Wie ticken Jugendliche. Sinus Milieustudie U27

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Wie ticken Jugendliche. Sinus Milieustudie U27
Wie ticken
Jugendliche?
Sinus-Milieustudie U27
Zusammenfassung Linus Brändle, DAJU, St. Gallen
Erarbeitet im Rahmen des NDK-Jugendarbeit (www.ndk-jugendarbeit.ch)
Mai 2008
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Jugendliche Lebenswelt
„Wie ticken Jugendliche?“ Sinus-Milieustudie U27
Zusammenfassung durch Linus Brändle, DAJU
Allgemein kann gesagt werden: Jugendliche wohnen noch zu Hause bei ihren Eltern, sind noch
in der Schule (oder am Beginn der Lehre), haben relativ wenige finanzielle Mittel, sind
eingeschränkt mobil (bzw. in ihrer Mobilität abhängig von ihren Eltern), entwickeln ihre Identität
in Peer Groups und Jugendszenen – auch durch demonstrative Abgrenzung von der
Erwachsenenwelt. Sie können weitgehend spielerisch verschiedene Pfade ausprobieren, weil
sie (meist) noch nicht die volle Verantwortung für sich selbst tragen und von ihren Eltern
aufgefangen werden – aber auch täglich von diesen kontrolliert sind.
Jugendliche stellen jedoch – trotz ihrer Altersberührung – so unterschiedliche biografische
Stadien dar, dass man sie unbedingt spezifisch in den Blick nehmen muss. Das ist natürlich
bedingt durch äussere Rahmenbedingungen (Elternhaus, Wohnumfeld, materielle Ressourcen)
sowie durch entwicklungspsychologische Faktoren und durch persönliche Lebenswerte und –
ziele.
Die Sinus-Milieustudie U27 der Sinus Sociovision, Heidelberg.1 Sie wurde vom Bund der
deutschen katholischen Jugend und vom Jugendhilfswerk Misereor in Auftrag gegeben. Die
Sinus-Milieus sind das Ergebnis von mehr als 25 Jahren sozialwissenschaftlicher Forschung.
Sie gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Dabei
spielen Wertorientierungen ebenso eine Rolle wie Alltagseinstellungen zu Arbeit, Familie,
Freizeit, Medien, Geld und Konsum. Die Studie rückt dabei den Menschen und das gesamte
Bezugssystem seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld und bietet deshalb mehr
Informationen und bessere Entscheidungshilfen als herkömmliche Zielgruppenansätze.
Die im April 2008 veröffentlichte Jugendstudie ist ein geeignetes Hilfsmittel für ein
differenziertes und genaueres Sehen, wo Jugendliche stehen, was ihnen wichtig ist und wie sie
die Gesellschaft der Erwachsenen und anderer Jugendlicher wahrnehmen. In ausführlichen
Interviews wurden Jugendliche von verschiedener Herkunft und Prägung zu Hause befragt. Zur
Auswertung teilte man die 132 Befragten in drei Alterssegmente ein: a) frühe Jugend 9 – 13
Jahre, b) mittlere und spätere Jugend 14 – 19 Jahre, c) Postadoleszenz 20 – 27 Jahre. Die
Ergebnisse wurden auf dem Hintergrund des langjährigen Know Hows betreffend Sinus-Milieus
ausgewertet. Die Studie unterscheidet sieben Grundorientierungen, die im Folgenden
zusammenfassend dargestellt sind. Dabei werden sechs verschiedene Bereiche genauer
betrachtet:
a) Milieutendenzen und Grundorientierung (Werte und Einstellungen)
b) Lebensstil
c) Kulturelle Orientierung
d) Vergemeinschaftung (zentrale Bezugsgruppen)
e) Soziales oder politisches Engagement
f)
Bezug zu Religion und Kirche
Im vorliegenden Script sind die Ergebnisse des mittleren Alterssegments vom 14 – 19 Jahren
zusammengefasst. Weil bei diesen Jugendlichen noch sehr viel im Fluss ist, spricht die Studie
von ihnen mit von Milieu-Zugehörigkeit sondern von Milieu-Orientierung. Diese muss nicht
identisch sein mit der Orientierung der Eltern, doch die familiäre Ausrichtung ist ein wichtiger
Ausgangspunkt.
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Wie ticken Jugendliche, Sinus-Milieustudie U27, BDKJ, Verlag Haus Altenberg, Düsseldorf 2007.
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Übersicht
Lebenswelten von Jugendlichen 14 – 18 Jahre
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Traditionelle Jugendliche
Grundorientierung
Man strebt nach klaren, eindeutigen, sicheren und dauerhaften Lebensentwürfen sowie nach
Harmonie. Man möchte nicht auffallen und ein „normales“ Leben führen, eingebunden und
akzeptiert sein.
Zur Erwachsenen besteht eine geringe Distanz, darum werden die Moralvorstellungen der
(meist konservativen) Erwachsenen übernommen und bleiben Vorbild. Durch die Betonung
traditioneller Werte wie Höflichkeit Bescheidenheit, Sparsamkeit, Fleiss, Disziplin und Respekt
wirken sie im Vergleich zu anderen „modernen“ Jugendlichen frühzeitig erwachsen und
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selbstsicher. Exzentrisches ist suspekt. Sie grenzen sich mit einem Habitus von einer gewissen
Überlegenheit ab von anderen Jugendlichen, die jedem Trendhype hinterher laufen müssen.
Traditionelle Jugendliche sind sehr leistungsorientiert. Dabei geht es aber weniger um die
Ergebnisse, wie z.B. gute Noten, sondern eher darum sein Bestes zu geben und fleissig zu
sein. Darauf will man stolz sein.
Sie haben eine ausgeprägte Familienorientierung und fühlen sich bei ihren Eltern wohl. Diese
Familienwärme ist eine Erfahrung die sie gerne später auch ihren Kindern weitergeben wollen.
Mit Beruf verbinden die Traditionellen Jugendlichen „Existenzsicherung“. Dabei sind sie in der
Wahl des Berufes nicht wählerisch. Während Jugendliche des oberen Milieusegments häufig
Beamtenstellen anstreben, erlernen Jugendliche aus dem unteren und mittleren Segment gerne
den Beruf der Eltern.
Lebensstil
Es wird ein ritualisierter Rückzug ins Alleinsein festgestellt. Dabei beschäftigt man sich gerne
mit Themen und Tätigkeiten, die bei anderen Gleichaltrigen nicht attraktiv und anschlussfähig
sind: wie Basteln, Handwerken oder Lesen von Biographien berühmter Personen.
Während Mode und Trends bei Jugendlichen aus diesem Milieu nicht wichtig sind, ist die
moderne Technik aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Sie benutzen häufig Computer und
Internet und chatten über ICQ mit ihren Freunden. Dabei benutzen sie aber kaum neuere
Plattformen und Online-Spiele. Auch Handy und andere technologische
Gebrauchsgegenstände sind ein fester Bestandteil dieser Jugendkultur.
Diese Jugendlichen zeigen ein grosses Interesse an der Natur. Sie halten sich gerne draussen
auf und sehen in der Natur auch eine Manifestation des Göttlichen.
Traditionelle Jugendliche haben einen völlig anderen Begriff von Selbstständigkeit als die
anderen Milieus. „Selbstständig“ ist man bereits, wenn man berufstätig ist – auch wenn man
noch zu Hause wohnt. Die Heimatverbundenheit zeigt sich auch im Reiseverhalten, wo man
gerne mehrmals das gleiche Ziel aussucht.
Kulturelle Orientierung
Traditionelle Jugendliche nutzen Musik und Fernsehen zum Entspannen und Abschalten. In der
Regel stark beeinflusst von den Eltern liegen die kulturellen Vorlieben in Heimatfilmen,
Schlagermusik, Groschenromanen, Musicals, Daily Soaps etc. In diesen Angeboten sucht und
findet man eine „heile Welt“ und „Happy Endings“. Das obere Segment des Traditionellen kann
am ehesten als „Klassik-Jugend“ bezeichnet werden. Ebenso goutieren sie Chormusik und
geistliche Musik. Aber auch die etwas „minderwertige“ Pop- und Rockmusik wird zum Teil
nebenbei gehört. Das Erlernen eines klassischen Instruments bleibt durch alle Milieus hindurch
grundsätzlich den oberen Segmenten vorbehalten.
