the PDF file Einmal New York und zurück.

Transcrição

the PDF file Einmal New York und zurück.
Paul Werner
Gentlemen segeln nicht
gegen den Wind
Einmal New York und zurück
Bennéle Verlag GmbH
Besuchen Sie uns im Internet
www.bennele.de
© 2014 Bennéle Verlag GmbH, Bad Neuenahr-Ahrweiler
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung
des Verlages wiedergegeben werden.
Fotos: Paul Werner
Umschlagmotiv: Charlotte Werner
ISBN 978-3-939279-17-4
Inhalt
Kopf oder Zahl?8
Straße der Entscheidung - Gibraltar 15
Wo geht’s hier zur Karibik? Las Palmas, Gran Canaria22
Karneval süß-sauer - Mindelo, São Vicente, Kapverden35
Schwarz-Weiß-Malereien - Pointe-à-Pitre, Guadeloupe52
Im Schatten des giftigen Baumes - Les Saintes62
Blumen für Mrs. Baltimore - English Harbour, Antigua70
Das Leben ein Traum - San Juan, Puerto Rico82
Shazza und Bazza - Puerto Plata, Dominikanische Republik100
Aus alt mach neu - Die Bahama-Kanäle111
Der Große Graben - Atlantic Intracoastal Waterway118
Noch jemand nach Bimini? St. Augustine, Florida135
Mit Pauken und Trompeten - Charleston, South Carolina145
Halfway Hotel - McLellandville bis zum Großen Sumpf162
Parade der Meerjungfrauen - Norfolk, Virginia179
Ganze Kerle und fesche Mädel - Cape May, New Jersey187
Himmel, Hölle oder Hoboken - New York City201
Trittsteine des Teufels - Newport, Rhode Island215
Blaunasen in Nova Scotia - Halifax231
Fastnet, Old Fastnet - Crosshaven, Ireland 246
Die Reise in Bildern265
Glossar 287
Kopf oder Zahl?
Samstag, 23. Januar
»Im Winter hat eine Yacht nichts auf dem Nordatlantik verloren,
es sei denn, sie befindet sich bereits auf den Kanaren.« Die mahnenden Worte des erfahrenen Weltumseglers Jimmy Cornell gehen mir
seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf. Jetzt, da wir Ende Januar
in Gibraltar unmittelbar vor der Abfahrt zu den Kanaren stehen,
gewinnen sie deutlich an Eindringlichkeit. Sind wir für die Kanaren
möglicherweise zu früh dran, könnte es für die anschließende
Atlantiküberquerung schon zu spät sein. So mancher atlantische
Traum soll ja bereits am Zeitplan gescheitert sein.
Ursprünglich ging es mir nur darum, meine 20 Jahre alte
Hallberg-Rassy 36 MK I SOLSKIN aus der Ägäis wieder in gemäßigte nördliche Regionen zurückzuführen. Knapp sechs Monate
im brütend heißen Mittelmeer mit seinen unberechenbaren, überfallartig auftretenden Winden, das reichte mir fürs Erste. Wohin
genau im Norden? Keine Ahnung. Mit Sicherheit nicht nach
Brüssel, SOLSKINs nomineller Heimat. Die belgische Hauptstadt
besitzt zwar sowohl einen ›Hafen‹ als auch eine Klubmarina. Beide
sind jedoch mit einer Segelyacht nur mühsam über Kanäle zu erreichen und keine ausgesprochene Augenweide. Wo ich die Yacht im
Winter unterbringe, ist eigentlich egal. Irgendein Plätzchen findet
man immer. Nur raus aus der unbarmherzigen Hitze und möglichst
weit weg von griechischen Hafenmeistern.
