Das Chaos als Programm
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Das Chaos als Programm
Weitere Files findest du auf www.semestra.ch/files DIE FILES DÜRFEN NUR FÜR DEN EIGENEN GEBRAUCH BENUTZT WERDEN. DAS COPYRIGHT LIEGT BEIM JEWEILIGEN AUTOR. Universität Freiburg Musikwissenschaftliches Seminar 1993/94: Programmusik des 18. und 19. Jahrhunderts Prof. Dr. Luigi Ferdinando Tagliavini Das Chaos als Programm Vergleich der "Vorstellung des Chaos" zu Beginn der "Schöpfung" von Joseph Haydn und der symphonie de danse "Les Elémens" von Jean-Féry Rebel René Perler 1 April 1994 2 1. Inhaltsverzeichnis 2. Einleitung S.3 3. Hauptteil S.4 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. Joseph Haydns "Vorstellung des Chaos" Die Umstände bei der Komposition Die Stellung des Stücks innerhalb des Oratoriums Analyse Reaktionen von Zeitgenossen Haydns S.4 S.4 S.5 S.6 S.8 3.2. "Les Elémens" von Jean-Féry Rebel 3.2.1. Einleitung 3.2.2. Analyse anhand des Avertissements 3.2.3. Biographie von Jean-Féry Rebel S.9 S.9 S.9 S.13 4. S.15 4.1. 4.2. 4.3. 5. Unterschiede der Chaosvorstellungen bei Haydn und Rebel Zusammenfassung Haydn Zusammenfassung Rebel Schlusswort S.15 S.15 S.15 Anhang S.16 5.1. Literaturverzeichnis 5.1.1. Quellen 5.1.2. Sekundärliteratur 5.2. Notenbeispiele 5.2.1. Partitur Haydn 5.2.2. Porträt Rebel 5.2.3. Titelblatt Rebel 5.2.4. Widmung Rebel 5.2.5. Partitur Rebel S.16 S.16 S.17 S.18 S.18 S.19 S.20 S.21 S.22 3 4 2. Einleitung Wie entstand die Welt? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist nach dem Tod? Was ist Wahrheit? Diese Liste ist willkürlich und liesse sich beliebig fortsetzen. Sie nennt vier von vielen Fragen grundsätzlicher Natur, welche die Menschheit seit jeher beschäftigt haben und die sie wohl auch bis an ihr Ende beschäftigen werden, da es keine Antworten auf diese Fragen gibt. Hört man diese Fragen an der Universität, so denkt man an dicke Abhandlungen mit dazugehörigen Vorlesungen von Philosophieprofessoren. Doch da wohl jeder Mensch sich einmal solche Fragen stellt, gab es auch Musiker, die sich damit auseinandersetzten und welche die Problematik auf ihre Art in Musik fassten und so ihren Beitrag weitergaben. Ich habe zwei Komponisten herausgepflückt, die sich je mit der Frage beschäftigten, was denn vor der Erschaffung der Welt gewesen sei. Beide hinterliessen uns ihre musikalische Vorstellung vom CHAOS. Es ist dies auf der einen Seite Joseph Haydn, der sein Oratorium "Die Schöpfung" mit einer "Vorstellung des Chaos" beginnt und auf der andern Jean-Féry Rebel, der eine symphonie namens "Les Elémens" geschrieben hat und sie eröffnet mit dem "cahos". Die beiden Stücke weisen grosse Unterschiede auf, nicht nur, da sie in verschiedenen Epochen und in verschiedenem Kontext geschrieben wurden, sondern auch, weil Haydn und Rebel ein verschiedenes Konzept des Begriffes Chaos hatten. Dies wird nun aufzuzeigen sein. Handelt es sich hierbei wirklich um Programmusik oder stellen die Stücke nicht einfach eine Tonmalerei dar? Es kann schliesslich genausogut jemand einwenden, beim Hören von Tschaikowskys Sommernachtstraum das Paradies zu sehen und bei Zwölftonmusik sich dem Chaos nahe zu wähnen. Entscheidend ist die Frage nach dem Programm, und ein solches liegt in beiden Fällen vor: bei Jean-Féry Rebel findet sich ein seitenlanges Avertissement, das Angaben zum Stück macht und als sein Programm bezeichnet werden kann, bei Joseph Haydn eine doppeldeutige Überschrift, die aber als Programm ausreicht. Haydn betitelt sein Stück mit "Vorstellung des Chaos". Soll dies nun heissen, dass Haydn uns zu Beginn seines Oratoriums, das die Erschaffung der Erde ausmalt, so wie sie uns die Bibel vorgibt, das Chaos präsentieren will, oder deutet der Titel darauf, dass Haydn mit diesem Stück Musik seine eigene, individuelle Vorstellung des Chaos hören lassen will? Beides ist denkbar. Zuerst soll nun gesondert auf die beiden Kompositionen und ihren Kontext eingegangen werden, bevor ich in einem abschliessenden Punkt die beiden Konzeptionen des Begriffs Chaos gegenüberstelle. 