufrechterhaltung des repressiven
politischen Systems dient. Eine Expertenbefragung mit PsychotherapeutInnen von
politisch Verfolgten zeigt, wie zentral in diesem Kontext die Bedeutung des Unrechtserlebens für die Gefolterten ist, und wie groß die Notwendigkeit, dieses therapeutisch
zu behandeln, da andere Gefühle, wie Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit,
häufig Sinnverlust, sich an das Unrechtserleben binden. Retraumatisierende Erlebnisse im Asylland wirken aggravierend und generalisierend. Eine therapeutische Haltung dazu kann sein, Partei für den Klienten zu ergreifen und das erlittene Unrecht
zu bestätigen („vinculo comprometido“). Politisch bewußte Klienten haben häufig
weniger starke Ungerechtigkeitsgefühle, da sie die Logik des repressiven Systems erkannt und erwartet haben und von den direkten Tätern defokussieren können. Dies
kann auch therapeutisch genutzt werden („Kognitive Umstrukturierung“). Politisches
Engagement, mit dem das Erlittene aktiv und öffentlich umgesetzt werden kann (z.B.
im Testimonium), hat deshalb auch therapeutischen Stellenwert. Die Verfolgten leiden am gesellschaftlich fortgeschriebenen Unrecht und der moralischen Uneinsichtigkeit der Täter. Wichtig ist daher eine Entprivatisierung des Erlittenen im gesellschaftlichen Raum (bes. Gerichtsverfahren gegen die Täter), durch die ein gesellschaftlicher Schutzraum z.T. restituiert wird.
Einleitung
Der Artikel ist eine überarbeitete Fassung zweier Vorträge auf dem Workshop-Kongreß Politische Psychologie vom 15.-18.Oktober 1998 an der Universität Hamburg. Da die Beiträge sich in einigen Teilen überschnitten, haben
die Autoren die schriftliche Fassung zu einem Artikel umgearbeitet. Der erste
Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999, Nr. 1+2, S. 59 - 86
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Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999
Teil von Birgit Möller beschäftigt sich mit dem Einsatz von Folter und den
Zielen, die damit verfolgt werden, sowie dem Zusammenwirken von repressiver äußerer und innerer Realität, dem Mikro- und Makrosystem. Im zweiten
Teil von Freihart Regner wird vertiefend auf das Unrechtserleben von politisch Verfolgten und die therapeutischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten des Umgangs damit eingegangen.
Teil I:
Die Verschränkung von innerer und äußerer Realität
bei politischer Verfolgung und Folter
Folter zielt auf Individuum wie Gesellschaft
„Die Folter, die für den Gefolterten im Augenblick ihrer Anwendung ‘die
Welt’ ist, ist für den Folternden ein Stück Tagwerk. Im Moment der
höchsten Qual soll doch nur das Allgemeine im Menschenkind getroffen
werden. Therapie kann darum wohl nur gelingen – und was hier ‘gelingen’ hieße, bleibt Gegenstand der Diskussion –, wenn sie beides einbezöge: den niemals zu heilenden, niemals wiedergutzumachenden Schaden, den der einzelne davonzutragen gezwungen war, und die Wunde, die
durch seine Pein die Sozietät erhalten hat. Das individuelle Leid immer
als individuelles, nie als ‘Exempel’ zu verstehen, gleichwohl wachzuhalten, daß der Anschlag stets auch weiter zielte, bleibt Aufgabe derer, die
das Leid derjenigen, die Opfer der Folter geworden sind, zu mindern suchen.“ (Reemtsma, 1991, S.17)
Folter zieht sich durch die Geschichte der Menschheit und ist in der Welt allgegenwärtig. Sie ist ein politisches Instrument, um Macht und Herrschaftsanspruch zu sichern. Ihr Ziel ist daher, worauf Reemtsma hinweist, neben dem
Individuum immer auch die Allgemeinheit, zumindest die politische oder
ethnische Gruppe des Gefolterten. Sie ist deshalb weder in Bedingungen und
Ablauf noch in der Bewältigung ein ‘rein psychologisches’, individuelles
Phänomen, sondern immer Teil einer soziokulturellen Ordnung und auf diese
bezogen. Die gesellschaftlichen - auch die internationalen - Reaktionen sind
deshalb ein wichtiger Faktor möglicher Verläufe.
Aufstieg und Professionalisierung von Folter
bis ins 20. Jahrhundert
Bereits im 13. Jh. v. Chr. ließ Ramses II. in Ägypten feindliche Soldaten foltern. In Griechenland trat die Folter erstmals auf, als sich die „Idee des
Rechts“ zu formieren begann, im Übergang von einem archaischen, weitgehend kommunalen Rechtssystem zu einem sehr viel komplexeren (Peters,
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1991). Sklaven durften mit Hilfe von Folter unterworfen und Geständnisse
von ihnen - im Sinne einer „Wahrheitsfindung“ - erzwungen werden. Zudem
war es erlaubt, sie stellvertretend für ihren Herrn zu bestrafen und zu foltern.
Das Rechtssystem im Römischen Reich, von griechischen Einflüssen
geprägt, bestand aus umfangreichen Kodizes und hat das Aufleben der Folter
in Europa im 13. und 20. Jahrhundert stark beeinflußt. Zunächst durften im
Römischen Reich ausschließlich Sklaven, die eines Verbrechens angeklagt
waren, gefoltert werden. Später konnten sie auch als Zeugen gefoltert werden. Die unter der Folter gemachten Aussagen eines Sklaven gegen seinen
Herrn hatten keine Relevanz. Nach dem 2. Jahrhundert v. Chr. weitete sich
die Folter auch auf freie Bürger aus, in seltenen Fällen auch auf die Edlen.
Die „peinliche Frage“ gehörte nun zur Praxis des Strafrechts und der Gerichtsprozesse.
Vom 7. bis 12. Jahrhundert spielte die institutionalisierte Folter keine
entscheidende Rolle und wurde nur vereinzelt angewandt. Das änderte sich
im Laufe des 12. Jahrhunderts mit der Erneuerung und Weiterentwicklung
der Rechtskultur und der Wiederentdeckung des römischen Rechts. Es entstanden erstmals juristische Fakultäten und Gerichtshöfe, die Rechtsphilosophie blühte auf. Zunächst fand die Folter des römischen Rechtssystems keine
Berücksichtigung. Das änderte sich jedoch drastisch in der zweiten Hälfte des
13. Jahrhunderts, als das Anklageverfahren durch das Inquisitionsverfahren
der Kirche ersetzt wurde und nicht mehr die Aussage und der Eid des freien
Bürgers entscheidend waren, sondern das Geständnis. Die Folter schien wieder gesellschaftspolitisch notwendig, diente weltlichen wie auch kirchlichen
Machthabern als anerkanntes Beweismittel und zur Sicherung ihrer Macht,
und wurde in das allgemeine Rechtssystem und die Gerichtsverfahren aufgenommen. Mit zunehmender Ausweitung der Machtansprüche der Kirche
wurden erstmals auch Gedankenverbrechen verfolgt. Jeder Bürger konnte im
Prinzip der Ketzerei bezichtigt und gefoltert werden; meist handelte es sich
jedoch um Angehörige der unteren Schicht. Durch die Erzwingung von Aussagen sowie den Bestrafungscharakter der Folter sollten die Menschen abgeschreckt werden und sich der bestehenden Ordnung total unterwerfen.
Es gab in den Jahrhunderten immer wieder Protest gegen die Folter und
Menschen, die sich für ihre Abschaffung einsetzten. Zu einer Wende in Europa kam es jedoch erst zur Zeit der Aufklärung, die ihren Höhepunkt in der
ersten Menschenrechtsdeklaration 1789 hatte, wonach der Folterer dem Mörder gleichgestellt und die Folterung mit dem Tode durch die Guillotine bestraft wurde (Mohamed-Ali, 1990). Erstmals wurden im Zuge des Kampfes
des Bürgertums für mehr Rechte durch eine strafrechtliche Reform die Folter
in Europa schrittweise gesetzlich verboten (z.B. in Preußen 1754, in Österreich 1776) und den Machthabern in ihrer Herrschaft Grenzen gesetzt. Folter
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ist jedoch nie wirklich abgeschafft worden.
Im 20. Jahrhundert wurde in einigen Ländern die Teilung von Recht und Politik im Interesse der Machthaber oder der Verteidigung eines Staatsprinzips
bzw. einer -ideologie wieder aufgehoben. So kam es auch nach den Verboten
immer wieder zu Folterungen (z.B. in Europa, den damaligen Kolonien, den
Südstaaten der USA, in der UdSSR etc.). Sie wurde jedoch fortan, da durch
das jeweilige Rechtssystem meist ausdrücklich verboten, von den praktizierenden Staaten nicht mehr öffentlich betrieben und in ihrer Existenz geleugnet. Während des ersten Weltkrieges wurden die sog. „Kriegsneurotiker“ gefoltert, um diese wieder „frontverwendungsfähig“ zu machen. Zur Zeit des
Nationalsozialismus kam es zu Folterungen und Massenvernichtungen, u.a.
in den Folterkellern der Gestapo und den Konzentrationslagern an psychisch
Kranken und geistig und körperlich Behinderten, um nur einige Beispiele zu
nennen (vgl. Klee, 1995; Riedesser; Verderber, 1985).
Als Reaktion auf den zweiten Weltkrieg und den Holocaust wurde 1948
zum ersten Mal weltweit durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zur Folter Stellung bezogen und in Artikel 5 verboten. Des weiteren wurde
das Verbot der Folter in verschiedene andere völkerrechtliche Verträge aufgenommen, wie z.B. in die Europäische Menschenrechtskonvention (1950)
und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966).