Der Treck nach Norden ist weit und beschwerlich. Den konstant aus Nord wehenden portugiesischen Passat hatte ich zwei
8
Jahre zuvor bei der Fahrt ins Mittelmeer genossen. Gegen den aufzukreuzen wäre wie das Leben ohne Mops laut Loriot: möglich,
aber sinnlos. Früh morgens nach Norden schleichen, heimlich,
still und leise vorbei am noch schlafenden Passat? Wäre auch nicht
angenehm, weil im Sommer dichter Morgennebel die Küste verhüllt. Also warten bis zum Herbst? Dann kann es weiter oben in
der Biskaya und an der bretonischen Küste bisweilen schon sehr
rau werden. Während ich das Für und Wider der verschiedenen
Optionen erwog, erinnerte ich mich einer Devise, die ich von amerikanischen Yachties gehört hatte: »Gentlemen segeln nicht gegen den
Wind.« Damit konnte ich etwas anfangen. Mühseliges Aufkreuzen
gegen Wind und Welle ohne nennenswerten Raumgewinn war
noch nie meins. Bei einer Regatta geht es nicht anders, aber beim
Fahrtensegeln brauche ich das nicht. Schließlich habe ich mir nicht
ohne Grund einen hochseetauglichen Motorsegler zugelegt, dessen
57 PS Diesel bei Bedarf eine ausgezeichnete eiserne Genua abgibt.
Denn, ganz unter uns, wann ist schon mal kein Bedarf? Heute
herrscht Flaute, morgen bläst zu viel Wind, übermorgen steht der
Wind aus der verkehrten Richtung. Henry Beard und Roy McKie
haben nicht ganz unrecht, wenn sie behaupten, Segeln sei die
»Kunst, nass und seekrank zu werden, während man langsam zu
hohen Kosten nirgendwo hintreibt.«
Andererseits ist mein Verhältnis zur Motorfahrt zwar unverkrampft, geht aber nicht so weit, dass ich mir rund 1800 Seemeilen
von Gibraltar bis in den Ärmelkanal nur mit Maschine antun
würde. »Gentlemen segeln nicht gegen den Wind.« Was wäre, wenn
man den Spruch ernst nehmen und konsequent in die Tat umsetzen würde? Theoretisch eigentlich gar kein Problem. »Wirf eine
9
Apfelsinenkiste an der afrikanischen Küste ins Wasser«, pflegte
einer meiner Brüsseler Freunde zu behaupten, »und du wirst sehen,
die kommt mit Passat und nördlichem Äquatorialstrom irgendwann todsicher in der Karibik an.« Es sei denn, sie wird unterwegs
über den Haufen gefahren oder von einem gierigen Hai gefressen.
Nun denn, was eine Apfelsinenkiste kann, sollte SOLSKIN allemal
zu Wege bringen.
Und was weiter? Die Inseln über dem Wind geben erstklassige
Trittsteine zu den Großen Antillen ab und den Rest könnte man
dem Golfstrom überlassen. Das zeitliche Fenster zwischen den
gefürchteten Nordwinden und den noch gefürchteteren Hurrikans
dürfte ausreichen, an der US-Ostküste entlang bis etwa Cape Cod
zu gelangen. Über die Bucht von Maine ist es dann nicht weit
nach Kanada und auf dem Großkreis gelangt man erneut fast von
selbst zurück nach Irland und Europa. Nicht gerade der direkte
Weg. Nicht einmal der kürzeste Umweg, aber wenn man Zeit hat,
gar nicht so dumm. Wann darf man schon mal Wind und Strom
praktisch permanent im Rücken erwarten! Und schließlich - in
New York Harbour mit der eigenen Yacht einlaufen, vorbei an der
Freiheitsstatue den Hudson hinauftuckern, die ganze Skyline von
South Manhattan an Steuerbord vorüberziehen lassen - das hat
doch was.
Allein würde ich das schwerlich bewerkstelligen können.
Wollte ich eigentlich auch nicht. Wie manche Zeitgenossen es
schaffen, den Erdball über Monate und Jahre womöglich nonstop
allein zu umrunden, ohne verrückt zu werden, habe ich noch nie
verstanden. Alleinsein draußen in der Wildnis oder auf See gut
und schön. Aber »alles in Maßen« sagt schon der alte Grieche
10
und der muss es schließlich wissen. Geht doch nichts über den
menschlichen Kontakt, anregende Gespräche im Cockpit, mitten
auf dem Ozean, unter einem sternklaren Nachthimmel. Solche
Sachen eben.