5 3. Hauptteil 3.1. Joseph Haydns "Vorstellung des Chaos" 3.1.1. Die Umstände bei der Komposition Es soll hier nicht darum gehen, eine vollständige Vita Joseph Haydns zu liefern; ich möchte aber kurz die Lebensumstände während der Komposition der "Schöpfung" und ihren möglichen Einfluss auf das Werk darstellen. Haydn war immerhin schon über 60, als er rasch nacheinander zwei grosse deutschsprachige Oratorien, Die Schöpfung und Die Jahreszeiten, schrieb. Was mag ihn dazu bewogen haben? Haydn stand bekanntlich den grössten Teil seines Lebens im Dienst des Hauses Esterházy, ab 1766 als erster Kapellmeister der fürstlichen Privatkapelle. Dadurch, dass Fürst Nikolaus am Neusiedlersee residierte, sah sich Haydn isoliert vom damaligen Musikleben, das sich v.a. in Wien abspielte. Seinem späteren Biographen Georg August Griesinger gegenüber äusserte er sich wie folgt: "Mein Fürst war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, ich erhielt Beyfall, ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert. Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich original werden" (Griesinger, Biographische Notizen, S. 24/25). Trotzdem - er war fürstlicher Bediensteter und musste sich den Wünschen und Erwartungen seiner Herrschaft fügen. 1790 stirbt Fürst Nikolaus, die Kapelle wird von seinem Nachfolger mangels Mittel und Interesse aufgelöst. Haydn erhält ein Jahresgehalt und wird "freischaffender" Künstler. Nach fast dreissig Jahren Abhängigkeit von Esterházy steht er nun auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und lebt finanziell gesichert. Seine neue, vollkommene Entscheidungsfreiheit nutzt er 1790-92 erst einmal für eine grosse Auslandreise, die ihn nach London führt, dem Zentrum der damaligen musikalischen Welt. Diese, wie auch die zweite London-Reise von 1794/95, wirken sich auf sein Schaffen aus: Die zwölf "Londoner" Symphonien (Hob.93-104) sind Früchte davon. Grössere Bedeutung für die Komposition der beiden Werke hat der Eindruck, den die Oratorien Händels bei ihm hinterliessen. Haydn wohnte vom 23. Mai bis zum 1. Juni der grossen Händel-Feier (Handel commemoration) in der Westminster Abbey bei. Er staunte über die gewaltige Popularität der in der Landessprache komponierten Werke, über die rege Teilnahme des Publikums ebenso wie über die Art, wie der Anlass zu einem Musikfest inszeniert wurde. Es mag sein, dass in Haydn angesichts dessen die Absicht keimte, für das heimatliche Wien etwas Gleichartiges zu schaffen, in deutscher (Wiener) Sprache und Art, etwas, das gleichermassen zum nationalen Besitz werden konnte wie Händels Werke in London. Ebenfalls in London wird ihm das Libretto der Schöpfung vorgelegt, wie einst schon Händel, der es abgelehnt hatte. Es ist abgefasst nach John Miltons "Paradise lost" von 1674, als Verfasser wird von einigen Quellen ein gewisser Linley genannt. Haydn nimmt das Manuskript mit nach Wien, wo Baron Gottfried van Swieten, eine schillernde Figur des damaligen Musiklebens, es in gutes Deutsch übersetzt und im Libretto eigene Kompositionsvorschläge notiert. Sein Einfluss textlicher wie musikalischer Art ist als gross einzustufen. 6 Zwischen dem ersten Kontakt mit dem Text und der Uraufführung 1798 liegen sieben Jahre; drei davon wendet er auf für die Komposition der Schöpfung. Zahlreiche Skizzenblätter zeugen von seinem Ringen mit dem Text, ebenso wie folgende Äusserung: "Ich war noch nie so fromm, als während der Zeit, da ich an der Schöpfung arbeitete; täglich fiel ich auf meine Knie und bat Gott, dass er mir Kraft zur glücklichen Ausführung dieses Werkes verleihen möchte."(Griesinger S.101). 7 3.1.2. Die Stellung des Stücks innerhalb des Oratoriums Was beabsichtigt Haydn, wenn er ganz zu Beginn seines Oratoriums das Chaos darstellt? Werfen wir einen Blick in das Inhaltsverzeichnis der Komposition, so lesen wir: ERSTER TEIL No.1 Einleitung: Die Vorstellung des Chaos Rezitativ & Chor: Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde (Raphael, Uriel, Chor) No.2 Arie mit Chor: Nun schwanden vor dem heiligen Strahle - Verzweiflung, Wut und Schrecken (Uriel, Chor) usw. Das rein instrumentale Chaosgemälde findet sich also nicht gesondert, sondern ist nur der erste Teil der ersten Nummer, mit der Haydn den Umschlag vom Chaos zum Licht darstellt, so wie ihn uns die Bibel schildert. Nach den 59 Takten Chaosmusik singt der Bassolist, den Erzengel Raphael verkörpernd, rezitativisch die Bibelworte "Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde; und die Erde war ohne Form und leer; und Finsternis war auf der Fläche der Tiefe."(T.59-75), worauf der Chor einfällt unter den Worten "Und der Geist Gottes schwebte auf der Fläche der Wasser; und Gott sprach: 'Es werde Licht', und es ward Licht."