Fassbinders Deutschland - Bertz + Fischer Verlag

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Fassbinders Deutschland - Bertz + Fischer Verlag
1. Fassbinders Deutschland
film:9
1. Fassbinders Deutschland
»Oft frage ich mich, wo stehe ich
in der Geschichte meines Landes?
Warum bin ich ein Deutscher?« [1]
Deutschland – die »Nation«
A
ls Fassbinder 1982 starb, erkannten
die Nachrufe in ihm nicht nur einen zentralen Repräsentanten des Neuen Deutschen Films, sondern auch eines
neuen Deutschland. Sein Name stand
damals für »Ehrlichkeit«, »Unbestechlichkeit«, er verkörperte den »Geist von
’68«, und im Ausland war er »a beacon
of righteous anger and artistic integrity« [2]. Das war nicht immer so, und der
Versuch, Fassbinder zu einem Repräsentanten Deutschlands zu machen, mag auf
den ersten Blick ziemlich unglaubwürdig
wirken. Umso mehr sollte man die Feststellung auch umkehren und sich fragen,
was es wohl für Fassbinder bedeutet haben mag, irgend etwas außer sich selbst
zu repräsentieren, zumal sein Leben dazu
tendierte, das Werk zu verdecken.
Wie kann ein Filmregisseur eine Nation repräsentieren? Im Falle Deutschlands, insbesondere nach dem Zweiten
Weltkrieg, liegt die Sache wiederum eher
umgekehrt: Im Kontakt mit dem Ausland
wurde fast jeder Deutsche zum Vertreter seines Landes. Denn wenige Nationen
mussten nach 1945 ihre geografische und
kulturelle Identität derart vehement hin-
terfragen wie das besiegte, verwüstete und
geteilte Deutsche Reich. Die Tatsache,
dass die unbeschreiblichen Verbrechen,
die die Deutschen an anderen Völkern
begangen hatten, im Namen der Nation
begangen worden waren, brachte jede Äußerung von Nationalstolz unweigerlich in
die Nähe von Rassismus, Ressentiment und
territorialen Forderungen. Während deshalb das politische Establishment in Westdeutschland bemüht war, sich von allen
Anzeichen eines aggressiven Nationalismus zu reinigen und den Westdeutschen
eine »neue« Identität in Form eines neuen
Feindbildes (die UdSSR und ihr Satellit,
die DDR) und neuformulierte territoriale
Fantasien (die Europäische Gemeinschaft
und die NATO) zu offerieren, waren die
Vorstellungen und Ziele der westdeutschen Intellektuellen weit weniger klar
umrissen. Offenkundig unterschied sich
das neue politische Feindbild nicht sonderlich von seinem Vorgänger – der »Bolschewismus« hatte bereits Hitler gedient
– und führte zu konservativen Allianzen,
die dem Deutschland unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard außen- und innenpolitische Ziele gaben, deren Wurzeln
bis zu Bismarcks »Sozialistengesetzen« zurückreichten. Kulturell aber mangelte es
anfangs an einer nationalen Identität und
somit auch an Legitimität. Die Literatur,
die bildenden Künste und die Philosophie
waren damit beschäftigt, Anschluss an
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internationale Entwicklungen zu finden:
Abstrakte Malerei, Neue Musik, der Existenzialismus Sartre’scher Prägung und
US-amerikanische Autoren wie William
Faulkner, John Steinbeck und Ernest Hemingway wurden zu bedeutenden Wegmarken der fünfziger Jahre und halfen,
Gedanken an die jüngste Vergangenheit
und deren Bedeutung für die Gegenwart
zu verdrängen. Unter den deutschen Autoren waren es Thomas Mann und Bertolt
Brecht, die den Maßstab setzten, indem
sie, nach ihrer Rückkehr aus dem kalifornischen Exil, kritisch reflektierten, was es
bedeutete, ein deutscher Autor zu sein.
Diejenigen, die geblieben waren – Autoren wie Gottfried Benn oder Wolfgang
Koeppen –, wurden zu zwiespältigen Exponenten der sogenannten »inneren Emigration«. Die populären Künste, darunter
der Film, boten ein verwirrenderes Bild,
zumindest für diejenigen, die sich kritisch
damit auseinandersetzten: Während die
kleinbürgerlichen Mittelschichten den
wachsenden Einfluss der US-amerikanischen Massenunterhaltung in Filmen und
populärer Musik beklagten, beschäftigte
sich die Linke mit den unheilvollen Kontinuitäten zwischen dem kleinbürgerlichen
Geschmack der fünfziger Jahre und der
NS-Unterhaltungsindustrie, wie sie sich
im ungestillten Appetit auf Familienkomödien, Schlager und heroischen Melodramen zeigten.
Studien zum Nationalismus und dessen Bedeutung für das Nazi-Regime waren darum bemüht, die Wurzeln zurück
in die Romantik und deren Entdeckung
des »Volkes« zu verfolgen [3]. Hier geriet
das Populäre in die Nähe des Irrationalismus, was wiederum den Enthusiasmus,
Fassbinders Deutschland
mit dem das Volk dem »Führer« gehuldigt
hatte, »erklärte«, wodurch allerdings der
gesamte Begriffskomplex in Misskredit
geriet. Solch ein Ansatz bestätigte die
Sicht, dass höchstens metaphysische Kategorien dazu angetan seien, das Böse, das
sich der Deutschen bemächtigt hatte, zu
erklären [4]. Auf der anderen Seite wurde alles Emotionale suspekt:
»Das Gefühl der deutschen Innerlichkeit, so
wie es unter dem Christbaum geteilt wurde, konnte instrumentalisiert werden. Die
berühmte deutsche Weihnacht erwies sich
als Kriegsvorbereitung.« [5]
Die populäre Kultur zu verdammen, weil
diese sich als politisch instrumentalisierbar
erwiesen hatte, war aber auch eine Reaktion auf die explizit polit-ökonomischen
Analysen, die der Nazismus im anderen
Teil Deutschlands erfuhr, wo proletarischer Antikapitalismus und Antifaschismus zu den Schlüsselbegriffen der staatlichen Selbstdefinition und zu Eckpfeilern
der historischen Legitimierung der Eigenständigkeit geworden waren.
In Reaktion auf diese Reaktion wiederum versuchte die folgende Generation – die von »1968« – sich bewusst von
beiden Perspektiven zu distanzieren, indem sie das Erziehungssystem, die autoritären Familienstrukturen, den Mangel
an demokratischen Institutionen sowie an
bürgerlicher Verantwortung in den Blick
nahm und für die aggressiven Spielarten
der nationalen Identität verantwortlich
machte, die zu Völkermord und territorialer Expansion führten. Indem die Kritiker ihre Aufmerksamkeit den historischen Fehlentwicklungen der deutschen
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Gesellschaft in diesem Jahrhundert zuwandten, machten sie gleichermaßen die
Bourgeoisie als Klasse und den autoritären
Charakter als Ideologie verantwortlich für
das Desaster. Dieses Denken verdankte
viel den Kulturtheorien der Frankfurter Schule, insbesondere den Arbeiten
von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die bereits während ihres Exils
in den USA begonnen hatten, sich dem
Komplex der nationalen Identität nicht
nur via Klassentheorie, Materialismus
und Ideologiekritik zu nähern, sondern
auch die Psychoanalyse einzubeziehen:
nationale Identität als eine Struktur von
Internalisation und Projektion, bei der
die bürgerliche Familie gehalten ist, zwischen dem rebellischen Individuum und
dem autoritären Staat zu vermitteln. Eine
Konsequenz war, dass die Frage nach kultureller oder nationaler Identität in den
sechziger Jahren zunächst einmal zu den
Akten gelegt wurde, von rechts zugunsten der Vorstellung eines neuen Europa,
von links zugunsten der Vorstellung einer
internationalen Solidarität. Beide Seiten
handelten sich damit aber ein Dilemma
ein: Die Rechte, die vorgab, für das ganze Deutschland und seine Geschichte zu
sprechen, musste den Nazismus als Verirrung interpretieren und, damit einhergehend, Kultur unpolitisch und unhistorisch definieren. Die Linke, die solch
eine Vorstellung von Nationalkultur als
elitär und idealistisch betrachtete, riskierte, als »kommunistisch« und somit
als Sprachrohr ostdeutscher Propaganda
denunziert zu werden. Was dabei verlorenzugehen drohte, war ein sorgfältigerer
Umgang mit der deutschen Populärkultur
der Vor- und Nachkriegszeit, und damit
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auch ein differenzierter Blick darauf, was
das Kino als populäre Kunstform zum »Leben« einer Nation jenseits der Indienstnahme durch reaktionäre Interessen oder
des bloßen Strebens nach Respektabilität
beigetragen hatte. Man könnte von einem
historischen Double Bind sprechen: Ein
kommerzielles Kino, das bei einem Massenpublikum erfolgreich war, wurde von
den Kritikern verachtet, weil es realitätsfern und eskapistisch war. Dass aber gerade die Verdrängungsmechanismen in
Heimatfilmen, Melodramen und Schlagerfilmen paradoxerweise einen Teil der so
oft eingeklagten, einerseits unmöglichen,
andererseits notwendigen »Trauerarbeit«
leisteten, jedenfalls in dem Umfang, der
von einem Massenmedium wie dem Kino
an nationaler Identitätsstiftung und Zugehörigkeitsgefühl zu erwarten ist, konnte
die Kommentatoren, die vor allem Unbelehrbarkeit und Nostalgie witterten, wenig
beeindrucken. So sehr waren Starsystem
und nationale Propaganda während der
NS-Zeit zwei Seiten einer Medaille, dass
jedes Wiederaufleben eines Genrekinos nur
als nationalistisch und jeder populäre Star
nur als Ausdruck »reaktionärer« Anwandlungen wahrgenommen wurde.