Vergemeinschaftung
Traditionelle Jugendliche sind kritisch und wählerisch im Freundschaftskontakt und haben einen
festen und vergleichsweise kleinen Freundeskreis. In ländlichen Regionen sind sie häufig in
kirchliche Aktivitäten (z.B. Ministranten) und Vereine eingebunden. Wichtig ist ihnen die
Loyalität nach innen: niemand, der dazu gehört, wird ausgegrenzt – nach aussen sind die
Hürden relativ hoch: neue „fremde“ Leute werden nicht ohne Weiteres in den Kreis der
Vertrauten aufgenommen.
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Engagement
Sie legen viel Wert auf soziales Engagement, vor allem in ihrem eigenen Umfeld: in Schule,
Kirche oder Vereinen. Man ist stolz, Verantwortung tragen zu können und es macht Freude,
anderen zu helfen. Der Kirche als Ministrant zu dienen, das Überleben eines Vereins zu sichern
oder die Traditionen der Pfadfinder weiterzuführen, gehört für sie zum Leben einfach dazu. Das
Interesse an organisierter Politik ist jedoch gering. Diese Jugendlichen zeigen diesbezüglich
eine deutliche Verdrossenheit
Religion und Kirche
Dominant ist die Einstellung, dass die grossen und wichtigen Wahrheiten im Leben nicht in der
Person des Einzelnen liegen, sondern ausserhalb: Nicht die Orientierung an den persönlichen
Bedürfnissen zeigt den richtigen Weg, sondern eine externe Autorität. Die (religiöse und
moralische) Wahrheit ist vorhanden und kann nicht erfunden werden: Autoritäten in diesen
Dingen sind: Eltern, Lehrer, Pfarrer, Mönche, Bischöfe und der Papst.
Die kirchlich basierte Religiosität (in der Heimatgemeinde) hat eine sehr hohe Bedeutung. Sie
fühlen sich als Katholiken der Kirche zugehörig. Sie sind oft Messdiener und haben einen guten
Kontakt mit den Seelsorgern und anderen ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Gemeinde. An
der Kirche interessiert sie weniger die Theologie als die Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Der
Glaube ist etwas, das sie von ihren Eltern und in den Gottesdiensten mitbekommen haben. Die
Bibel ist wichtig, auch wenn sie selten gelesen wird. Bis etwa 16 Jahren ist ein bewusst „naiver“
Glaube feststellbar, wobei auch die Begleitung des Schutzengels eine zentrale Rolle spielt.
Sie schätzen Personen des öffentlichen Lebens, die sich klar zum katholischen Glauben
bekennen. Der Papst hat für sie – im Unterschied zu ihren Eltern und Grosseltern – keine
essentielle Bedeutung. Er ist für sie räumlich und mental zu weit weg. Sie schätzen jedoch eine
starke Persönlichkeit als Oberhaupt der Kirche, auch wenn sie einzelne Anordnungen des
Papstes nicht verstehen und nicht gut finden.
Schon in jugendlichen Jahren hat man den Wunsch nach Ewigkeit und Erbe. Man möchte der
Nachwelt als guter Mensch in Erinnerung bleiben, der bemüht war, seine Werte und seine
Weltanschauung weiterzugeben – ein Mensch, der Gutes vorgelebt hat, der ein Vorbild für
andere ist.
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Bürgerliche Jugendliche
Grundorientierung
Für Jugendliche der Bürgerlichen Mitte ist es wichtig, ein vertrautes Umfeld zu haben – und
nicht bedingungslos authentisch zu sein. Es herrscht eine ausgeprägte Sorge, im Freundeskreis
nicht angenommen zu sein und allein dazustehen. Daher ist die Clique das für sie subjektiv
wichtigste soziale Gefüge. Sie gibt Kraft und Identität und ist die primäre soziale Sphäre, um
Distanz gegenüber dem Elternhaus zu finden. Die Clique ist emotional und sozial das neue
Zuhause und ist den meisten wichtiger als ein fester Freund/eine feste Freundin. Gegenüber
auffällig gekleideten und extravaganten Jugendlichen ist man auf Distanz: „Das wäre nichts für
mich“.
Die Sorge um die Zukunft ist wichtig: um den richtigen Partner, eine gute Arbeitsstelle oder
einen guten Studienplatz. Sie möchten ein normales Leben führen mit guten engen Freunden,
Spass, viel Erfolg und, wenn es sein muss, auch ein bisschen Stress. Die Jugendlichen dieses
Milieus möchten dem unmittelbaren Umfeld gefallen. Wer nicht unangenehm auffällt, den
gestellten Anforderungen genügt, brav und zugleich klug, ehrgeizig und fleissig ist, der schafft
es. Dabei haben sie eine ausgesprochene Leistungsorientierung mit hohen Erwartungen an
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sich selber. Von den Modernen Performern unterscheiden sie sich darin, dass sie das Risiko
nicht suchen, sondern vermeiden wollen.
Die Familie ist diesen Jugendlichen besonders wichtig. Sie zeigen dies in einer aktiven
Teilnahme am Familienleben und im Wunsch, später selber eine Familie zu haben. Besonders
bei Mädchen sind ein Partner, eine Familie mit zwei bis vier Kindern und ein Haus mit Garten
ganz wichtige Lebensziele und sind eng mit dem Wert „Selbstverwirklichung“ verknüpft. An
diesem Ziel zu scheitern wäre eine persönliche Katastrophe. Auch die Vorstellung von der
„grossen Liebe fürs Leben“ ist prominent.
Der Erfolg im Beruf ist wichtig:
Für Männer neben oder vor dem privaten Glück;
Für Frauen neben oder nach dem privaten Glück.
Man will zwar später Geld verdienen, aber betont gleichzeitig, dass es nicht zu wenig und nicht
zu viel sein sollte: beides kann zu persönlichen Problemen führen.
Für die Ablösung vom Elternhaus ist bemerkenswert, dass einige bürgerliche Jugendliche
postmaterielle Eltern haben. Das ist auf der Modernisierungsachse eine ungewöhnliche
Bewegung. Ansonsten geschieht die Ablösung selten demonstrativ, sondern moderat und meist
„geräuschlos“ und harmonisch. So wird auch der Papa und Mama beim Auszug und bei der
Einrichtung einer eigenen Wohnung helfen.
Lebensstil
Ein hoher und hartnäckiger Bildungseifer und die Distanzierung von sozial schwächer
gelagerten Jugendlichen fallen auf. Auch wenn man vordergründig tolerant gegenüber anderen
Lebensformen ist, wird die eigene Lebenshaltung und Kultur als angenehmer beschrieben
(Elitarismus des Konventionellen).
Ein Misstrauen gegenüber fremdem zeigt sich auch im Umgang mit Internet (besonders bei
Mädchen). Mit zunehmendem Alter gewinnen jedoch auch Internet-Plattformen an Bedeutung.
Sport dient als wichtiger Ausgleich zum stressigen Schulalltag. Wichtig sind hier Erfolg und das
Gefühl etwas geleistet zu haben. Sport wird gerne in Vereinen betrieben, wo man nette
Menschen und Freunde findet.
Kulturelle Orientierung
Robbie Williams, Anastiacia, Justin Timberlake, Rihannah, Pink, Shakira… dominant ist die
Orientierung am populären Pop-Mainstream. Typisch dabei ist die Kombination von Kraft und
Romantik. Die Musik spiegelt das eigene Lebensgefühl. In die Musik lässt man sich hineinfallen,
wenn man traurig oder verliebt ist. Selbst musizieren ist für die meisten Jugendlichen aus der
bürgerlichen Mitte kein Mittel, um sich auszudrücken. Musik via Radio, CD oder downgeloaded
auf MP3-Player ist wichtig und gehört zur Grundausstattung wie das Handy. Man distanziert
sich von den Rückständigen und sieht sich als modern und kulturell aufgeschlossen.
Für Bürgerliche Jugendliche ist charakteristisch, dass sie sich konform zu den gängigen
gesellschaftlichen Erwartungen verhalten. Ihr Konformismus kann ihnen jedoch Spott von
anderen Jugendlichen bringen, die sie als „angepasste Normalos“ belächeln.
