Alter Dialog-Wein in neuen Technik

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Alter Dialog-Wein in neuen Technik
Jan P. de Ruiter
Kommunikation im 21. Jahrhundert:
Alter Dialog-Wein in neuen Technik-Schläuchen
1. Einleitung
In der industriellen Revolution hat sich die Kommunikationstechnologie rasant
entwickelt, und damit ermöglicht, schneller, efzienter und billiger Daten zwischen immer weiter auseinander liegenden Orten auszutauschen. Diese Fähigkeit
(von Ingenieuren auch oft Telekommunikation genannt) macht es Menschen möglich, Informationen unabhängig von ihrer Modalität (z. B. als Bilder, Texte, Video, Ton) schnell und über große Distanzen hinweg zu transportieren. Das an sich
bedeutet aber noch nicht, dass sich dadurch die Kommunikation zwischen Menschen wesentlich geändert hat. Zum Beispiel hat, um einen Vergleich zu ziehen,
die Entwicklung des Schienenverkehrs von der Dampokomotive bis zum ICE das
Bahnfahren zwar schneller gemacht, es aber nicht wesentlich geändert. Die Frage,
die ich in diesem Aufsatz versuche zu beantworten, ist, ob und inwiefern Menschen durch die Entwicklung der Kommunikationstechnologie nicht nur häuger,
sondern auch anders miteinander kommunizieren. Bevor wir auf diese Frage genauer eingehen, müssen wir jedoch zunächst einige Begrifichkeiten klären: Was
ist Kommunikation, und was ist Kommunikationstechnologie?
Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur mehrere, unterschiedliche Denitionen von VKommunikationW. Eine in der Technik gängige, aber für das Beschreiben
der Mensch-Mensch-Kommunikation ungeeignete, Denition beschäftigt sich mit
dem Transportieren (eigentlich Kopieren) von Symbolen zwischen zwei Orten.
Dieser Prozess ist zum ersten Mal von Claude Shannon 1948 mathematisch modelliert worden (Shannon 1948). In seiner Theorie geht es darum, eine Botschaft
mittels eines Mediums (z. B. eines Kabels) von A nach B zu transportieren, und
dafür zu sorgen, den Einuss von Rauschen mit Hilfe von strategisch eingesetzter
Redundanz so weit wie möglich zu minimieren (s. Abb. 1).
So elegant, intuitiv, und einleuchtend dieses Modell auch auf den ersten Blick
erscheint, in der Dialogforschung wird allgemein angenommen, dass es nicht für
das Modellieren von menschlicher Kommunikation geeignet ist. Eines der Hauptprobleme bei der Anwendung des Shannon-Modells auf die menschliche Kommunikation liegt darin: Bei Shannons Modell wird angenommen, dass die Funktion
für das Dekodieren eines Berichtes die umgekehrte Funktion der Funktion für das
Enkodieren ist. Dies impliziert unter anderem, dass die Abbildung von VBerichtW
auf VSignalW bijektiv ist: Für jeden Bericht gibt es ein bestimmtes Signal, und jedes
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Signal kann einem bestimmten Bericht zugeordnet werden. In der menschlichen
Kommunikation gibt es aber eine willkürliche _ und eben keine bijektive _ Zuordnung von Signalen (z. B. sprachlichen Äußerungen) und kommunikativen Intentio-
Abb. 1: Shannons berühmtes Diagramm.
nen. Um dies zu illustrieren: Ich kann auf viele unterschiedliche Arten zwei Gläser
Bier bestellen. Ich kann zum Beispiel sagen »Zwei Bier bitte«, oder ich kann sagen
»Noch zwei«, oder ich kann meinen Zeigenger und meinen Mittelnger gleichzeitig hochheben um meinen Bierwunsch mit einer Geste zu äußern. Und wenn ich
in Köln mit einem Freund in einem Bierhaus sitze, und wir haben beide ein leeres
Bierglas vor uns, dann ist alles, was ich tun muss, den Wirt nicht zu stoppen, wenn
er im Begriff ist, uns zwei volle Gläser hinzustellen. Wenn ich aber eines dieser
Signale, z. B. die Äußerung »Noch zwei« als Antwort auf die Frage »Wie viele
Jahre musst Du noch warten, bevor Du die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen
darfst?« verwende, dann bedeutet dasselbe Signal etwas völlig anderes.
Diese inhärente VEntkopplungW von kommunikativer Intention und Signal, die
_ soweit uns bis jetzt bekannt ist _ für unseres Spezies einzigartig ist, macht unsere
Kommunikation einerseits sehr exibel (wir können zum Beispiel auch mit anderen kommunizieren, wenn wir deren Sprache nicht mächtig sind), andererseits auch
wesentlich komplexer als das technische Problem, mit dem Shannon und seine
Nachfolger sich beschäftigt haben.
Insofern war es sicherlich auch kein Zufall, dass für Alan Turing der Lackmustest für künstliche Intelligenz das Führen eines normalen Dialogs (im Sinne
von small talk) mit Computern ist, ohne dass wir bemerken, dass das Gegenüber
künstlich ist. Beim Schachspielen gegen den Computer sind wir Menschen mittlerweile chancenlos, aber der Turing-Test ist auch mehr als 60 Jahre nach seiner
Formulierung noch nicht annähernd von einem Computer bestanden worden. Wie
der neueste Stand der Technik uns auch zeigt (z. B. das SIRI-System auf dem iPhone 5), ist das Erkennen von Wörtern nicht mehr das größte Problem. Das ist es im
Turing-Test ohnehin nicht, da es in diesem Test erlaubt ist, über ein Terminal zu
kommunizieren. Aber das Verstehen der Intention, die das produzierte Signal mo14
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tiviert hat, ist in artiziellen Systemen noch immer kaum, und wenn, dann nur sehr
beschränkt möglich.