Deutschland repräsentieren:
Eine zwiespältige Ehre
A
ber im Kino sind die Fragen nach
dem Nationalen oder dem Nationalistischen kompliziert, und politische Ereignisse sind bezüglich filmgeschichtlicher
Entwicklungen unzuverlässig. Zwar ist es
richtig, dass sich nach 1945 besonders im
Kino nationale Unterhaltungstraditionen
als sehr widerstandsfähig erwiesen haben,
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und zwar in den Genres (zum Teil mit denselben Schauspielern und Regisseuren wie
zuvor), die bereits während der NS-Zeit
populär gewesen waren – dem Kostümfilm, dem Problemfilm oder dem Musical.
Aber ebenso richtig ist, dass diese Genres
bis in die 1910er und 1920er Jahre zurückreichen, keineswegs also Erfindungen der
Nazis darstellen, auch wenn diese sie für
ihre Zwecke missbraucht hatten [6]. Sie
behielten ihre Popularität auch noch, als
in den frühen sechziger Jahren eine neue
Generation von Regisseuren auftrat, die
die kommerzielle Filmindustrie mit dem
»Oberhausener Manifest« und eigenen
Filmproduktionen herausforderte. Das
Dilemma ist evident: Entweder man argumentiert, dass das Publikum noch immer von einer reaktionären Unterhaltung
entgegen der eigenen Interessen betrogen
werde, oder man akzeptiert, dass auch in
sentimentalen Melodramen Wahrheiten
präsent sind, die von den Hoffnungen und
Wünschen der Menschen sprechen.
Inspiriert durch die verschiedenen
Neo-Realismen und die Slogans der
französischen Nouvelle Vague aufgreifend, war der Junge Deutsche Film ein
bewusstes Außenseiter- und Minoritätenkino. Erst ein Jahrzehnt später, mit
den Filmen der zweiten Generation
von Regisseuren (Werner Herzog, R. W.
Fassbinder, Wim Wenders, Hans Jürgen
Syberberg), wurde es zu einer Art Nationalkino, und zwar während der politischen Krisen der siebziger Jahre, die die
Selbstdefinition und den sozialen Konsens der westdeutschen Nation zutiefst
erschütterten. Aber auch diese Variante
eines nationalen Kinos hatte zwei Seiten.
Das westdeutsche Publikum begann zwar
Fassbinders Deutschland
in den frühen siebziger Jahren ebenfalls
die einheimische kommerzielle Filmproduktion abzulehnen, konnte sich jedoch
weder für die Filme eines Alexander
Kluge oder eines Jean-Marie Straub –
der ersten Generation – noch für die eines Werner Herzog oder Wim Wenders
begeistern. Stattdessen bevorzugte man
Hollywood-Blockbuster und französische
Komödien oder ließ sich vom Fernsehen
die »guten alten« Filme zeigen. Demzufolge scheint es geraten, zwischen solchen Filmen zu unterscheiden, in denen
die Westdeutschen sich selbst wiedererkannten – das Star- und Genrekino der
fünfziger und sechziger Jahre und das
populäre Hollywood-Kino der siebziger
und achtziger Jahre – und andererseits
dem Autorenfilm, der im Ausland von
Kritikern und Publikum als »Repräsentant« Westdeutschlands geschätzt wurde – und auf bedeutenden Festivals wie
Cannes, Venedig oder Berlin und in den
Kunstkinos der westlichen Metropolen
für Aufsehen sorgte.
Von den Regisseuren der zweiten
Generation passte Fassbinder mit seinen ausgeprägt regionalen Wurzeln, seiner Liebe zum Hollywoodfilm und seinem Glauben an das Genrekino in keine der gängigen Kategorien. Tatsächlich
war er der sich am wenigsten aufdrängende Kandidat, wenn es darum ging,
Deutschland zu repräsentieren: weder
in dem Sinne, dass seine Filme ein Bild
der bedeutsamen Probleme im Nachkriegsdeutschland angestrebt hätten,
noch in dem Sinne, dass sie Fiktionen
anböten, die besagtes Wiedererkennen
auslösen könnten, mit Ausnahme vielleicht von FONTANE EFFI BRIEST und
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benutzt, kann man also
Fassbinder nur unter Vorbehalt als Repräsentanten
Deutschlands bezeichnen.
Vergleicht man ihn mit anderen, ausländischen Regisseuren, ist Fassbinders
Deutschland eben nicht
Jean Renoirs Frankreich,
Federico Fellinis Italien
oder Ingmar Bergmans
Schweden. Nach seinen
Anfängen als homosexueller Avantgarde-Regisseur
wurde Fassbinder binnen
kurzem zu Europas Antwort auf die klaustrophobischen Camp-Welten eines Andy Warhol. Aber
auch als homosexueller
Regisseur repräsentierte
er nicht das Post-Stonewall-Selbstbewusstsein
der Schwulenbewegung.
In erster Linie fungierErfolge beim Publikum: DIE BLECHTROMMEL, DAS BOOT, ...
te er – als auffälliger Teil
seiner Generation – als
DIE EHE DER MARIA BRAUN. Ein Filme- Vertreter der Gegen-Kultur der 1970er
macher wie Alexander Kluge arbeitete Jahre, einerseits als Leitfigur, andererseits
weitaus analytischer und konzentrierter als Sündenbock.
am sozio-politischen Komplex DeutschAllerdings muss diese Annäherung an
land, während Volker Schlöndorff (DIE das Nicht-Repräsentative bei Fassbinder
BLECHTROMMEL; 1979/80) und später ebenfalls modifi ziert werden, wenn man
Edgar Reitz ( HEIMAT; 1980–84) popu- bedenkt, wie im Verlaufe der sechziger
lärere Filme zu unterschiedlichen As- und siebziger Jahre Schriftsteller oder Filpekten bundesdeutscher Realität und memacher sich nicht selten zu repräsenGeschichte produzierten.
tativen Figuren des öffentlichen Lebens
Selbst wenn man den Begriff »Reprä- entwickelten. Günter Grass, Heinrich
sentation« mit seinen beiden Bedeutun- Böll oder Martin Walser wurden trotz
gen, nämlich »Sprechen im Namen von« oder wegen ihrer kritischen Haltung als
und »ein erkennbares Abbild schaffen« exemplarische Deutsche wahrgenom22
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Fassbinders Deutschland
men: nicht immer wegen
der Weite ihrer dichterischen Entwürfe oder
ihrer beeindruckenden
Wirklichkeitsnähe, sondern aufgrund ihrer moralischen Aufrichtigkeit
und ihrer politischen Verbindlichkeit. International
genossen sie Anerkennung
als Sprecher eines neuen,
besseren Deutschland, das
seine Wurzeln im Rationalismus der Aufklärung
hatte. Dies galt ebenso für
Intellektuelle wie Jürgen
Habermas, dem »Schüler«
Theodor W. Adornos und
der Frankfurter Schule, die
sich in Westdeutschland in
die Nachfolge derjenigen
Traditionen stellte, die
Philosophie und kritisches
Denken bereits in der Weimarer Republik aufeinander bezogen hatten. Ihre ... HEIMAT, DIE EHE DER MARIA BRAUN
vormals prominente Rolle
verloren diese Intellektuellen allerdings in begannen, ihre nationale Identität neu zu
der Folge der Wiedervereinigung 1990 – bestimmen – auf der Strecke blieben die
und ihr Prestige verflüchtigte sich rasch. Intellektuellen und die Künstler.