Vergemeinschaftung
Freunde sollen zuverlässig und immer für einen da sein. Die engsten Freunde haben sie in der
Schulklasse. Nebst den Cliquen bewegen sie sich in Sportvereinen, in Jugendtreffs oder bei
Ministranten. Vor allem geht man mit Freunden in Discos, Bars, Cafés oder zu Konzerten. Eine
fröhliche Stimmung beim Ausgehen ist sehr wichtig. Dabei grenzen sie sich von Jugendlichen
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ab, die negativ durch Gewalttätigkeit, Provokation o.ä. auffallen. Die Angst selber als
Aussenseiter aufzufallen ist sehr gross („Was denken die anderen wohl von mir?“)
Die Vergemeinschaftung übers Internet nutzen diese Jugendlichen nur in begrenztem Mass –
wenn dann eher von den Jungs. Hier zeigt sich wieder eine deutliche Trennung nach
Geschlecht. Virtuelle Kontakte sind für Mädchen nur dauerhaft interessant, wenn sie in reale
Kontakte übergehen. Längerfristig gesehen ist das „wirkliche Leben“ interessanter.
Engagement
Jugendliche der Bürgerlichen Mitte wachsen oft in das Engagement ihres lokalen Umfelds
hinein. Oft stecken die Aktivitäten und die Hinweise der eigenen Eltern den Horizont der
Orientierung ab (Aufbau, Ausschank oder Kuchenverkauf bei Festen in Ortsverein, Kirche oder
Schule). So wächst bei ihnen die Haltung, dass man allmählich mitmachen sollte bei dem, was
vor Ort passiert. Schliesslich gehört man dazu.
Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist: Man will unmittelbar die Nützlichkeit des Einsatzes und die
Resonanz von den Betroffenen bzw. Leitern in Form von Anerkennung erfahren. Die
Atmosphäre in der Gruppe soll locker sein; dazu braucht es die richtigen Leute, mit denen man
sich gut versteht und Freundschaften schliessen kann.
Religion und Kirche
Der Bezug zu Kirche und Religion wird – analog zum Engagement – durch die Orientierung der
Eltern sowie das lokale Umfeld abgesteckt.
Für Jugendliche, die mit einem Bezug zur Kirche aufgewachsen sind, war der sonntägliche
Kirchenbesuch eine Gewohnheit, die vom Umfeld verlangt wurde. Die erste Kommunion war
biografisch ein wichtiges Fest, obwohl man aus heutiger Sicht „nicht richtig verstanden hatte,
worum es ging“2.
Für die häufige Mitgliedschaft bei den Ministranten gab es nicht in erster Linie einen spirituellen
Beweggrund; es dominierte der Gemeinschaftscharakter und das Mitmachen mit den
gleichaltrigen Freunden aus der Schule. Wenn mit zunehmendem Alter die Freunde weggehen,
hört auch die eigene Bindung wieder auf.
Im Alltag spielt der Glaube für bürgerliche Jugendliche meist eine untergeordnete Rolle. Man
nimmt die Kirche, wie sie ist, und für einige ist das tägliche Gebet auch Normalität – wirklich
gebraucht wird der Glaube jedoch erst in Krisenzeiten, in denen er Halt und Sicherheit gibt.
Konventionelle Gottesdienste und Amtskirche werden als steif, veraltet und konservativ
kritisiert.
Bei einigen jedoch verändert sich – etwa nach der Firmung – ihr Glaube: Er wird bewusster, es
entwickelt sich Spiritualität. Man geht bewusst und freiwillig in die Kirche – auch ausserhalb des
Gottesdienstes. Man mag die Atmosphäre in der leeren, stillen Kirche. Besondere Bedeutung
bekommen auch Jugendgottesdienste, in denen man sich persönlich angesprochen fühlt und
aktiv teilnehmen kann. Das Gruppenerlebnis, die eigene und nicht vorformulierte Sprache sowie
die Atmosphäre mit Kerzen und modernen Liedern und vielen Symbolen, die man versteht: Das
ist eine gute Kirche.
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Solche biografischen Distanzierungen von der eigenen Kindheit sind immer auch kommunikative
Inszenierungen des eignen (neuen) Erwachsenseins und sollten nicht als objektive Geschichte gelesen werden.
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Konsum-materialistische Jugendliche
Grundorientierungen
Häufig kommen diese Jugendlichen aus Familienverhältnissen, die es bedingen, dass sie viel
auf sich selbst gestellt sind (z.B. beide Eltern ausser Haus erwerbstätig mit niedrigem
Einkommen; längere Arbeitslosigkeit der Eltern und damit fehlender geregelter Tagesablauf).
Sie wissen oft nicht, ob und wann ihre Eltern zu Hause sind und ob sie sich um sie kümmern.
Daraus erwächst der Wunsch nach einer heilen Familie und einem intakten Freundeskreis –
insbesondere die weiblichen Jugendlichen wünschen sich eine bürgerliche Idylle, die sie bei
Schulkameraden (glauben zu) sehen, mit einem liebevollen Mann und einem Haus. Es werden
klassische Rollenmuster reproduziert: Mädchen sollen „brav“ sein und Pflichten im Haushalt
übernehmen; Jungs sollen als richtiger Mann „cool und stark“ sein.
Die männlichen Jugendlichen haben die Tendenz zu einer demonstrativen Selbstdarstellung,
besonders wenn sie in Gruppen unterwegs sind. Die Hierarchien in den Cliquen werden mit
verbaler und körperlicher Gewalt erkämpft. Die demonstrative Selbstsicherheit hört auf, wenn
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sie sich alleine auf fremdem Terrain bewegen müssen. Dann zeigen sie Unsicherheit, geben
sich zurückhaltend, suchen schnell Anschluss und passen sich an.
Bescheidenheit ist nicht Sache dieses Milieus – man fürchtet, dass Genügsamkeit und
Selbstbescheidung als Zeichen von (Selbstwert-) Schwäche und geringer Coolness interpretiert
werden könnten. Was zählt, ist der Eindruck, den man nach aussen macht. Man erhofft sich
Bewunderung und Lob, aus dem man Selbstbewusstsein und Motivation schöpft.
Jugendliche betonen die traditionellen Werte wie Höflichkeit, Disziplin und Fleiss – aber diese
sind bei ihnen nicht verankert und dienen der Stützung der zentralen Werte: Aufsteigen und
Teilhaben am Lifestyle.
Konsumorientierte Jugendliche sind offen und kontaktfreudig. Das erleichtert ihnen den
Umgang mit Lehrern oder Chefs. Beim Gegenüber wird das aber oft als mangelndes Gespür für
Distanz und Anstand bewertet. Von den Eltern bekommen sie oft widersprüchliche Signale von
Wertschätzung: mal betonen diese, dass sie etwas „ganz Besonderes“ seien, mal werden sie
von den überforderten Eltern als „Nichtsnutz“ beschimpft.
Lebensstil
Die Sehnsüchte nach Teilhabe und Anerkennung spiegeln sich im markenorientierten
Konsumverhalten. Modemarken bekannter Hip Hop-Musiker sind beliebt. Das steht im
Gegensatz zu den zum Teil bescheidenen finanziellen Verhältnissen der Familien. Reicht das
Geld nicht, shoppt man in „Läden, die die Marken halt gut faken“ wie H&M oder Orsay.
Ältere Jugendliche machen Urlaub mit ihren Kumpels in All-Inclusiv-Angeboten (Mallorca,
Fuertaventura u.ä.). Der Komfort steht vor dem Abenteuer und Alternativurlaube mit Rucksack
sind kaum vorstellbar.
Häufig treffen sie sich um gemeinsam DVDs zu schauen oder auf ihren Spielkonsolen zu
spielen. Das Internet wird genutzt, um Kontakte zu pflegen und neue Leute kennenzulernen.
Personen werden nach Kurzprofilen und Fotos ausgewählt und angeschrieben. Während den
Jungs die Unterhaltungselektronik-Artikel als Statussymbole dienen, streben Mädchen nach
Kosmetik, Kleidung und Schmuck als Prestige-Objekte.
