"Vielvölkerstaat"? - Fachhochschule Dortmund

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"Vielvölkerstaat"? - Fachhochschule Dortmund
Vom "Reich der Deutschen" zum "Vielvölkerstaat"?
Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland seit dem
Zweiten Weltkrieg.
Beitrag zur Ringveranstaltung der Fachhochschule Dortmund zum Thema "1945 und die Folgen:
Neuanfang oder Restauration", Sommersemester 1985 (unverändertes Redemanuskript)
Von Karl Markus Kreis
In den fünfziger Jahren lief in der Bundesrepublik mit großem Erfolg ein Film, der sich mit einem
Tabu-Thema jener Jahre beschäftigte, nämlich den Kindern, die aus Beziehungen zwischen
deutschen Frauen und schwarzen US-Soldaten hervorgegangen waren. Der Film mit dem Titel
"Toxi" schildert die Geschichte eines fünfjährigen Mädchens mit diesem Namen, das einer Familie
irgendwo in Westdeutschland sozusagen "zuläuft" und dort für Aufregung sorgt. Ich zitiere aus
der "Illustrierten Filmbühne" zum Film: "Dies ist die Geschichte von Toxi, dem kleinen
Mulattenkind. Eines Abends, Großmutter Rose feiert gerade Geburtstag, steht es vor der
Wohnungstür der Familie: ein graziles, kleines Krausköpfchen mit einem Feldblumenstrauß in der
Hand und einem Köfferchen als einzige Habe." Nach einigem Hin und Her "wird offenbar, daß
Toxis Besuch länger dauern wird - sie weiß nicht wohin und woher. Es scheint, daß eine
verzweifelte Mutter das kleine Mohrenköpfchen im Vertrauen auf die Gutherzigkeit fremder
Menschen ausgesetzt hat." In der Familie entsteht ein heftiger Konflikt um das Kind zwischen den
"unvoreingenommenen" Großeltern und dem "von Rassenkomplexen besessenen" Schwiegersohn.
Die Kinder der Familie jedoch "akzeptieren sie sofort als neue Spielgefährtin und räumen ihr einen
großen Platz in ihren Herzen ein." Der Film schildert ausführlich die Auseinandersetzungen in der
Familie, die zu einem unmenschlichen Gezerre um Toxi und ihrer zeitweiligen Verbringung in ein
Kinderheim führen. Als Toxi jedoch ausreißt und vermißt wird, bekehrt sich auch der rassistische
Schwiegersohn: "Er merkt, daß selbst er sich nicht mehr von dem lieben, braunen Kerlchen
trennen könnte." So weit, so gut, ein Happy-End also, wie man es sich wünschte auch für das
wirkliche Leben? Nein, der Film ist noch nicht zu Ende, denn offensichtlich war dies für die
Verfasser des Rührstücks kein akzeptabler Schluß, und so passiert etwas in der Wirklichkeit
vollkommen Unwahrscheinliches: "Aber zum Schluß muß sich Familie Rose doch von Toxi
trennen: Denn nun kommt Toxis richtiger Vater, ein großer brauner Tankstellenbesitzer, über den
großen Teich, um sein Kind in die Arme zu schließen." Obwohl der Film die Integration durch
gegenseitiges Akzeptieren sogar zum Inhalt hat, ist dieser Schluß, also die Trennung, kein
Versehen. Denn im Titellied des Films wird dieses Motiv bereits deutlich ausgesprochen: Das
"kleine Mulattenkind" gehört nicht hierher, auch wenn es noch so viele Freunde hier hat. Der Text
lautet: "Ich möcht so gern nach Hause gehn, / Die Heimat möcht ich wiedersehn, / Ich find allein
nicht einen Schritt, / Wer hat mich lieb und nimmt mich mit? / Ich bin so verlassen und hör kein
liebes Wort, / so fremd sind die Gassen. Warum kann ich nicht fort? / Kann niemand denn mein
Herz verstehn, / Ich möcht so gern nach Hause gehn" (am Ende jeder Zeile mit "ay-ay-ay" zu
singen).1
Ich habe mit dieser zum Glück vergessenen Schnulze mein Thema begonnen, weil sie in ihrer
scheinbaren Harmlosigkeit deutlich macht, wie wenig Toleranz damals dem breiten Publikum
zugemutet wurde: Ein kleines "Mohrenköpfchen" zur Belebung des langweiligen Familienalltags das mochte noch angehen, aber ein erwachsener Mensch mit dunkler Hautfarbe, der konnte hier
nicht zuhause sein. Nun haben zwar die von dieser speziellen Situation betroffenen Familien in der