Ungefähr ein Jahrzehnt früher, zwiDie persönliche Integrität westdeutscher
Schriftsteller wie Günter Grass und Hans- schen 1974 und 1984, waren FilmregisMagnus Enzensberger und ostdeutscher seure erstmals Teil der kulturellen Elite
Ex-Dissidenten wie Christa Wolf oder geworden und auch sie in die, um mit eiHeiner Müller wurde öffentlich in Frage nem Habermas’schen Terminus zu spregestellt, und dies war symptomatisch für chen, »Legitimationskrise« der Intelligenz
die wiederholten Versuche, Ikonen des verwickelt. Welche Rolle könnten Künstler
Kulturbetriebs als Meinungsführer vom und Intellektuelle, das Kino, die UniverPodest zu stoßen. Es schien fast, als ob die sitäten und Kulturinstitutionen in einer
Deutschen in dem Moment, in dem eine Gesellschaft spielen, in der die Marktgeografische Einheit wiederhergestellt war, gesetze von Angebot und Nachfrage all23
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umfassend herrschen? Gäbe es für die
Kunst eine über ein bloßes Feigenblatt
für die herrschende ökonomische Logik
hinausgehende Funktion? Vermag sie an
die Ideale zu erinnern, in deren Namen
die Gesellschaft ihren politischen Aufbruch begründete? Die Filmemacher hatten sich in der Tat solchen Fragen häufig
zu stellen, nicht nur, weil ihre Filme mit
öffentlichen Fördermitteln unterstützt
wurden, sondern auch, weil sie von der
weltweiten Betreuung durch die GoetheInstitute profitierten, die die Regisseure
einem ausländischen Publikum präsentierten. Werner Herzog, Wim Wenders,
Hans Jürgen Syberberg, Werner Schroeter, Margarethe von Trotta, Jutta Brückner, Helma Sanders-Brahms haben allesamt die zwiespältige Ehre erfahren, als
Botschafter Westdeutschlands im Ausland
fungieren zu müssen. Die enge Beziehung
des Autorenfi lms zum westdeutschen
Staat mit seinen Kommissionen, Förderanstalten und -gremien verlieh dem Neuen
Deutschen Film einen »offi ziellen« Touch,
zumindest in der Blütezeit der siebziger
und achtziger Jahre.
In Westdeutschland selbst ist der Neue
Deutsche Film kaum einmal besonders populär oder gar »in« gewesen, was belegen
mag, dass das Publikum, das sich noch in
den sechziger Jahren mit dem kommerziellen Kino identifiziert hatte, auch mit den
»persönlichen« Arbeiten der Autorenfilmer
wenig anzufangen wusste – und deshalb
zum Fernsehen abwanderte. Aufgrund
des Fehlens eines populären deutschen
Kinos, das die Sinne der Zuschauer fesselte, und der fast gänzlichen Abwesenheit
einer authentischen populären Kultur, wie
man sie in England oder Amerika kannte,
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standen die Filmemacher vor einem doppelten Dilemma: einerseits als »Künstler«
zu gelten, andererseits ein breites Publikum ansprechen zu können. Wer sich dafür entschied, zu den »Repräsentativen«
zu gehören, wurde von weniger bekannten
Kollegen als korrupt oder opportunistisch
beschimpft oder als größenwahnsinnig verlacht [7]. Nur einige Regisseure waren in
der Lage, diesen Erwartungen durch ironische Distanz oder Ausgeglichenheit zu
begegnen, entschieden sie sich doch oft
entweder für biedere Respektabilität oder
für Exzentrik. Andererseits war die öffentliche Anerkennung im Inland zumindest
zu einem Teil auf die freundliche Aufnahme zurückzuführen, derer sich ihre
Filme im Ausland versichern konnten.
In dieser Zeit bekam Volker Schlöndorff
für DIE BLECHTROMMEL (1978/79) den
Oscar, Wolfgang Petersens DAS BOOT
(1979–81) wurde in den USA als Mainstreamfilm ausgewertet, Fassbinders DIE
EHE DER MARIA BRAUN und Edgar Reitz’
HEIMAT (1980–84) waren große Erfolge.
Allerdings war die Skala breit: Kritiker feierten Hans Jürgen Syberbergs HITLER –
EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (1976/77),
aber sie reagierten auf Fassbinders LILI
MARLEEN und Herzogs FITZCARRALDO
(1981) eher feindselig oder enttäuscht.
Selbst in Fällen, in denen das Lob nicht
uneingeschränkt war, wurden die Filmemacher trotzdem als mehr denn als bloße
Entertainer erachtet: Sie hatten den Status
von Denkern bekommen, die es öffentlich
auf sich nahmen, für die »ganze« Nation
und – auch in den genannten Beispielen
– über deutsche Geschichte zu sprechen,
wobei diese fast ausnahmslos mit dem Nazismus und seinem Nachwirken identisch
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war. Einige glaubten darüber hinaus, sich
in heroischeren Posen als Propheten und
Weise präsentieren zu müssen – Kritiker
reagierten darauf mit dem Slogan »Unsere
Wagner« [8]. Damit meinte man Künstler
wie Anselm Kiefer, Joseph Beuys, Karlheinz Stockhausen, Heiner Müller oder
Hans Jürgen Syberberg – die allesamt an
der Gestaltung von »Gesamtkunstwerken« arbeiteten, was vielleicht auch eine
Reaktion auf den Druck war, »Repräsentant« sein zu müssen [9].
Aber es gab auch Filmemacher, die
sich zu entziehen versuchten. Zum Beispiel Herbert Achternbusch, der vom bildenden Künstler zum Schriftsteller und
Filmemacher wurde und lautstark seine
Nicht-Verfügbarkeit verkündete [10]. Daneben war insbesondere Fassbinders Verweigerungshaltung wohl die prominenteste
[11]. Auf den ersten Blick scheint es, als
habe Fassbinder die Prominenz gewählt,
aber dies würde die Vertracktheit der
Situation und seine ihm eigene Strategie
der Bewältigung unterschlagen. Fassbinder
wollte zugleich kritisch und populär sein
und versuchte, sich weder ins Abseits der
politischen Avantgarde von Danièle Huillet / Jean-Marie Straub oder Harun Farocki noch in die störrische Clownsposition
eines Achternbusch zu begeben, nicht zu
reden von der lauthalsen Außenseiterposition eines Rosa von Praunheim. Anders
als die international prominenten Kollegen
schien Fassbinder zu spüren, dass ein bloß
kritisches Verhältnis zu Deutschland und
seiner Geschichte nicht ausreiche, um ein
»repräsentativer« Deutscher zu sein. Vielmehr ging es ihm um den Entwurf einer
anderen Form der Selbstdarstellung und
einer anderen Persona.
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Fassbinders Bewegung von seiner programmatischen Außenseiterposition hin zu
einem komplexeren und auf andere Weise
provokativen Standpunkt fand zu einem
Zeitpunkt seiner Karriere statt, als sein
Ruhm im Ausland ihn in einer Weise zum
Nachdenken über seine Arbeit und seine
Identität als Deutscher zwang, die zuvor
so nicht möglich gewesen war. Er mochte es, berühmt zu sein, suchte öffentliche
Anerkennung und war tief verletzt, als er
1978 auf der Berlinale für DIE EHE DER
MARIA BRAUN, den er für seinen besten
Film hielt, nicht den Goldenen Bären erhielt. Diese Kränkung erleichterte es ihm
andererseits, spätere Versuche einer Vereinnahmung zurückzuweisen, zumal zu
einer Zeit, als er sich nachdrücklich darum bemühte, ein anderes Deutschland
zu verkörpern. Fassbinder unternahm
es, den von ihm erkannten Double Bind
des enfant terrible zu nutzen, als Rebell
und Außenseiter, den das offi zielle Westdeutschland zum Ausweis der eigenen Liberalität benötigte, besonders während
der wirtschaftlichen und innenpolitischen
Krisen der siebziger Jahre. Einerseits behagte ihm die Vorstellung, die Hand zu
beißen, die ihn fütterte [12], andererseits
erlaubte er sich auch Produktionen jenseits der Fleischtöpfe der Filmförderung
wie DIE DRITTE GENERATION.
Der deutsche Balzac:
Fassbinders Comédie humaine
N
ach seinem plötzlichen Tod 1982
konnten sich die Nachrufe schnell
auf eine Formel zur Einschätzung der
Arbeit Fassbinders einigen, bei der der
Nachdruck auf den typisch deutschen
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1. Fassbinders Deutschland
Akzenten lag. Zwei Metaphern aus Wolfram Schüttes Nachruf machten die Runde: Mit Fassbinders Tod sei auch der Neue
Deutsche Film gestorben, dessen »Herz«
Fassbinder gewesen sei, und Fassbinder
sei der Balzac der westdeutschen Gesellschaft gewesen, ihr scharfsinnigster und
leidenschaftlichster Chronist [13]. War
dieser Vergleich gerechtfertigt und damit mehr als eine rhetorische Arabeske
aus traurigem Anlass? Dieses Kapitel will
versuchen, darauf eine Antwort zu geben,
indem das Beweismaterial noch einmal unter die Lupe genommen und gleichzeitig
eine differenziertere Fassung des Begriffs
»Repräsentation« entwickelt wird, der auf
Fassbinders Filme ebenso passt wie auf die
Bundesrepublik als einem Land, das eine
filmvermittelte Selbstdarstellung sich sowohl leisten konnte als auch glaubte, sie
nötig zu haben. Nach Schütte offenbaren die Filme Fassbinders eine immense Lust an der Darstellung des Lebens in
Deutschland, wie sie gewöhnlich eher im
19. Jahrhundert zu finden war:
»Erst im Rückblick [...] wird man inne, welche comédie humaine Rainer Werner Fassbinder mit seinem Œuvre hinterlassen hat,
wie intensiv seine fi lmischen Erzählungen
von Menschen durchtränkt sind, von der
Politik, der Geschichte und dem Alltag,
den Wechseln und den Kontinuitäten im
Lebenszusammenhang Deutschlands [...].