Kulturelle Orientierung
Popkultur spielt eine grosse Rolle. Man mag, was angesagt ist und findet nichts dabei, das gut
zu finden, was „allen“ gefällt. Ein Ausdruck davon sind Poster von ihren Stars, die oft die
eigenen Wände „tapezieren“. Kulturelle Vorlieben sind „mainstreaming“: Kino- oder
Kneipenbesuch, Bowling, Chartmusik, Action-Filme. Sowohl zu klassischer Musik als auch zu
Volksmusik ist man gleichgültig oder auf Distanz.
In Sachen Musik schwört man auf Hip Hop oder R & B. Konsum-materialistische Jugendliche
sind kulturell weder traditionell noch klar szenenorientiert. Sie zeigen bestenfalls eine sehr
schwach ausgeprägte Sympathie für Jugendkulturen (v.a. Hip Hop) – ohne lebenspraktisch
involviert zu sein.
Der Lebensmittelpunkt dieser Jugendlichen ist eher konventionell gelagert und dreht sich um
Schule, Ausbildung oder (Sport)-Vereine. Somit bringt die Lebensführung kaum klassisches
Konfliktpotential in Bezug auf Eltern. Deren Werte werden zudem selten in Frage gestellt;
allerdings will man es „mal besser haben“.
Körperorientierung ist in diesem Milieu besonders wichtig. Dies zeigt sich im regelmässigen
Besuch von Fitness-Studios oder Solarien – oder auch in Tätowierungen. Auch das Ausüben
von Kampfsportarten zur Selbstverteidigung ist häufig. In der (Über-) Betonung sekundärer
Geschlechtsmerkmale durch Mode und Körperkult reproduzieren diese Jugendlichen stereotype
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Geschlechtervorstellungen. Die Jungs unterstreichen mit „Muskeln pumpen“ ihre
chauvinistische Einstellung. Mädchen zeigen bereits in frühem Alter deutliche Tendenzen, mit
betont sexy Kleidung und Körper dem männlichen Idealbild möglichst nahe zu kommen.
Konsum-materialistische Jugendliche lassen sich zwar von angesagten jugendkulturellen Stilen
beeinflussen, sind aber weit davon entfernt, sich ideologisch verpflichtet zu fühlen. Wenn sie
derzeit „PLO-Schals“ tragen, so wird von ihnen damit nicht nur keine politische Aussage
verbunden, man weiss über die politische Einbettung dieser Objekte schlichtweg nichts.
Vergemeinschaftung
Freundschaften entwickeln sich im engeren Umfeld. Man trifft sich beim Windowshoppen
(Mädchen) oder „hängt ab“ mit Computerspielen (Jungs). In den relativ homogenen Peer
Groups wird ein gewisser Gruppendruck wahrgenommen, um anerkannt zu werden.
Aufkommende Gewalttätigkeiten empfinden sie als negativ, doch manchmal seien sie nicht zu
vermeiden.
In der Berufsarbeit (Ausbildung) hat die Teamarbeit eine wichtige Rolle (evtl. auch um die
Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen). Vereinssport steht hoch im Kurs, weil er
eine gute Bühne bietet, um sich darzustellen und Anerkennung zu bekommen.
Engagement
Sie finden es gut, wenn andere sich engagieren. Man selber sieht sich nicht in der Pflicht,
anderen zu helfen. („Erst mal die eigenen Probleme in den Griff bekommen.“) Zum aktiven
Sozialengagement haben sie keinen Bezug. Erst bei längerer Beschäftigung mit dem Gedanken
können sie sich vorstellen, dass man dort auch interessante Leute kennenlernt. Im unmittelbar
eigenen Umfeld betätigen sich einige jedoch als Streitschlichter oder stellen ihre technischen,
bzw. handwerklichen Fähigkeiten zur Verfügung.
Religion und Kirche
Verstaubt sind in ihren Augen nicht die katholischen Werte, sondern der fehlende
Erlebnischarakter: Kirche ist „langweilig.“ Dazu gehören steife Pfarrer die keinen Spass
verstehen oder harte Kirchenbänke. Eine modernere mediale Aufmachung im Gottesdienst
wäre gut. Gottesdienste besucht man aber meist nur bei familiären Anlässen (Taufe, Hochzeit,
Beerdigung). Im Alltag praktizieren einige „kleinere“ Rituale (z.B. Kreuzzeichen vor dem
Fussballspiel). Man glaubt an „eine höhere Macht“ vermischt mit Fantasy-Elementen (Dämonen
und Engel). Zu Gott beten sie eher selten, sind aber sehr enttäuscht, wenn „es nichts bringt“.
Popstars übernehmen häufig die religiöse Vorbildfunktion. Man findet es cool, wenn sie sich
ausdrücklich zu Gott bekennen und ihren Glauben vor sich her tragen. Auch ihre Kinder wollen
sie mal im katholischen Glauben erziehen, „weil man das halt macht“. Gegenüber anderen
Religionen empfindet man Misstrauen.
Damit wird deutlich, dass Konsum-materialistische Jugendliche offen sind für (quasi-) religiöse
Sinnstiftungen und dass diese Orientierungsfunktion für ihr Leben haben. Die Kirche erleben sie
als „abgehoben“. Religion bekommt für sie in der Popkultur eine „Erdung“.
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Postmaterielle Jugendliche
Grundorientierung
Postmaterielle Jugendliche lassen sich nicht leicht identifizieren. Einige Merkmale sind ihre
Liebe zur Natur, zu Tieren und zu Gerechtigkeit im Umgang mit Freunden. Sie fallen wenig auf,
sind selten Leader und haben einen guten Freund/enge Freundin. Ausgeprägte Passion sind
das Lesen und das Spielen eines Musikinstruments. Im Unterschied zu traditionellen
Jugendlichen ist das Selbstbild von starken Selbstzweifeln geprägt.
Ab dem 16. Lebensjahr zeigen diese Jugendlichen stärkere Kontur und interessieren sich für
politische und weltanschauliche Fragen. Typische Literatur in dieser mittleren Phase sind
Tolkien, Dostojewski, Mankell oder Klassiker wie Goethe oder Kafka – ebenso Zeitschriften wie
PM oder Geo.
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Ihrem kritischen Blick nach innen entspricht der kritische Blick nach aussen, alles ist
problematisch: Globalisierung, Amerikanisierung, Vereinzelung oder Armut in der Welt. Sie
können zugespitzt als notorische Skeptiker oder Kritiker bezeichnet werden. Ihre Identität sehen
sie „im Schwimmen gegen den Strom“ und im Wunsch nach einem „radikalen“ Leben. Damit ist
kein persönlicher materieller Reichtum verbunden sondern ein Ideal, das oft in einer „Fernwelt“
liegt.
Ihre Ablehnung betrifft auch „konturlose“ oder „zwanghaft dauergutgelaunte“ Menschen, weil
diese als aussenorientiert und unselbstbewusst gesehen werden. Sie vertreten auch eine klare
Konsumkritik. Dabei zeigt man aber Toleranz und Lernbereitschaft: Man möchte Fremde(s)
nicht beurteilen, bevor man sie/es kennt. Sie interessieren sich für neue Jugendliche oder
Persönlichkeiten mit eigenem Lebensstil.
Gegen Ende der Adoleszenz entwickelt sich ein ausgeprägter Wunsch „auf- und auszubrechen“
(im übertragenen Sinn). Hintergrund sind eine kosmopolitische Weltsicht, das Bedürfnis nach
Widerstand und der Mut zu intellektuellen Alleingängen. Man hält es aus, nicht in allen Dingen
von anderen verstanden zu werden.
Lebensstil
Postmaterielle Jugendliche ziehen sich häufig zurück, um sich konzentriert dem Lesen,
Musizieren oder kreativen Tätigkeiten zu widmen. Sie sind aber auch sehr mobil und fahren
zum Einkaufen oder an Konzerte mit engen Freunden weite Strecken. Die Musik ist für sie ein
zentraler Ausdruck ihres Lebensgefühls und einer bestimmten Geisteshaltung. Dabei ist das
Spektrum des Einzelnen breit: Orff (carmina burana), Gershwin, Tote Hosen, Metallica.
Sport dient dem Ausgleich und wird am Liebsten im Freien betrieben. Mit Perspektive auf eine
spätere Berufswahl stehen Selbstverwirklichung und Abwechslung im Vordergrund. Die Arbeit
muss Spass und Sinn machen. Viele streben auch einen Sprachaufenthalt im Ausland an.
