M. Grätz (Hrsg.): Knigge und seine Tochter. Briefe und - H-Soz-Kult

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M. Grätz (Hrsg.): Knigge und seine Tochter. Briefe und - H-Soz-Kult
M. Grätz (Hrsg.): Knigge und seine Tochter. Briefe und Schriften
Grätz, Manfred (Hrsg.): Adolph Freiherr Knigge und seine Tochter Philippine: Briefe und Schriften. Göttingen: Wallstein Verlag 2013. ISBN:
978-3-8353-1260-9; 243 S.
Rezensiert von: Jürgen Overhoff, Institut für Erziehungswissenschaft, Westfälische
Wilhelms-Universität Münster
Der seit 1790 in Bremen ansässige
kurfürstlich-hannoversche Oberhauptmann
Adolph Freiherr von Knigge ist der Nachwelt
in erster Linie als Verfasser des berühmten
Buches Über den Umgang mit Menschen
bekannt, einem 1788 erschienenen Werk, das
zum Prototypen und Vorbild aller späteren
Benimm-Ratgeber kultivierter und höflicher
Menschen wurde. Da Knigge in seinem
vielgerühmten Bestseller durchweg als ein im
aufklärerischen Sinne erziehender Mahner
auftritt, der die ungelenken und groben
Manieren seiner erwachsenen Zeitgenossen
mit Witz und genauer Menschenkenntnis
nachhaltig zu verbessern sucht, nimmt es
nicht wunder, dass dieser bildungsbeflissene
norddeutsche Edelmann auch der Erziehung
von Kindern und Jugendlichen zeitlebens ein
großes Interesse entgegenbrachte. Bekanntlich übt sich früh, wer auf dem Gebiet der
Moral und Sitte ein Meister werden will.
Tatsächlich war Knigge ein veritabler und
begabter Erziehungsschriftsteller, dessen
pädagogische Schriften ein beredtes Zeugnis
darüber ablegen, wie sehr im ausgehenden
18. Jahrhundert bürgerlichen Wertvorstellungen auch von Adligen eine immer höhere
Wertschätzung entgegengebracht wurde.
Das Wirken des hannoverschen Freiherrn
als Erzieher und pädagogischer Schriftsteller ist heute jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten, und so ist es das Verdienst des
Göttinger Wallstein Verlags – der bereits für
die Herausgabe einer auf vier Bände angelegten Edition der wichtigsten Schriften Knigges und seiner Briefwechsel mit dem Verleger
Friedrich Nicolai und dem Schauspieldirektor
Gustav Friedrich Großmann verantwortlich
zeichnet –, nun eine separate, kommentierte
Ausgabe seiner pädagogischen Aufsätze anzukündigen. Einen gewissen Vorgeschmack
auf diese in Vorbereitung befindliche Edition gibt der Verlag seinen an der Aufklä-
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rungspädagogik interessierten Lesern mit der
soeben vorgelegten Ausgabe der erhaltenen
Briefe Knigges an seine Tochter Philippine.
Darin tritt der adlige Erzieher auch als Privatmann in Erscheinung und erteilt seinem Kind,
das er in der Zeit seines Umzugs von Hannover nach Bremen in Abstimmung mit seiner Gattin vorübergehend nach Detmold in
Pension gab, viele gute väterliche Ratschläge.
Besorgt hat diese Briefausgabe der Germanist
und Bibliothekar Manfred Grätz, der in seine
mit einer kurzweiligen Einleitung versehene
Edition auch einige eigenständige Schriften
der Adressatin aufgenommen hat, der jungen
Freiin Knigge, die ihrerseits bereits als Teenager über ein beachtliches schriftstellerisches
Talent verfügte und dann bis ins hohe Lebensalter als Übersetzerin und Autorin tätig blieb.
Die 34 Briefe Knigges, die Grätz umsichtig und sehr sorgfältig kommentiert hat, wurden zwischen 1786 und 1790 verfasst, also im
zeitlichen Umfeld der Französischen Revolution, als deren Sympathisant sich der Freiherr
gegenüber seiner 1775 geborenen Tochter mit
deutlichen Worten und in einer für die republikanischen Ideale mit Verve werbenden
Weise zu verstehen gibt. Sie sind zumeist auf
Deutsch geschrieben, zum Teil jedoch auch
in französischer Sprache verfasst, weil Knigge seinem pubertierenden Kind, das zum ersten Mal auf längere Zeit vom Vater getrennt
ist, immer wieder auch zum Gebrauch dieser im 18. Jahrhundert so wichtigen Verkehrssprache Europas animieren will. Philippine,
deren Antwortbriefe an ihren Vater leider verschollen sind, scheint sich aber nicht immer
an den väterlichen Rat gehalten zu haben. Wenigstens geht dies aus Knigges Briefen hervor. Wiederholt schimpft er: „Das Französisch
Schreiben gefällt Dir nicht mehr[!]“ (S. 74)
Die Unlust am kreativen Gebrauch moderner
Fremdsprachen hat in seinen Augen, wie jede
Lernverweigerung, schlimme Folgen: „Thue,
was Du willst; so wird aus Dir werden, was
ich nicht verantworten will!“ (S. 74) Knigge kann es offenbar nicht ertragen, wenn ein
junger Mensch seine kostbare Lebenszeit mit
Nichtstun verschwendet. Alle Zeit ist Lernzeit: Man muss die Stunden des Tages so verwenden, „daß man nach jeder Stunde wenigstens um etwas geschickter sey, als vor derselben“ (S. 35). In der Sprache unserer Zeit wür-
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de Knigge seiner Tochter wohl dringend vom
permanenten ‚chillen‘ abraten.