Derart umfassend, in Breite und Tiefe
gestaffelt, ist die Bundesrepublik [...] in
keinem anderen künstlerischen Werk der
Nachkriegszeit präsent – mit der einen Ausnahme: dem literarischen Œuvre Heinrich
Bölls. [Und] im Vergleich [mit dem Werk
eines Regisseurs wie Andrzej Wajda] ist der
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paradigmatische Charakter von Fassbinders
Œuvre sowohl gegen den herrschenden Konsens als auch ohne eine politische Identität
entstanden. In seinen Filmen hat sich keine Nation erkannt; sie wird aber in ihnen
erkannt werden.« [14]
Der Reichtum an Charakteren, Situationen, Geschichten, Typen und Menschen
ist in der Tat erstaunlich. Man begegnet
einer ganzen Reihe von Klassen und sozialen Milieus in Fassbinders Filmen:
Aristokraten und Grundbesitzern (FONTANE EFFI BRIEST), Bourgeoisie (DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT,
MARTHA), Traditionsbürgertum (CHINESISCHES ROULETTE) und Neureichen
( LOLA), Künstlern ( LILI MARLEEN, DIE
SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS), Kleinbürgern ( HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN), Arbeitern (MUTTER KÜSTERS’
FAHRT ZUM HIMMEL), Lumpenproletariern ( LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD),
»Gastarbeitern« ( KATZELMACHER), einheimischen und fremden Farbigen ( PIONIERE IN INGOLSTADT, ANGST ESSEN
SEELE AUF). Ebenso beeindruckend ist
die Spanne der vorgeführten Berufe:
Journalisten, Industrielle, Immobilienmakler, Schichtarbeiter, Intellektuelle,
Schriftsteller, Büroangestellte, Gewerkschafter, Bauern, Ladenbesitzer, Metzger, Barkeeper, Zuhälter, Prostituierte
beiderlei Geschlechts, Kleinkriminelle,
Berufskiller, Dealer, Matrosen, Soldaten
und Söldner.
Solch ein Impuls, den Alltag eines Volkes in großem Maßstab zu dokumentieren, ist im deutschen Film, zumindest vor
Fassbinder, ziemlich einmalig. Seither hat
Edgar Reitz ein vergleichbares Projekt in
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R. W. Fassbinder
Angriff genommen, zunächst die zwölfteilige Fernsehserie HEIMAT (1980–84),
die zwischen der enormen Zeitspanne
von 1900 bis 1970 überraschenderweise
in einem atypischen ländlichen, das heißt
geografisch fest umrissenen Milieu spielt,
anschließend die »Fortsetzung« DIE ZWEITE HEIMAT (1988–1992), die eine Gruppe
junger Künstler, Musiker und Filmemacher durch das München der sechziger
Jahre begleitet.
Dieser Trend zu panoramahaften Rekonstruktionen und nationalen Bestandsaufnahmen gegen Ende der siebziger Jahre
ist alles andere als ein Zufall. Ein wichtiger Grund hierfür wird sicherlich der
moralische und psychologische Schock
gewesen sein, den die kurze Periode der
Stadtguerilla, namentlich der RAF, hervorrief. Die erste filmische Reaktion auf
diese Krise, die international wahrgenommen wurde, mag DIE VERLORENE EHRE
DER KATHARINA BLUM (1975; R: Volker
Schlöndorff / Margarethe von Trotta)
gewesen sein [15], aber der gewichtigere
Versuch einer Bestandsaufnahme war der
Omnibusfilm DEUTSCHLAND IM HERBST
(1977/78), der von Alexander Kluge initiiert wurde und zu dem, neben anderen,
Schlöndorff, Reitz und Fassbinder Beiträge ablieferten.
Auch geografisch schien Fassbinder
von einem Balzac’schen Ehrgeiz besessen, die beschriebene Gesellschaft möglichst vollständig, in allen ihren Regionen abzubilden: von Norddeutschland
(FONTANE EFFI BRIEST), Berlin ( BERLIN
ALEXANDERPLATZ), Bremen (DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT)
über das Rheinland (DIE EHE DER MARIA
BRAUN), Franken und Hessen (Coburg in
Fassbinders Deutschland
LOLA, Frankfurt in IN EINEM JAHR MIT
13 MONDEN), München ( HÄNDLER DER
VIER JAHRESZEITEN, ANGST ESSEN SEELE
AUF) bis zum Bodensee (MARTHA) und
der Provinz (DIE NIKLASHAUSER FART,
WILDWECHSEL, BOLWIESER). 1980 be-
schrieb Fassbinder sein Projekt:
»Ich werde viele Filme machen, bis ich mit
meiner Geschichte der BRD hier und heute
angekommen bin. LOLA und MARIA BRAUN
sind Filme über das Land, wie es heute ist.
Man muss, um die Gegenwart zu begreifen,
was aus einem Land geworden ist und noch
wird, die ganze Geschichte begreifen oder
verarbeitet haben. [...] MARIA BRAUN und
LOLA sind Geschichten, die sind nur möglich in der Zeit, in der sie spielen. Und sie
sind, wie ich hoffe, Teile eines Gesamtbildes der Bundesrepublik Deutschland, die
helfen, dieses seltsame Gebilde besser zu
verstehen – auch die Gefährdungen und
Gefahren. Insofern sind es sehr politische
Filme.« [17]
Die Realität(en) der Darstellung
V
iel hängt bei der eben zitierten Passage von den möglichen Bedeutungen
des Begriffs »politisch« ab: Beispielsweise
scheint damit nicht sozialer Realismus als
Stil, die Analyse politischer Institutionen
oder die Beschreibung der Städte, der Industrie und des wirtschaftlichen Lebens
gemeint zu sein. Abgesehen davon ist ein
Regisseur, der sich weniger als Fassbinder
für die »Landschaft« seines Landes interessiert hätte, kaum vorstellbar. Man muss
seine Arbeit bloß mit derjenigen Antonionis,
Tarkowskis oder auch Godards vergleichen,
um festzustellen, dass Fassbinders Ehrgeiz
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1. Fassbinders Deutschland
DEUTSCHLAND IM HERBST
nicht auf eine ästhetische Nutzung einer
vorgegebenen Topografie zielte. Er zeigte
nur selten Interesse an freien Blicken, an
Außenaufnahmen und der ästhetischen
Qualität eines Landstrichs. Wenn man
sich Herzogs WOYZECK (1978/79), JEDER
FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (1974),
HERZ AUS GLAS (1976) oder Wenders’
FALSCHE BEWEGUNG (1975), IM LAUF
DER ZEIT (1976) oder DER HIMMEL ÜBER
BERLIN (1987) ansieht, wird die Differenz
augenfällig. Die Burgruinen entlang des
Rheins (FALSCHE BEWEGUNG), die bayrischen Alpen ( HERZ AUS GLAS), die Romantik von Landschaften, die Gemälden
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von Caspar David Friedrich nachempfunden sind
( JEDER FÜR SICH UND
GOTT GEGEN ALLE) oder
den Schwarzwald (WOYZECK) – so etwas finden wir
nicht in den Filmen Rainer
Werner Fassbinders. Selbst
die heruntergekommenen
Regionen entlang der innerdeutschen Grenze (IM
LAUF DER ZEIT, DER WILLI-BUSCH-REPORT [1979;
R: Niklaus Schilling]) haben in seinem Kosmos keinen Platz. Karsten Witte hat einmal zutreffend
angemerkt, dass sich in
Fassbinders Filmen all das
fände, dem »zwischen Lorelei und Neuschwanstein
keine Nische reserviert«
sei [18].
Verglichen mit Schlöndorff, Hauff oder Reitz,
war Fassbinder ein höchst
unwahrscheinlicher Kandidat für die Entwicklung eines neuen nationalen Kinos: Er
bewegte sich völlig außerhalb der Traditionen eines kinematografischen Realismus.