1957 kam es in Europa zu einem Einschnitt im Selbstverständnis der
politischen Kulturen, als zunehmend publik wurde, daß die französische
Armee und die Kolonialpolizei seit dem algerischen Aufstand 1954 gegen die
algerischen Rebellen Folter einsetzten: Der „zivilisatorische Auftrag“ zerfiel
in der Entkolonialisierung vollends zu Rhetorik, das Problem der Folter war
auch für westlich-industrialisierte Gesellschaften nicht historisch überholt,
auf Zeiten extremer politischer Konflikte oder instabile Regimes beschränkt,
sondern wieder in greifbare Nähe gerückt: Folter geschah durch einen westlichen, demokratischen Staat.
In den 60er und 70er Jahren kam es zu einer weiteren Reihe politischer
Veränderungen. In Griechenland ergriffen im April 1967 durch einen Putsch
rechtsradikale Militärs die Macht. Von Anfang an benutzte die Junta Folter
nicht nur, um Informationen zu bekommen, sondern auch um die Opposition
einzuschüchtern, was in diesem Fall juristisch und politisch besonders brisant
war, da die griechische Regierung kurz vor dem Putsch die UNO Menschenrechtskonvention unterzeichnet hatte, die jede Form der Folter explizit verbietet.
In zahlreichen Ländern, u.a. Chile, Brasilien, Türkei, Iran, Irak, Nicaragua, Uruguay und Argentinien, weitete sich die Folter aus. In der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhundert entwickelte sich eine regelrechte „Technologie der
Folter“, Folter wurde „verwissenschaftlicht“, ihre Ausübung durch Erkennt-
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nisse aus Medizin und Psychologie unterstützt. Maßgebliche Vorarbeiten hatte der Nationalsozialismus (Menschenversuche in den Konzentrationslagern)
geleistet, doch auch osteuropäische Staaten steuerten Weiterentwicklungen
bei - etwa die DDR zur psychologischen Folter.
Häufig werden nach wie vor Praktiken eingesetzt, die in der jeweiligen
Kultur der Opfer besonders tabuisiert und entehrend sind (häufig sexualisierte Demütigungen und Verletzungen, z.B. dem Erzwingen von Analverkehr
bei Männern und Vergewaltigung bei Frauen sowie Elektroschocks an den
Genitalien). Doch mit der Verwissenschaftlichung gingen verschiedene Erweiterungen einher:
1. Zusätzliche und ständig neue Techniken kommen zum Einsatz - die Verabreichung von Psychopharmaka, den Einsatz von double-bind oder Hypnose, um nur einige Beispiel zu nennen.
2. Die Foltertechniken sind immer subtiler geworden, und immer schwieriger
nachzuweisen. In vielen Fällen hinterläßt die körperliche Folter heutzutage
oftmals keine oder nur schwer zu erkennende bzw. nachweisbare Narben,
während die psychische Folter immer häufiger eingesetzt wird.
3. Folter wurde ‘professionalisiert’: In einigen Ländern entstanden „Folterschulen“, die nicht nur die Folterer ausbilden, sondern auch anderen Ländern das neu erworbene Wissen vermitteln (s. Boppel und Heinz, i.d.Bd.).
4. Nicht selten ist ein Arzt bei der Folter anwesend, überwacht den Gesundheitszustand des Patienten, damit dieser am Leben bleibt, und bescheinigt
dem Opfer bei der Entlassung, daß keine Folterspuren festgestellt wurden
(The British Medical Association, 1996). Mit diesem Vorgehen versuchen
viele Staaten, die die UN-Konvention unterzeichnet haben, Klagen vor internationalen Gerichtshöfen zu umgehen.
5. Um das Zerstörungspotential zu optimieren, kommt es meist zu einer Kombination verschiedener Foltertechniken - nach Keller (1988) „selektiv physisch“ und „verfeinert psychisch“ - , die auf das jeweilige Opfer und das
Ziel der Folterer abgestimmt ist.
6. Durch immer größer und präzisere werdende Terrorsysteme, die sich moderner Transport- und Überwachungstechnologie bedienen, wird innerhalb
der Bevölkerung ein Klima der Angst geschaffen und die Opposition unterbunden. Durch allgegenwärtige und formenreiche Repressionen und
psychologische Kriegsführung erstreckt sich die Atmosphäre tiefer Unsicherheit bis in die zwischenmenschlichen Bereiche und innerpsychischen
Strukturen hinein. Angst und Unsicherheit werden internalisiert und Teil
der Identität. In Chile, um ein Beispiel zu nennen, wurde dieses Klima
während der Diktatur u.a. durch das „Verschwindenlassen“, die Inhaftierung und Folterung Hunderttausender hergestellt.
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Als Antwort auf diese Entwicklungen definierte 1975 die Generalversammlung der Vereinten Nationen „Folter“ erstmals genauer. Neben physischer
Folter wurde die geistig-seelische einbezogen, wobei auch diese Definition
viele Fragen offenläßt (z.B., ab wann Mißhandlung oder Isolationshaft als
Folter betrachtet werden kann). Seit 1984 gibt es ein erneutes internationales
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sowie eine weitere UNO-Konvention
gegen die Folter, in der sich jedes unterzeichnende Land verpflichtet, für die
Rehabilitation von Folteropfern zu sorgen und Rehabilitationseinrichtungen
für Folteropfer zu schaffen.
In Deutschland wurden - in Fortsetzung der Abwehr von
Entschädigungsansprüchen von Konzentrationslager-Insassen und anderen
NS-Opfern - Folgen der Folter bis in die 60er Jahre hinein noch vehement
geleugnet; 1967 vertrat der Psychiater Panse in einem Gutachten im Auftrag
des damaligen Außenministers der Bundesrepublik die Ansicht, daß
Folgeschäden von Folterungen nur dann auftreten könnten, wenn die
betreffende Person schon vorher psychisch gestört gewesen sei (Pross, 1988).
Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Unterzeichnerstaaten des
Abkommens von 1984. Es gibt aber trotz dessen Vorgaben bundesweit immer
noch nicht genügend psychosoziale und Behandlungszentren, die den Bedarf
nach Rehabilitation ausreichend decken können. So umfaßt allein die
Warteliste des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfers zur Zeit etwa
300 Menschen, die auf einen Therapieplatz warten.
„Gehorsamsverbrechen“: Politische Repression als System
Der historische Abriß über Folter als extremste Form politischer Verfolgung
und über ihre Verwissenschaftlichung und ‘Professionalisierung’ hat schon
deutlich gemacht, daß es sich dabei um ein gesellschaftliches, systemischstrukturelles Phänomen handelt, um ein Foltersystem also, in welches die
unmittelbaren Täter als Exekutoren einer repressiven Logik eingebunden
sind. Eine solche strukturelle Betrachtung ist erforderlich für ein Verständnis
des Erlebens und der Bewältigungsverläufe bei den Betroffenen, welches der
politischen Ätiologie des Verfolgungstraumas gerecht wird.
Kelman (1993) bietet in diesem Zusammenhang einen Ansatz an, der
Mikro- und Makroebene des repressiven Systems verbindet. Er bezeichnet
Folter als ein „Gehorsamsverbrechen“ (crime of obedience):
„A crime that takes place, not in opposition to the authorities, but under
explicit instructions from the authorities to engage in acts of torture, or in
an environment in which such acts are implicitly sponsored, expected, or
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at least tolerated by the authorities. Lee Hamilton and I have defined a
crime of obedience as ‘an act performed in response to orders from authority that is considered illegal or immoral by the larger community’“
(Kelman 1993, S. 23)
Der Fokus der Betrachtung verschiebt sich damit von den unmittelbaren Tätern auf die Herrschenden, welche Folter veranlassen und rechtfertigen. Somit entsteht eine hierarchisch organisierte Befehlskette, die es schwierig
macht, Verantwortlichkeiten an einer Person festzumachen - woraus dann die
Konsequenz zu ziehen ist, daß alle Ebenen verantwortlich beteiligt sind:
„In principle, then, responsibility is shared at all levels of the hierarchy,
with those on the top held responsible for the policies they formulate and
the atmosphere they create, those in the middle for the orders they give
and the control they exercise, and those on the bottom for the actions they
carry out. In practice, the authority structure within which torture and other crimes of obedience occur, typically enables individuals at all levels
to escape responsibility.“ (ebd., S. 25)
Auf der Makroebene des repressiven Systems ist die Leitfrage sozialwissenschaftlicher Ursachen- und Folgeforschung damit: Was sind die strukturellen
und situationalen Bedingungen, die Folter in den Augen der Regierenden als
ein notwendiges politisches Instrument erscheinen lassen? Peters (1985) sieht
hier eine enge Verbindung zwischen der epidemischen Verbreitung von Folter und der Entstehung des modernen Staates im 20. Jahrhundert. Dieser
zeichnet sich durch zwei Eigenschaften aus:
1. durch seine enorme Machtfülle, mit der alle Aspekte des Lebens durchdrungen und kontrolliert werden können;
2. durch seine Verwundbarkeit gegenüber (realen oder vermeintlichen) äußeren wie inneren Feinden, hervorgerufen durch den hohen Grad an Interdependenz zwischen politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen
einer modernen Gesellschaft, die leicht zu sozialer Desintegration und damit zum Autoritätsverlust der Herrschenden führe.
Ähnlich Kelman: „Torture becomes state policy when the authorities perceive an active threat to the security of the state from internal or external
sources and decide to use the vast power at their disposal to counter that
threat by repressive means.“ (a.a.O., S. 30)
Dies mag v.a. bei totalitären Staatsideologien politischer oder religiöser
Art, z.B. im Iran, oder bei einer militärisch gestützten Herrscherclique,
z.B. in Syrien, teilweise auch bei Demokratien, z.B. für Großbritannien in
Nordirland, ein Faktor sein. Es sollten jedoch auch andere Muster in Betracht gezogen werden: Südafrika während des Apartheid-Regimes, die
Philippinen u.a. Außerdem wird Folter auch von nicht-staatlichen Akteuren wie Guerilla-Gruppen oder marodierenden Banden praktiziert.