Praktische Erwägungen spielen natürlich auch eine Rolle.
SOLSKIN besitzt keine Windsteueranlage und nur für die Zwecke
eines atlantischen Hin und Zurück wollte ich mir kein solches
Metallteil vom Gewicht eines kleinen Wohnmobils ans Heck hängen. Folglich brauchte ich für die Überquerung mindestens zwei
erfahrene Steuerleute. Über eine Online-Crewbörse hatte ich
schon mehrmals Mitsegler rekrutiert und dabei durchweg gute
Erfahrungen gemacht.
Für die Yacht war in Gibraltar ausreichend gesorgt. Den
Herbst über ließ ich SOLSKIN in der sehr angenehmen, sicheren, wenn auch nicht ganz billigen Queensway Quay Marina. Die
Handwerker vom Sheppard’s Boatyard kümmerten sich rührend
um sie und montierten unter anderem einen Relings-Generator.
Der würde funktionieren wie ein altes Log, hatten sie mir erläutert. »Die Drehungen des nachgeschleppten Propellers übertragen
sich auf die wirbelnde Leine, die ihrerseits die Spule im Dynamo
am Heck dreht«, zeichnete mir John, der Elektriker, auf ein Stück
Papier. Knapp einen halben Knoten Fahrt würde das kosten, aber
auch jederzeit mindestens genügend Strom für die Instrumente
und Positionslichter generieren. »Sonnenpaneele sind schön und
gut«, setzte er mir auseinander, »aber entweder du kaufst sündhaft teure Exemplare, oder du brauchst so viele, dass dein Boot
aussieht, als würde es für die Dinger Reklame fahren. Windräder
bringen bei überwiegend achterlichem Wind nicht viel, und erst
11
mal drüben, legst du die Yacht ja auch nicht gerade in ausgesprochene Windlöcher.« Das klang plausibel.
Nun war ich also wieder zurück in Gibraltar, bereit zu neuen
Taten. Die Herbstmonate hatte ich genutzt, um mir Karten,
Handbücher und ein US-Visum zu beschaffen. Eine neue DreiPersonen-Crew war auf die bewährte Art und Weise ›Hand gegen
Koje‹ bald gefunden. Die drei hatten einen Tag vor mir Malaga
erreicht und holten mich am Flughafen mit dem Mietwagen ab.
Albert, der Älteste der drei, ist ein früh aus dem Schuldienst
ausgeschiedener Gymnasiallehrer. Er stammt aus der Stadt meiner
Jugend und ist wie ich von Haus aus Anglist. Schon bei der ersten
Begegnung vor einigen Monaten kamen wir gut miteinander aus.
Sein Sinn für abgefahrene Unternehmungen scheint sehr ausgeprägt. Vor Jahren ließ er ein zweistöckiges Fachwerkhäuschen im
regionalen bergischen Stil abreißen und weiter draußen auf dem
Lande wieder aufbauen. War sicher um einiges teurer als ein moderner Neubau. Vor allem dann, wenn man die Kosten für jahrelange
Prozesse mit einem offenbar schludrig arbeitenden Architekten
hinzurechnet. Aber dafür steht das Haus jetzt auch da, wo Albert es
haben wollte. Kein Mann fauler Kompromisse.
Linda ist unsere Quotenfrau. Einziges weibliches Besatzungs­
mitglied, Ossi und Linkshänderin, mehr Quote geht nicht. Ihre
Heimat ist Schwerin. Noch längst keine Fünfzig, ist sie bereits
Großmutter und war als Geschäftsfrau so erfolgreich, dass sie finanziell ausgesorgt hat.