Dieser Realismus war für die Neudefinition
des europäischen Nachkriegsfilms in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zunächst
implizierte er für den italienischen Neorealismus eine Abkehr vom Studio-Look
der Cinecittà und von den Konventionen
des Hollywood-Genrefi lms, zudem waren selbstbewusste nationale Filmkulturen zumeist art cinemas und standen in
literarischen Traditionen, namentlich der
des Realismus des 19. Jahrhunderts. Dies
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Fassbinder.indb 28
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R. W. Fassbinder
galt gleichermaßen für Italien, Polen und
die DDR, aber in starkem Maße auch für
die Filmproduktion der BRD, wo die sogenannte »Literaturverfilmungsdebatte« dazu
diente, dem Neuen Deutschen Film seine
uneingelösten Versprechungen vorzuhalten. Im Gegensatz dazu wurde Fassbinder
in den frühen siebziger Jahren gerade dafür geschätzt, dass er als Genre-Regisseur
nicht Literatur, sondern das HollywoodMelodram in das Kunstkino überführte.
Und falls man nach literarischen Traditionen suchte, stieß man eher auf Autoren,
die dem Expressionismus nahestanden –
wie Frank Wedekind, Marieluise Fleißer
oder Ödön von Horváth – als auf die realistische Tradition eines Theodor Fontane
oder Thomas Mann.
Fassbinders Deutschland
Dem könnte man widersprechen und
dagegenhalten, dass sich der »reife« Fassbinder mit FONTANE EFFI BRIEST, den Zitaten aus Thomas Manns Tonio Kröger [19],
den Verfilmungen von Nabokovs Despair
und Oskar Maria Grafs Bolwieser durchaus in einer klassischen Erzähltradition
positionierte. Aber eine Lektüre dieser
»Texte« führt, wie sich noch zeigen wird,
zu einem anderen Ergebnis. Als Fassbinder
1980 das Herzstück seines Balzac’schen
Unternehmens, BERLIN ALEXANDERPLATZ, in Angriff nahm, wurde daraus
weder ein Bildungsroman noch eine stilisierte Adaption von Döblins Großstadtroman. Stattdessen entstand eine höchst
elliptische und verwickelte Geschichte,
die, besonders im Epilog, eher an einen
Herzstück des Balzac’schen Unternehmens: Fassbinder dreht BERLIN ALEXANDERPLATZ
(mit Günter Lamprecht)
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1. Fassbinders Deutschland
schmerzvollen Neo-Expressionismus denn
an Döblins experimentell-futuristische
Prosa erinnerte.
Aber in dieser Weise interpretiert,
führen stilistische Fragen nicht weiter.
Man muss sich daran erinnern, dass Fassbinders Welten auf kompromisslose Weise künstlich gewesen sind: Das war sein
Ausgangspunkt und von hier aus werden
seine stilistischen Optionen bedeutsam.
Die Treibhausatmosphäre ist für Fassbinders Filme so konstitutiv wie die isolierte
Figur in der Landschaft für Herzog. Fassbinder bevorzugte Innenräume und hasste
es nicht nur, nach locations für den Dreh zu
suchen, sondern weigerte sich auch, diese
Orte vor dem Dreh zu besichtigen, weil
er den kreativen Schub der Überraschung
brauchte [20]. Dies führt zu »Innenräumen«, in denen die Charaktere einander
begegnen, die aber gleichfalls die Vergegenständlichung von Teufelskreisen und
enggeführten Double Binds sind, die im
folgenden Kapitel behandelt werden [21].
Es sind Räume, die zumindest gegenüber
neuen Konfigurationen offen sind, aber
eine Alternative ausschließen, die auch für
Fassbinder nie eine war: die Vorstellung
von einem Leben außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der zerstörerischen
Gemeinschaft mit anderen.
Man könnte formulieren: Fassbinder
ist der Chronist der inneren Geschichte
der Bundesrepublik, vorausgesetzt man
verbindet damit kein »Heimkino« à la
Deutschland privat [22]. Vielmehr bietet
Fassbinders Kino eine Facette des »Politischen«, insofern es sich auf die Politik der
Intersubjektivität beziehen lässt, die seine
Arbeiten mit der linksradikalen Politik in
den siebziger Jahren und der Identitätspo-
film:9
litik der achtziger Jahre verbindet – und
sie von beidem absetzt. Während der so
oft auf die Person bezogene »Autorenfilm«
seine schiefe Lage offenbarte, wenn es um
die Frage der kulturellen Repräsentation
ging, kann man sagen, dass Fassbinder in
der BRD-Gesellschaft eher interveniert
hat, als dass er sie repräsentierte. Aber
auch dieses Verständnis von »politisch«
lädt zu Missverständnissen ein, weil der
Begriff doch eher im Zusammenhang mit
Filmemachern gebräuchlich ist, deren »Politik« (linksradikal oder utopisch) ohne
praktische Konsequenzen blieb, während
ihre Kunst unter der ideologischen Parteilichkeit litt, die die Filme im Negativen zu
überholter Werbung für die eigene Position, im Positiven zu soziologischen Fallstudien werden ließ. Dies Schicksal ereilte
einige Regisseure in Fassbinders Generation, insbesondere diejenigen, die mit dem
Genre »Arbeiterfilm« experimentierten,
zu dem Fassbinder ACHT STUNDEN SIND
KEIN TAG beisteuerte.
Aber seine Filme sind noch in einem anderen Sinne politisch, und zwar indem sie
der oben angesprochenen Balzac-Analogie
eine Grenze setzen. Fassbinder entwirft
keine autonomen Welten, sondern stellt
Medien-Welten dar. Das heißt, er präsentiert Zitate, Verweise, Zeitungsausschnitte, Pressefotografie, Pop-Musik und – vor
allem – andere Filme. Charakteristisch
für seine Arbeit und damit Beleg seiner
politischen Schärfe und seines Sinns für
Geschichte ist genau dieses subtile, aber
durchgängige Bewusstsein dafür, dass
Darstellung immer auch einen Raum von
Medien-Realität evoziert. Dies impliziert
zweierlei: Zunächst zeigt Fassbinder niemals Menschen, »wie sie eben sind«, son-
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R. W. Fassbinder
Fassbinders Deutschland
dern deren Selbst-Darstellungen, also die Bilder, die
sie von sich selbst haben
oder von denen sie wollen, dass andere Menschen
sie von ihnen haben. Zum
zweiten trägt die soziale Realität in den Filmen
Fassbinders immer schon
die Züge einer MedienRealität, wobei den Medien eine eigentümliche Medien-Realitäten: Die erste Einstellung von LOLA
Materialität zugestanden
wird, die über eine transparente Vermitt- Heimweh besingt. Zweierlei Deutschlungsfunktion hinausgeht. Dies gilt für land, das politische und das populäre, ist
das Radio in LOLA und LILI MARLEEN, hier aufs Unwahrscheinlichste »vereint«,
die Presse in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT aber nur in dieser Form kann der Film in
ZUM HIMMEL und das Kino in DIE EHE Anspruch nehmen, die Realität der fünfDER MARIA BRAUN, aber auch für die Li- ziger Jahre zu repräsentieren.
teratur – als materialem Medium, nicht
als Prä-Text einer Fiktion – in FONTANE Das politische Deutschland:
EFFI BRIEST. Der Einsatz von Tönen und
Die verpasste Chance und der
Musikzitaten zeigt eine geradezu unheimnicht gewählte Weg
liche Sensibilität für die historische Materialität des Populären, insbesondere,
o verlockend es auch scheint, sich sowohl die Vorstellung von Fassbinders
wenn Peer Raben für die Komposition
verantwortlich zeichnet und Schlager comédie humaine als auch diejenige vom
von Rocco Granata ( HÄNDLER DER VIER repräsentativen deutschen Künstler zu eiJAHRESZEITEN), Balladen der Platters gen zu machen, führt doch beides in die
(DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON falsche Richtung. Selbst Fassbinders poliKANT), die Stimme von Richard Tauber tische Analyse der westdeutschen Gesell( BERLIN ALEXANDERPLATZ) oder Kom- schaft will mit Vorsicht bedacht sein: Als
positionen von Beethoven (WILDWECH- genaue Beschreibung demokratischer InsSEL) einsetzt. Ein Beispiel für den Einfluss, titutionen sind die Filme weder besonders
den eine vorgefundene Medien-Realität informativ noch besonders radikal (vielauf die fi ktive Welt haben kann, ist die leicht mit Ausnahme von ACHT STUNDEN
Eröffnungssequenz von LOLA, wenn ein SIND KEIN TAG) [23]. Ihr dokumentariFoto Bundeskanzler Adenauer zeigt, wie scher Wert liegt woanders, und man tut
er vornübergebeugt auf ein Tonbandgerät gut daran, die verschiedenen Ebenen ausblickt, während auf der Tonspur Freddy einanderzuhalten: die politische Analyse,
Quinn die Dialektik von Fernweh und die soziale Interpretation, aber auch, zum
S
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Fassbinder.indb 31
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1. Fassbinders Deutschland
Beispiel, Fassbinders gespanntes Verhältnis
zur (westdeutschen) Linken. Im Kapitel zur
BRD-Trilogie werde ich ausführlich auf die
Frage zu sprechen kommen, warum seine
Filme besondere Interpretationsprobleme
aufwerfen, aber hier soll der Hinweis genügen, dass seine allegorisierenden Verfahren, seine zurückgenommene Ironie, seine
mal exzessiven, mal melodramatischen,
mal Camp-Tonarten nicht eine Frage des
persönlichen Stils sind, sondern der Reflexion des Historischen dienen.