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Kelman verknüpft nun Makro- und Mikroebene durch drei sich gegenseitig
bestärkende Faktoren:
1. Die Rechtfertigung der Folter durch die Herrschenden führt zur Autorisierung, d.h. zur moralischen Ermächtigung und Absicherung der Folterer.
Diese glauben dadurch, an einer „transzendenten Mission“ teilzuhaben
(z.B. der Verteidigung religiöser Werte). Folter wird dabei als „notwendiges Übel“ betrachtet (vgl. die berüchtigte Himmler-Rede 1943 in Posen).
Die Beteiligung von Medizinern zur Supervision der Tortur spielt dabei
keine geringe Rolle. Ebenso trägt der oftmals „juristische Kontext“ („die
peinliche Befragung“) zur Legitimation bei.
2. Die gezielte Rekrutierung und ‘Ausbildung’ der Peiniger führt zur Routinisierung, Professionalisierung und Normalisierung der Mißhandlung. Für
die Täter bleibt dann kaum mehr Gelegenheit, moralische Fragen aufkommen zu lassen (vgl. oben: Befehlskette). Sie betrachten ihr Handeln als
‘Job’ und Pflichterfüllung und etablieren sich als eigener „Berufsstand“
mit entsprechender ‘Ausbildung’ (s. Boppel i.d.Bd.).
3. Staatliche ideologische Definitionen von Feindbildern führen zur Dehumanisierung der Opfer in den Augen der Täter („Untermensch“, „Ungeziefer“). Heinz (1993) hat dies bei ehemaligen Folter-Offizieren in Lateinamerika analysiert: Die Guerilleros wurden zu Kommunisten und ausländischen Agenten erklärt und damit als „subversive Elemente“ aus der überhöhten Volksgemeinschaft ausgeschlossen, verfolgt, mißhandelt oder ermordet.
Das Zusammenwirken politisch-struktureller
und individueller Faktoren:
Merkmale der Folter und die Reaktion der Opfer
Wie diese politisch-strukturellen Bedingungen das individuelle Erleben der
Opfer prägen, verdeutlicht ein Konzept von Benyakar & Kutz (1987), das
von Becker (1992, S. 135 ff) kritisch referiert wird. Es umfaßt vier Bezugsebenen, auf denen Subjekte interaktiv mit ihrer Umwelt in Beziehungen treten: psychostrukturelle Ebene (z.B. Ich, Es, Über-Ich), psychofunktionale
(Gefühle, z.B. Angst, Wut, Teilnahmslosigkeit), soziokulturelle (Beziehungen in einer sozialen Einheit, z.B. Familie, militärische Einheit), und soziofunktionale Ebene (Stimmung in einer sozialen Einheit, z.B. Machtkampf,
ärgerliches Schweigen in einer Familie). Die traumatische Erfahrung wird
nun als Zusammentreffen einer katastrophalen Bedrohung mit einer chaoti-
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schen Reaktion, als ein erzwungener, offener Zustand des Systems, der den
Zusammenbruch der Strukturen des Selbst auf allen wichtigen Ebenen beinhaltet, aufgefaßt. Ihre Folge ist die Erfahrung des Autonomieverlustes, die
mit den zuvor erfahrenen Beziehungen, die das Selbstgefühl bestimmen,
nicht vereinbar ist.
Becker kritisiert an diesem Traumakonzept, daß es die Dialektik zwischen Innen und Außen zwar herausarbeitet und dem externen Ereignis traumatische Wirkung bis hin zur Zerstörung zubilligt, das Außen jedoch zur abstrakten Kategorie macht. Seiner Ansicht nach wird die Einwirkung auf eine
gegebene Struktur zwar richtig beschrieben, die Beziehung zum Innen aber
nicht wirklich dynamisch erfaßt. Aus der von den Autoren entwickelten Theorie der forced open states (einer erzwungenen Öffnung des psychischen Systems der Opfer) leitet Becker die Folgerung ab, daß die Wahrnehmung des
Betroffenen, die das externe Ereignis zur katastrophischen Bedrohung werden läßt, keine Leistung desselben, sondern eine erzwungene Konsequenz
des traumatischen Ereignisses ist. Die externe Realität zwingt sich in die Psyche des Opfers, so daß die Wahrnehmung des Ereignisses nicht als Anwort
auf das Ereignis zu verstehen ist: sie ist Teil desselben und installiert sich im
Subjekt.
Um das Ineinandergreifen von innerpsychischer Dynamik und äußerer
Einwirkung bei Folter verstehen zu können, sollen im folgenden einige zentrale Prozesse dargestellt werden, die sich unter der Folter ereignen können.
Da Umfang und Dauer der Folter, Zahl der Folterer und der Kontakt zu ihnen
usf. sehr unterschiedlich sind, treten die Auswirkungen und Verläufe allerdings keineswegs immer gleichartig auf.
Die totale Macht
Die unmittelbare Wirkung der Folter wird durch den Zustand absoluter Ohnmacht und Demütigung erzeugt. Es kommt zu einem totalen Machtgefälle, in
dem das Opfer dem Täter bzw. den Tätern vollkommen ausgeliefert und von
ihm abhängig ist. Der Folterer wird damit zum Allmächtigen, der über Leben
und Tod entscheidet, der Gefolterte zur bloßen Sache degradiert:
„Du bist Scheiße. Seit wir dich hierher gebracht haben, bist du ein
Nichts. Außerdem erinnert sich schon niemand mehr an dich. Du existierst nicht. Wenn jemand dich suchen würde, was niemand tut - glaubst
du, daß man dich hier suchen würde? Wir sind alles für dich. Die Gerechtigkeit sind wir. Wir sind Gott.“ (Hamburger Institut für Sozialforschung,
1987, S. 24).
Die äußeren Gegebenheiten werden bei der Folter lückenlos durchstrukturiert
(Lorenzer, 1966), so daß die Unterwerfung als einzige Chance des Überlebens bleibt. Der Gefolterte wird überflutet von Ängsten und in eine Regressi-
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on getrieben, in der er kaum mehr weiß, wer er ist, und der er sich langfristig
nicht entziehen kann. Folter kann mit dem Bewußtsein nur schwer erfaßt
werden; Reaktionen seitens des Betroffenen sind selten vorhersagbar (Bensayag, 1984). Der Gefolterte befindet sich in einem Zustand permanenter Alarmbereitschaft und Übererregung, die ihn nicht mehr losläßt und der er
auch in Zeiten ohne unmittelbare Bedrohung ausgesetzt ist. Die erwachsene
psychische Struktur, die sich ausdrückt im Gefühl der Identität, der Integration, des Wissens um das Ich und das Selbst, der Moral und des Ideals, löst
sich langsam auf. Das Opfer regrediert auf Vorformen der erreichten Struktur. Das Vertrauen in die Welt wird nachhaltig erschüttert oder zerstört und
die im Laufe des Lebens erworbene psycho-bio-soziale Integrität zerschmettert (Gurris, 1997) - mit dramatischen Langzeitfolgen für diejenigen, die überleben.
Die Folterer herrschen über den Körper und die Seele des Opfers. Durch
die körperlichen und psychischen Qualen, die Erschöpfung und Anspannung
findet der Gefolterte sich in seinem Körper nicht mehr zurecht. Die Körpergrenze wird überschritten und das Opfer mit Gewalt in das Gefühl des Ausgeliefertsein und der Ohnmacht getrieben. Viele Folteropfer berichten von Dissoziationserfahrungen und einem veränderten Zeitgefühl, wenn die Qualen
und Schmerzen zu groß wurden.
Wechselweise eingesetzte Foltertechniken intensivieren diese Erfahrungen gezielt, u.a. sensorische Deprivation, die drastische Einschränkung der
sinnlichen Wahrnehmung, und Reizüberflutung, z.B. durch schmerzhafte
Lichtreize oder akustischem Terror mit der Folge des Zusammenbruchs des
Wahrnehmungssystems. Der Gefolterte wird von seiner Umwelt isoliert und
in seinen Sinnen ausgehungert, so daß das Ich und das Selbst zu verkümmern
drohen. Einer intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper und seinen
ständig wechselnden Sensationen setzt ein, die Fähigkeit, die Intensität der
einzelnen Wahrnehmungen zu unterscheiden, nimmt ab. Der motorische Apparat ist lahmgelegt, und es kommt zu einem starren Gebrauch der IchFunktionen; auf jede Veränderung seiner Umgebung und jeden Reiz reagiert
das Opfer besonders empfindlich und entwickelt große Angst, Freude, Haß
und Wut. Es hat meist keine Möglichkeit, diesen körperlichen und seelischen
Qualen durch Ablenkung oder motorische Aktivität entgegenzuwirken.
„Z.B. ließen sie uns nur einmal am Tag zur Toilette gehen. Den Urin anhalten zu müssen führte dazu, daß man das Gefühl hatte, daß sich die Organe vertauscht hatten. Ich hatte das Gefühl, meine Blase nähme den
Platz des Gehirns ein.“ (Rosencof 1990, S. 46-47)
Double bind
Während der Folter wird das Opfer immer wieder in eine Situation gedrängt,
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in der es zwischen zwei scheinbaren Alternativen zu wählen hat, die in Wirklichkeit keine sind. Entweder gibt das Opfer seine politische Überzeugung
auf, verrät seine Genossen und versucht dadurch, seine Familie zu schützen,
oder es gibt seine Familie auf, um seiner politischen Überzeugung treu zu
bleiben. Es werden double-bind-ähnliche Situationen geschaffen, die das Opfer in Verwirrung und psychotische Zustände treiben, in denen es sich gar
nicht „richtig“ verhalten kann. So gerät es dem Folterer gegenüber immer
mehr in einen Zustand völliger Abhängigkeit und erzwungener Unterwerfung.