Thomas, der Dritte im Bunde, wirkt bisweilen etwas geistesabwesend, um nicht zu sagen jenseitig. Das hat wohl auch mit
seiner Körpergröße zu tun, die ihn über die Wolken unseres
12
Alltags erhebt. Ein baumlanger Norddeutscher, Elektromeister
und selbstständiger Unternehmer, der heftig mit dem vorgezogenen Ruhestand flirtet. Seinen ›Laden‹, wie er ihn selbst nennt, hat
er kürzlich einem Kompagnon abgetreten, wird aber in puncto
Reisen vorerst noch von seiner offenbar energischen Frau an kurzer
Leine geführt. Irgendwo im ländlich geprägten Norden hat er sich
mit gleichgesinnten Steak-Liebhabern eine Galloway-Rinderzucht
zugelegt, die natürlich auch ihren Mann fordert. Mit Frischfleisch
können wir auf See allerdings höchstens eine Woche lang rechnen. Der Kühlschrank der Yacht ist relativ klein und verbraucht
trotzdem mehr Strom als der Relingsgenerator produziert. Albert,
der das Sagen in der Kombüse für sich beansprucht, hat deshalb
schon eine größere Menge lang haltbaren Corned Beefs in Dosen
erstanden. Daraus will er unterwegs saftige Buletten formen. Fett
triefende Rindfleischabfälle sind nicht unbedingt mein Ding, aber
wenn’s ihm Spaß macht … Alle Besatzungsmitglieder bei Laune zu
halten und niemanden unnötig zu frustrieren, zählt zum ›A und O‹
eines jeden Langtörns.
Thomas, der erst im letzten Augenblick für ein kurz zuvor
erkranktes Crewmitglied eingesprungen ist, wird voraussichtlich in den Antillen aussteigen. Linda schwankt noch, würde aber
grundsätzlich gern bis in die USA mitkommen. Albert hat sich
bis Puerto Rico verdingt. Auf mich machen die drei einen sehr
guten Eindruck. Physisch fit, angenehm im Umgang, ein ziemlich bestes Team. Andererseits bin ich kein Psychologe und lag mit
meiner Menschenkenntnis im Leben gelegentlich schlimm daneben. Deshalb richte ich es nach Möglichkeit so ein, dass ich noch
ein paar Zwischenstopps einlegen kann, bevor es auf die lange Reise
13
geht. Die Kanaren bieten sich dafür an und auch auf den Kapverden
bestünde die Möglichkeit, Station zu machen, falls die Dinge aus
dem Ruder laufen. Was die drei von ihrem Skipper halten, behalten sie für sich. Die Yacht scheint ihnen jedenfalls zuzusagen. Wieso
auch nicht? Für ihr Alter von 20 Jahren hat sie sich gut gehalten.
Zugegeben, Ausstattung und Einrichtung sind recht spartanisch.
Die Anzahl der Kojen in Vorder- und Achterkabine sowie im Salon
reicht theoretisch für acht Personen aus. Praktisch kommt manchmal schon zu viert Klaustrophobie auf. Der Stauraum wird unter
anderem durch die großen Treibstoff- und Frischwassertanks eingeschränkt, die jeweils um die 350 Liter fassen. An Elektronik
gibt es auf SOLSKIN nur das Nötigste, also Global Positioning
System (GPS), Radar, UKW und EPIRB-Notfunkbake. Weder
Plotter noch automatisches Identifizierungssystem (AIS) oder
elektronischen Kartenleser. Navigiert wird auf Papier, wenn auch
mit Unterstützung des PC, der mir umständliche Besteck- und
Großkreisrechnungen abnimmt. Die Bedienung des Großsegels
erfolgt weitgehend noch am Mast, wird allerdings durch Lazy Jacks
erheblich erleichtert. Trotzdem, manch jüngerem Zeitgenossen
muss eine derart händisch betriebene Segelei so fremd vorkommen
wie ein altes Telefon mit Drehscheibe.
14
Straße der Entscheidung - Gibraltar
Die Einkäufe sind getätigt, alle Arbeiten am Schiff erledigt, es bleibt
noch etwas Zeit für einen letzten Rundgang über den Felsen und
durch die Stadt. Viel los ist nicht an diesem Sonntag Nachmittag.