Sie zeigen bereits in früher Jugend ein vergleichsweise grosses Interesse an fernöstlichen
Religionen und Philosophien, v.a. am Buddhismus.
Kulturelle Orientierung
Die Jugendlichen dieses Milieus haben ein deutliches Interesse an hochkultureller Kunst. Dabei
ist man keineswegs elitär, sondern mag das feinsinnige und nonkonforme – auch
Amateurhaftes und Spontanes, jedoch klar keinen Kitsch und Trash.
Der Musikgeschmack ist auffällig: Handgemachte authentische Musik ist hoch im Kurs: Punk,
Weltmusik, Reggae, Jazz, Indie, Funk, Soul, Folk und Klassik. Dabei wird überdurchschnittlich
viel „alte“ Musik gehört. Man interessiert sich für die authentischen Wurzeln. Sie hören nicht nur
Musik, sondern wollen die Songs verstehen. Musik ist ein wichtiger Faktor der (politischen)
Identität, so ist das Interesse für Musik aus Protestbewegungen kein Zufall.
Postmaterielle Jugendliche stehen v.a. denjenigen Jugendkulturen nahe, welche sich von der
Konsum- und Mediengesellschaft kritisch distanzieren und in der Regel eine deutliche politische
Agenda verfolgen (z.B. Punk, Hardcore, Autonome, Hippies)
Wenn postmaterielle Jugendliche Eltern aus demselben Milieu haben, grenzen sie sich häufig
gemeinsam mit ihnen gegen das Altmodische und Konservative ab. Probleme treten auf, wenn
Eltern als pedantisch erlebt werden („kein Urlaub ohne hundert Museumsbesuche“). Wenn
Eltern aus anderen Milieus akzeptieren, dass man anders denkt und leben will, zeigen
postmaterielle Jugendliche deutliche Zeichen der Solidarität. Es gilt als moralisch, sich nicht für
seine Eltern zu schämen. Wenn Eltern hingegen stark moralisieren geht man klar auf
Konfrontationskurs.
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Als kulturelles Kapital dient ihnen ihr Wissen um eine umwelt- und gesundheitsbewusste
Lebensführung, da es im Kreise ihrer Peers soziale Anerkennung abwirft. Eine grosse
Büchersammlung (auch Comics) und auf Flohmärkten erstandene Design-Klassiker oder
authentische Stücke zieren ihr Zuhause. Auch bei der Kleidung besteht ein Markenbewusstsein,
jedoch orientieren sie sich überdurchschnittlich an Marken, die dem Nachhaltigkeits-Prinzip
verpflichtet sind. Auch funktionelle Outdoor-Mode ist hoch im Kurs.
Vergemeinschaftung
Sie stellen hohe Ansprüche an einen engen Freundeskreis und tragen stark an den Problemen
der Peers mit. Darin anderer Meinung zu sein, ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Der
gemeinsam geteilte Horizont ist geprägt von Offenheit, Toleranz, Neugier, Identifikation und
Kritik. Trotz diesem Wunsch nach Offenheit laufen sie Gefahr, im Umgang mit anderen Milieus
elitär zu wirken und schwer einen engen nahen Kontakt zu diesen zu bekommen.
Auch postmaterielle Jugendliche sind engagiert in Ministrantengruppen, Orchester oder
Sportvereinen, doch stehen sie nicht im Zentrum. Sie sind wegen ihrer Intelligenz geachtet,
leben aber auch hier eine innere Distanz.
Der tägliche Kontakt mit Freunden hat einen hohen Stellenwert. Es ist wichtig, Spass mit ihnen
haben zu können – das kann aber auch heissen, anspruchsvolle Diskussionen über das
politische und soziale Zeitgeschehen zu führen. So werden Spass und Politik vereinbar. Bei der
Wahl der Orte zieht man das Kulturcafé der Grossraumdiscothek vor („Hauptsache, die Leute
stimmen und die Atmosphäre ist gut.“).
Engagement
Soziales Engagement hat für postmaterielle Jugendliche eine besondere Bedeutung und wird
spontan mit „Lebenssinn“ verknüpft. Altruistisch zu sein und praktisch etwas zu tun, gilt als
Tugend und wertvoll, weil selbstlos. Dabei wartet man nicht passiv ein Angebot ab, sondern
ergreift selber die Initiative. Hier sind sie bereit viel Verantwortung zu übernehmen. Durch
dieses Engagement ist ihnen darüber hinaus die Anerkennung der Peers gewiss. Zentrales
Motiv ist: „zu einer besseren Gesellschaft beizutragen“. Dabei halten sie von blosser
Geldspende vergleichsweise wenig. Man muss als Person ganz dabei sein und etwas tun. Das
Gleiche gilt für politische und ökologische Themen. Attraktive Hilfswerke sind: Greenpeace,
Unicef.
Religionen und Kirche
Die katholische Kirche, wie sie als Organisation heute medial erfahrbar ist, wird hinterfragt und
meist als autoritär und rückständig abgelehnt („Amtskälte und Menschenferne“). Oberflächliche
populistische Kritik aus anderen Milieus wird aber ebenso hinterfragt und dann „ihre“ Kirche
auch verteidigt. Ab ca. 16 Jahren erleben viele kirchliche Aktivitäten als zu behäbig und
selbstgenügsam. Bei der Gottesdienstgestaltung sagt ihnen das Kreisförmige zu. In
Jugendgruppen und studentische Gemeinschaften erleben sie positiv den konsequent
geschlossenen Kreis beim Gebet (z.B. um eine Kerze).
Für Architektur sind sie sensibel. Dabei erleben sie die meisten Kirchenbauten mit den starren
Bänken als hässlich. Das Idealbild einer Kirche ähnelt den Beschreibungen oder Erlebnissen
von Taizé.
Postmaterielle Jugendliche, die mit einem engen Bezug zur Kirche aufgewachsen sind, haben
oft einen positiven Bezug zum Glauben. Er gibt ihnen Kraft und Halt und eine positive
Lebenseinstellung. Dabei ist Glaube zunächst etwas Persönliches, das fühlbar sein muss.
Glaube stellt für sie einen Baustein neben vielen dar, mit denen die eigene Balance zwischen
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Körper, Psyche und Geist erreicht werden soll. Der Erfahrungsaustausch ist für den eigenen
Findungsprozess sehr bedeutsam.
Betreffend Inhalt basteln sich diese Jugendlichen gerne ohne Tabus einen eigenen
Religionsmix aus ihnen bekannten Weltreligionen und Philosophien zusammen. Das Vermeiden
einer traditionellen Gottesvorstellung („eine höhere Macht“) deutet auf das Ausweichen von den
offiziellen Lehren der Kirchen und Religionsgemeinschaften hin.
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Hedonistische3 Jugendliche
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Unter Hedonismus, selten auch Hedonik genannt (v. griech. ἡ δονή (hedone), „Lust”), wird eine
philosophische bzw. ethische Strömung verstanden, die Lust als höchstes Gut und Bedingung für
Glückseligkeit und gutes Leben ansieht. Im Gegensatz zu der Lust, wie sie von Epikur gelehrt wird,
versteht man unter dem Begriff Hedonismus auch allgemein eine nur an materiellen Genüssen orientierte,
egoistische Lebenseinstellung. In diesem Sinne wird der Begriff Hedonismus oft abwertend gebraucht (vgl.
Spaßgesellschaft)
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Grundorientierung
Bei 14-19 Jährigen ist die hedonistische Grundorientierung dominant. 25,5% aller Jugendlichen
gehören zum grössten Segment. Für einen Drittel davon ist es jedoch nur eine vorübergehende
pubertäts- und adoleszenzgeprägte Orientierung (Ablösung vom Elternhaus und
Identitätsfindung) während die Restlichen auch nach dem 20. Lebensjahr noch in diesem Milieu
bleiben.
Hedonistisch orientierte Jugendliche möchten aus dem Alltag und den Routinen ausbrechen
und Spannenderes ausprobieren. Dabei sind sie aber ambivalent: auf der einen Seite
geniessen sie die Lust am Unkonventionellen und Provokativen, auf der anderen Seite wissen
sie genau, dass sie die Sicherheit ihrer Eltern und Freunde brauchen.