Strukturzerstörung und der erfahrene Tod
Während der Folter versucht das Opfer, so lange wie möglich den Kontakt
zur Realität zu halten. Um nicht in Verwirrung und psychotische Zustände zu
fallen, in denen die innere von der äußeren Realität nicht mehr unterschieden
werden kann, versuchen viele Gefangene, sich die Ziele und Mechanismen
der Folter immer wieder bewußt zu machen oder im Sinne der Abwehr auf
stärkende innere Bilder oder Erinnerungen zurückzugreifen. Sie denken an
etwas Gutes, an die eigene Familie oder politische Ziele, an etwas, wofür es
sich zu kämpfen und zu leben lohnt.
Durch die verschiedenen Foltermethoden wird die Realitätswahrnehmung für das Opfer erschwert. Viele Gefangene haben keine Möglichkeit,
sich zeitlich oder räumlich zu orientieren, werden ohne vorhersehbare Anzeichen gefoltert oder wochenlang allein gelassen. Durch gezielte Fehlinformationen wird der Gefolterte in eine Situation getrieben, in der es ihm nicht
mehr möglich ist, die Realität bzw. den Wahrheitsgehalt zu prüfen. So wird
das innere Bild der Realität langsam zerstört, das Opfer gerät in einen Zustand völliger Orientierungslosigkeit, Anspannung und Angst. Unter der Folter kann die Fähigkeit verloren gehen, die erlittene Zerstörung als von außen
kommend wahrzunehmen, da die Bedrohung - bedingt durch die totale Ohnmacht und Regression - gleichzeitig auch von innen ausgeht. Die Grenze
zwischen Phantasie und Realität geht verloren, die traumatische Erfahrung
wird künstlich zu einer psychotischen vorangetrieben, in der es kein Innen
und kein Außen mehr gibt (Becker, 1995). Die Extremtraumatisierung ist
deswegen paradox, weil sie einerseits den Zusammenbruch aller Strukturen
bedeutet, d.h. die Erfahrung des Todes, andererseits vom Opfer überlebt wird.
Das „Innen“, das die interne Welt, die Phantasie und externen Handlungsmöglichkeiten einschließt, wird von einer äußeren Realität zerstört.
„Der gesunde Menschenverstand sagt, daß man von Träumen nicht leben
kann [...] Aber ich habe Menschen kennengelernt, in denen und mit denen ich erkannt habe, daß wir ohne die täglichen Träume nicht hätten bestehen können. Es wäre nicht möglich gewesen, mehr als elf Jahre im
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Gefängnis zu überleben, ohne ein menschliches Gesicht, die Sonne oder
etwas Grün zu sehen, in einem Loch begraben, nur von der Arbeit der
Spinnen in den Ecken abgelenkt, wenn dieses tiefe Loch nicht mit Träumen gefüllt wäre [...] Aber manchmal zerbrachen die Grenzen der Besinnung, des klaren Verstandes, und wir begannen, in pathologischen Sümpfen zu versinken. Ein Genosse, mit dem wir all diese Jahre verbunden
waren, ohne ihn zu sehen, von dem ich nur manchmal hörte, wie er schrie
„Wache, gib mir Wasser! Bring mich zum Klo, ich halte es nicht mehr
aus!“, vermoderte Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr in diesem
Wahnsinn. Da er Tag und Nacht von Soldaten bewacht wurde, entwickelte er eine Psychose. Da er mit sich selbst sprach, glaubte er, man habe,
um seine Worte aufzunehmen, ein geheimes Tonband in der Zelle aufgestellt. Das Gerät, das nicht existierte, begann zu summen. Er bildete sich
ein, daß das Steuerungsgerät im Wachraum aufgestellt worden sei, und
die Soldaten würden, um ihn zu quälen, den Apparat so aufdrehen, daß er
durch das Summen entnervt würde. Das ließ ihn nicht schlafen und stach
ihm so in die Ohren, daß er verzweifelte Schreie ausstieß. Er schrie so
sehr, daß ihm Knebel in den Mund gesteckt wurden, um die Grabesstille
nicht zu stören. Denn Schreien war nicht erlaubt und wurde streng bestraft. Und ich frage mich: Dieser Apparat, den es nicht gab, war er nun
wirklich oder nicht?“ (Rosencof, 1990, S. 14-15)
Eine weitere Gefährdung erfährt das Ich dadurch, daß jede narzißtische Zufuhr seitens der Umwelt einmal verloren geht. Der Gefolterte wird verachtet,
gedemütigt, alles zielt darauf ab, ihn in Menschenwürde und in Selbstwertgefühl zu verletzen. Er hört auf, als Subjekt zu existieren, ein eklatanter Widerspruch zwischen dem Real-Ich und dem Ich-Ideal tritt ein. Zugleich sieht sich
das Ich immer weniger in der Lage, die lebensnotwendige narzißtische Besetzung seiner elementaren Funktionen aufrechtzuerhalten.
Die Bindung an den Folterer
Die Folterer versuchen, das Opfer an seinen empfindlichsten Punkten zu treffen. Frauen, die besonders schön sind, werden entstellt, Familienangehörige
des Opfers werden inhaftiert oder vor seinen Augen gefoltert, um von ihm
Geständnisse zu erpressen, die Identifikation des Gefangenen mit einer politischen Gruppe wird zerstört. Unter der Folter wird das Opfer zu Geständnissen, die es niemals machen wollte, oder zum Verrat seiner besten Freunde
oder Mitstreiter gezwungen. Diese Situation ist äußerst beschämend. Die
meisten machen sich große Vorwürfe und leiden unter extremen Schuldgefühlen. Um der narzißtischen Entleerung zu entgehen und dem Gefühl unerträglicher Hilflosigkeit zu entkommen, kann der Gefolterte sich schließlich
gezwungen fühlen, sich an diejenigen zu halten, die die Macht haben: die
Folterer.
B. Möller, F. Regner: Die Verschränkung äußerer und innerer Realität
71
So berichtet ein Folteropfer aus Paraguay: „Der Augenblick war gekommen, da mir nach mehrfachem Untertauchen in der Wanne mit fauligem
Wasser bei voller Besinnung bewußt wurde, daß ich nicht mehr weiterkämpfen konnte: Ich ersehnte den Tod und versuchte mich zu ertränken,
indem ich mich bemühte, unter Wasser zu atmen und da mir das nicht gelang, verzweifelte ich vollends. Ich trat ein in die erste Stufe der Illusion.
Ich rief nach Gott. Ich fühlte mich wie ein von allen verlassenes, hilfloses
Kind, rief nach der Mutter. Aber weder Gott noch die Mutter erschienen,
um mich zu erlösen. Nun öffnete ich die Augen und hatte vor mir die
einzigen Menschen, die mich retten könnten: diese Folterer, die mich umringten. Es blieb mir keine Alternative: Ich mußte auf sie vertrauen und
ich vertraute [...] Ich empfand in diesem Augenblick ein Vertrauen, so
dramatisch und intensiv, und ich verband dies mit einem tiefgreifenden
Erinnern an das vorher Erfahrene. Auf dieser Stufe, die ich DAS
VERTRAUEN nennen würde, errichtete ich - meiner sozialen Bindungen
ledig - eine perverse Allianz mit meinen Folterern, indem ich nach und
nach meine politischen Ideale, die ich in meinem Leben aufgebaut hatte,
zerstörte. Ich war besiegt.“ (nach Carlos Arestivo, 1992).
Dem Opfer ist selbst das letzte Verlangen nach Autonomie meist versagt, es
kann nicht einmal seinem Leben eigenmächtig ein Ende setzen. Viele
Folteropfer sind durch die Folter derart geschwächt, daß sie sogar zu schwach
sind, um zu sterben, was für die meisten die letzte Niederlage bedeutet.
„Als hätte der Schmerz die Schwelle des Erträglichen überschritten und
sich verflüchtigt, er verschwand. Ich war jenseits des Schmerzes. Eines
Tages fragte ich mich: Kann man vor Schmerz sterben? Ich fühlte, daß es
mein innigster Wunsch war, zu sterben. Der Nebel hüllte alles ein, ich
versank in einer Wolke...Mir wurde gerade bewußt, daß ich noch lebte.
Mein Freund der Tod hatte mich schon wieder im Stich gelassen.“ (Arce,
1994, S. 102)
Im Zustand völliger Ohnmacht, Abhängigkeit, Todessehnsucht und Verlassensein wird das Opfer gezwungen, zu seinem Überleben auf die einzige
Bindung zurückzugreifen, die äußerlich noch zur Verfügung steht: die zum
Folterer. Das kann dazu führen, daß der Gefolterte versucht, zum Folterer eine emotionale Beziehung herzustellen, um als Subjekt zu überleben. Einige
gefolterte Menschen wünschen sich, nachdem sie gefoltert wurden, von ihrem Peiniger getröstet zu werden, ähnlich wie die Eltern den Säugling über
das ihm zugefügte Leid hinwegtrösten. Reemtsma, der 1996 entführt und 33
Tage in einem Keller gefangengehalten wurde, schreibt über die Phantasie
bzw. den Wunsch, der Entführer möge seine Hand auf seine Schulter legen
und ihn trösten:
„Es fällt mir nicht leicht, das aufzuschreiben; ihm fiel es nicht leicht, sich
diesen Wunsch einzugestehen, denn dieses Gefühl läßt sich nicht einfach
72
Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999
als Äquivalent zur menschlichen Stimme darstellen, die man eben hören
möchte, egal, von wem sie stammt [...] Bei dem Wunsch nach körperlicher Berührung aber ist die Grenze zur Unterwerfung überschritten. Das
Machtverhältnis ist eindeutig - keine Machtverteilung, sondern ein krasses Nebeneinander von Allmacht und Ohnmacht, und der Ohnmächtige,
der „Übermächtigte“, wünscht die körperliche Zuwendung des Machthabers.“ (Reemtsma, 1997, S. 178).