Um die Shannonsche Kommunikation und die menschliche, interpersonale
Kommunikation auseinander zu halten, werde ich im Folgenden für das Transportieren von Datenpaketen den Begriff VTelekommunikationW benutzen, und für die
interpersonale menschliche Kommunikation den Begriff VKommunikationW. Damit
können wir dann die Frage, die ich eingangs stellte, und mit der ich mich in diesen
Aufsatz auseinandersetzen werde, genauer stellen: Welchen Einuss hat die rasant
verbesserte Telekommunikationstechnologie auf unsere Kommunikation?
2. Die These
Ich werde hier argumentieren,
a) dass es nicht die Telekommunikationstechnologie, sondern die Erndung der
Schriftsprache ist, die die Art, in der wir kommunizieren, weitgehend beeinusst hat, und
b) dass die fortschreitende Entwicklung der Telekommunikation vor allem dazu
gedient hat (und noch immer dient), unsere Kommunikation _ ob schriftlich
oder mündlich _ wieder unserer ursprünglichen, prä-technologischen Kommunikation anzugleichen.
Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst auf das Phänomen des menschlichen Dialogs eingehen. Darin werde ich beschreiben, was die VUrformW der menschlichen
Kommunikation ist. Anschließend werde ich anhand von illustrativen Beispielen
aus der Geschichte der Telekommunikation argumentieren, dass die fortgeschrittene Telekommunikationstechnologie vor allem dazu benutzt wird, sich unter Erhalt
der Vorteile der schriftlichen Kommunikation wieder stärker dieser Urform anzunähern.
3. Die Urform der Menschlichen Kommunikation: die informelle Konversation von Angesicht zu Angesicht
Wir Menschen tauschen oft Informationen in den unterschiedlichsten Situationen
aus: auf dem Fußballplatz, in der Kneipe, in Unterrichtssituationen, vor Gericht,
usw. Von Dialogforschern wird jedoch allgemein angenommen, dass die Urform
des Dialogs, die Form, die alle Kulturen miteinander teilen und die auch in unserer prä-technologischen Vergangenheit schon immer existiert hat, die informelle
Konversation ist, die von Angesicht zu Angesicht stattndet. Mit VinformellW ist
gemeint, dass es keinerlei feste Regularien darüber gibt, wer wann was sagt, wie
dies z. B. bei quotierten Rednerlisten in politischen Versammlungen oder in einer
Liturgie der Fall ist. Die Idee ist, dass _ obwohl es in unterschiedlichen Situationen
und Kulturen viele Arten der regulierten Kommunikation gibt _das informelle Mit15
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einanderreden etwas ist, was wir alle tun und was wir auch schon immer gemacht
haben, und dass die Art, in der wir es tun, überdies über alle Kulturen hinweg in
bestimmten Hinsichten gleich ist (Stivers u. a. 2009). VVon Angesicht zu AngesichtW
bedeutet, dass die interagierenden Teilnehmer sich in unmittelbarer räumlicher
Nähe zueinander benden.
Die informelle Konversation wird daher auch als die evolutionary niche gesehen, als der VprototypischeW Kontext gesprochener Sprache. Nicht zufällig gibt es
in vielen (wenn nicht gar in allen) Sprachen mehrere Verben für solch informelle Unterhaltungen. Im Deutschen sind dies z. B. schnacken, schwatzen, plaudern,
quatschen, klönen, etc., im Niederländischen beppen, kletsen, bomen, ouwenelen,
babbelen, und im Englischen shooting the shit/breeze (amerikanisches Englisch),
to chat, to yack, oder auch to jabber.
Diese Urform, der informelle Dialog, hat einige bemerkenswerte Eigenschaften. Viele davon erscheinen auf den ersten Blick vielleicht trivial, aber ich hoffe,
die Leser davon überzeugen zu können, dass dies nur der Tatsache geschuldet ist,
dass uns diese Kommunikationsform so vertraut ist. Ich werde die wichtigsten Eigenschaften hier kurz zusammenfassen.
Sprachlichkeit. Der wichtigste Kanal der menschlichen interpersonalen Kommunikation ist, mit Abstand, die Sprache. Zwar wird seit den 1970er Jahren oft in
Zeitungen und in Cocktailparty-Gesprächen suggeriert, dass die sogenannte nonverbale Kommunikation (VKörperspracheW) für den Großteil der Kommunikation
verantwortlich sei; es wird sogar mitunter behauptet, dass mehr als neunzig Prozent der Kommunikation nonverbal seien. Doch diese Sichtweise ist schlichtweg
falsch. Die Entstehung dieses Mythosm ist Forschern anzulasten, die diese These
mit mangelhafter Methodologie zu unterstützen versucht haben. Als Beispiel sei
hier die Studie von Archer und Akert (1977) genannt, in der Versuchspersonen
Videofragmente von unterschiedlichen Interaktionen gezeigt wurden. Die Versuchspersonen mussten anschließend Multiple-Choice-Fragen zu den beobachteten Interaktionen beantworten. Ein solches Videofragment war zum Beispiel ein
Gespräch zwischen zwei Männern, die gerade ein Basketball-Spiel gespielt hatten.