Die politische Wirklichkeit, über die
Fassbinder qua eigener Erfahrung verfügen konnte, erstreckt sich über vier Regierungen: der Kalte-Krieg-Konservatismus der Adenauerzeit einschließlich der
Kanzlerschaft Erhards, ab der Mitte der
sechziger Jahre die Große Koalition unter
Kiesinger, die sozialliberale Koalition der
Ära Brandt und schließlich der Rechtsruck nach 1974 unter Schmidt. Vor allem
der Phase zwischen den Mittfünfzigern
und den Mittsiebzigern galt Fassbinders
Interesse. Er näherte sich diesen beiden
Jahrzehnten mit einer Art von Teleskop
oder Zoom, um so den Blick auf unterschiedliche Aspekte der Geschichte des
deutschen Bürgertums wie zum Beispiel
der Familie oder der Institution Ehe seit
der ersten Staatsgründung unter Bismarck
richten zu können. In gewisser Hinsicht
haben diejenigen Filme, die vor 1945 spielen, mehr mit einer Archäologie der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu tun
als mit der zeitgenössischen Gesellschaft,
wenngleich auch diesbezüglich politische
Fragen formuliert werden. Ausgangspunkt
für Fassbinders Beschäftigung mit der
Nachkriegsentwicklung war, wie bereits
erwähnt, das Projekt DEUTSCHLAND IM
film:9
HERBST und Pläne (von Alexander Kluge wahrscheinlich gemeinsam mit Peter
Märthesheimer entwickelt) für dessen
Fortsetzung Die Ehen unserer Eltern. Wie
andere Regisseure, die sich am Ende der
sechziger Jahre beziehungsweise zu Beginn
der siebziger Jahre des Themenkomplexes »Deutschland« annahmen, geschah
dies auch bei Fassbinder aus dem brennenden Bedürfnis heraus, die Gegenwart
verstehen zu wollen, in dieser Hinsicht
war er ein zoon politicon [24]. Stichworte für die innenpolitischen Konflikte der
siebziger Jahre, als konservative Werte zu
sozialdemokratischen wurden, waren die
Krise der staatlichen Autorität, der Legitimation institutioneller Macht und der
Legislative, beide verkörpert in der symbolischen Rolle des Vaters als Kopf der
Familie [25]. Mitte der siebziger Jahre
herrschte unter Intellektuellen (und auch
manchen Politikern) die Auffassung, dass
die Bundesrepublik in zentralen Punkten
eine Fehlentwicklung durchgemacht hatte, so in ihrem Verhältnis zur deutschen
Geschichte, der Definition nationaler
Identität und insbesondere im Verhältnis zwischen den Generationen. In der
außerparlamentarischen Linken gewann
die Einschätzung an Bedeutung, dass die
unterschiedlichen Regierungen die Möglichkeiten verspielt hatten, die Bundesrepublik aus dem Kalten Krieg herauszuhalten, und dass nach 1945 die Möglichkeit
bestanden habe, einen friedlichen Weg
zum Sozialismus zu beschreiten, der allerdings aus unterschiedlichen Gründen
von keinem der beiden deutschen Staaten
genutzt worden sei. Sozialgeschichtler und
Literaturkritiker untersuchten die Gesellschaft der »Stunde Null« 1945, die Poli-
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Fassbinder.indb 32
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R. W. Fassbinder
tik der Alliierten, aber auch die Rolle der
politischen Parteien, der Gewerkschaften
und der Geheimdienste, die alles taten,
um eine weniger selbstsüchtige und opportunistische Gesellschaft zu verhindern.
Jean-Marie Straub hatte bereits in den
sechziger Jahren mit NICHT VERSÖHNT
ODER ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT (1964/65) – basierend
auf einem Böll-Text – den Entwurf einer
alternativen Rekonstruktion der Nation
geliefert, die sich nicht lediglich über das
»Wirtschaftswunder« definierte. Die antiautoritäre Bewegung der späten sechziger
Jahre, die Öffnung nach Osteuropa und
die Ereignisse, deren Reflex ein Film wie
DEUTSCHLAND IM HERBST ist, gaben
der Vorstellung von »Deutschland« neue
Themen, die die Debatten nach dem Fall
der Berliner Mauer zum Teil antizipierten,
wenngleich mitunter als glatte Fehlinterpretationen, denn 1989/90 verschob sich
das verdeckte Zentrum all jener Debatten um die Nation und ihre historischen
Optionen ein weiteres Mal. Auch wenn es
aus heutiger Perspektive kaum glaubhaft
erscheint, aber in der Zeit von Fassbinders
größter Aktivität schien die Bundesrepublik noch immer eine der fragilsten europäischen Demokratien zu sein [26].
Als Mitte der siebziger Jahre die jüngste deutsche Vergangenheit zum Thema
einer ganzen Reihe von Spielfilmen wurde, konnten diese Filme mit einem großen
Publikumsinteresse rechnen, weil es sich
für diejenigen, die in der fünfziger und
sechziger Jahren geboren worden waren,
immer deutlicher abzeichnete, dass die
Bundesrepublik nicht mit der Vergangenheit gebrochen hatte – und dies vielleicht
nicht einmal wollte:
Fassbinders Deutschland
»Ich glaube, daß vieles, was derzeit in
Deutschland geschieht, darauf hinweist, daß
sich die Situation rückwärts entwickelt. Präziser: ich würde sagen, daß die Chance für
Deutschland, sich nach 1945 zu erneuern,
nicht genutzt wurde. Statt dessen sind die
alten Strukturen und Werte, auf denen der
Staat, nun als Demokratie, gründet, unverändert geblieben.« [27]
Als Fassbinder in den siebziger Jahren
auf die Zeit des »Wirtschaftswunders«
der fünfziger Jahre zurückblickte, sah er
eine Gesellschaft, die zwar geschäftig,
aber nicht in Bewegung war. Oberflächlich um Erfolg und Respektabilität bemüht, erschienen die Deutschen moralisch unbeweglich, ultra-konservativ und
mit Selbstsicherheit maskiert, dabei aber
zugleich blind für Einsichten aus ihrer nationalen Vergangenheit. Filme wie WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? , HÄNDLER
DER VIER JAHRESZEITEN, ANGST ESSEN
SEELE AUF, WILDWECHSEL oder ANGST
VOR DER ANGST zeigen eine Gesellschaft,
die gleichermaßen konformistisch, unreif,
spießig und gewalttätig ist, wobei Gewalt
sich sowohl nach innen als auch nach außen entladen kann. Diese Gesellschaft ist
im besten Falle unsicher, im schlimmsten
Fall gefährlich instabil. Fassbinders Innenräume atmen den kleinbürgerlichen Mief,
den die Heuchelei derjenigen produziert,
die großen Wert auf ihre ehrenwerte Erscheinung legen, aber verdrossen und
frustriert feststellen, dass sie sich nicht
einmal selbst überzeugen können.
Ein Ergebnis der durch den RAF-Terrorismus beförderten nationalen Selbstreflexion und familialen Innenschau ist die
Idee zu DIE EHE DER MARIA BRAUN, die
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Fassbinder.indb 33
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1. Fassbinders Deutschland
auf Anregungen von Peter Märthesheimer
zurückgeht, der der Fernsehspielabteilung
des WDR eine zugkräftige Reihe von Filmen anbieten wollte, die sich mit der jüngsten Geschichte auseinandersetzten. Der
Erfolg von DIE EHE DER MARIA BRAUN
brachte Fassbinder und Märthesheimer auf
die Idee der sogenannten »BRD-Trilogie«,
die weiterhin LOLA (Untertitel: »BRD 3«)
und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS
(Untertitel: »BRD 2«) umfasste [28]. Der
Bedeutung dieser Trilogie, besonders auch
für Fassbinders Reputation im Ausland,
ist ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe
Kapitel 4). Aber das Projekt im Ganzen,
mitsamt der damit verbundenen Darstellungsstrategien, bedarf eines Blickes auf
Fassbinders Beziehung zur westdeutschen
Linken während der siebziger Jahre und
auf die unterschiedlichen Versionen (s)
einer »Körperpolitik«.