Das gewaltsame Introjekt
Becker (pers. Mitt.) weist darauf hin, daß die Strukturzerstörung beim Gefolterten durch den „sich introjizierenden Folterer“ ein vorgesehener Bestandteil
des repressiven Makrosystems ist, dessen Strukturerhaltung auf eben dieser
individuellen Strukturzerstörung basiert. Im Unterschied zu anderen Autoren
spricht Becker von dem sich introjizierenden - nicht dem introjizierten - Folterer, um das Machtgefälle und die Gewalt in diesem Vorgang, das grausame
Eindringen des Täters in die Psyche des Opfers deutlich zu machen. Diese
gewaltsame Introjektion kann zur Folge haben, daß das Opfer das negative
Bild, das der Täter von ihm hat und das alles Verachtenswerte, Menschenunwürdige und Böse subsumiert, übernimmt, während der Folterer alle „guten
Werte“ repräsentiert.
Teil II:
Das Unrechtserleben bei politisch Verfolgten und
Möglichkeiten therapeutischer Behandlung:
Ergebnisse einer Expertenbefragung
„Nachfolter“: Das Unrechtserleben bei politisch Verfolgten
Folter ist die extremste Form von „man-made disaster“: Die Täter, Exekutoren eines repressiven Systems, quälen ihre Opfer absichtlich, systematisch
und professionell, um deren Persönlichkeit nachhaltig zu verstören und zu
zerstören (vgl. Crelinsten & Schmid, 1992). Damit kommt für die Mißhandelten eine traumatisierende Dimension zum Tragen, welche die posttraumatische Verarbeitung wesentlich bestimmt: die der Zwischenmenschlichkeit.
„Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter
Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt,
in der das Prinzip Hoffnung herrscht.“ So der Philosoph und Schriftsteller
Jean Amery (1980, S. 73), der als jüdischer Widerstandskämpfer innerhalb
der belgischen Resistance von den Deutschen und deren Verbündeten gefoltert wurde. Welches Verhältnis zu den Tätern entwickeln die Überlebenden
nach einem solchen Widerfahrnis? Welche Rolle spielen dabei insbesondere
B. Möller, F. Regner: Die Verschränkung äußerer und innerer Realität
73
die Gefühle, die sich in der sog. „Nachfolter“ besonders quälend auswirken?
Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Expertenbefragung mit sieben Psychotherapeuten, die in verschiedenen Behandlungszentren mit politisch Verfolgten arbeiten (Regner, 1998). Eine direkte Befragung der Betroffenen außerhalb der Therapie verbot sich aufgrund des hohen Retraumatisierungspotentials. Die Auswertung erfolgte nach einer modifizierten Form der
Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 1985).
Ein wichtiges Ergebnis - die für die Überlebenden zentrale Bedeutung des
Unrechtserlebens - wird im folgenden dargestellt. Die Aussagen der befragten Therapeuten werden dabei mit Literaturauszügen in Verbindung gebracht;
auf diese Weise wird deutlich, wie klinische Erfahrung und theoretischer
Diskurs ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen können: Denn, wie
die Untersuchung erweist, bestehen kaum Divergenzen zwischen Praktikern
unterschiedlicher therapeutischer Schulen; vielmehr bleibt die Fachliteratur
hinter dem klinischen Erfahrungswissen zurück, insofern das Unrechtserleben sowie die Notwendigkeit seiner therapeutischen Bearbeitung darin weitgehend unberücksichtigt bleibt.
Zentralität des Unrechtserlebens; Generalisierung
Mehrere der befragten Therapeuten betonen die zentrale Bedeutung des Unrechtserlebens für ihre Klienten, so etwa Barbara Steinkopff (BZ „Refugio“
München):
„Dies ist ein ganz wichtiger Punkt, und das ist auch [...] für die darauffolgende Zeit sehr wichtig, daß dem [therapeutisch] Rechnung getragen
wird.“
Die therapeutische Bearbeitung des Unrechtserlebens setzt am zentralen
Punkt der Opfer-Identität an, nämlich an der emotionalen Reaktion der Betroffenen darauf, was Folter objektiv ist: ein Menschenrechtsverbrechen. So
weist David Becker (BZ „ILAS“, Santiago de Chile) darauf hin, daß solche
Ungerechtigkeitsgefühle nicht lediglich eine subjektive Befindlichkeit darstellten, sondern daß es sich dabei um eine bittere Realitätsbeschreibung handele.
„Das ist ja nicht nur ein Gefühl ‘Die Welt ist ungerecht mit mir’, sondern
das ist ja real, daß die Täter nicht bestraft werden.“ [Und daran leiden die
Verfolgten?] Natürlich.“
Nichtsdestoweniger ist dieser Befund keineswegs selbstverständlich, insofern
das Unrechtserleben in den einschlägigen, ansonsten eigentlich recht umfassenden Diagnose-Manualen keinerlei Erwähnung findet (vgl. z.B. „Viktimisierungssyndrom“, Ochberg, 1988, in: Fischer & Gurris, 1996; „Komplexes
74
Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999
PTSD“, Herman, 1994; „DES“, Van der Kolk, 1993, in: Graessner et al.,
1996; ICD-10; DSM IV).
Norbert Gurris (BZ Berlin) gibt ein Beispiel aus seiner Praxis:
„Ein Patient kommt zu mir und legt ganz zynisch lächelnd seine Ausreiseaufforderung vor, daß er morgen die Bundesrepublik Deutschland zu
verlassen hätte - und gleichzeitig zieht er aus der Tasche einen Zeitungsausschnitt und eine Belobigungsurkunde des Bürgermeisters von Berlin,
weil er eine deutsche Frau vor dem Ertrinken gerettet hat. Dann fragt er
quasi: ‘Was soll ich denn mit diesen Deutschen machen?’ Als er die Frau
gerettet hat, standen 15 Deutsche drum herum und haben nichts getan.
‘Da sagt ihr mir: Ich werde morgen ausreisen müssen!’ Das ist posttraumatisch natürlich ein massives Ungerechtigkeitsgefühl, das ich als Therapeut mit bearbeiten muß.“
Derartige Auswüchse der derzeitigen deutschen Flüchtlingspolitik (vgl.
Wirtgen, Rössel-Cunovic, i.d.Bd.) aktualisieren das in der Mißhandlung erlittene Unrecht und können sich auf das gesamte Umfeld ausdehnen: „‘Alles,
was auf dieser Erde passiert, ist ungerecht’ - solche Aussagen kommen immer
wieder“, stellt Hafes Shalabi (BZ „Refugio“, München) fest.
Ein entscheidender pathogener Faktor ist demnach die häufig zu
beobachtende Generalisierung des Unrechtserlebens: Die Schuldattribution
bleibt nicht auf die eigentlichen Täter beschränkt, sondern bezieht sich dann
auch auf die Gesellschaft, „die nicht geholfen hat“, auf diejenige des Exillandes, das kaum einen Anteil am Erlittenen nimmt und für das die Asylsuchenden nur lästige Bittsteller sind, und im Extremfall schließlich auf die gesamte
Menschheit, die zur Herstellung einer allgemein gültigen Rechtsordnung offenbar nicht in der Lage ist (vgl. Basoglu, 1992, S. 417).
Vinculo comprometido und die Realität der Traumatisierung
Gurris hebt hervor, daß es therapeutisch sehr wichtig ist, Partei für den Klienten zu ergreifen und die Ungerechtigkeit des Erlittenen zu bestätigen.
„Immer wieder die Unterstützung: ‘Ja, es ist ungerecht.’ [Als Therapeut
sollte man] eine vermatschende Weltsicht vermeiden wie: ‘Die Welt ist
sowieso ungerecht’.“
Aus psychoanalytischer Sicht bezeichnet Becker (1992, S. 223) diese Haltung
in Anlehnung an chilenische Kollegen als „vinculo comprometido“ (der Ausdruck ist mehrdeutig; eine Übertragung wäre „eingegangene Bindung“). Sie
hat sich herausgebildet, nachdem sich bei der psychoanalytischen Praxis mit
Gefolterten in Chile die klassische „Abstinenzregel“ als untherapeutisch erwies, da sie den realen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht Rechnung trug.
Becker beschreibt den vinculo comprometido als therapeutische Haltung,
B. Möller, F. Regner: Die Verschränkung äußerer und innerer Realität
75
nach der Therapeuten und Klienten politisch - d.h. hier: menschenrechtlich unwiderruflich auf der gleichen Seite stehen. Dies äußert sich auf drei Ebenen:
1. Die therapeutische Bindung beschreibt Realität. Sie erkennt an, daß die
Klienten Verfolgte eines Unrechtsregimes sind und daß ihre Psychopathologie die unmittelbare Konsequenz der erlittenen Mißhandlung sowie der
darauf folgenden retraumatisierenden Faktoren darstellt. Im Gegensatz zur
konventionellen psychoanalytischen Betrachtungsweise wird also nicht
ein ‘Primat der Phantasie’, sondern der realen Traumatisierung betont. Je
stärker die Realtraumatisierung ist, umso wichtiger ist es daher, nicht nur
zwischen Innen und Außen angemessen zu unterscheiden, sondern das
Außen direkt durchzuarbeiten. Nur durch die bewußte Integration der repressiven gesellschaftlichen Realität in den therapeutischen Prozeß kann
zwischen dieser Wirklichkeit und der Phantasie bzw. den Widerständen
des Klienten unterschieden werden. Dem Klienten wird es auf diese Weise
möglich, sich nicht nur als passives Opfer, sondern als handelndes Subjekt
zu verstehen und sich dadurch von dem Erlebten zu distanzieren.