Es fehlen die zahllosen spanischen Pendler, die wochentags mit
ihren qualmenden und stinkenden Motorrollern über die Grenze
schwappen und für Betrieb sorgen. Der Fremdenverkehr kocht auf
Sparflamme. Ein guter Tag, sich ohne großes Gedränge von der
Drahtseilbahn auf den Gipfel des 400 Meter hohen Felsens hieven zu
lassen. Albert und Linda waren noch nie hier und sind vom Ausblick
auf die Meerenge und die Bucht von Algeciras entsprechend
beeindruckt. Zusammen mit seinem Gegenüber auf der marokkanischen Seite, dem Jbel Musa oder Mosesberg, bildet der Felsen von
Gibraltar das Tor, an dem über Jahrtausende die bekannte Welt des
Mittelmeerraumes endete. Über diese Schwelle hinaus wagten sich
lange Zeit nur wenige. Einer der ersten war der Legende zufolge
Odysseus. Wenn wir Dante Glauben schenken dürfen, musste der
listenreiche Seemann dafür in der Hölle schmoren. Nicht so sehr
wegen seiner nautischen Kühnheit, sondern weil er seine Gefährten
über die Risiken des Vorhabens im Unklaren ließ.
Crewmitglieder wollen in der Regel an der Schiffsführung beteiligt werden und sind auch bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Möglichen Konflikten versuche ich auf meinen Törns zum Beispiel
dadurch vorzubauen, dass ich alle MitseglerInnen bitte, einen kleinen handschriftlichen Text im Logbuch zu unterschreiben. Darin
versichern sie, aus freien Stücken und auf eigenes Risiko an der Fahrt
15
teilzunehmen und à priori von wechselseitigen Schadensersatzklagen
Abstand zu nehmen. Was so etwas vor Gericht wert ist, kommt wohl
auf die Umstände des Einzelfalles an. Ausprobieren musste ich es
zum Glück bislang noch nicht.
Während wir gebannt am Geländer der Terrasse lehnen, laust
sich ein direkt daneben hockender älterer Affe seelenruhig den Pelz,
ohne uns eines Blickes zu würdigen. Ähnlich wie wir werden einst
auch die ortsansässigen Neandertaler dann und wann innegehalten
und zufrieden mit sich und der Welt in die Runde geblickt haben. Die
Affen waren damals noch nicht da. Dennoch gab es für unsere entfernten Vorfahren Grund zum Staunen, denn sie schauten auf eine
hinreißend schöne Landschaft. Zu den Füßen des Felsens erstreckte
sich seinerzeit eine mit üppiger Flora und Fauna gesegnete fruchtbare
Ebene, gegen die das biblische Paradies ein mickriger Schrebergarten
war. Derart von der Natur begünstigt, überlebten die hiesigen
Neandertaler noch zu einem Zeitpunkt, als ihre Artgenossen in
anderen Teilen Europas bereits von der Evolution hinweggerafft worden waren. Die zahlreichen, vom Regenwasser ausgespülten Höhlen
des Kreidefelsens boten gegen Wind, Sonnenglut und Regen gleichermaßen Schutz und waren überdies mit wenigen Handgriffen
und ein paar Fellen in gemütliche Wohnstuben zu verwandeln.
Der einzelgängerische Primat neben uns sucht sich immer noch
in Gedanken versunken nach Läusen ab. Die fotografierenden amerikanischen Mormonen, mit denen wir hier hinaufgefahren sind,
fordern ihn immer wieder vergeblich auf, doch mal in die Kameras
zu blicken. »Der Affe sieht aus wie Brad Pitt, findet ihr nicht?«,
ruft einer von ihnen in die Runde. Dem würde das Tier oder auch
Brad Pitt vermutlich energisch widersprechen. So verblüffend seine
16
Ähnlichkeit mit dem Schauspieler auch sein mag, den Affen muss er
nicht auf sich sitzen lassen. Jüngsten genetischen Untersuchungen
zufolge handelt es sich bei den Affenfamilien von Gibraltar nämlich in Wirklichkeit um Makaken, deren Ahnen bei einem Transport
von Algerien oder Marokko nach Spanien ihren Wärtern entwischten. Man kennt so was ja von den Pixar-Filmen. Einmal kurz nicht
hingesehen und zack, hatten sich ein paar der schlauen Tierchen
behände ins Unterholz geschlagen. Das war in jüngerer Zeit, als sich
das Meer längst die fruchtbare Ebene dort unten zurückgeholt hatte
und die Vegetation auf dem Felsen spärlich geworden war. Dennoch,
verglichen mit der nordafrikanischen Makaken-Heimat hatte das
schon einen Hauch von Madagaskar.