Fassbinder und die Linke:
DIE NIKLASHAUSER FART
D
ie politische Einschätzung der Bundesrepublik, wie sie im vorangehenden
Abschnitt beschrieben wurde, ist nicht
sonderlich originell, beschreibt aber mehr
oder weniger treffend die linksliberale Einschätzung der Bundesrepublik während
der sechziger Jahre. Sie rechtfertigt post
festum sowohl die liberale Enttäuschung
als auch die linke Frustration darüber,
die 68er-Revolte nicht in dauerhafte politische Strukturen überführt zu haben.
Auch wenn er mit ihren Motiven sympathisierte, blieb Fassbinders Verhältnis
zur politischen Linken, sei dies nun die
APO, die internationalen Befreiungsbewegungen oder die RAF, distanziert. Er
film:9
kannte zwar das spätere RAF-Mitglied
Holger Meins und den Kaufhausbrandstifter Horst Söhnlein persönlich, erachtete
aber, wie Ingrid Caven mitgeteilt hat, die
direkte politische Aktion als dumm und
den Schritt hin zu bewaffnetem Widerstand als selbstzerstörerisch [29].
Post-68er-Militanz, linksradikale Parteipolitik und die Stadtguerilla wurden
dennoch zum Gegenstand von Fassbinders
Filmen, besonders in DIE NIKLASHAUSER
FART, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM
HIMMEL und DIE DRITTE GENERATION.
Auch wenn diese Filme zu unterschiedlich
sind, um sie einem Genre zuordnen oder
eine Position des Regisseurs in ihnen ausmachen zu können, ist ihnen ein wohlüberlegtes Misstrauen gegenüber politischem
Aktivismus gemeinsam. In der Handlung
selbst sind es weniger die Zweifel an der
Effektivität einer direkten Aktion als vielmehr die widersprüchlichen Motive der
Aktivisten, die Fassbinder interessieren:
die Vermischung des Privaten und des Politischen, die Gier nach sexueller Macht
oder finanziellem Gewinn unter dem
Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit
und der Befreiung der Massen. Andererseits, die Salonkommunisten in MUTTER
KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL als Heuchler zu bezeichnen oder die Terroristen in
DIE DRITTE GENERATION, die plötzlich
Geiseln nehmen, als zynische Egomanen,
verfehlte diese Filme ebenso, weil es gerade die Duplizität der Beweggründe und
die Diskrepanz zwischen den Intentionen
und ihren Folgen ist, die Fassbinders Filme
politisch machen. Wahrscheinlich hätte
er – auch als Dramatiker – Lichtenbergs
Formulierung unterschrieben, die lautet:
»Beurteile die Menschen nicht nach ihren
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Fassbinder.indb 34
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R. W. Fassbinder
Fassbinders Deutschland
Ansichten, sondern danach, was diese Ansichten
aus ihnen machen.«
Wenn man sich Fassbinders Praxis als Regisseur vor
Augen führt, wird klar, dass
er nicht der Meinung war,
dass der Zusammenbruch
des Kapitalismus unmittelbar bevorstand. Er sah
vielmehr die Energie, die
aus der Zirkulation von Waren, Dienstleistungen und
Geld resultierte. In dieser
Hinsicht war er ein Anarchist, der an die permanente Revolution glaubte,
deren eine Manifestation
der Kapitalismus ist. Politisch war Utopia für ihn ein
Ausgangspunkt zum Blick
auf die Gegenwart, kein
Ziel, auf das hinzuarbeiten
wäre. Bedeutsam für seine Arbeit war das Thema Michael König und Hanna Köhler in DIE NIKLASHAUSER FART
Sex und Geschlecht, das
von der 68er-Linken fast völlig vernach- automatisch in Verdacht, mit der DDR zu
lässigt wurde. Deren Einschätzung, dass sympathisieren oder gar die Terroristen zu
die Frage der Gleichberechtigung der Ge- unterstützen – eine Form von politischer
schlechter nach der glücklichen Überwin- Nötigung, der selbst international angedung der Klassenwidersprüche mehr oder sehene Liberale wie der Nobelpreisträger
weniger automatisch gelöst sei, teilte Fass- Heinrich Böll nicht entgingen [30].
Nie darum verlegen, seine Ansichten
binder nicht. Politischen Parteien traute
er ebenso wenig wie der Illusion, dass die über die Mächtigen und zur Korruption
DDR eine ernstzunehmende Alternative oder seine Kritik am Missbrauch von Pridarstellte. Andererseits war er sich des vilegien zu artikulieren, scheint Fassbinder
besonderen Dilemmas der westdeutschen doch nur geringes Interesse an einer Form
Linken bewusst, in dem sich sogar deren der direkten politischen Intervention gehabt
legaler Teil befand: Kritik, beispielsweise zu haben, die während der siebziger Jahre
an der Atompolitik oder an der Law and en vogue war: investigativer Journalismus
Order-Politik der siebziger Jahre, geriet fast und die Recherchen über die rechtsextre35
Fassbinder.indb 35
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1. Fassbinders Deutschland
men Tendenzen der politischen Elite. So
hat sich Erich Kuby in den fünfziger Jahren einen Namen als Kritiker der dunklen
Seiten der Demokratie gemacht, der die
Machtspiele in geistreichen Büchern satirisch entlarvte. In den sechziger Jahren
publizierte Bernt Engelmann eine Reihe
von faktenreichen Büchern zur kompromittierenden Vergangenheit der westdeutschen politischen Klasse – und in den
siebziger Jahren wurde Günter Wallraff
zum »Star« dieser »Aufklärungs«-Szene.
Mit stets neuen Verkleidungen und Identitäten berichtete er über ausbeuterische
Arbeitsbedingungen und von türkischen
Immigranten und infi ltrierte bekannte
Großunternehmen, multinationale Konzerne, rechte Zeitungen und kirchliche
Organisationen. Er entlarvte nicht nur
Missstände und kriminelle Tatbestände,
sondern machte im Ganzen deutlich, wie
dünn die demokratische Tünche dieser
durch und durch autoritären, rechten und
intoleranten Gesellschaft aufgetragen war.
Fassbinder hat sich für die Arbeit dieser
»linken Helden« ebenso wenig interessiert
wie für die allwöchentlich vom Spiegel zutage geförderten Skandale und Skandälchen.
(Dessen Herausgeber Rudolf Augstein rettete in den Mittsiebzigern allerdings auch
den maroden Filmverlag der Autoren, zu
dessen Mitbegründern Fassbinder gehörte.) In Fassbinders Filmen ist investigativer
Journalismus recht selten ein Thema und
wenn, wie in MUTTER KÜSTERS’ FAHRT
ZUM HIMMEL oder DIE SEHNSUCHT DER
VERONIKA VOSS, dann sind die Journalisten
entweder Lohnschreiber für Revolverblätter auf der Suche nach Sensationen oder
selbstmitleidige Feiglinge, die ihr Gewissen im Alkohol ertränken.
film:9
DIE NIKLASHAUSER FART ist Fassbinders eindeutigster Blick auf die Rhetorik
und die Gefühlsduselei, die sich hinter
radikalem Aktivismus und linksradikaler
Militanz verbirgt. Der Film wurde im Mai
1970 für das Spätprogramm des WDRFernsehspiels gedreht und versucht nicht,
seine Anregungen durch Godards WEEKEND (1967) zu verbergen. DIE NIKLASHAUSER FART nutzt dieselbe Struktur einer pikaresken Reise auf das Land, die in
Gewalt, Blut und Verwüstung endet. Die
Inszenierung als Aneinanderreihung von
Tableaus erinnert zudem an Glauber Rochas O DRAGAO DA MALDADE CONTRA
O SANTO GUERREIRO (Antonio das Mortes; 1968). Die Schauspieler deklamieren
revolutionäre Texte, Zeitungsberichte über
Schießereien mit der Black Panther Party oder Passagen aus Marx’ Kapital. Absolut deutsch ist dagegen die Situierung
der Geschichte in der bayerischen Folklore, organisiert um einen Schnittpunkt
zwischen ländlichem Mystizismus und
Agitprop-Theater, dem Marienkult und
revolutionärem Messianismus. Der Film
weist auf eine Reihe anderer Filme, die in
den frühen siebziger Jahren entstanden,
angefangen mit den Anti-Heimatfilmen
von Volker Schlöndorff (DER PLÖTZLICHE REICHTUM DER ARMEN LEUTE VON
KOMBACH; 1970), Reinhard Hauff (MATTHIAS KNEISSL; 1970/71) und Volker Vogeler ( JAIDER, DER EINSAME JÄGER; 1970)
bis hin zu den Anarcho-Mystizismen eines Herbert Achternbusch (SERVUS BAYERN; 1977) und Werner Herzog ( HERZ
AUS GLAS; 1976). Die Geschichte vom
Schafhirten, dessen Marienerscheinungen von unterschiedlichen Seiten – von
einer sexuell begierigen Gräfin bis zu ei-
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Fassbinder.indb 36
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R. W. Fassbinder
Fassbinders Deutschland
Magdalena Montezuma und Michael König in DIE NIKLASHAUSER FART
nem undurchsichtigen agent provocateur,
den man den Schwarzen Mönch nennt
(Fassbinder spielt ihn selbst) – instrumentalisiert werden, bevor er festgenommen und am Pfahl verbrannt wird, bietet
verschiedenen Ebenen der Ironie und des
Sarkasmus eine Plattform. Der Film hält
das Gleichgewicht zwischen den RokokoDekors der Gegenreformation und Flower-Power-Hippies und kombiniert einen
homosexuellen Bischof, der eine Vorliebe für nackte Jungs und den Schweißgeruch junger Bauern hat, mit einer »Todesschwadron« westdeutscher Polizisten und
dem Maschinengewehrfeuer schwarzer
GIs auf einem Campingplatz. In DIE NIKLASHAUSER FART lässt Fassbinder seiner
Buñuel’schen Seite freien Lauf: Der Film
ist einerseits eine holzschnittartige Satire auf die Korruptheit und Brutalität der
Herrschenden, andererseits eine bewegen-
de Hommage an den tiefwurzelnden bayrischen Widersinn. Fassbinder zeigt auch
das Theaterhafte revolutionärer Energie,
wenn er selbst mit Hanna Schygulla vor
einem barocken Spiegel ihre große Rede
ans Volk einstudiert und dem Film einen
Prolog voranstellt, in dem er, Schygulla und
eine Antonio das Mortes-Figur mit einem
Gewehr über die Avantgardefunktion der
Partei und die Zulässigkeit von Manipulation und Inszenierung zur Mobilisierung
der Massen diskutieren.