(T.77-86). Dies ist die berühmte Stelle der Lichtwerdung, die Haydn so einfach wie genial durch den plötzlichen Umschwung von c-moll zu C-Dur komponierte und die beim Hören einen tiefen Eindruck hinterlässt. Abschliessend führt Uriel (Tenorsolist) das Bibelzitat weiter mit dem Text "Und Gott sah das Licht, dass es gut war; und Gott schied das Licht von der Finsternis."(T.89-96). Die ganze erste Nummer ist aufgebaut rund um den Höhepunkt der Lichtwerdung. Eine Aufführung der ersten 59 Takte im Konzertsaal im Stil einer Ouvertüre, wie es Gepflogenheit ist, reisst sie aus dem Kontext und ist demnach widersinnig. 8 3.1.3. Analyse1 Zahlreiche erhalten gebliebene Skizzenblätter lassen vermuten, dass Haydn die Komposition der Einleitung schwer fiel. Diese ungewöhnlich zahlreichen Skizzen, welche in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und in der New York Public Library aufbewahrt werden, dokumentieren den mühsamen Weg zur endgültigen Fassung. Von Anfang an jedoch steht die grundlegende Idee des eröffnenden Unisono-Klanges auf der Note c, das anschliessende Hinzutreten der kleinen Oberterz und eine Abwärtsbewegung in kleinen Sekunden fest. Die definitive Fassung exponiert das eröffnende c forte über vier Oktaven im vollen Orchester und lässt es unter einer Fermate zeitlich unartikuliert verklingen. Die Streicher sind sordiniert und behalten diesen gedeckten, uneigentlichen Klang bis zu Lichtwerdung in Takt 86. Aus dem Einklang wächst in Cello und Bratsche die kleine Terz c'es' (T.2) der Grundtonart c-moll, die allerdings noch im gleichen Takt durch das überlagernde as' der zweiten Violine in Frage gestellt wird. Während im dritten Takt die beiden tieferen Streicher eine kleine Sekunde fallen, setzt die erste Violine mit dem f'' ein, die zweite löst sich als Vorhalt ins g' auf und führt damit zum Dominant-Septakkord, der im vierten Takt nur noch melodisch umspielt wird. Anschliessend folgt ein Tutti-Akkord entsprechend dem ersten Takt, harmonisch allerdings nicht als erwartete erste Stufe, sondern - gleichsam ein Zusammenzug der beiden ersten Takte - als As-Dur-Klang in Sextlage. Es ergibt sich somit ein Trugschluss. Der harmonische Gang der folgenden Takte verläuft - transponiert und farbiger instrumentiert - ähnlich wie jener der Takte 2-5 und führt zu einem dritten TuttiAkkord Es6 in Takt 9, auch er ein Trugschluss und Impuls zu einer harmonisch gleichartigen Fortsetzung. Es ergibt sich somit das dreimalige Akzentuieren eines Tutti-Klanges, zuerst des 1 nach Ravizza, S.22-26 (ebenso Notenzitate) 9 Unisono-c, dann der beiden Klänge As6 und Es6 im Abstand von je vier Takten. Dies lässt sich als Symbol für die Trinität Gottes deuten, der auch das Chaos schon beherrschte. Die Harmonik umgeht konsequent die Grundtonart c-moll, die als voller, ungebrochener Dreiklang erst am Schluss (T.58/59) eintritt. Dazwischen beherrschen verminderte Akkorde, frei eintretende Dissonanzen und unerwartete, überraschende Modulationen den harmonischen Fortgang, auch sie sinnbildlich für das Zusammenhanglose, Gravitationsfreie des chaotischen Zustandes. 10 Betrachtet man die verschiedenen Skizzenblätter1 , so fällt auf, dass Haydn unter der jeweils tiefsten Stimme eine Generalbassbezifferung notierte. Diese entfällt mit Fortschreiten der Komposition immer mehr und fehlt natürlich in der Endfassung. Dieses Detail gewährt Einsicht in Haydns Kompositionstechnik: Es war nicht seine Absicht, das Chaos durch grosse Melodiebogen auszudrücken, sondern durch kleine Figuren, Floskeln, Passagen und Motive, die sich unvermittelt ablösen sollen und so das Bild der Unordnung, des Durcheinanders vermitteln. Hierzu benötigte er aber ein harmonisches Gerüst, das er sich vorab zurechtlegte und notierte. Eine Gliederung der ersten 59 Takte in drei Teile ergibt sich wiefolgt: Ein erster Teil ist gekennzeichnet durch den oben erwähnten, dreimaligen Tutti-Akkord im Abstand von je vier Takten, von den zahlreich auftretenden Leittönen und den aufwärtsstrebenden triolischen Arpeggien. Die Grundtonart c-moll wird umkreist von Es- und As-Klängen. Dieser erste Teil mündet in Takt 21 in Des-Dur, in eine der Tonika c-moll entferntesten Tonart. Der nun folgende zweite Teil ist charakterisiert durch den chromatischen Abstieg desc-ces-b-a-as-g der Streicher in Takt 24-27. Statt der Triolen-Arpeggien treten nun im ersten Fagott Akkordbrechungen in Sechzehnteln auf (T.21-24), bevor die Klarinette in T.27 eine Sextolenbewegung aufnimmt, die ihren Höhepunkt in einer Roulade über zwei Oktaven findet (T.31). Dasselbe folgt nun verkürzt in der ersten Flöte: Sextolen-Arpeggio in T.36; Roulade in T.39. Mit dieser Flötenroulade ist ein Spannungshöhepunkt erreicht: Der Dominant-Septakkord auf G mündet im Crescendo in ein Unisono-c. Dieser Tutti-Einsatz 1 wiedergegeben bei Robbins Landon, S.357-373. 