»Hier hätte ich nicht gerne landen mögen.« Thomas, der vor Jahren
den Pilotenschein gemacht hat und regelmäßig Kleinflugzeuge steuert, weist auf das in die Bucht von Algeciras ragende einzige Flugfeld
des Gibraltar Airport. Zwischen einzelnen Starts und Landungen
der Riesenjets geht der ganz normale Wahnsinn des gibraltarischen
Straßenverkehrs über die Runway hinweg. »Flug British Airways
3256, haben verstanden. Bleiben Sie vorerst in der Warteschleife,
wir haben hier noch zwei Damen mit Rollator auf der Runway.«
Wegen der Kürze seiner Start- und Landebahn bei bisweilen tückischen Windverhältnissen gilt Gibraltar als einer der gefährlichsten
Flughäfen der Welt. Direkt jenseits des Ankunftsgebäudes beginnt
Spanien, von Gibraltar nur durch einen hohen Grenzzaun getrennt.
Nicht so ein Monstrum wie drüben bei Ceuta oder Melilla, mit
rasiermesserscharfem NATO-Draht und allem Drum und Dran.
Mehr wie der etwas hoch geratene Gartenzaun eines unliebsamen
Nachbarn im Villenvorort. Seinen Zweck erfüllt er trotzdem. Sobald
17
sich die Briten und Spanier mal wieder über Gibraltar in die Haare
geraten, greifen die Seňores zur Blockade. Von heut auf morgen
werden da zum Beispiel die technischen Kontrollen der Mopeds an
der Grenze drastisch verschärft, was einen knatternden und qualmenden Rückstau bis Malaga zur Folge hat. Früher geriet das von
Pendlern abhängige Dienstleistungsgewerbe auf dem Felsen durch
solche Maßnahmen schnell in die Bredouille. Während der großen,
noch von Franco verhängten Blockade zwischen 1968 und 1984 holte
man deshalb rund 1200 Marokkaner nach Gibraltar, um für die ausgesperrten Arbeiter aus Algeciras, Palmones und Umgebung Ersatz
zu schaffen.
Heutzutage gestaltet sich das etwas entspannter, weil sich
Gibraltar auf wenig personalintensive Sparten wie Online-Wettbüros
und das diskret-spekulative Bankwesen verlegt hat. Mehr als ein
Zehntel der hiesigen erwerbstätigen Bevölkerung war schon vor
Jahren im Glücksspielsektor beschäftigt. Viele verhökern in ihren
Läden an der Fußgängerzeile Schmuck, Schnaps, Tabakwaren oder
Pelze. Andere verkaufen billigen Treibstoff oder vermitteln knappen und entsprechend teuren Wohnraum. Nicht wenige handeln mit
Drogen. Steuern sind die Yetis von Gibraltar. Man hat gehört, dass
es sie gibt, gesehen hat sie bislang keiner. Selbst Millionäre können
sich unter bestimmten, leicht zu erfüllenden Bedingungen von jeder
Steuer mit Beträgen freikaufen, die in diesen Kreisen nicht selten für
ein ausgiebiges Abendessen gelöhnt werden. Der Einzelhandel ist
von der Mehrwertsteuer befreit, die Banken machen sowieso, was
sie wollen. Kein Wunder, dass sich die rund 30.000 materiell leidlich
versorgten Gibraltarer trotz akuter Wohnungsnot an ihren Felsen
klammern wie Seepocken an den Schiffsrumpf.
18