Eine Frage war dann, welcher Mann das Spiel gewonnen hatte. Es stellte sich heraus, dass jene Versuchspersonen, die nur das Transkript des Gesprochenen gelesen
hatten, diese Frage nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit korrekt beantworteten
als wenn sie einfach nur geraten hätten. Jene Versuchspersonen hingegen, die das
Video (mit Ton) gesehen hatten, waren viel besser. Ein Problem bei diesem Experiment war aber, dass Archer und Akert die Fragmente, in denen die richtige Antwort verbalisiert wurde (z. B. »Ich habe gewonnen«) ausgeschlossen hatten. In den
Worten der Autoren: »Since we did not want a simple test of audition, we avoided
explicit mentions of the correct answer« (S. 446). Darüber hinaus wurde in der
Studie Sprache einerseits mit Sprache + paraverbaler Information und andererseits
mit Sprache + Bild verglichen. Unter diesen Umständen ist es also nicht sonderlich
überraschend, dass die Versuchspersonen, die viel mehr Informationen hatten, auch
die Fragen besser beantworten konnten. Wenn man ein solches Experiment durchführen möchte, muss man selbstverständlich auch die Bedingungen Vnur BildW und
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Vnur TonW mit in den Untersuchungsaufbau aufnehmen. Der Sozialpsychologe und
Psycholinguist Robert Krauss und seine Kollegen (Krauss/Apple/Morency/Wenzel/Winton 1981) haben genau dies getan, und konnten deutlich zeigen, dass der
sprachliche Inhalt (in der Form von Transkripten) nicht nur für die Erfassung der
kommunikativen Inhalte, sondern sogar für die korrekte Einschätzung der emotionalen Qualität einer Konversation unentbehrlich ist, und viel mehr Informationen
übermittelt als die visuelle Modalität (z. B. Gesichtsausdruck, Körpersprache) oder
die paraverbale Modalität (z. B. Intonation, Stimmqualität).
Multimodalität. Nichtsdestotrotz spielt Multimodalität in der menschlichen
Kommunikation eine wichtige Rolle. Durch begleitende nonverbale (Gestik, Gesichtsausdruck, Kopfgesten oder Kopfneigungen) und paraverbale (Intonation,
Stimmqualität) Signale können sprachliche Äußerungen VkommentiertW, VevaluiertW, oder allgemein erweitert werden.
Sequentialität. Teilnehmer wechseln sich in einer Konversation nicht nur gegenseitig ab, sie bauen ihre Äußerungen auch auf die vorherige(n) Äußerung(en)
des Gegenübers und die ihrer selbst auf. Dies ist interessant, da es keine grundsätzlichen formellen oder biologischen Gründe gibt, warum wir nicht gleichzeitig in
beide Richtungen miteinander Informationen austauschen könnten. Die Annahme
der Sequentialität _ anders formuliert, die Annahme, dass die Teilnehmer einer
Konversation abwechselnd Sprecher- und Hörerrollen annehmen, aber selten, und
wenn, dann nur kurzzeitig, gleichzeitig Hörer und Sprecher sind _ ist durch die
sehr einussreiche Publikation von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) in der
Zeitschrift Language bekannt geworden. Diese Autoren haben auf der Basis ausführlicher Analysen authentischer (meist heimlich aufgenommener) Telefonate die
Regeln des Turn taking formuliert. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass sowohl
überlappende Sprache als auch Pausen zwischen Beiträgen (turns) von Gesprächsteilnehmern möglichst vermieden werden. Es nden sich gelegentlich Behauptungen, dass diese zwei zentralen Annahmen a) falsch oder b) nicht allgemein gültig
seien. Zu a) Die Annahme sei falsch, weil wir uns doch ab und zu entweder gegenseitig ins Wort fallen (d. h., die Sprache überlappt) oder eine Weile nachdenken
müssen, bevor wir auf eine Äußerung reagieren (d. h., Sprechpausen entstehen).
Das ist beides wahr, aber es lässt sich anhand von Konversationstranskripten deutlich zeigen, dass sowohl überlappende Sprache als auch Pausen zwischen Beiträgen entweder offen thematisiert (»Bist Du noch da?«, »Lass mich ausreden!«) oder
innerhalb von etwa einer Sekunde »gelöst« werden. Zu b) Nicht allgemein gültig
seien diese Aussagen, weil es diese oder jene Kultur gebe, in der Gesprächspartner
angeblich die ganze Zeit gleichzeitig redeten. Wenn diese Aussagen aber gründlich
empirisch überprüft werden, hat sich bisher aber immer noch herausgestellt, dass
dem nicht so ist (Schegloff 2000).
Lückenlosigkeit. Die Zeit zwischen dem Ende von Äußerung A (des jetzigen
Sprechers) und dem Anfang von Äußerung B (des nächsten Sprechers) ist in der
Regel sehr kurz, meistens variierend von maximal einer halben Sekunde überlappender Sprache bis zu einer halben Sekunde Pause zwischen den aufeinanderfolgenden Äußerungen (De Ruiter/Mitterer/Eneld 2006).
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Unmittelbarkeit. Während eine Äußerung sich entfaltet, kann der Zuhörer schon
evaluativ reagieren, entweder mit kurzen verbalen Signalen (»mh-mh«, »ja«) oder
durch nonverbale Signale wie Kopfnicken oder Mimik (Schegloff 1982; Yngve
1970). Diese Signale werden entweder mit der Intention geäußert, den Sprecher
aufzufordern, weiter zu sprechen (Schegloff 1982 nennt Signale wie »mh-mh« daher auch continuers) oder empathische oder evaluative Rückmeldungen zu geben.