Es ist nicht schwierig, hinter den grausamen, an Pirandello erinnernden Spielen
Fassbinders mangelnde Sympathie für
selbsternannte Demagogen oder jesuitische Sophisterei zu entdecken, wenn
sie zu revolutionärer Rhetorik über den
Klassenkampf führen. Trotzdem verleiht
die Sorgfalt, mit der einige Drehorte ausgewählt wurden – wie zum Beispiel im
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Fassbinder.indb 37
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1. Fassbinders Deutschland
Fall der Rede über Marx’ Mehrwerttheorie in einem gespenstisch-weißen Steinbruch, der Kreuzigung vor dem Hintergrund eines Berges von verschrotteten
Autos oder der furchterregenden Rede
aus Kleists Penthesilea, vorgetragen von
drei Frauen in Kriegsbemalung auf einer
rauchenden Müllhalde –, dem Film einen düsteren Ernst, der durch die a cappella gesungenen oder durch Trommeln
begleiteten Kirchenlieder unterstrichen
wird. Sie machen deutlich, dass Fassbinder nach einem Weg suchte, den Figuren
ihre Menschenwürde zuzuerkennen, sich
aber trotzdem von der Stupidität ihrer
Handlungen und Ziele distanzieren zu
können, egal, ob es sich dabei um offi zielle oder oppositionelle, egoistische oder
altruistische handelte.
Unmögliche Kritik: Nicht von
innen, nicht von außen
F
assbinders Blick auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte mag Einschätzungen wie »die Wiederkehr des
Verdrängten« oder der Rede von fatalen
Kontinuitäten ähneln, unterschied sich jedoch fundamental von den polemischen
oder gewalttätigen Auseinandersetzungen
mit dem Staat von Seiten der Linken. Die
Tatsache, dass die Bundesrepublik international als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches auftrat, eröffnete zwar einerseits die Möglichkeit, für beide deutsche Staaten zu sprechen, aber dadurch,
dass man die Justiz, die Wissenschaft,
die technischen und ökonomischen Eliten nicht einmal oberflächlich »entnazifi zierte«, verspielte man Respekt und Loyalität der jüngeren Generation, die auf
film:9
das Schweigen bezüglich der nazistischen
Vergangenheit hinweisen konnte, das zum
Beispiel in Schulen und an Universitäten
zum »guten Ton« gehörte. Hinzu kam die
kompromittierende NS-Vergangenheit
hoher Vertreter des Staates, wie zum
Beispiel des Staatssekretärs Globke oder
des Bundeskanzlers Kiesinger. Es war bekannt, dass die Amerikaner mit Alt-Nazis
lieber kooperierten als mit Sozialdemokraten und zurückgekehrten Emigranten,
weil sie Wert auf einen zuverlässigen Antikommunismus legten.
Doch auch diese politischen Skandale dienten Fassbinder nur selten als Material für seine Filme. Ein Grund für sein
Misstrauen gegenüber solcher Systemkritik mag die Tatsache gewesen sein, dass
man sich damit unweigerlich außerhalb
des Kritisierten platzierte, wobei man
sich weder auf eine ernstzunehmende politische Alternative stützen konnte, noch
wirklich an denen interessiert war, in deren Namen die Kritik formuliert wurde.
In dieser Hinsicht ist MUTTER KÜSTERS’
FAHRT ZUM HIMMEL gewiss die offenste
Kritik an Parteipolitik, Gewerkschaften
und dem Anti-Parlamentarismus maoistischer Gruppen. Indem er sich auf die
moralische Verfehlung konzentriert – auf
die peinigende Scham, die Mutter Küsters
erfährt, als sie versucht, die Liebe und die
Loyalität zu ihrem Mann zu bewahren, der
der Öffentlichkeit längst als »kriminell«
und »verrückt« gilt –, zeigt der Film, dass
gegenwärtig niemand in der Lage ist, stellvertretend die Dinge zu artikulieren, um
derentwillen gewöhnliche, unpolitische
Menschen zu handeln beginnen, und die
Familie oder den Arbeitsplatz politisieren,
das heißt die Öffentlichkeit suchen.
38
Fassbinder.indb 38
10.05.2012 13:52:03
R. W. Fassbinder
Allgemeiner gesprochen: Was Fassbinder beschäftigte, waren die (Un-)Möglichkeiten, eine »kritische« oder eine allgemein
verbindliche politische Position zu beziehen. Sein Lösungsversuch für dieses Dilemma ist die klassische Dramenstrategie,
dem Publikum auch die
Perspektive des Verbrechers, des Verlierers und
des underdog vorzuführen.
Im Zusammenhang mit
der faschistischen Vergangenheit einer Figur in
WILDWECHSEL formulierte Fassbinder einmal:
Fassbinders Deutschland
TERN (1965/66), gedreht hatten. Wo der
Junge Deutsche Film der sechziger Jahre
Naturalismus als Form der Satire nutzte, setzte Fassbinder auf Stilisierung, auf
die kalkulierten Strategien von Identifikation und Distanzierung, und leistete
»Ich meine, daß ich wirklich
weniger als fast alle anderen
Leute [...] denunziere und
viel zu sehr positiv auf Leu- Mutter Küsters (Brigitte Mira) und die DKP-Funktionäre
te eingehe, wo es eigentlich Tillmann (Margit Carstensen, Karlheinz Böhm)
schon gar nicht mehr tragbar ist. Wenn zum Beispiel in WILDWECHsich einen verwirrenden Mix aus Zuneigung und Abneigung jenseits jedes simSEL der Vater von seinen Kriegserlebnissen
erzählt, wenn seine Ansichten besonders
plen Gut/Böse-Schemas. Fassbinder war
schrecklich werden, dann sind wir immer
sich bewusst, dass solche »Zärtlichkeit
bis hin zur Unverantwortlichkeit« ihren
besonders zart mit ihm umgegangen, um
klarzumachen, daß das Schreckliche etwas
Preis hat: Die Entscheidung, auch widerist, was sie sprechen und was natürlich auch
sprüchliche Charaktere nicht verurteilen
seine Ansichten sind, die ihnen aber beigezu wollen, führte zu Kontroversen und
bracht worden sind [...].« [31]
Skandalen. Dramaturgische Sympathien
Mit anderen Worten: Während Fassbinder die linke Kritik moralischer Feigheit
billigte, verzichtete er darauf, die Porträtierten zu karikieren. In dieser Hinsicht
unterscheiden sich seine Filme in der Tat
von denen, die die »Oberhausener«, zum
Beispiel Peter Schamoni mit SCHONZEIT
FÜR FÜCHSE (1965/66) oder auch Alexander Kluge mit ABSCHIED VON GES-
für Monster des Psychoterrors wie Margit Carstensen in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT, Karlheinz
Böhm in MARTHA, Effi Briests Ehemann
Instetten in FONTANE EFFI BRIEST oder
Peter Chatel in FAUSTRECHT DER FREIHEIT wurden als Belege dafür interpretiert, dass Fassbinder verdächtig stolz
darauf sei, emotionale Grausamkeit abzubilden [32].
Textauszug aus: Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder.
© Bertz + Fischer Verlag. 2., überarb. Auflage; ISBN 978-3-929470-97-0
http://www.bertz-fischer.de/rainerwernerfassbinder.html
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10.05.2012 13:52:03