2. Der vinculo comprometido beschreibt eine therapeutische Zielvorstellung.
Ziel ist, sich zwar einerseits mit dem Klienten auf politischer Ebene solidarisch zu erklären, andererseits aber eine operational verstandene Abstinenz als „legitimen Zügel von Übertragung und Gegenübertragung“ anzuwenden, die vordergründige Bedürfnisbefriedigungen nicht zuläßt und
Raum zur (selbst-) kritischen Reflexion gibt. Dies ist erforderlich, damit
die therapeutische Bindung sich nicht ideologisch verfestigt und in der
Folge die subtilen Übertragungsprozesse nicht mehr wahrgenommen werden können.
3. Der vinculo comprometido beschreibt eine für Extremtraumatisierung spezifische therapeutische Technik. Diese erfordert von seiten des Therapeuten eine sehr spezielle Mischung von Nähe und Distanz, von Neutralität
und Parteilichkeit, von Halten und Loslassen, von symbiotischem Verschmelzen und ichbezogener, kritischer Reflexion. Insbesondere geht es
dabei um das Erleben des erfahrenen Todes in der therapeutischen Beziehung und die Fähigkeit des Therapeuten, dem Erlebten als „container“
(Bion, 1976) Raum zu geben und es gemeinsam mit dem Klienten auszuhalten.
„Psychische Gesundheit ist nur dann möglich, wenn das Unerträgliche als
solches erkannt werden kann, wenn es Bestandteil der handelnden Person
geworden ist und wenn es gelingt, es in einem Beziehungsrahmen zu integrieren, um die Dialektik von Tod und Leben zuzulassen, die nötig ist,
um weiterleben zu können und vielleicht die Kraft aufzubringen, weiter
gegen die Verhältnisse zu kämpfen.“ (Becker, a.a.O., S. 226f)
76
Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999
Bedeutung politischer Aktivität
Francoise Sironi vom Behandlungszentrum „Primo Levi“ in Paris unterscheidet hinsichtlich der Ungerechtigkeitsgefühle zwei Gruppen: erstens politisch
Aktive, die solche Emotionen weniger haben, da sie mit Folter rechnen und
darauf vorbereitet sind.
„Das Ungerechtigkeit[sgefühl] ist immer dabei. Ich würde zwei Gruppen
unterscheiden. Wenn du direkt ein Militant warst, ein Mann, der [beispielsweise] sagt: ‘Ich bin Kurde, ich kämpfe in der PKK; ich weiß, daß
man mich foltern kann’, dann wissen sie: [...] Du gewinnst oder du verlierst - dann wirst du gefoltert. Die haben nicht diese Ungerechtigkeitsgefühle - [bzw.] es ist dann ein Ungerechtigkeitserleben von der [allgemein-]menschlichen Seite: ‘Es ist Unrecht, daß ein Mensch einem anderen Menschen so etwas antut.’ So wird es ausgesprochen.“
Dem stehen eher unpolitische Opfer gegenüber, die sehr starke Gefühle von
Ungerechtigkeit haben, da sie sich keines Vergehens bewußt sind, und die
Mißhandlung sie daher völlig unvorbereitet und verständnislos trifft.
Dieses unterschiedliche Erleben von politischen und eher unpolitischen
Verfolgten läßt sich damit in Verbindung bringen, daß die ersteren in der Regel ein angemesseneres Verständnis vom Gesamtzusammenhang des repressiven Systems haben und ihre Emotionen daher weniger auf die einzelnen Täter oder deren Mißhandlungen gerichtet sind als vielmehr auf die Logik des
gesamten Machtapparats
Damit besteht bis zu einem gewissen Grad Vorhersagbarkeit und „kognitive bzw. personale Kontrolle“ (Averill, 1973) über das Erlittene; außerdem
findet das zunächst passive Unrechtserleben einen konstruktiven Kanal im
aktiven politischen Engagement.
Dieser Zusammenhang kann auch therapeutisch genutzt werden. So geht
es Sironi darum, die abstrakten Zusammenhänge politischer Repression plastischer zu machen, indem sie ihren Patienten Informationen über das Funktionieren des Foltersystems gibt. Zur Erläuterung dieses Vorgehens kann das
kognitiv-behaviorale Konzept der „kognitiven Umstrukturierung“ in Verbindung mit „psychoedukativer Aufklärung“ herangezogen werden:
„A discussion of the methods and aims of torture with reference to the
survivor’s own experience can help the survivor achieve an objective appraisal of the events during torture and his/her reactions to them. A global view of the function torture serves as an instrument of political repression against dissent can help place the traumatic experience in a political perspective and thereby ‘de-personalize’ it. [...] Some individuals
are drawn into political activity without any clear understanding of the
B. Möller, F. Regner: Die Verschränkung äußerer und innerer Realität
77
implications of engaging in a political movement against an oppressive
regime. In contrast to those who were aware of the dangers involved and
prepared to assume responsibility for their actions, these individuals seem
to be more prone to traumatization. In therapy, they are encouraged to assume full responsibility for their own actions and regard their experience
as a price one should be prepared to pay in the struggle for a better
world.“ (Basoglu, 1992, S. 417)
Es kann also ein Ziel der Therapie mit Folterüberlebenden sein, mit ihnen falls nicht schon vorhanden - ein politisches Bewußtsein zu entwickeln:
„Helping the survivor channel the pain and suffering caused by torture
into useful action such as taking an active stance against human rights
violations may provide a meaning for the trauma and dispel feelings of
helplessness.“ (Basoglu, 1992, S. 417)
Dies z.B. mittels der „testimony-Technik“ (Cienfuegos & Monelli, 1983), bei
der das Verfolgungsschicksal öffentlich gemacht wird und zur Anklage gegen die Täter und das Regime benutzt werden kann. Diese für die Therapie
mit politisch Verfolgten wegweisende Intervention verbindet gesellschaftstheoretische Elemente mit logotherapeutischen („Sinnfindung“), kognitivbehavioralen (z.B. Erstellen einer zusammenhängenden Narration), kathartischen und therapeutisch-zwischenmenschlichen („vinculo comprometido“).
Ableitbarkeit anderer Gefühle vom Unrechtserleben;
Sinn, Rechtsordnung und Schutz
Andere Gefühle binden sich an das zentrale Unrechtserleben:
„Ungerechtigkeit geht auch einher mit Hilflosigkeit und Verzweiflung,
[...] Einsamkeit. Niemand an seiner Seite haben, denen total ausgeliefert
zu sein.“
Dies beobachtet Herr D. (BZ Frankfurt), der selbst inhaftiert und mißhandelt
wurde und aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will.
Gurris betont in diesem Zusammenhang die Problematik des Sinnverlustes:
„Das Gefühl dieser Ungerechtigkeit der Welt und der Menschen, das
auch mit anderen Gefühlen verbunden ist wie Wut, Haß - das zieht sich
durch fast alle Therapien wie ein roter Faden. [...] Da wird dann die Suche nach Sinn notwendig. [...] Diese Ungerechtigkeit ist im Grunde ja nur
ein Schlagwort für viel mehr, was dahintersteckt. Und dieses Gefühl, das
damit verbunden ist, daß ich als Mensch völlig entrechtet war, völlig hilflos war, und daß niemand da war, der mich beschützen konnte - das heißt
ja im Grunde „Recht“, daß ich beschützt werde -: Das muß ich in jede
einzelne Situation mit hindurchgehen auch in bezug auf die Frage: Unge-
78
Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999
rechtigkeit. [...] Und jeder Mensch hat auch ein Stück Recht erlebt, sonst
hätte er nicht überlebt. Und dieses prätraumatische Gerechtigkeitsgefühl das wird zerschlagen in der Folter.“
Ein theoretischer Bezug, den Gurris hier anspricht, ist der sozial-kognitive
Ansatz der „shattered assumptions“, der „zerschlagenen Weltannahmen“, von
Janoff-Bulman (1992). Die Autorin geht davon aus, daß im Kern der internalen Welt ein hierarchisch organisiertes Schema fundamentaler Annahmen über die Lebenswelt steht. Diese haben die Funktion, Mensch-UmweltInteraktionen zu reflektieren und zu steuern und erlauben es dem Individuum
normalerweise, effektiv zu funktionieren. Die drei Kernannahmen sind:
1. Die Welt ist wohlwollend.
2. Die Welt ist sinnvoll.
3. Das Selbst ist wertvoll.
Damit wird ein im kindlichen Urvertrauen wurzelndes Gefühl „illusionärer
Unverwundbarkeit“ konstituiert, das als eine Art „psychische Pufferzone“
zum Schutz gegen die kleineren und größeren Verletzungen des täglichen
Lebens betrachtet werden kann.
Extreme Traumatisierungen durchbrechen jedoch diese Schutzhülle, erschüttern die Weltannahmen und greifen die psychische Integrität im Innersten an. Es kommt zu einer massiven Desintegration der symbolischen Funktion der Psyche, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Angst und Panik in
einer als feindlich und übermächtig erlebten Welt. Janoff-Bulman schreibt
zur besonderen Dimension von man-made disaster (1992, S. 77f; Übers.
F.R.):
„Menschen-induzierte Viktimisierungen konfrontieren einen mit der Existenz des Bösen und hinterfragen die Vertrauenswürdigkeit von Menschen. Die Opfer erfahren Demütigung und Hilflosigkeit, und sie hinterfragen ihre eigene Rolle in der Viktimisierung. [...] So sind diese Überlebenden gezwungen, die Existenz des Bösen und die Möglichkeit, in einem moralisch bankrotten Universum zu leben, anzuerkennen.“
Bei der Genesung vom Trauma geht es nach Janoff-Bulman darum, die negative Erfahrung in das kognitiv-emotionale Konzeptsystem zu integrieren, um
so die „assumptive world“ so weit wie möglich wiederherzustellen. Therapeutisch kann dieser Prozeß unterstützt werden, indem sich der Therapeut (a)
als „caring other“ und „container“ für die schmerzhaften Gefühle und (b) als
„Lehrer“ zur Verfügung stellt, der über die traumatischen Mechanismen und
Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung aufklärt.