Diese Signale sind keine VUnterbrechungenW und werden auch nicht als Vins Wort
fallenW wahrgenommen, sondern stellen vielmehr eine Art VDauerkommentarW zu
den Redebeiträgen des Gegenübers dar.
Wie tief diese Eigenschaften der informellen Kommunikation in unserem
Denken verwurzelt sind, wird beispielsweise dann deutlich, wenn man ScienceFiction-Filme sieht, in denen zwischen oder mit Außerirdischen oder hochintelligenten Maschinen kommuniziert wird. Auch, wenn man mit der bekannten willing
suspension of disbelief akzeptiert, dass die Außerirdischen Hochdeutsch sprechen
und dass die Maschinen uns problemlos verstehen können, fällt auf, dass man sich
in dieser Kommunikation sehr eng an die obengenannten Prinzipien hält. Wenn
beispielsweise in dem Film Unheimliche Begegnung der dritten Art endlich
mithilfe einer elektronischen Orgel Kontakt mit den Außerirdischen aufgenommen
wird, halten sich sowohl der Orgelspieler als auch die Außerirdischen brav an die
Regeln des (menschlichen) Turn-Takings, und es entsteht eine Art musikalischen
VDialogsW, der genau die obengenannten Eigenschaften VsequentiellW und VlückenlosW zeigt. Weder spielen die Außerirdischen ihre Töne parallel zu denen des Orgelspielers ab, noch warten sie einen Monat, bis sie antworten. In vergleichbarer Weise
sagt Captain Picard in Star Trek – die nächste Generation, wenn er den Bordcomputer anspricht, zuerst »Computer?«, woraufhin der Computer einen kurzen
Piepton produziert, um anzudeuten, dass er für einen Dialog bereit ist. Und auch
dieser Dialog entfaltet sich dann wieder genau wie ein typischer Mensch-MenschDialog. Diese Beispiele zeigen, dass wir bei Interaktionen unwillkürlich erwarten,
dass sie der Urform der informellen Angesicht-zu-Angesicht-(nachfolgend AzA
genannt) Konversationen entsprechen. Eine entscheidende Einschränkung der Urform ist damit, dass sie nur stattnden kann, wenn sich die Gesprächspartner in
räumlicher Nähe zueinander benden.1
4. Die Technik und ihre Versuche, die räumliche Einschränkung
der Kommunikation zu überwinden
Die Telekommunikation hat uns auf zwei unterschiedlichen Arten geholfen, die
Beschränkungen der Kommunikation-ohne-räumliche-Nähe zu überwinden. Dies
geschah einerseits durch die Entwicklung und Perfektionierung des Telefons, und
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Eine Beobachtung, die auch Herbert Clark in seinem vielzitierten Buch über sprachliche Kommunikation nicht entgangen ist (Clark 1996, S. 10).
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andererseits durch das Verkürzen der Zeit, die zwischen Senden und Empfangen
schriftlicher Nachrichten verstreicht.
Im Nachfolgenden werde ich einige wichtige Entwicklungsschritte in der Geschichte der schriftlichen und mündlichen Telekommunikation darlegen, die meine
These unterstützen2.
4.1. Methode 1: die Schriftsprache
Obwohl auch schon etwa zehntausend Jahre alte bildliche Tonstücke (clay tokens)
gefunden worden sind, geht man davon aus, dass die älteste Schriften, die mit unserer heutigen symbolischen Schrift vergleichbar sind, aus einer Zeit von etwa
3500 v. Chr. stammen (Crystal 2010).
Da eine aufgeschrieben Botschaft im Gegensatz zu einer lautsprachlichen Äußerung nicht direkt vergeht, kann man schriftliche Nachrichten über große Distanzen transportieren. Auch Zeit stellt keine Begrenzung für die Rezeption einer
geschriebenen Botschaft dar. Das, was man heute schreibt, kann auch Hunderte
von Jahren später noch gelesen werden. Was im Kontext dieses Aufsatzes aber
noch wichtiger ist, ist, dass die Schriftsprache deshalb VgeduldigW ist: Für das Verschicken einer Nachricht ist es, anders als bei der AzA-Kommunikation, nicht notwendig, dass der Empfänger im Moment des Sendens seine Aufmerksamkeit der
Nachricht widmet. Er oder sie kann die Nachricht auch noch später lesen und ggf.
beantworten. Das macht schriftliche Kommunikation wesentlich exibler als AzAKommunikation.
Doch die schriftliche Kommunikation hat auch Nachteile, vor allem aus der
Perspektive der oben beschriebenen Urform der Kommunikation. Die Merkmale
VSprachlichkeitW und VSequentialitätW sind noch garantiert. Schriftliche Kommunikation ist aber bestimmt nicht VlückenlosW und VunmittelbarW. Sie ist nicht lückenlos, weil verglichen mit dem gesprochenen Dialog viel mehr Zeit zwischen
dem Moment verstreicht, in dem ein Sender eine Botschaft an einen Empfänger
versendet, und dem Moment, in dem der Empfänger diese Botschaft bekommt und
darauf reagieren kann. Und sie ist nicht unmittelbar, weil man nicht in der Lage ist,
während eine Person einen Brief schreibt, schon Signale zu produzieren, die das
Geschriebene bewerten.
Die Zeit, die es kostet, um einen (physischen) Brief zuzustellen, konnte aber
dank rasanter Fortschritte in der Technologie immer weiter verkürzt werden. Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts dauerte es z. B. oft etwa zwei Jahre, bevor Post aus
England in Indien ankam. 1838 gab es dann eine neue, sogenannte VSchnellpostW
von einem Mr. Waghorn, der versprach, die Post von England nach Indien innerhalb von 90 Tagen auszuliefern (Brinton 1968). In den 1860er Jahren gab es für
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Sofern nicht anders angegeben, beziehe ich mich in meiner Darstellung der historischen Fakten der Telekommunikation auf das Standardwerk The Worldwide History of Telecommunications von Anton Huurdeman (2003).