Der Identitätsentwurf ist stark binär. Jugendliche sehen sich als Minderheit der Unangepassten,
die keinem Gruppenzwang oder Trend folgen wollen. Jedoch nur wenige haben den Mut, die
Konsequenzen zu tragen und authentisch zu leben. Der Ausbruch aus dem Alltag bleibt oft
symbolisch und performativ. Dazu beteiligen sie sich in „coolen“ Szenen, die Erlebnis
verheissen: BMX, HipHop-, Techno-, Skater-, Graffiti-, Demo- oder Kletterszene. Spezieller und
„schwieriger“ sind Szenen wie Punk, Comic, Gothic, Death-metal, Junghexen etc.
Zur subkulturellen (Gegen) Moral gehört es auch, Unlust zu zeigen gegenüber allem, was fremd
bestimmt ist, keinen Spass macht und Anstrengung bedarf. Der Begriff „Spassgesellschaft“ ist
mittlerweile im Alltag angekommen und wird von diesen Jugendlichen positiv bewertet. Unter
„Freiheit“ verstehen sie schlicht: „spontan das tun zu können, was man möchte“ – ohne sich zu
viele Gedanken machen zu müssen.
Die Beachtung von aussen ist für sie wichtig. Sie entwickeln ein Selbstbewusstsein als
Aussenseiter und geniessen es, von anderen (traditionelleren) Jugendlichen schräg angesehen
zu werden.
Ihr Freiheitsstreben ist nur in der Freizeit realisierbar. In Ausbildung und Beruf sieht man dazu
kaum eine Chance. Entsprechend haben viele hedonistische Jugendliche kein Interesse an
Schule und sitzen die Zeit dort einfach ab. Es bleibt jedoch wichtig, mit den anderen mithalten
zu können und nicht als Verlierer da zu stehen. Man sieht sich als freiwilligen Outsider und
möchte nicht passiv an den Rand geschoben werden. Die Distanzierung von der
Leistungsgesellschaft geschieht bei vielen aus einer materiell/finanziell relativ gesicherten
Position heraus.
Lebensstil
„Langweilig wird ihnen kaum“ - ist die nach aussen kommunizierte Lust am Leben. Auffällig ist
die Suche nach Gruppenanschluss: Allein macht es keinen Spass. Handy sind soziale
Rettungsanker und symbolisches Zeichen, dass man spontan ist und „lebt“.
Familienausflüge sind out. Man geniesst es aber, am Wochenende ungezwungen zu grillen und
sich im Schoss der Familie aufgehoben zu wissen. Da sie sich die von ihnen bevorzugten ClubUrlaube noch nicht leisten können, fahren sie oftmals auch noch mit den Eltern in den Urlaub
oder nehmen an Jugendreisen teil.
Pädagogische Sozialräume und Angebote lehnen sie ab. Zu gross ist die Sorge, dass die
Erwachsenen den Spass verderben könnten. Positiv bewertet werden: Skateparks, Clubs oder
Jugendzentren.
Die Mediennutzung ist in diesem Milieu sehr ausgeprägt. Das Fernsehen (durch dessen
Programme man sich gerne zappt) oder Computerspiele sind beliebte Unterhaltungsangebote.
Auf den Online Foren macht es Spass, andere auch mal zu „verarschen“ oder eine selbst
ausgedachte virtuelle Figur zu sein.
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Kulturelle Orientierung
Der Generationenkonflikt spielt im hedonistischen Milieu nach wie vor eine Rolle. Die
spassorientierte Lebensweise und die provozierenden Szenen sind ein funktionierendes
Konfliktpotential mit Eltern und Lehrer.
Für Hedonisten bedeutet die Wahl eines jugendkulturellen Stils ein mehr oder minder
umfassendes Bekenntnis zu einer entsprechenden Lebenswelt (im Unterschied zu den konsummaterialistischen Jugendlichen). So besitzt man auch ein Wissen über diese Szenen und legt
Wert auf die eigene Stilisierung mit Artefakte der Szenen. Der „Ernst des Lebens“ mit Schule
oder Arbeitsplatz ist davon aber wenig betroffen.
Typischerweise verfügen diese Jugendlichen über eine grössere Popmusik- oder MemorabilienSammlung ihres Stils. Dabei ist nicht der Wert sondern die Vollständigkeit wichtig: „ich sammle
alles von...“ Ihre Markenorientierung ist bewusst nicht mainstreamig, sondern alternative Mode,
die das Underdog-Image betont – was nicht heisst, dass diese preisgünstig ist.
Vergemeinschaftung
Hedonistische Jugendliche betonen, dass sie mehrere grössere Freundeskreise haben, die sich
aus unterschiedlichen Leuten zusammensetzen. Freundeskreise formieren sich eher als lockere
„Treff- und Partygemeinschaften“. Das Gefühl der Zugehörigkeit mit verpflichtenden Regeln ist
nicht gross. Gleichzeitig hat man in jedem Kreis ein bis zwei beste Freunde als Ankerpersonen.
Die Atmosphäre unter Freunden sollte locker, unbeschwert und witzig sein – man möchte ohne
Streit und endlose Diskussionen auskommen. Ländliche Jugendliche zieht es in die
Stadtzentren zu den bekannten Treffpunkten. Man will dort etwas erleben. Die Gleichaltrigen
aus der nahen Umgebung empfinden sie oft als zu langweilig und festgefahren. Sie suchen
darum auch selten eine Mitgliedschaft in einem Verein. Man möchte nicht permanent von
Erwachsenen umgeben sein.
Hedonistische Jugendliche selektieren und strukturieren ihren Freundeskreis im Vergleich zu
anderen Milieus am ehesten nach dem eigenen Musikgeschmack.
Engagement
Jugendliche dieses Milieus haben keine Lust, sich sozial zu engagieren und zeigen nur ein sehr
geringes Interesse am politischen Tagesgeschäft. Politiker werden ikonisiert als Feinbild und
Gegenentwurf eines attraktiven Lebens: pragmatisch, niemals entspannt, Macht und
Verantwortung tragend und in Anzüge gezwängt. Aber hedonistische Jugendliche überlassen
naiv anmutend den Politikern dann auch wieder die Sorge um die Zukunft und interessieren
sich nicht.
Passive Unterstützung in Form von Spenden oder Unterschriften können sie sich aber
vorstellen. So kennt man auch NGOs wie Greenpeace oder Amnesty International und schätzt
deren Arbeit. Entscheidendes Moment für das eigene Engagement ist stets der Spassfaktor und
weniger der soziale Gedanke (z.B. Mitarbeit beim Bau einer Skate-Rampe). Politik und Religion
spielen letztlich insbesondere in ästhetischer Form eine identitätsstiftende Rolle, z.B. CheGuevara-T-Shirts oder popkulturelle Texte, die mit religiösen Symbolen durchsetzt sind.
Religion und Kirche
Beides ist für die meisten hedonistischen Jugendlichen unspannend, uninteressant, unsinnig –
zum Teil aus Distanz oder aus emanzipatorischer Sicht gegenüber der Erwachsenenwelt. Vor
diesem Hintergrund wird auch das Thema „Sinnsuche“ zunächst brüsk oder ironisch
zurückgewiesen. Tatsächlich sind sie aber sehr intensiv auf Sinnsuche, nur auf anderen Pfaden
und mit anderen Verkehrsmitteln als Erwachsene.
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Die katholische Kirche wird als Spassbremse und Verbotskirche wahrgenommen und verurteilt,
auch von Jugendlichen, die durch elterliche Erziehung und Religionsunterricht eine Grundlage
mitbringen. Die einzigen sinnlichen Verbindungen zur Kirche geschehen durch Familienfeste
oder zu Weihnachten. Die immer gleichen Abläufe stören, den Jugendlichen fehlt die
Spannung. Ideen, was man ändern könnte, entwickelt man nicht – dazu fehlt die Begeisterung
für Kirche.
Trotz aller Kirchenkritik behält man kirchliche Ereignisse nicht grundsätzlich in schlechter
Erinnerung: Lebensnahe Themen im Firmunterricht (ohne Zeigefinger-Duktus) oder die gute
Party an der Firmung, wo man einen Tag im Mittelpunkt stand. Diejenigen, die bei den
Ministranten waren, äussern, dass sie besonders dann Spass hatten, wenn man mit Freunden
mal „Mist bauen konnte“.