Tatsächlich tritt Knigge in seinen Briefen als
ein durchaus moderner Vater in Erscheinung,
der heutigen Eltern sehr vertraut vorkommt.
Er will seine Tochter, der er vor allem zwischen ihrem 14. und 15. Lebensjahr schreibt,
stets zum eifrigen Lernen bewegen, weil er
weiß, wie erfüllend der selbstbestimmte Bildungsprozess ist. Aber natürlich muss sich
seine Tochter ja – wie alle Jugendlichen –
vom Vater abgrenzen; sie möchte sich von
ihm nicht ständig bevormunden lassen. Dass
sie seine Ratschläge häufig trotzig überhört,
das ist aus jeder Zeile ersichtlich, die der Vater an sein Kind schreibt. „Ich glaube in der
letzten Zeit bemerkt zu haben“, stellt er einmal fest, „daß Du anfiengst, mit mehr Beharrlichkeit eigene Meinungen, eigene Grillen [. . . ] gegen mich zu behaupten“ (S. 33). Er
klagt über ihren egoistischen und eitlen „Wiedersprechungsgeist“ (S. 33), lamentiert allerdings auch mit sehr viel Selbstironie und Humor, wenn er beispielsweise mahnt: „Ich kann
nicht genug gegen Eitelkeit predigen, da ich
selbst so gewaltig eitel bin“ (S. 35), oder wenn
er Philippine mit folgenden Worten zum Lernen anhält: „Thue es Deinem alten Esel von
Vater zu Gefallen“ (S. 46).
Vielleicht hätte Knigge die Lernvorschläge
der philanthropische Pädagogik beherzigen
sollen, die besagen, dass ein guter Lehrer die
Freuden der Kenntnis moderner Fremdsprachen möglichst ohne Zwang und spielerisch
vermitteln soll, dabei immer auf des Schülers freiwillige Lust am Lernen setzend, ohne die kein Lernprozess gelingen kann. Doch
als Knigge Philippine schreibt, befindet er
sich gerade im schriftstellerischen Clinch mit
Ernst Christian Trapp und Joachim Heinrich
Campe, den führenden Vertretern des Philanthropismus, deren Erziehungsschriften der
Freiherr zwischen 1788 und 1789 einige kritische Rezensionen gewidmet hat. Erst im Verlauf der Französischen Revolution nähert sich
Knigge seinen pädagogischen Kontrahenten
wider an, weil sie genauso leidenschaftlich
wie er selbst – und wie die wenigsten deutschen Zeitgenossen – für die Errichtung einer
deutschen Republik nach französischem Muster eintreten. Zu diesem Zeitpunkt ist Philippine Knigge aber schon mündig und heiratet
den hannoverschen Obristleutnant Claus Wilhelm von Reden.
Ganz vergeblich waren Knigges pädagogische Privatbemühungen jedoch nicht, denn
Philippine verfasste in der Zeit ihres Aufenthaltes in Detmold im Alter von erst 15 Jahren eine erstaunlich scharfsinnige Vernunftlehre für Frauen, die Manfred Grätz in Ermangelung ihrer Antwortbriefe an den Vater in
seine Edition aufgenommen hat. Zwar räumt
Philippine in diesem Versuch einer Logic für
Frauenzimmer ausdrücklich ein, das sie ihre Vernunftlehre größtenteils nachgeschrieben habe, und zwar „nach dem mündlichen
Vortrage meines lieben Vaters“ (S. 95), in den
Stunden des Hausunterrichts, den er ihr vor
ihrer Übersiedelung nach Detmold widmete.
Doch scheinen die darin enthaltenen Beispiele für die einzelnen logischen Sätze von ihr
selber erdacht und ausformuliert worden zu
sein.
Wie sehr Philippine ihren Vater trotz seiner
ständigen Ermahnungen gerade in der Rückschau ehrte, geht aus ihrer kurzen Biographie
des Freiherrn Knigge hervor, die sie 1830,
mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod, in
Hannover veröffentlichte. In dieser Lebensbeschreibung, die der Herausgeber Grätz als
Schlussbaustein in seine kleine Edition aufgenommen hat, erinnert sich Philippine an
ihren Vater als einen Mann, der von „inniger Liebe“ (S. 169) zu den ihm nahestehenden Familienmitgliedern durchdrungen war
und stets „Nutzen stiften, die Menschen beglücken, Gutes befördern“ wollte – und dies
gerade auch in „der Erziehung seiner Tochter“ (S. 174).
Dieses posthum zum Ausdruck gebrachte Urteil der Tochter über den Vater ist vielleicht der beste Kommentar zu dem Privatmann Knigge, der in der vorliegenden Ausgabe durch Wortwahl und Stil seiner eigenen Briefe wie auch durch die Beschreibungen seines einzigen Kindes deutliche Konturen gewinnt. Die kleine Buchausgabe der
Briefe und Schriften des pädagogisch ambitionierten Freiherrn Knigge und seiner Tochter Philippe ist somit ein authentisches, lebendiges und sehr lesenswertes Zeugnis einer zutiefst menschlichen Vater-Tochter-Beziehung
im Zeitalter der Aufklärung.
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M. Grätz (Hrsg.): Knigge und seine Tochter. Briefe und Schriften
HistLit 2014-1-026 / Jürgen Overhoff über
Grätz, Manfred (Hrsg.): Adolph Freiherr Knigge
und seine Tochter Philippine: Briefe und Schriften.
Göttingen 2013, in: H-Soz-u-Kult 14.01.2014.
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