11 zeichnet den Beginn eines reprisenartigen dritten Teiles (T.40-59), der neben den Charakteristika des ersten Teiles aus dem zweiten die sextolischen Arpeggien der Flöte und einen rouladenartigen Zweiunddreistigstellauf des Fagotts in T.49 übernimmt. Die Vorstellung des Chaos findet ihren Abschluss in T.59 mit dem erstmaligen Ertönen des Tonika-Dreiklanges c-moll in Grundstellung. Die Gliederung in drei Teile, wobei der dritte eine Reprise des ersten ist, erinnert an die Liedform A-B-A'. Fehlende Melodik, eine scharfe Rhythmik und das gestörte periodische Gleichmass schwächen jedoch den Eindruck einer wohlproportionierten Liedform. Die Dreiteilung wurde u.a. - sehr bildnishaft - so gedeutet: "Aus der offenen Oktave der Instrumente tritt das Chaos hervor als die noch schlummernde Summe aller Möglichkeiten und offenbart in immerfort drängenden, ja bald bohrenden Leittonschritten seinen Wunsch an den Schöpfer nach Ordnung und Sinn, pocht, bis endlich erstes Licht ausbricht über der entstehenden Welt, um gleich wieder zu versinken im Dämmer dieser Geburt, zwischen Schmerz und Befreiung."1 3.1.4. Reaktionen von Zeitgenossen Haydns Haydns Vorstellung des Chaos hinterlässt beim Hörer einen tiefen Eindruck. Stellvertretend für viele Reaktionen darauf möchte ich zwei Zeitgenossen zitieren, die sehr verschiedener Meinung sind über den Versuch, das Chaos mit einer so regelhaften, wohlgeordneten und klaren Gesetzen unterworfenen Sprache, wie sie die der Wiener Klassik ist, auszudrücken. Das erste Zitat stammt aus der Feder von Carl Friedrich Zelter (1758-1832): "...diese Ouvertüre ...ist nach unserem Urteil das Herrlichste in diesem Werke; die Krone auf einem königlichen Haupte"2. Er nennt auch jene Besonderheiten, die ihn zu dem begeisterten Urteil führten: das "Poetische", oder, aufgeschlüsselt mit theoretischen Termini, der "höchste Luxus von Akkorden, Figuren und Gängen", die frei eintretenden Dissonanzen, die Vielfalt und ungewohnte Zusammenstellung unterschiedlichster "Figuren und Notengattungen", die "Triolen, Rouladen, Triller und Drucker" und nicht zuletzt der Reichtum in der Instrumentation; sie alle zusammen geben der Partitur jenes "geheimnisvolle Ansehen", das Zelter zum Begriff des Poetischen führte. Dem gegenüber steht die Aussage des französischen Musiktheoretikers Jérôme Joseph de Momigny (1762-1842), der in seinem "Cours complet d'harmonie..." von 1806 schreibt: "Dieses Oratorium ist eines der schönsten Werke dieses grossen Mannes. Doch scheint er an einigen Stellen vergessen zu haben, dass selbst das Chaos sich in der Musik nur nach den Gesetzen der Harmonie schildern lässt. Denn ausser diesen Gesetzen gibt es kein Heil oder vielmehr keine Musik, sondern bloss ein misstönendes Geräusch, das nicht schildert, sondern die Ohren zerreisst, das gesunde Gefühl und die Vernunft beleidigt. Ein so grosser und 1 2 Reinold Helmut, CD-Beiheft, S.6. Allgemeine musikalische Zeitung, 1802, Sp.390f. 12 erhabener Schilderer Haydn auch ist, es gibt doch Dinge, die er nicht erreichen kann, weil sie überhaupt der Musik unzugänglich sind."3 3 deutsche Übersetzung nach Pohl/Botstiber III, S.361. 13 3.2. "Les Elémens" von Jean-Féry Rebel 3.2.1. Einleitung Als Jérôme Joseph de Momingy 1802 diese Zeilen vom Heil der Gesetze der Harmonie, welche die Musik ausmachten, schrieb, wusste er wohl nicht, dass siebzig Jahre vorher jemand den Versuch gemacht hatte, die Unordnung, das Durcheinander, kurz das Chaos, auch mit einem Chaos in der Harmonie darzustellen. Dass daraus "ein misstönendes Geräusch" resultiert, das "die Ohren zerreisst", weiss jeder, der schon einmal den Beginn der symphonie de danse "Les Elémens" von Jean-Féry Rebel gehört hat. In der Tat schrak ich bei einer Aufführung vor etwa zwei Jahren zusammen, als das konzertierende Barockensemble nach einem Concerto von Bach anhub und den schauerlichen ersten Akkord des cahos von Rebel hören liess. Dieser Schauer wiederholte sich im Schallplattengeschäft, und auch heute fasziniert mich die Radikalität des Klanges dieses Akkordes, der durch seine Zusammensetzung aus allen Noten der harmonischen dmoll-Tonleiter sehr zeitgenössisch anmutet. Ich gehe mit de Momigny einig, dass dieser Klang "ein misstöniges Geräusch" ist, das "die Ohren zerreisst", finde aber sehr wohl, das dies noch Musik und durchaus im stande ist zu "schildern", sowie den gesunden Geist und die Vernunft keineswegs beleidigt. Doch lassen wir Jean-Féry Rebel selbst zu Wort kommen. 