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Moderne Performer
Grundorientierung
Die Performer-Einstellung ist auch bei 25% aller Jugendlichen dominant und prägend. Im
Unterschied zu den Hedonisten reduziert sich die Anzahl Performer nach der Jugendzeit nicht,
sondern bleibt stabil (23% von 20-27 Jährigen). Es ist ein Milieu, das die Milieulandschaft der
Gesamtbevölkerung in Zukunft erheblich prägen wird.
Jugendliche wollen ihre toughen Vorstellungen vom Lebensglück auf eigene Rechnung
verwirklichen und weisen eine stark optimistische Grundhaltung auf. Diese Jugendlichen sind
geprägt von der Internet-Revolution und der Allgegenwart von Informations- und
Kommunikationstechnologien. Die Welt ist offen.
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Schulisch sind Performer sehr ambitioniert. Ihr Auftreten ist selbstsicher, ehrgeizig und
pragmatisch zielorientiert. Sie orientieren sich am Wettbewerb und sind bereit, den eigenen
„Schweinehund zu überwinden“, wenn es nötig ist. Bevorzugte Fächer (nicht Lieblingsfächer) in
der Schule sind Naturwissenschaften, Mathematik und Sprachen, weil man sich hier besser
beweisen kann.
In der Freizeit lieben sie Party, wollen aber keine „Traumtänzer“ oder „Tagträumer“ sein. Die
Abgrenzung gegenüber hedonistischen und traditionellen Jugendlichen ist gross; ebenso das
Gefühl diesen überlegen zu sein.
Sie möchten viele Erfahrungen sammeln und möglichst viel von der Welt sehen und fremde
Kulturen kennen lernen. Sie sind dementsprechend stark nach aussen orientiert und haben ihre
Fühler nach allen Seiten offen.
Trotz der Karriereorientierung ist die Berufsperspektive nicht alles im Leben. Die Verankerung
in Familie und Freundeskreis ist ihnen enorm wichtig. „Nach Hause in die warme Bude“ ist
ebenso wichtig, wie das regelmässige Weggehen.
Lebensstil
Der Lebensstil lässt sich als lustvoll und verantwortungsbewusst bezeichnen. Was in andern
Milieus Widersprüche sind, bringen sie unter einen Hut: Politik und Körperkult, Wirtschaft und
Lifestyle, Ökologie und schnelle Autos. „Geht nicht, gibt's nicht!“ Darin liegt ihr wenig
provozierender Protest gegen die konventionellen Eindeutigkeiten der bürgerlichen
Erwachsenenwelt.
Jugendliche Performer orientieren sich stark am modernen Lifestyle. Sie interessieren sich mit
grosser Leidenschaft für die Welt der Medien-, Musik- und Movie-Szene; sind fasziniert von
neuen Musikvideoclips. Ihre Freizeit gestalten sie gerne mit Events. Sie wollen nichts
verpassen: Ausflüge zum Snowboarden oder Mountainbiken – Rumhängen ist nicht cool. In
Kneipen sollten Billardtische oder Dartscheiben stehen.
Ab dem Alter von 16/17 ist Sport für viele ganz wichtig: Leistung mit dem Ziel der
Grenzerfahrung – natürlich mit dem richtigen ästhetischen Outfit.
Vor allem jugendliche Performer haben eine hohe Technologie- und Medienaffinität („early
Adapter“). Der Media-Markt wird von ihnen häufig und lustvoll durchforstet wie Amazon und
spezifische Websites. MP3-Player sind ebenso lebensnotwendig wie das Handy. Die
technischen Hilfsmittel sind für sie selbstverständliche Fortbewegungs- und
Kommunikationsmittel – ohne sie fühlen sie sich wörtlich „behindert“.
Fernsehschauen und Lesen spielen aus Zeitmangel eine untergeordnete Rolle.
Kulturelle Orientierung
Von allen Milieus haben sie am deutlichsten die Züge von „kulturellen Allesfressern“. Der
Musikgeschmack ist breit gefächert. Man möchte in möglichst vielen gesellschaftlichen
Bereichen auf der Höhe der Zeit sein. „Mitreden können“ ist eine wichtige Maxime, darum
informiert man sich über Titel aus den Bestsellerlisten.
Auch auf Mode legen diese Jugendlichen grossen Wert. Sie verfügen über einen
umfangreichen Kleiderschrank. Der Modegeschmack ist zwar etwas weniger „trashig“ als bei
den Hedonisten, aber immer noch weit von eher konventioneller Mode entfernt. Ihr Stil lässt
sich als typischerweise reduziert, aber nicht förmlich beschreiben.
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Auf eine moderne Zimmer-/Wohnungseinrichtung wird Wert gelegt. Ähnlich wie bei der Mode
steht insbesondere reduziertes Design hoch in der Gunst. Einzelstücke werden förmlich
„ausgestellt“. Auch die Wände sind selektiv dekoriert. Im Gegensatz zu den Experimentalisten
wirkt der Stil der Performer nicht so mutig.
Vergemeinschaftung
Ein gut ausgebautes Netz an Freunden ist immens wichtig. Es umfasst meist mehrere Kreise,
Cliquen, Szenen, Chats und Online-Foren und ist immer im Fluss, nach dem Motto: „Ich kann
auf verschiedenen Hochzeiten gleichzeitig tanzen“. Man gehört nicht ganz zu einer Gruppe,
aber wenn man da ist, dann mit Leib und Seele und voller Energie. Mit Freunden muss man
über alles reden können. Sie sollen offen sein und Neues ausprobieren.
Zu Jugendszenen haben Performer nur bedingt eine Nähe. Sie schätzen aber die aktuellen und
modischen Impulse, die von ihnen ausgehen. Man weiss aber, dass man in so genannten
„widerspenstigen“ Jugendszenen (Punk/Hardcore) kaum Fuss fassen könnte. Zudem sehen sie
jugendkulturelle Rebellion als hohle Geste an.
Engagement
Junge Performer übernehmen gerne repräsentative Aufgaben (z.B. Klassensprecher) sowie
Organisation und Koordination von Projekten. Man will ausprobieren, sich (anderen) beweisen
und Neues gestalten können. Sie sehen sich selbst in Führungspositionen.
Wichtig ist für sie, dass die Dinge nicht mit Prinzipien verkompliziert werden, sondern
pragmatisch laufen. Dazu soll jede/r einen Beitrag leisten. Auch ein gutes Klima in der Gruppe
ist wichtig. Wenn sie etwas anfassen, möchten sie etwas bewegen und die Früchte ihrer Arbeit
ernten.
Religion und Kirche
Die katholische Kirche wird von den Performern besorgt-distanziert wahrgenommen. Einerseits
halten sie es für wichtig, dass es die Kirche gibt, andererseits steht die Kirche derzeit in Gefahr,
den Anschluss an die Menschen der modernen Welt zu verlieren. Jugendliche Performer haben
oft die Grundüberzeugung (und -erfahrung), dass kirchliche Mitarbeitende überhaupt keinen
Zugang zu ihrer Welt finden und diese gar nicht verstehen (können).
Die Organisation mit den Amtsträgern und Ehrenamtlichen ist die notwendige Basisstruktur, die
man braucht. Sie wird lediglich wegen ihrer konservativen Ansichten kritisiert. Der Papst gilt als
starke Führungsperson, der seinen Job bis ins hohe Alter mit Leidenschaft macht. Das
Wichtigste in der Kirche ist für Performer, was sie persönlich mitbekommen: Menschen,
Gemeinschaft, Projekte. Den gesellschaftlichen Nutzen der Kirche sieht man am ehesten im
karitativen Bereich. Sie hat aber keine Kompetenz, was Bedürfnisse und Lifestyle heute betrifft.
Performer möchte durchaus zur Kirche gehören, ohne dass diese Zugehörigkeit eine zentrale
Wichtigkeit hat. („Warum sollte ich mich nicht zur Kirche gehörig fühlen und mich mit ihr
identifizieren können?“). Sie haben auch durchaus einen Zugang zu Gottesdiensten als Events
(Familienfest, Hochzeiten in weiss oder auch mal Sonntags in den Gottesdienst). Man vermisst
aber oft sehnlich den Moment der Überraschung oder wirklichen Inspiration.