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die Briefpost in Amerika den Pony Express, mit dem man in etwa zehn Tagen
einen Brief transkontinental, also von der Ostküste zur Westküste und umgekehrt
schicken konnte (»Pony Express debuts« o. D.). In den 1920er- und 1930er Jahren
gab es eine Zeppelinverbindung über den Atlantik, die die transatlantische Post in
etwa fünf bis acht Tagen zustellen konnte (Grossman o. D.). Der transatlantische
Zeppelin-Service wurde freilich bekanntermaßen 1937 wegen der Hindenburg-Katastrophe eingestellt. Schneller als der Zeppelin waren die transatlantischen Flugzeugverbindungen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in ein bis zwei Tagen einen
Brief überbringen konnten. Im Dezember 1933 stellte das KLM-Flugzeug De Pelikaan, eine Fokker F-18, einen neuen Rekord auf: Es hatte innerhalb von vier Tagen
die Weihnachtspost aus den Niederlanden nach Batavia (jetzt Indonesien) transportiert (Van Weezepoel o. D.). Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zunehmend mehr
kommerzielle Fluglinien zwischen den Kontinenten, und seitdem auch Düsenjetugzeuge kommerziell eingesetzt werden können, ist es in der Regel möglich, ein
Postpaket in etwa einem Tag an jeden Ort der Welt (sofern dieser Ort nicht allzu
weit von einem Flughafen entfernt ist) zu bringen.
4.2. Methode 2: Die Telefonie
Die zweite Methode, mit der die Einschränkung, dass man für das Kommunizieren
in der Nähe seines Kommunikationspartners sein muss, überwunden wird, ist die
Telefonie, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts rasch in der westlichen Welt
verbreitet hat. Telefonate erlauben uns, unsere beliebte Urform der Kommunikation auch ohne räumliche Nähe zu betreiben. Das funktioniert so gut, dass man
behaupten kann (und ich werde das hier auch behaupten), dass das Telefon die erste
virtuelle Realität darstellt. Die Illusion von Nähe, die bei einem Telefonat entsteht,
ist so stark, dass Menschen gestikulieren, und Japaner sich sogar vor dem virtuellen Gegenüber verbeugen, auch wenn die Gesprächspartner sehr wohl wissen, dass
der Andere sie nicht sehen kann.
Obwohl oft behauptet wird, dass das Telefon eigentlich von dem deutschen
Forscher Philipp Reiss erfunden wurde, war es das 1876 von Alexander Graham
Bell eingereichte Patent, welches nach einem heftigen Rechtsstreit als gültig anerkannt wurde, und somit wird Bell meistens als Ernder des Telefons gefeiert.
Die interessante historische Fußnote zu diesem Ereignis ist, dass in dem Patentantrag von Bell lediglich eine Methode zur Verbesserung der Telegrae beschrieben wird, und die Wörter »Telefon« und »Sprache« (speech) in dem Antrag gar
nicht vorkommen. Nur am Ende des Antrags wird die theoretische Möglichkeit,
»transmitting vocal or other sounds telegraphically« genannt. Das ist vor allem
merkwürdig, da am selben Tag auch noch ein Vorantrag (caveat) für ein auf Reissm
Erndung basierendes Gerät, das explizit für die Transmission der menschlichen
Stimme gedacht war, eingereicht wurde (Huurdeman 2003, Sektion 10.2). 1877
ng die Firma Siemens an, Telefongeräte zu produzieren, und am Ende des 19.
Jahrhunderts hatten die meisten Bewohner der Großstädte der industrialisierten
Welt die Möglichkeit zu telefonieren. Die erste internationale Telefonverbindung
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wurde zwischen Basel und St. Louis (Elsass) hergestellt, das erste transatlantische
Telefonat fand 1927 zwischen New York und London statt. In den Archiven der
Zeitung The Guardian habe ich das zur Meldung der geglückten transatlantischen
Verbindung gehörige originale Editorial gefunden, und auch in diesem nden sich
wiederum unterstützende Hinweise für die These, dass informelle Konversation
die Urform der menschlichen Kommunikation ist:
For the records of yesterdayUs experiment show that the conversationalists, quite unawed by the
marvel in which they were taking part, fell back as we all do on the weather, which was quite bad
enough on the other side to make a strong bond of sympathy. Indeed, a more pleasantly futile
dialogue could hardly have taken place over a suburban party-wall in Dulwich or Chorlton-cumHardy than that which so astonishingly bridged the ocean. Only one unusual item of small talk
broke its commonplace ow, and we may take it that in trans-oceanic gossiping »WhatUs the time
with you?« has come to stay as an addition to the little sociable openings which make smooth the
track of converse. (»Long-distance small talk across the Atlantic« 1926)
Diese Beschreibung ist nicht nur amüsant, sie verdeutlicht vor allem, dass Telekommunikationstechnologie tatsächlich benutzt wird, um die Urform der Kommunikation wieder zu ermöglichen. Sie zeigt, dass sobald Menschen das Gefühl
haben, dass die genannten Bedingungen von Sprachlichkeit, Sequentialität, Lückenlosigkeit und Unmittelbarkeit erfüllt sind, und sie sich folglich in einer immersiven und sozialen virtuellen Realität benden, dies dann direkt und ununterdrückbar unsere Urform-Kommunikation in Gang setzt.