3.2.2. Analyse anhand des Avertissement In der Tat finde ich es angebracht, Rebels Erklärungen zu seiner Komposition , so wie er sie im Avertissement selbst liefert, Abschnitt für Abschnitt durchzugehen und das Stück so zu analysieren. Eine Kopie dieses Avertissements1 findet sich auf Seite 12, die Partitur der Komposition im Anhang. Im ersten Abschnitt berichtet Rebel von der angenehmen Vielfalt, mit der die Elemente in seiner Komposition dargestellt werden, nämlich einerseits durch verschiedene Arten von Musik und andererseits durch die Kleidung und die Schritte der Tänzer. Demnach haben wir es bei der Tanzsuite nicht mit Programmusik zu tun, da das aussermusikalische Thema der Elemente nicht mit der alleinigen Hilfe der Instrumentalmusik dargestellt wird, sondern auch durch kostümiertes Ballet. Die Musik ist hier nicht mehr in erster Linie dazu da, die Elemente zu malen, sondern muss auch dazu dienen, choreographiert zu werden. 1 Kopie aus Rebel, Les Elémens, in: The Symphonie in France, S.7(7). 14 Der zweite Abschnitt bringt das Chaos ins Spiel: Rebel bezeichnet es als Introduction; zu ihr wurde nicht getanzt. "Die Komposition des Werkes erfolgte in zwei Abschnitten. Die Tanzsuite wurde zum ersten Mal im Jahre 1737 ohne die Cahos (Chaos) aufgeführt. Dazu schrieb der Mercure de France vom Oktober 1737: 'Am 27. September führte die Königliche Musikakademie nach der Oper Cadmus ein neues symphonisches Stück von Monsieur Rebel Vater auf, des Namens Les élémens, getanzt von den Damen Sallé und Mariette und den Herren Dumoulin, Dupré, Malter und Javilliers. Dieses Divertissement, das mit Vollkommenheit aufgeführt und mit viel Applaus aufgenommen wurde, fand auf einer Bühne statt, deren Dekoration aufs effektvollste die vier Elemente veranschaulichte.' Am 17. und am 22. März 1738 gab man, laut Mercure de France vom März 1738, 'Cahos des Herrn Rebel Vater, ein Stück, das nach Meinung der besten Kenner als eines der schönsten symphonischen Stücke gilt, die es in diesem Genre gibt.' Rebel selbst sagte dazu, dass Cahos allein eine Symphonie sei, ohne Tanz und ohne Pantomime, die später den 'Elementen' als Vorspiel dienen solle."1 Weiter liefert uns Rebel im zweiten Abschnitt seine Definition von Chaos: es ist nämlich die Verwirrung der Elemente, bevor diese, unveränderlichen Gesetzen unterworfen, ihren vorgeschriebenen Platz in der Ordnung der Natur einnahmen. Das Chaos ist für Rebel also ein Durcheinander von schon Vorhandenem. Bemerkenswert finde ich, dass er mit keinem Wort auf den biblischen Schöpfungsbericht eingeht oder von einer göttlichen Ordnung spricht. Der kurze dritte Abschnitt spricht von den conventions les plus reçües, denen sich Rebel bediente, um jedes einzelne Element zu bezeichnen. Damit meint er wohl, dass vor ihm schon andere Musiker versucht hatten, die Elemente musikalisch darzustellen (u.a. sein Schwager de Lalande, s.u.), und dass Einigkeit darüber herrschte, dass die Luft eher mit höheren Register zu malen sei, die Erde hingegen mit tiefen, dass das Feuer eine rasche Bewegung erfordert und das Wasser eine fliessende usw. Schon Zarlino hatte in seinem Traktat Le istitutioni harmoniche den Versuch unternommen, die vier Elemente mit den vier menschlichen Stimmregistern zu vergleichen und ihre Charakteristika auszuführen2. Im vierten Abschnitt folgt die exakte Beschreibung der musikalischen Motive, die Rebel den einzelnen Elementen zuordnet. Sie begegnen uns wie Leitmotive durch die ganze Partitur hindurch, bei jedem Erscheinen sorgfältig angeschrieben. So drückt er die Erde durch lange, aneinandergebundene Notenwerte aus, die ruckweise angeschlagen werden und wohl auf die Trägheit des Festlandes hinweisen sollen: oder oder auch 1 2 Cessac, CD-Beiheft S.19/20. La Laurencie, Une dynastie de musiciens, S.281. 