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Experimentalistische Jugendliche
Grundorientierung
Experimentalistische Jugendliche haben viel Ähnlichkeit mit Postmateriellen. Häufig sind ihre
Peer Groups/sozialen Kreise/Netzwerke durchmischt. Sie stehen miteinander in
Wechselwirkung und orientieren sich aneinander auf Augenhöhe.
Experimentalistische Jugendliche sind auch oft bis zum Alter von 15/16 Jahren noch nicht klar
konturiert und zum Teil relativ unauffällig. In der späteren Jugendphase setzen sie sich mit ihrer
Lebenshypothese auseinander, dass man im normalen Alltag von einem Schleier umgeben ist,
der den wirklich klaren Blick auf die Welt und das, was in einem liegt, trübt und teilweise
verdeckt. Die Frage ist:: „Wie durchbreche ich diesen Schleier?“
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Das Durchbrechen ist ein tastendes Ausprobieren und Erspüren, was dahinter ist – wie andere
auf Provokation, Stilbruch oder Stilmix reagieren. Schon früh zeigt sich eine Offenheit für
Verschiedenes und das Einreissen von geltenden Differenzen: Profiliert, kantig, markant. Wo
andere jugendliche Milieus bereits eigene Tabus erreicht haben, zeigen diese Jugendlichen
keine Berührungsängste. Ein wichtiger Motor ist die „unerträgliche, endlose Langeweile“, unter
der man leidet und aus der man heraus will. Es ist ihr Wunsch, die Welt ganz zu verstehen und
eine innere Resonanz zu erzeugen. Das Durchbrechen von Regeln und Routinen gibt den
Erlebniskick und hat eine Sogwirkung für sie.
Diese Jugendlichen haben einen Trieb zur Selbstdurchforstung nach dem „Fremden im mir“,
nach noch verborgenen und unheimlichen Facetten der eigenen Persönlichkeit. Dabei
entwickeln sie eine Faszination für das Skurile, Paradoxe und Anstössige. Tabus ziehen sie
magisch an: Was verboten ist, reizt. Es ist weniger die Provokation der Gesellschaft als die
Provokation der eigenen inneren Ordnung, die im Vordergrund steht. Man hat den
Selbstverdacht, dass das eigene Leben äusserlich doch „bürgerlich“ normal und banal ist.
Man will neue eigene Wege gehen; abweichen vom populären Mainstream; Abweichen von der
bisherigen Biografie (auch wenn sie nach aussen hin erfolgreich war). Dabei möchte man stets
den eigenen Erfahrungshorizont erweitern. Drogen und wechselnde Partner gehören für einige
dazu.
Toleranz und (Welt-) Offenheit sind zentrale, gelebte Werte. Dabei gelingt ihnen in der Regel
eine eigene Balance zwischen Pflichten und Exploration zu finden. Es gibt eine grosse
Motivation, viele Sprachen zu lernen um mit Menschen aus allen möglichen Ländern
kommunzieren zu können. Ansonsten ist längerfristige Planung nicht ihre Sache.
Lebensstil
Es gibt eine Neugier für Einzelgänger und selbst eine grosse Tendenz zur sozialen Nische.
Leistungsdruck wird abgelehnt, auch wenn man keine Probleme damit hat, Drucksituationen zu
meistern. Wenn aber Aufgaben Spass machen und man „hinter ihnen steht“, nimmt man sie
ernst und steckt viel Energie hinein.
Man reagiert sensibel auf Einmischung des Elternhauses. Experimentalisten aus traditionellen
Elternhäusern grenzen sich oft demonstrativ vom Lebensstil der Eltern ab. Im Gegensatz zu
den Hedonisten kommt es schon mal zu einem frühzeitigen Auszug von zu Hause.
Jugendliche dieses Milieus sind meist technologiebegeistert und zeigen eine hohe Passion für
Computer und Musiktechnologie. Internetplattformen wie MySpace.com werden gerne genutzt
um Kontakte zu knüpfen.
Kulturelles Kapital
Jugendliche Experimentalisten sind äusserst kultur- und kunstbegeistert (pluralistisch und
grenzüberschreitend). Dabei legen sie Wert auf einen persönlich abgesteckten
Musikgeschmack. Das Interesse an Kunst spiegelt sich auch in den Schulfächern, v.a.
Kreativfächer und Sprachen werden gemocht. Sie lehnen den blossen Konsum von Kultur ab
und möchten selbst kreativ sein: Malen, Fotografieren, Schreiben oder Musizieren.
Sie weisen zwar eine Nähe zu Jugendkulturen und -szenen auf, suchen aber eher selten eine
längerfristige Bindung.
Eine „Ästhetik des Widerspruchs“ steht hoch im Kurs. Während eines Shopping-Samstags grast
man gleichermassen gängige Modeketten und Flohmärkte ab. Dabei beweist man Mut beim
Stilbruch und neuen Kreationen. Man mag den Retro-Touch und das Kultige daran.
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Vergemeinschaftung
Zugehörigkeit zu grösseren Gruppen oder Vereinen suchen Experimentalisten kaum. Auch
feste Cliquen sind eher ungewöhnlich. Sie haben meist lose Freundeskreise. Man sieht sich
selbst als Einzelgänger. Kontakte sind aber wichtig, ohne sich davon abhängig zu machen. Das
Bedürfnis nach Anerkennung und Geborgenheit ist weniger wichtig als in anderen Milieus. Die
Kreativität hat auch im Umgang mit Freunden eine wichtige Rolle: Es wird gemeinsam gemalt,
geschrieben oder musiziert.
Experimentaliste Jugendliche feiern auch gerne ausgelassen und ausgiebig. Das intensive
Erleben von Musik und sich verlieren im Tanz macht für sie das Leben lebenswert. Aber
ernsthafte Diskussionsrunden im eigenen Zimmer im Elternhaus oder in der WG-Küche werden
geschätzt. Bei der Auswahl der Kneipen ist die Musik ein zentrales Selektionskriterium.
Engagement
Sie finden alternative Formen von Engagement in Internetforen oder Theatergruppen. Diese
Jugendlichen lassen sich ungern in bestehende Hierarchien einordnen.
Ein grosses Engagement zeigen sie für „ihr eigenes Ding“ (z.B. Musizieren mit Freunden und
eine eigene Plattenaufnahme). Sie zeigen eine hohe Sympathie für Protestbewegungen,
engagieren sich selber aber eher mental. Politisch bewegen sie sich klar links der Mitte, ohne
eigenes Engagement.
Religion und Kirche
Die befragten katholischen Experimentalisten haben eine gleichgültig-negative Einstellung
gegenüber der Kirche. Diese beruht meist auf Erlebnissen in der eigenen Kindheit, die sie mit
ihrer eigenen Logik und Perspektive verarbeitet haben. Gottesdienste wurden als langweilig und
wenig inspirativ empfunden und ein allfälliger elterlicher Druck hat ihnen sehr missfallen.
Positive Erinnerungen verbinden sie stets mit intensiven sinnlichen Atmosphären (z.B.
Martinsumzug mit Laternen, Kerzenlicht oder Weihrauch an Weihnachten)
Aktuell wirkt ihnen die Kirche zu bedächtig und selbstanklagend: Was jugendlichen
Experimentalisten fehlt, sind Selbstoptimismus und eine ganz andere Ästhetik. Die Botschaft,
dass „Gott schön ist“ und verschiedene Seiten seiner Schönheit in der Welt bereits geschaffen
hat, vermissen sie in der Kirche.
Zudem wird die Kirche mit Zwängen und Geboten in Verbindung gebracht. Da sie ihre Freiheit
gerade entdecken und explorieren, fühlen sie sich nicht ernst genommen und eingeschränkt.
Auch Heirat mit kirchlicher Trauung kommt für viele nicht in Frage. Zwischen den Zeilen lassen
sie erkennen, dass sie an „den Partner fürs Leben“ kaum glauben. Am ehesten haben diese
Jugendlichen einen Bezug zu Taizé oder zu einem Klosteraufenthalt.
Unabhängig von der Kirche beschäftigen sie sich aber stark mit den Themen: Lebenssinn,
Weltanschauung, Existenz, Glauben und Spiritualität. Dabei interessieren grosse Weltreligionen
und untergegangene Kulturen (Maya, Indianer, Kelten, u.ä.). Sie müssen nicht fest (und
verbindlich) an einen Gott glauben, um sich mit ihm zu beschäftigen.