Wenn man sich dies vor Augen hält, ist es eigentlich erstaunlich, dass das Bildtelefon, obwohl technisch durchaus realisierbar, nicht ein ebenso großer Erfolg
geworden ist wie das normale (Audio-)Telefon. Anfang des 20. Jahrhunderts teilten
viele die Annahme, dass die Zukunft der Telekommunikation selbstverständlich
in der Bildübertragung liegt (siehe Edwards o. D.). Doch sogar jetzt, da die Benutzer von Geräten wie dem Apple iPhone 5 die Möglichkeit haben, bildlich über
ihr Handy zu kommunizieren, scheint das Bedürfnis hiernach eher gering zu sein.
Damit stützt diese Alltagsbeobachtung Forschungsergebnisse aus den letzten 35
Jahren der Konversationsanalyse, die deutlich zeigen, dass beim Kommunizieren
mit gesprochener Sprache das Fehlen der visuellen Information nicht wesentlich
stört (siehe Sacks/Schegloff/Jefferson 1974).
5. Die digitale Telekommunikation
Im 19. Jahrhundert wurde _ in starker Konkurrenz zu unter anderem der Briefpostkommunikation _ die »digitale«, auf Zeichenübertragung basierte Telekommunikation entwickelt. Besonders und neu an dieser Form der Telekommunikation
sind zwei Eigenschaften: Erstens wird mit Telekommunikation der Bericht (z. B.
ein Brief) nicht selbst transportiert, sondern werden auf der Seite des Empfängers
Kopien des Berichts erschaffen. Mit anderen Worten: Nicht der Bericht selbst, sondern die darin enthaltene Information wird gesendet (eigentlich kopiert). Zweitens
wird diese Information nicht mittels Gegenständen transportiert, sondern mithilfe
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von physikalischen Trägerwellen (carrier waves) realisiert, wie Licht, Ton, oder
Elektrizität. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Telekommunikation gegenüber
der Briefpost einen erheblichen Geschwindigkeitsvorteil besitzt.
Die älteste Form der Telekommunikation in der industrialisierten Welt ist der
sogenannte optische Telegraf, demonstriert von dem Franzosen Claude Chappe im
Jahr 1794. Dieses Ereignis wird allgemein als der Anfang der Telekommunikation gesehen. Optische Telegrae funktioniert mit Türmen, auf denen schwenkbare
Signalarme montiert waren, mit denen schriftliche Symbole repräsentiert werden
konnten. Der VSenderturmW stellte die Signalarme so ein, dass sie ein bestimmtes
Symbol darstellten. Auf dem VEmpfängerturmW wurde dann mithilfe eines optischen Teleskops dieses Symbol erkannt, und schließlich die eigenen Signalarme
genau so eingestellt wie die des Senderturms. Das Kopieren des empfangenen Signals hatte zwei Funktionen: Zum einen wurde damit dem Senderturm signalisiert,
dass das Symbol erfolgreich ermittelt war, zum anderen ermöglichte dies, dass
weitere Türme das Symbol auch erkennen und weitergeben konnten. Das System
der optischen Telegrae ist im 19. Jahrhundert weiterentwickelt worden und war
vor allem in Frankreich sehr weit verbreitet, bis es von der elektrischen Telegrae
verdrängt wurde.
Obwohl die Idee schon 1753 entstand, wurde die elektrische Telegrae wegen
technischer Probleme erst im Jahr 1850 von Napoleon eingeführt3. 1837 wurde
der Telegraf sowohl in England als auch in Amerika demonstriert und weitgehend
eingeführt, in Deutschland hingegen erst 1843. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Telegrae auch für ein größeres Publikum zugänglich.
In den 1920ern wurde eine Variante des Telegrafen, der so genannte Teleprinter
eingeführt. Dabei handelte es sich um eine Art aus der Ferne bedienbare Schreibmaschine, die später (1962) Telex genannt wurde. Diese Technologie wurde hauptsächlich von Firmen benutzt und war für das Publikum normalerweise nicht zugänglich.
5.1. Die Entwicklung des Internets
In den 1970er Jahren war das in den USA für militärische Zwecke entwickelte ARPANET ein Quantensprung in der Telekommunikationstechnologie. Die Kernidee
des ARPANET, dem Vorläufer des heutigen Internets, war die des packet switching.
Statt eine starre Verbindung zwischen zwei Orten herzustellen und dann Daten (ob
nun Morse-Signale oder die Stimme) auszutauschen, erlaubte die Technologie des
Packet-Switchings, eine bestimmte Menge an (digitalen) Daten mit einer Adresse
zu versehen. Jeder Computer im Netz, der solch ein Paket empng, konnte es dann
aufgrund dieser Zieladresse automatisch weiterleiten, bis es letztendlich bei der
Zieladresse ankam. Die zuvor erwähnte Wartezeit für schriftliche Kommunikation
3
Ein deutscher Anatom namens Von Soemmering hatte schon 1809 in München einen Vorläufer
der elektrischen Telegrae demonstriert, Napoleon hatte diesen aber noch als Veine germanische IdeeW abgelehnt.
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Kommunikation im 21. Jh.: Alter Dialog-Wein in neuen Technik-Schläuchen
wurde so dramatisch verkürzt, als elektronische Post (E-Mail) in den 1970ern erschien. E-Mail ermöglichte es zum ersten Mal, die Zeit zwischen Senden und Empfangen in den Minutenbereich zurück zu bringen. Es war also möglich, einen Brief
zu schreiben, der viel schneller ankam als mit der VnormalenW Post (die, dermaßen
in den Schatten gestellt, den eher unrühmlichen Namen snail mail erhielt). Man
brauchte nur einen Computer und eine Telefonverbindung. Diese Entwicklung hat
die elektronische Kommunikation sozusagen ins Wohnzimmer gebracht.