15 Die Flöten imitieren durch auf- und absteigende Gesangslinien das Murmeln und Fliessen des Wassers: Ebenfalls die Flöten malen mit lang ausgehaltenen Tönen und anschliessenden Kadenzen die Luft: 16 Den Geigen bleibt es vorgehalten, durch brillante Läufe das Feuer darzustellen: Im fünften Abschnitt erfahren wir mehr über den Aufbau der Introduction: Rebel hat das "Gesamtchaos" in sieben "Teilchaos" abgetrennt. Darin erscheinen immer wieder die Leitmotive der vier Elemente, sei es einzeln oder vermischt, in ganzer Länge oder nur andeutungsweise. Dies geschieht ohne jegliche Ordnung; die Teilchaos sind verschieden lang, die Leitmotive kreuz und quer durcheinandergewürfelt. So kämpfen die Elemente gegeneinander, bis im siebten Chaos das Durcheinander nachlässt und endlich ins débrouillement mündet, in die Auflösung in der D-Dur-Kadenz. Nicht von ungefähr hat Rebel gerade sieben Teilchaos geschrieben, da ja sieben in der Zahlensymbolik für die sieben Schöpfungstage steht. Der erste, ohrenbetäubende Chaosakkord wird übrigens auch sieben Takte lang angeschlagen, genauso wie das hier besprochene Avertissement sieben Abschnitte aufweist. Der sechste Abschnitt ist der Kernpunkt des Avertissements. Rebel beschreibt, wie er die Idee hatte, dem Durcheinander der Elemente auch ein Durcheinander der Harmonie zur Seite zu stellen. Es folgt die Analyse der ersten Teilchaos': alle Noten der harmonischen d-mollTonleiter werden auf einmal gespielt, es resultiert der schon erwähnte, schauerliche Chaosakkord. Darauf folgt ein unisono-Aufstieg, und nach einer Dissonanz (genauer VII7) ertönt der perfekte d-moll-Dreiklang. Zum Schluss berichtet Rebel im siebten Abschnitt, dass er das harmonische Chaos noch besser darzustellen suchte, indem er die Grundtonart des Stückes ungewiss gelassen hat. In der Tat schrieb er die sieben Teilchaos in sieben verschiedenen Tonarten. So lässt er nacheinander B-Dur, f-moll, g-moll, a-moll und h-moll erklingen, bevor er im siebten Teilchaos mit der zweimaligen Kadenz V7 - I, allerdings über einem liegenden D im Bass, die Auflösung in D-Dur bringt. Diese Stelle ist in der Partitur auch explizit mit débrouillement überschrieben. Soweit die Analyse der Introduction zur symphonie de danse Les Elémens, wie sie uns Rebel selbst liefert. Bevor ich seine Komposition mit derjenigen Haydns vergleiche, soll auf die Vita von Jean-Féry Rebel eingegangen werden. 17 18 3.2.3. Jean-Féry Rebel - Biographie Der Name Rebel steht für eine französische Musikerfamilie, welche über drei Dynastien - von ca. 1661 bis 1775 - wichtige Ämter am Hof wie auch an der Bühne innehatte. Jean Rebel begründete die Dynastie, als er 1661 als Tenor in der chapelle von Louis XIV auftaucht und dort auch für den Rest seines Lebens diese Funktion behält. Ab 1670 übernimmt er gewichtigere Aufgaben: er singt grössere Rollen in verschiedenen ballets, u.a. in solchen von Lully. Er wird zum Sänger der Königin ernannt und tritt auch als conducteur im berühmten Ballet des ballets in Erscheinung. Im April 1683 nimmt er an der Endrunde eines Wettbewerbs um vier sous-maîtres-Stellen an der chapelle royale teil, nachdem er den König mit Erfolg eigene Werke hören liess. Sein Bruder Robert war ein ordinaire de la musique du roi, und seine beiden Kinder Anne-Renée und Jean-Féry sowie sein Enkel François waren zu ihrer Zeit berühmte Musiker. Auch Jean-Thomas, Sohn aus zweiter Ehe, war Musiker und mit dem Hof des Prinzen von Monaco verbunden. Jean Rebel hatte mit seiner ersten Frau Anne Nolson zwei Kinder, die obgenannten AnneRenée (getauft am 6.12.1663) und Jean-Féry (getauft am 18.4.1666), welche er musikalisch förderte und bei Hofe einführte. So spielte Jean-Féry im Alter von acht Jahren vor dem König und Lully, die sich beide erstaunt über sein Geigenspiel zeigten. Überliefert ist auch die Anekdote, wonach Lully eines Tages in der Hosentasche des Knaben eine Notenpapierrolle entdeckte, sie an sich nahm und darin die Orchesterpartitur mit Singstimmen eines Aktes einer Oper aus der Hand des kleinen Jean-Féry erkannte. Wie dem auch sei, jedenfalls gibt ihm Lully Lektionen im Geigenspiel und in Komposition; daneben geniesst er wohl weiter den väterlichen Unterricht. Über die ersten 30 Jahre seines Lebens ist wenig bekannt. Um 1699 scheint er als Erster Geiger in die Académie Royale eingetreten zu sein, jedenfalls erscheint er in der Musikertruppe, die der Conte d'Ayen formte als Reisebegleitung und unterhaltung des Duc d'Anjou, der sich nach Spanien begab, um zu heiraten und den verwaisten Thron Karls II. einzunehmen. 1701 bringt Catherine Conti den gemeinsamen Sohn François zur Welt. Rebel scheint vorher schon einmal verheiratet gewesen sein, da im Taufdokument seiner 1718 geborenen Tochter Anne-Louise die Patin Magdelaine-Angélique Rebel mit dem Zusatz "fille de père dudit enfant" erscheint. 