Vor dem Hintergrund dieser Konzeption äußert Gurris, daß „Recht“ im
Grunde heiße, beschützt zu werden. Für die Therapie läßt sich daraus die
Maxime ableiten, den gefolterten Klienten einen Schutzraum zu bieten, um
das erschütterte Rechtsgefühl sich so weit wie möglich wieder restituieren zu
B. Möller, F. Regner: Die Verschränkung äußerer und innerer Realität
79
lassen, also die erschütterten Annahmen einer - trotz aller gegenteiligen Fakten - insgesamt wohlwollenden, sinnvoll geordneten Lebenswelt bis zu einem
gewissen Grad wiederaufzurichten. Allerdings sind auch die Grenzen eines
solchen eingeschränkten „Rechtsraums“, der jenseits des Therapiezimmers
von der gesellschaftlichen Realität gleich wieder in Frage gestellt wird, offensichtlich.
Als weiterer theoretischer Kontext der von Gurris angesprochenen Sinnproblematik bietet sich die Logotherapie nach Viktor Frankl an, der selbst in
einem nazi-deutschen Konzentrationslager inhaftiert war und dessen Heilverfahren durch seine eigene Leidenserfahrung entscheidende Anregungen erhalten hat. In einem Kapitel „Nach dem Sinn des Lebens fragen“ (1993, S.
124 ff) schreibt er:
„Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach
dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, daß es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir
vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das
Leben von uns erwartet! [...] Uns ging es um den Sinn des Lebens als jener Totalität, die auch den Tod miteinbegreift und so nicht nur den Sinn
von ‘Leben’ gewährleistet, sondern auch den Sinn von Leiden und Sterben: um diesen Sinn haben wir gerungen!“
Vergeltung; Entprivatisierung; Gerichtsbarkeit
Wie das o.a. Zitat von Becker deutlich macht, leiden die Verfolgten nachhaltig an einer Nichtbestrafung der Täter. Ein solches Leiden am gesellschaftlich
fortgeschriebenen Unrecht und an der Uneinsichtigkeit der meisten Täter beschäftigte insbesondere Amery (a.a.O, S. 116):
„Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das
Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. Der sittliche
Mensch fordert Aufhebung der Zeit - im besonderen, hier zur Rede stehenden Fall: durch Festnagelung des Untäters an seine Untat.“
Gemeint sind damit die Deutschen, die Täter-Nation, von denen der Verfolgte eine „moralische Zeitumkehr“ verlangt. Sie ist ihm zeitlebens versagt geblieben. Jean Amery wählte 1976 den Freitod.
„Unsere Sklavenmoral wird nicht siegen. [...] Wir Opfer müssen ‘fertigwerden’ mit dem reaktiven Groll, in jenem Sinne, den einst der KZ-Argot
dem Worte ‘fertigmachen’ gab; es bedeutete soviel wie umbringen. Wir
müssen und werden bald fertig sein. Bis es soweit ist, bitten wir die durch
Nachträgerei in ihrer Ruhe Gestörten um Geduld.“ (ebd.)
Amerys bittere Worte und sein Schicksal machen eindringlich deutlich, wie
existentiell die Verfolgten auf eine ausgleichende Rechtsprechung und die
80
Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 7, 1999
damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung angewiesen sind. So kann
bereits in der Therapie bis zu einem gewissen Grad „Wiedergutmachung“
stattfinden, indem das scheinbar ausschließlich individuelle Leid darin in begrenztem Rahmen entprivatisiert wird, d.h. daß das, was öffentlich war nämlich die Verfolgung als repressives Kalkül - auch wieder öffentlich gemacht wird (vgl. „Testimonium-Technik“).
Von wesentlicher Bedeutung für die Entprivatisierung sind Gerichtsverfahren gegen die Täter. Dazu ein Interviewausschnitt von Sironi, der noch
einmal die Zentralität des Unrechtserlebens hervorhebt:
„‘Es ist Unrecht, und ich fühle Ohnmacht. Ich bin hilflos und kann nichts
tun.’ Und dann haben sie Rachegefühle. Aber von dem her, was ich gesehen habe, ist Rache nicht so wichtig, das ist nur ein Moment. Sie meinen meines Erachtens nicht Rache, wenn sie sagen: ‘Ich will ihn töten
und dies oder jenes antun’ - nein, die meisten Patienten sagen: ‘Sie müssen verhaftet werden und vor Gericht kommen.’“
So meinte auch Becker in einem Vortrag, daß ein gutes Gerichtsurteil sich für
Folteropfer bisweilen ähnlich positiv auswirken könne wie eine gute Therapie.
„Es geht bei den unmittelbaren Opfern in der Justiz nicht so sehr um die
Verurteilung der Täter, in dem Sinne, daß man ihnen den Kopf abschlägt,
sie foltert oder ins Gefängnis wirft, sondern es geht um die Anerkennung
der Realität durch das Gesetz. Also das Gesetz, das feststellt: Du bist das
Opfer, und du bist der Täter. Du, das Opfer, hast nicht die letzten zwanzig Jahre gelogen, sondern es stimmt, was du gesagt hast. Du Täter hast
wohl gelogen. Die Wahrheit, die gesellschaftlich gültig ist, wird befolgt.
Das ist das Entscheidende für die Opfer an diesem ganzen Justizprozeß.“
Wie erleben die Opfer einen solchen Prozeß?
„Es hängt auch von den Gerichten ab. Also zum Beispiel momentan können Sie bei Bosniern, die in Den Haag aussagen, atemberaubende Ängste
feststellen, weil sie vor Tätern stehen, die sie im Zweifelsfall nächste
Woche wieder umbringen können, weil die Verhältnisse einfach so noch
sind. Es gibt gar kein vernünftig gutes Zeugenschutzprogramm. [...] Anders ist es, wenn, wie in einigen Fällen in Chile, zwar sicher ist, daß die
Militärs nicht bestraft werden, aber auch sicher ist, daß bei diesen Gerichtsgegenüberstellungen diese Leute in dem Moment sich den Gerichten unterordnen müssen. Und das hat bei den Patienten sehr verschiedene
Sachen ausgelöst, wie immer. Auf der einen Seite eine Externalisierung,
eine Beruhigung, auch eine Dimensionierung. Auf der anderen Seite in
manchen Fällen eine Wiederbelebung der traumatischen Angst. Und es
gibt natürlich auch Beispiele, wo Leute weiter dieser perversen Verschmelzung verhaftet bleiben, also versuchen müssen, an dem Folterer
B. Möller, F. Regner: Die Verschränkung äußerer und innerer Realität
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doch noch irgendwas Gutes zu entdecken [...] Aber grundsätzlich, wenn
die Verhältnisse geschützt genug sind, wenn die Justiz mächtig genug ist,
dann ist die Erfahrung der Begegnung mit dem Folterer eine, die hilfreich
sein kann. Weil sie sich darstellt als eine Situation, wo endlich der angeklagt wird, der’s begangen hat. Und das ist eine große Erleichterung.“
Wie Becker hervorhebt (und von anderen Therapeuten bestätigt wird), ist für
viele Opfer also nicht - wie man aus „psychologistischer“ Perspektive vielleicht meinen könnte - persönliche Rache und ein kathartisches Ausagieren
von Aggressionen von vorrangiger Bedeutung; sondern es geht ihnen wesentlich um die Bewahrung und Wiederherstellung eines sinnstiftenden, gesellschaftlichen Rechtsraums. Zu einer Reparation kann es also erst kommen,
„wenn sich die individuelle und kollektive Wahrheit über die Verbrechen in
der Gesellschaft gesamtgesellschaftlich durchgesetzt hat, wenn Gerechtigkeit
geübt wird und wenn der individuelle Verlust auch in kollektive Trauerprozesse übergeht.“ (Becker, a.a.O., S. 240f). Und dazu gehört im Sinne der
Ausgleichung, daß die Täter ihrer Strafe zugeführt werden bzw. ihre Straffreiheit - wie in Südafrika - zumindest durch Geständnisse vor einer Wahrheitskommission aufgewogen wird. Andernfalls würde die Rechtsverletzung
öffentlich legitimiert und fortgeschrieben werden. So heißt es auch in einer
Publikation des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer (Graessner et
al., 1996, S.169):
„Straffreiheit für die Täter eines Unrechtsregimes ist ein pathogener,
retraumatisierender Faktor für die überlebenden Opfer. Von KZÜberlebenden ist bekannt, daß die Nachricht über die Freisprechung eines KZ-Wächters durch die deutsche Justiz heftige seelische Reaktionen
auslösen konnte. Die Nürnberger Prozesse unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg, der Eichmann-Prozeß in Jerusalem und der Auschwitz-Prozeß
in Frankfurt in den sechziger Jahren hatten eine enorme Bedeutung für
die Opfer des Holocaust. Sie schufen ein Stück Gerechtigkeit und
Genugtuung. Untersuchungen aus Argentinien zeigen, daß die
Straffreiheit und der fortdauernde politische Einfluß der Militärs, die für
während der Diktatur begangenen Verbrechen verantwortlich sind, die
Opfer in die Sprechstunde von Psychotherapeuten treiben.“
Entsprechend fordert auch amnesty international im Sinne der Opfer und zur
Prävention weiterer Menschenrechtsverbrechen die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung der Täter (Lüthke, 1996). Die jüngsten Ereignisse um
die Festnahme des chilenischen Ex-Diktators Pinochet in England und dessen
mögliche Auslieferung an die spanische Justiz sowie die euphorischen Reaktionen der Betroffenen wie auch die empörte Reaktion seiner Anhänger, führen die Brisanz der Thematik eindrücklich vor Augen. So ist ein zentrales
Anliegen von amnesty international die Einrichtung eines internationalen Ge-
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richtshofes, der als ständige Instanz nach dem Vorbild der im o.a. Zitat genannten Verfahren fungieren soll. Im Juli dieses Jahres wurde auf einer Staatenkonferenz in Rom das Statut eines solchen internationalen Gerichtshofes
beschlossen, was von amnesty international denn auch als historischer Schritt
gewertet wird - der aufgrund verschiedener Mängel allerdings mit Skepsis
und Zurückhaltung betrachtet werden muß.