Zudem machte man sich seit den 1950er Jahren in stets größerem Maße die Tatsache zu Nutze, dass man jede beliebige Art von Information digital, d. h., mit Hilfe von
Sequenzen aus den Zahlen 0 und 1, repräsentieren und damit auch versenden konnte.
Ob Bild, Ton, Zahlen oder Text, Informationen jeder Modalität können mit den entsprechenden Kodier- und Dekodierverfahren kommuniziert werden, eine Entwicklung, zu der auch Shannon wiederum einen maßgeblichen Beitrag geleistet hatte.
Diese beiden Ideen, die des packet switching und die der Modalitätsunabhängigkeit durch digitale Repräsentation, waren die Ecksteine des späteren World
Wide Web und erlaubten es dieser neuen Medientechnologie, sich zu dem entwickeln, was sie heute de facto ist: unser primäres Kommunikationsmedium.
5.2. Chat – die Urform der Kommunikation jetzt auch schriftlich
Kaum war das Internet zu einem VVolksmediumW avanciert, dauerte es nicht mehr
lange, bis weitere neue, das Internet nutzende Kommunikationstechnologien entstanden4.
Eine der interessantesten Technologien aus der Perspektive dieses Aufsatzes ist
der Chat, der es Menschen erlaubt, schriftliche Botschaften so schnell auszutauschen, dass man (fast) wieder VechteW Dialoge führen kann.
Das Bemerkenswerte am Chatting ist, dass man mit ihm einige der Kerneigenschaften der informellen Kommunikation zumindest teilweise wieder zurück
gewonnen hat. Die Sequentialität ist, wie bei informeller Konversation auch, wieder deutlich vorhanden, und es wird beim Chat erwartet (anders als bei E-Mail),
dass man direkt auf die Äußerungen des Gegenübers reagiert (nachdem diese angezeigt wurden). Natürlich können die meisten Menschen nicht so schnell tippen
wie sie sprechen können, aber die beiden Voraussetzungen der Sequentialität und
Lückenlosigkeit sind wieder in ausreichendem Maße garantiert. Was noch zu fehlen scheint, sind die Unmittelbarkeit und die Multimodalität.
4
Aus Platzgründen werde ich hier nicht auf moderne Medien wie Twitter eingehen können.
Twitter ist ein Beispiel für ein sogenanntes broadcast-Modell, bei dem eine Person eine Nachricht gleichzeitig an eine größere Menge (teilweise unbekannter) Empfänger schicken kann.
Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass diese Form der Kommunikation eigentlich mit dem
Schreiben eines Beitrags in einer Zeitung vergleichbar ist und somit keine direkte Kommunikationsform darstellt. Interessanterweise sind sogar bei dieser Methode kompensatorische
Mechanismen entwickelt worden, wie z. B. die @empfänger-Konvention, mit der man andeutet, dass eine bestimmte Mitteilung nur für empfänger intendiert ist.
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In Bezug auf die Multimodalität fehlt vor allem die Möglichkeit, durch Gesichtsausdrücke, und Stimmqualität die eigene Äußerung zu VkommentierenW. In
AzA-Kommunikation kann man mit einem gezielten Lächeln, oder mit einer bestimmten Intonation oder Stimmqualität signalisieren, dass eine Äußerung ironisch
oder scherzhaft intendiert ist. Dies wird in E-Mail und Chat teilweise kompensiert
durch die Benutzung von sogenannten Emoticons. Vor allem im Chat gibt es heutzutage sehr viele von diesen Emoticons und Kürzeln, die das Fehlen der Mimik
und anderer paraverbaler Signale großenteils kompensieren können. Im Gegensatz zu der von Ekman, Sorenson und Friesen entdeckten Universalität der Verbindung zwischen Emotionen und Gesichtsausdrücken (Ekman/Sorenson/Friesen
1969) zeigen diese Emoticons eine reiche Vielfalt an kultureller Variation. Seit der
Erndung, das Lächeln ( ) in ASCII als :-) zu schreiben, und Traurigschauen/Enttäuschtsein als :-( , haben sich die Emoticons in unterschiedlichen Kulturen und unter Nutzung unterschiedlicher Tastaturen und Symbole so stark weiterentwickelt,
dass man dem beinahe einen neuen Zweig der Anthropologie widmen könnte5.