1705 begegnet er als ordinaire de l'Académie Royale, bevor er am 18. August desselben Jahres in die Truppe der 24 Violons du Roy aufgenommen wird, ein Amt, das er bis an sein Lebensende innehält. 1713 findet man ihn als Cembalist an der Oper, später wird er batteur de mesure an der Académie Royale. 1714 führt er seinen mittlerweile 13 Jahre alten Sohn im Opernorchester ein, und 1717 schlägt er ihn in einem Dokument für seine Nachfolge bei den 24 Violons vor. Der Grundstein ist gelegt zur Weiterführung der Musikerdynastie, welcher später François Rebel als erfolgreicher Bühnenkomponist, Dirigent und Theateradministrator sowie Mitglied der Académie Royale Ruhm und Ehre bereiten sollte. Jean-Féry wird directeur der 24 Violons, und bekommt am 30. März 1718, als vorläufiger Karrierehöhepunkt, eine halbe Stelle als Hofkomponist von Louis XV zugesprochen. Er übernimmt die Nachfolge seines Schwagers de Lalande. Marie-Richard de Lalande hatte 1684 Jean-Férys Schwester Anne-Renée geheiratet. Der König selbst hatte die Aussteuer und das Fest bezahlt, da de Lalande sein maître de chapelle und Anne-Renée Rebel eine seiner Lieblingssängerinnen in der chambre royale war. Einige lobten sie als die beste Sängerin bei Hofe. Zwei ihrer Töchter, Jeanne und Marie-Anne de Lalande, erstaunten 1704 den König 19 mit ihrem Gesang, zwei Jahre später wurden ihnen königliche Renten zugestanden. 1711 starben die hoffnungsvollen Sängerinnen im Alter von 23 und 24 Jahren an den Pocken. Jean-Féry trägt nun den Titel eines Maître de la musique de la chambre , seine Funktion ist das Komponieren von Stücken sowie auch Dirigieren. Unter anderem leitet er Aufführungen des Ballet des quatre Eléments. Ballet du roi en quatre entrées et Prologue, Musik von de Lalande und Destouches. Dieses ballet mag ihm die Idee zu seiner Komposition über die vier Elemente gegeben haben. Neben den Einkünften aus königlichen Ämtern sorgte er sich auch um Mäzene. So erscheint Madame Law, die Gattin eines Financiers, als Widmungsträgerin seiner Sonate Terpsichore. In dieser Widmung rühmt er die Tänzerin Mlle. Prévost, Star der königlichen Ballettruppe ebenso wie seine persönliche Favoritin. Am 30. September 1720 wirkt er bei einem Concert mit, das bei Monsieur Crozat stattfand, und von dem der grosse französische Rokokomaler Watteau ein Bild fertigte. Ebenfalls Watteau schuf ein grosses Porträt Rebels, wovon sich, von I. Moyreau gedruckt, eine Kopie im Anhang findet. Nach und nach zieht er sich von einigen Ämtern zurück und übergibt sie seinem Sohn François. Vater und Sohn werden oft verwechselt. Der Vater ist weiterhin betraut mit der Leitung des Concert spirituel , zumindest in der Saison 1734/5. Obwohl schon fortgeschrittenen Alters, komponiert Rebel unvermindert weiter. Zudem wird er ermutigt von seinem Mäzen, dem Prince de Carignan, dem er die Symphonie des Elémens widmete. Eine besondere Ehre wird dem Komponisten zuteil, als sein Sohn François am 22. Juni 1740 ein Konzert mit seinen Werken dirigiert. Jean-BaptisteFéry Rebel stirbt am 2. Januar 1747 in Paris. Le Cerf de la Viéville schreibt über ihn in seinem als Dialog aufgebautem Werk Comparaison de la musique italienne et de la musique française: "Rebel nous a déja donné des Sonates, dit froidement le Comte1 ...Oh parbleu, pour Rebel, nous le retenons, & ne lui faites pas, s'il vous plaît, l'affront de croire que ses Sonates brillassent en Italie. Rebel y a véritablement mis une partie du génie & du feu Italien; mais il a eu le goût & le soin de le temperer par la sagesse & par la douceur Françoises, & il s'est abstenu de ces chûtes (=Kadenzen) effrayantes & monstrueuses, qui font les délices des Italiens."2 Sein Schaffen lässt sich in drei Perioden unterteilen: die erste ist gekennzeichnet durch kleine, vokale Gelegenheitsarbeiten sowie die glücklose tragédie lyrique Ulysse. Der nächste Abschnitt bringt v.a. Kammermusik, so die Sonates à II et III von 1695, gedruckt erst 1712, mit denen er als einer der ersten französischen Komponisten Streichersonaten vorlegt. In der letzten Periode stehenmit getanzte symphonies , die er für die Ballettruppe der Académie Royale schrieb, im Vordergrund. Les Caractères de la Danse komponierte er für Mlle. Prévost, die es vor Zar Peter dem Grossen tanzte. Auch Les Elémens ist eine derartige, für eine Balletaufführung gedachte symphonie, wobei aber Le Cahos als Einleitung, zu der nicht getanzt wurde, später hinzukam. 