Wirklichkeit diese Erwartung widerlegt. Aber nach wie vor herrscht, vorsichtig ausgedrückt, eine
gewisse Unsicherheit gegenüber den wesentlich größeren Gruppen von Fremden, die seit
Kriegsende nach Westdeutschland gekommen sind: Sind sie wirklich hier bei uns zuhause, oder
liegt ihre Heimat nicht ganz woanders, wo sie "eigentlich hingehören": in Sri Lanka, in der Türkei,
in Spanien oder Griechenland, Chile oder Vietnam? Fremde Menschen kamen in die Bundesrepublik aus sehr unterschiedlichen Gründen: die einen vertrieben oder geflüchtet, sei es vor der
sowjetischen Besetzung Osteuropas, sei es vor diktatorischen Regimen im kapitalistisch
dominierten Süden der Erde; die andern aus freien Stücken, angelockt von Arbeit und besserem
Leben. Manche erwecken den Anschein, als würden sie am liebsten sofort in ihre verlorene Heimat
im Osten zurückgehen, also die Bundesrepublik verlassen, obwohl sie als deutsche Zuwanderer
mittlerweile integriert sind; wieder andere möchten, besonders wenn sie hier geboren sind, am
liebsten hierbleiben, werden aber mit mancherlei Mitteln zur "Rückkehr" in ihre oder ihrer Eltern
Herkunftsländer gedrängt. Den Zusammenhang dieser aktuellen Diskussionen mit der Frage2
stellung der Veranstaltungsreihe sehe ich im Thema der nationalen Identität der Deutschen. Seit
einigen Jahren steigt das Interesse der Öffentlichkeit, des lesenden und fernsehenden Publikums an
Fragen der deutschen Nation und der deutschen Identität. Nicht mehr nur konservative Kreise,
sondern auch Autoren, die sich als "links" bezeichnen, haben die "nationale Frage" entdeckt oder
wiederentdeckt. 2 Das Wiederaufleben von Neutralisierungskonzepten für Gesamtdeutschland im
Kontext der Friedensbewegung gehört ebenso in dieses Bild wie die Betonung deutschen
Selbstbewußtseins gegenüber dem "Wodka-Cola-Imperialismus" der Supermärkte in Teilen des
alternativen Milieus. Gegenstand meiner Überlegungen soll nicht die machtpolitische Seite des
Problems sein, also die Frage nach dem Zweck der Mitgliedschaft in den Bündnissen, den Chancen
einer bewaffneten oder unbewaffneten Neutralität für die Bundesrepublik etc. Vielmehr möchte ich
die Frage nach dem empirischen Gehalt dessen aufwerfen, was unter dem Schlagwort "deutsche
Identität" beschworen oder vorausgesetzt wird: Welche Menschen sind gemeint, wenn wir von der
deutschen Nation sprechen, wer sind "wir", wer "die anderen", und vor allen Dingen: nach
welchen Kriterien wird diese Unterscheidung getroffen?
Hier ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten. Im Falle Deutschlands muß nämlich (wie nach
meiner Überzeugung bei den meisten Staaten der Erde) von vorneherein eine Tatsache zur
Kenntnis genommen werden: Das Volk, dem die Identifizierung in Nationalismus oder Patriotismus gilt, ist keineswegs eine klar definierbare Einheit. Diese Erkenntnis ergibt sich schon aus
einem Blick auf die Geschichte des Landes, in dem die Menschen dieses Volkes lebten und leben:
"Deutschland, das, was seine Bewohner in den einzelnen Epochen darunter jeweils verstanden, ist
seit Jahrhunderten in einen ständigen Reduktions- und Teilungsprozeß verwickelt, verlor seit dem
16. Jahrhundert Gebiet um Gebiet, organisierte sich 1866/71 ohne Österreich, ohne die
Habsburger Monarchie neu, dessen Herrscherhaus über ein halbes Jahrtausend seine Kaiser gestellt
hatte, büßte 1919 fast ein Siebentel seines Staatsgebietes ein und wurde nach 1945 unter
faktischer Abtrennung seiner Gebiete östlich von Oder und Neiße in zwei sich schon bald innerlich
verfestigende Staatsgebilde aufgespalten."3 Diese politischen Veränderungen gingen zum Teil mit
erheblichen Verschiebungen der Bevölkerungsstruktur einher, d.h., mit Wanderungen innerhalb
der deutschen Territorien und über ihre Grenzen. Die Identität des deutschen Volkes ist deshalb
zwangsläufig genauso wenig eindeutig definierbar im Sinne von abgrenzbar wie die Deutschlands.