Weitaus schwieriger stellt sich die Kompensation der fehlenden Unmittelbarkeit dar. Beißwenger (2005) hat in einer Studie über das Interaktionsmanagement
im Chat analysiert, warum und wie die kommunikativen Beschränkungen im Chat
zu Koordinationsproblemen beim Sprecherwechsel führen. Er stellt fest, dass die
Tatsache, dass man im Chat aus rein kognitiven Gründen nicht in der Lage ist,
gleichzeitig zu lesen (empfangen) und zu schreiben (senden), dafür sorgt, dass
»efzienter Austausch via Chat Hilfestellungen zur sozialen und insbesondere zur
konversationellen Strukturierung bedarf« (S. 64). In einigen analysierten Beispielen von aufgezeichneten Chat-Konversationen demonstriert er, dass die Koordination zwischen den Teilnehmern gestört wird, weil Teilnehmer A nicht wahrnimmt,
dass Teilnehmer B schon reagiert, während A noch dabei ist zu tippen. In AzAGesprächen würde man das sofort merken, und nach einem kurzen oor contest
würde in der Regel einer der beiden Gesprächspartner aufhören zu reden6. Voraussetzung für die »Verhandlung« im Falle von überlappenden Signalen ist aber,
dass beide Gesprächsteilnehmer überhaupt merken, dass es überlappende Signale
gibt. Im Chat ist das oft nicht der Fall, da die meisten Chatteilnehmer auf ihren
eigenen Text schauen, während sie tippen, und es daher nicht bemerken, wenn
ihr Gegenüber auch anfängt, etwas zu tippen. Interessant ist hier der Vergleich zu
einem ähnlichen Phänomen in der Telefonie. 1960 wurde die Kapazität der transatlantischen Telefonverbindung (über ein Kabel) verdoppelt, und zwar durch die
Einführung des TASI-Protokolls (time assignment speech interpolation). Bei TASI
wurde davon ausgegangen, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur jeweils
eine Person spricht, und dass demzufolge der Kanal, der sonst für die umgekehrte
Richtung (Hörer zu Sprecher) benutzt wird, für ein anderes Gespräch frei ist. Die
5
6
Für einen ersten Eindruck verweise ich die interessierten Leser auf die Internetseite http://
de.wikipedia.org/wiki/Emoticon.
Nicht alle Formen von überlappender Sprache führen zu einem oor contest (vgl. Schegloff
2000 für eine ausführliche Analyse dieses Phänomens).
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Kommunikation im 21. Jh.: Alter Dialog-Wein in neuen Technik-Schläuchen
Benutzung dieses sogenannten half duplex statt full duplex Protokolls (im Deutschen werden diese auch »Wechselsprechen« und »Gegensprechen« genannt) sorgt
dafür, dass man während des Sprechens nicht mehr hört, ob der Gesprächspartner
etwas sagt. In der heutigen (digitalen) Mobiltelefonie wird dieses Wechselsprechen
immer noch benutzt. Die Koordinationsprobleme, die dadurch entstehen, sind der
von Beißwenger analysierten Chat-Situation sehr ähnlich. Das Paradoxon der von
Sacks, Schegloff und Jefferson formulierten »one speaker at a time«-Regel ist also,
dass die dafür notwendige Koordination nur dann funktioniert, wenn man in der
Lage ist, zumindest für sehr kurze Zeit gleichzeitig zu sprechen und zu hören. Aktuelle Chat-Protokolle (z. B. Skype) haben dieses Problem erkannt, und zeigen jetzt
an, dass (aber nicht was) das Gegenüber dabei ist, etwas zu schreiben. Dies unterstützt die hier aufgestellte Hypothese, dass die Entwicklung der Telekommunikation vor allem dazu dient, unsere Kommunikation wieder unserer ursprünglichen,
prä-technologischen Kommunikation anzugleichen.
6. Fazit
Die prototypische Kommunikationsform des Menschen, die in allen Kulturen und,
soweit dies zurückverfolgt werden kann, in der Vergangenheit benutzt wurde, ist
die informelle Konversation, welche Angesicht zu Angesicht stattndet. Mit der
Globalisierung entstand aber das Bedürfnis, die Beschränkung, dass man für Kommunikation in der Nähe seines Gesprächspartners sein musste, zu überwinden. Die
Erndung der Schriftsprache hat die räumlichen und zeitlichen Beschränkungen
der menschlichen Kommunikation aufgehoben. Dies hat zu einer neuen Kommunikationsform geführt, die sich in wesentlichen Eigenschaften von der Urform der
Kommunikation, der informellen Konversation, unterscheidet. Eben diese Schriftsprache hat auch wesentlich zur Entwicklung der Telekommunikationstechnologie beigetragen. Die Entwicklung der modernen Telekommunikation hat wiederum dafür gesorgt, dass unsere Kommunikationsformen immer stärker der Urform
ähneln. Extreme Beispiele hierfür sind nicht nur die (mobile) Telefonie, sondern
auch der Chat, in dem man die Vorteile der Schriftsprache mit der Vertrautheit, der
Lückenlosigkeit und der Sequentialität der Urform, der klassischen Angesicht-zuAngesicht-Konversation, kombiniert. Diese Angleichung an die Urform ist mittlerweile so weit vorangeschritten, dass sich auch die Koordinationsprobleme der
schriftlichen und der mündlichen Telekommunikation immer mehr ähneln. Die
moderne Telekommunikation sorgt also nicht primär für neue Kommunikationsformen, sondern ermöglicht uns vielmehr unter Erhalt des Vorteils der räumlichen
Unabhängigkeit die Rückkehr zu unserer vertrauten Form.
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Summary
Communication in the 21st Century: Old Dialogue Wine in New Technology
Bottles
Since the industrial revolution, our telecommunications technology has developed exponentially.
We are now able to transfer huge amounts of data almost instantly between virtually any two
points on the globe. A natural question then is whether, and if so, how, high capacity global
telecommunication has inuenced the way people communicate with one another. In this article
I will use illustrative examples from the history of telecommunication to argue that it was not
telecommunication technology, but rather the _ much earlier _ development of writing that caused
us to change the way we communicate. While exchanging written messages allowed us to break
the connes of space and time, we had to give up the prototypical way of communicating that we
have been using and optimising for thousands of years: informal face-to-face conversation. The
rapid development of telecommunication technology has mainly served to gradually recover the
essential properties of informal face-to-face conversation, while retaining the advantages of being
able to communicate without physical co-presence.
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