1 2 Verteidiger der italienischen Musik Le Cerf de la Viéville, Comparaison...I, S.93. 20 4. Unterschiede der Chaosvorstellung bei Haydn und Rebel 4.1. Zusammenfassung Haydn Wie wir oben gesehen haben, entwickelt Haydn seine Chaosvorstellung aus einer leeren Oktave. Dies symbolisiert für mich, dass Haydns Auffassung von Chaos dahin ging, dass er darunter nicht die Negierung von Ordnung, also ein Durcheinander, sondern den Zustand vor jeglicher Ordnung verstand. Ich gehe mit Momigny einig, wenn er darauf hinweist, dass es an sich ein Paradoxon sei, das Chaos in der Musik mit Hilfe einer regelhaften, gesetzmässigen Harmonik darzustellen. Doch indem Haydn laufend verminderte Akkorde, frei eintretende Dissonanzen und unerwartete, überraschende Modulationen schreibt, dividiert er die geregelte Sprache der Wiener Klassik in ihre Moleküle auseinander. Leittöne, Rouladen, Melodiefetzen, Triller, Trugschlüsse usw. purzeln frei durcheinander, ohne unter einen grossen, sinngebenden Bogen gestellt zu sein. Wenn er sich dabei an die dreiteilige Liedform hält, sie aber gleichzeitig verschleiert, so lässt sich auch dies verstehen als eine Rückbesinnung auf die Syntax seiner musikalischen Sprache. 4.2. Zusammenfassung Rebel Rebels Auffassung vom Chaos ist eine ganz andere: er schildert in seinem Werk das heillose Durcheinander der vier Elemente, die aber von Beginn weg schon existieren. Sie sind zwar noch nicht am rechten Platz, kämpfen aber miteinander darum, bis sie sich im débrouillement endgültig voneinander entwirren. Lässt er zu Beginn alle Noten einer Oktave zusammen erklingen, so zerstört er zwar die Harmonik, zeigt aber seine Vorstellung, dass alle Bestandteile derselben schon vorhanden sind, jedoch ohne Ordnung. 4.3. Schlusswort Während wir formell auf Ähnlichkeiten bei den zwei Meistern stossen - beide umgehen die Festlegung eines Grundtones durch eine wandernde Harmonik; beide verwenden Zahlensymbolik, Haydn die Drei für die Trinität, Rebel die Sieben entsprechend den sieben Schöpfungstagen - haben sie also den Begriff Chaos verschieden aufgefasst: Haydn liegt mit seiner Vorstellung näher beim Ursprung des Wortes, wie es sich in der griechischen Mythologie findet: Chaos bezeichnet dort, zumindest bei Hesiod, "keine Gottheit, sondern nur 21 ein leeres 'Gähnen': eben das, was von einem leeren Ei bleibt, wenn man die Schale wegnimmt."1 Rebel liegt mit seiner Auffassung vom totalen Durcheinander verschiedener Elemente sehr nahe am heute landläufig gebräuchlichen Sinnes von Chaos. Er hat versucht, diesen Gedanken von Grund auf in Musik zu setzten, indem er ein Cluster über eine Oktave wagte. Seine Modernität besteht aber nicht darin, 1738 ein Stilmittel des 20. Jahrhunderts verwendet zu haben, sondern liegt in der Radikalität, im Von-Grund-auf-Denken, mit der er sein Programm in Musik umsetzt. 1 Kerényi, Mythologie der Griechen, S.21. 22 5. Anhang 5. 1. Literaturverzeichnis 5.1.1. Quellen Haydn Joseph, Die Schöpfung. Oratorium, Eulenburg Leipzig. Haydn Joseph, Die Schöpfung, CD, Berliner Symphoniker, Dir. Karl Forster, EMI 1960. Rebel Jean-Féry, Les Elémens, hrg. von John A. Rice, in: The Symphony in France 17201840, hrg. von Barry S. Brook, Serie D, Bd.1, Part.1, New York & London 1984. Rebel Jean-Féry, Les Elémens. Les Caractères de la Danse. Le tombeau de M. de Lully, CD, Les Musiciens du Louvre, Dir. Marc Minkowski, Erato 1993. 5.1.2. Sekundärliteratur Aubry Pierre, Jean-Féry Rebel, in: La Revue musicale V(1905), 301. Borrel E., Notes sur l'orchestration de l'opéra Jephté de Montéclair (1733) et de la symphonie des Elémens de J.F. Rebel (1737), in: La Revue musicale (1955), Nr.226, 105-116. 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Moyreau nach einem Gemälde derselben Grösse von Watteau, das sich im Cabinet des Estampes und in der Bibliothèque du Conservatoire in Paris befindet. Der Druck trägt folgende Inschrift: J.B.(Baptiste) Rebel. Compositeur de la Chambre du Roy Et Maître de Musique de l'Académie royale.2 1 Kopie aus Daub, Rebel, in: New Grove, Bd.15, S.639 26 2 zit. L. de la Laurencie, Une dynastie de musiciens..., S.262, Fusszeile 4. 27 5.2.3. Titelblatt von Rebels "Les Elémens"1 1 Kopie aus Rebel, Les Elémens, in: The Symphonie in France, S.3(3). 28 5.2.4. Widmung des Werkes an den Prince de Carignan1 1 Kopie aus Rebel, Les Elémens, in: The Symphonie in France, S.4(4). 29 5.2.5. Partitur von Le Cahos aus Les Elémens1 1 Kopie aus Rebel, Les Elémens, in: The Symphonie in France, S.8(8)-15(15). 30