Bei aller Notwendigkeit einer strafrechtlichen Verurteilung der Täter
weist Sironi indessen auch auf die Grenzen der therapeutischen Bedeutung
von Gerichtsverfahren hin:
„Aber an derselben Stelle sagen die Klienten auch, daß es nicht genügt.
Sie sagen das nicht [ausdrücklich ...] Aber die Idee ist: Wenn du eine
[solche] Verletzung [erlitten] hast, kannst du dich [davon] nicht erholen,
auch wenn der Folterer vor Gericht kommt. ‘Ich kann nicht geheilt werden von einem Gericht.’ Es tut gut, aber das genügt nicht. Das ist wie eine Wunde: Du tust ein bißchen Salbe drauf, aber der Schmerz, die Ungerechtigkeit kommt wieder zurück. Ich kann Dir ein Beispiel geben. Ich
habe eine Frau in der Therapie. [...] Sie hatte in ihrem Land einen Prozeß
[und fand dabei offizielle Unterstützung]. Sie ist auch vor Gericht gegangen und hat gegen den Folterer ausgesagt. Aber wieso habe ich sie acht
Jahre später in Therapie? Wieso kann sie noch darüber sprechen, über
Ungerechtigkeit? Das heißt doch, daß es nicht genügt.“
Zusammenfassende Schlußfolgerungen
In der Geschichte der Menschheit wird deutlich, daß politische Verfolgung
und Folter eingesetzt wurden, um Macht und Herrschaftsanspruch zu sichern.
Im 20. Jahrhundert erfuhr die Ausweitung und der Einsatz repressiver Unterdrückungssysteme trotz internationaler Abkommen gegen Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung eine entscheidende
Weiterentwicklung, u.a. durch „Verwissenschaftlichung“ der Folter sowie
den internationalen Austausch von Wissen und Ausbildung in diesem Bereich. Um das System politischer Repression zu verstehen, ist eine strukturelle Betrachtungsweise erforderlich, die das Zusammenwirken von Mikro- und
Makroebene einbezieht und dadurch der gesellschaftlichen und individuellen
Zerstörung erst gerecht wird. Die Beschädigung oder im schlimmsten Fall die
Zerstörung durch Folter, Verfolgung und Unterdrückung dient der Aufrechterhaltung des politischen Systems und trifft das Individuum auf allen Ebenen
seines Selbst: psychostrukturelle, psychofunktionale, soziokulturelle sowie
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soziofunktionale Ebene. - Während der Folter wird der Gefolterte durch den
gezielten Einsatz subtiler Foltertechniken zur bloßen Sache degradiert, von
Ängsten überflutet, in eine absolute Ohnmacht und Regression getrieben, die
es schwierig oder im schlimmsten Fall unmöglich machen, die erfahrene Zerstörung als von außen kommend wahrzunehmen. Die psycho-bio-soziale Integrität wird durch eine äußere Realität zerstört und der Folterer dringt gewaltsam in die Psyche des Opfers ein, was dramatische Langzeitfolgen für
den Betroffenen hat und sich verheerend auf die Gesellschaft auswirkt.
Folter und Verfolgung finden in einem politischen Kontext statt, in dem
individuelle und politisch-strukturelle Faktoren sich auf den Gefolterten auswirken und zusammenspielen. Die äußere Realität zwingt sich in die Psyche
des Opfers und bewirkt dort eine Zerstörung, die der Aufrechterhaltung des
politischen Systems dient. Nach der Folter ist es für den Gefolterten daher
von entscheidender Bedeutung, die Verschränkung von innerer und äußerer
Realität wieder aufzulösen und sich von ihr zu befreien. Die Gesellschaft
spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, da sie Voraussetzungen und Bedingungen zum Umgang und zur Verarbeitung schaffen muß,
indem sie das erfahrene Unrecht verurteilt sowie psychotherapeutische und
soziale Hilfsmöglichkeiten für die Betroffenen einrichtet. Solange die Gesellschaft sich weigert, die Realität anzuerkennen und gesellschaftspolitische
Konsequenzen daraus zu ziehen, wie eine faire, sensible, internationalen Vereinbarungen genügende Asylpolitik oder ausreichende Hilfe für die Opferwas beides in Deutschland zur Zeit leider nicht der Fall ist -, wird das Leiden
der Betroffenen aggraviert und es kommt zu Retraumatisierungen, die in einigen Fällen gravierender sein können als das bisher Erlebte. Eine Folge davon kann sein, daß die ganze Welt als ungerecht erfahren wird bis hin zu einer Generalisierung des Unrechtserlebens. Eine therapeutische Reaktion darauf kann und sollte vielleicht sein, Partei für den Klienten zu ergreifen und
die äußere Realität und das erfahrene Unrecht zu bestätigen. Diese Haltung
wird von chilenischen Therapeuten als „vinculo comprometido“ bezeichnet
und meint (1) eine Beschreibung von repressiver Realität und ein daraus resultierendes Verständnis von Pathologien, (2) eine therapeutische Zielvorstellung, nach der einerseits Solidarität mit dem Klienten geübt, andererseits eine
operational abstinente Haltung bewahrt wird, (3) eine für Extremtraumatisierung spezifische Technik, nach welcher der erfahrene Tod in den therapeutischen Prozeß einbezogen wird. Nur so kann das destruktive Zusammenspiel
zwischen äußerer und innerer Realität, Lebensgeschichte und traumatischer
Erfahrung unterbrochen und bearbeitet werden.
Da die Verfolgten am gesellschaftlich fortgeschriebenen Unrecht und an
der moralischen Uneinsichtigkeit der meisten Täter existentiell leiden, trägt
die Gesellschaft Verantwortung für die Errichtung eines gesellschaftlichen
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Raumes, in dem – wie auch im therapeutischen Setting - das Erlittene entprivatisiert und wieder in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt wird.
Gerichtsverfahren gegen die Täter, die - bei fairer Rechtsprechung - eine tiefgreifende therapeutische Wirkung auf die Betroffenen haben können, Dokumentationsmöglichkeiten als auch kollektive Erinnerungsarbeit oder Trauerprozesse sind dabei von entscheidender Bedeutung und brechen das von den
Tätern intendierte Schweigen der Opfer. Entscheidend ist dabei die Bewahrung und Wiederherstellung eines sinnstiftenden gesellschaftlichen Rechtsraums. Die langjährige Forderung von amnesty international nach Einrichtung eines internationalen Gerichtshof, dessen Statuten 1998 auf einer Staatenkonferenz in Rom verabschiedet wurden, erhält somit neben der juristischen auch eine klinische Dimension. Allerdings gibt es auch Grenzen einer
solchen juristischen „Wiedergutmachung“ - die seelische Verletzung bleibt
oft weiterhin bestehen.
Da die Gefolterten in ihrer Autonomie und Würde zutiefst verletzt wurden, sollte es ein gesellschaftliches Ziel sein, diese Wiederherzustellen und
sie in ihren Handlungsmöglichkeiten zu stärken und nicht – wie durch die restriktive Asylgesetzgebung in Deutschland –in Passivität und Abhängigkeit
zu halten. Einen Beitrag dazu können u.a. eine erteilte Arbeitserlaubnis sowie
das von Jack Saul in diesem Band beschriebene Theaterprojekt, bei dem die
Flüchtlinge ihre Geschichte, ihre derzeitige Lebenssituation, die Lage in ihrer
Heimat etc. darstellen können, leisten, indem sie einen Dialog zwischen Einheimischen und Flüchtlingen herstellen, für ihre besondere Problematik sensibilisieren und die Isolation, in der sich ausländische Menschen häufig befinden, aufbrechen.
Viele gefolterte und verfolgte Menschen leiden unter der Erfahrung des
Sinnverlustes und Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und
Einsamkeit, die sich an das zentrale Unrechtserleben binden. Zum
Verständnis dieses Sinnverlustes eignet sich die sozial-kognitive Theorie der
„shattered assumptions“, nach welcher zentrale Weltannahmen durch das
Trauma zerschlagen werden. In der Therapie können diese durch eine
Integration des Traumas bis zu einem gewissen Grad wieder aufgerichtet
werden. Ein weiterer Bezug ist die Logotherapie, nach der im
philosophischen Gespräch versucht wird, wieder einen Sinn im Leben zu
finden, der durch die Extremerfahrung sogar vertieft sein kann.
Bezüglich des Unrechtserlebens lassen sich die Klienten in Politische
und eher Unpolitische unterscheiden: Die ersteren haben häufig weniger starke Ungerechtigkeitsgefühle, da sie über ein gewisses Verständnis über den
Gesamtzusammenhang des repressiven Systems verfügen und somit von den
direkten Tätern defokussieren können. Dies kann auch therapeutisch genutzt
werden, indem in der Therapie Informationen über das Funktionieren des
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Gewaltapparates gegeben werden („Kognitive Umstrukturierung“). Damit
wird bis zu einem gewissen Grad „personale Kontrolle“ über das Widerfahrene vermittelt. Idealerweise führt dies - falls nicht schon vorhanden - zu einem konstruktiven politischen Bewußtsein und Engagement, so daß das passiv Erlittene wieder aktiv und öffentlich umgesetzt werden kann, z.B. mittels
des Testimoniums.
Es ist abschließend festzustellen, daß der Komplex des Unrechterlebens in
der einschlägigen Literatur bisher kaum Beachtung gefunden hat, obwohl einige der befragten Therapeuten die zentrale Bedeutung des Unrechtserlebens
für ihre Klienten und die Notwendigkeit, dieses therapeutisch zu behandeln,
sehr stark betonen.
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