3
Dies gilt insbesondere für den Osten. Das zeigt schon ein kurzer Blick in die Listen preußischer
Adelsgeschlechter und Offiziersfamilien, in denen slawische Namen neben deutschen stehen, und
sogar die beiden bekanntesten Vertriebenenpolitiker der Bundesrepublik belegen durch ihre
Familiennamen diese deutsch-slawische Verwandtschaft. Die Diskussion um die deutschen
Ostgrenzen ist insofern nicht nur politisch gefährlich, sondern sie geht von einer verengten
Fragestellung aus: Probleme im Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarn ließen sich nicht
durch Grenzen, Abgrenzungen und Ausgrenzungen lösen oder eindämmen, sondern durch Regeln
eines möglichst friedlichen Zusammenlebens. Eine andere aktuelle Diskussion bezieht sich auf die
Angst vieler Deutscher vor "Überfremdung" durch Zuwanderer aus dem Westen und Süden
Europas. Unzulässige Analogien zu biologischen und kybernetischen Systemen werden bemüht,
um Gefahren für das soziale und politische System der Bundesrepublik durch den Zuzug
ausländischer Arbeiter und Asylbewerber zu beschwören.4 Auch gegenüber solchen Argumenten
ist festzuhalten, daß die historische Entwicklung der Deutschen in der Mitte Europas gerade durch
einen dynamischen Austausch mit ihren Nachbarn und zuwandernden Fremden gekennzeichnet ist.
Mit anderen Worten: Weder gibt die Geschichte einen Fixpunkt, eine feste Meßgröße für deutsche
Identität, für Deutschsein als solches her, an dem wir für heute "Grenzwerte" für Nichtdeutsche
ableiten könnten. Noch hält die historische Erfahrung Methoden bereit, wie ein exklusives
Deutschsein verwirklicht werden könnte; im Gegenteil belegt sie die selbstzerstörerische Wirkung
eines derartigen Unterfangens. Diese Behauptungen möchte ich nunmehr im Rückblick auf die
jüngere Geschichte Deutschlands erläutern. Der erste Abschnitt, der hier zu betrachten ist, der
Zweite Weltkrieg, beweist die Unmöglichkeit, eine exklusive Identität der deutschen Nation ohne
Schaden für die Menschen in Deutschland zu verwirklichen. Der zweite Abschnitt, die
Entstehungszeit der Bundesrepublik, zeigt die bewußte Absicht der politischen Gründergeneration,
von einer ethnischen oder völkischen Definition des Deutschseins Abstand zu nehmen und an ihre
Stelle ein Gemeinwesen zu setzen, das auch für seine Nachbarn offen steht. Ich werde zu den
beiden genannten Abschnitten jeweils drei Thesen vortragen.
Der Zweite Weltkrieg war der Versuch Hitlers und der Nationalsozialisten, das "Reich der
Deutschen" zu verwirklichen. Dieser Versuch - und das ist meine erste These - beinhaltete den
Heimatverlust von mehr als einer Million Deutschen. Ich meine insbesondere die Menschen, die
aufgrund des Vertraulichen Protokolls zum deutsch-sowjetischen Vertrag vom 28. September
4
1939 aus dem Baltikum und aus der Sowjetunion "rückgesiedelt" wurden, etwa 950.000 Personen
von 1939 bis 1944. In den baltischen Staaten erfuhren die betroffenen Regierungen und
Bevölkerungsteile erst nach Abschluß der deutsch-sowjetischen Vereinbarung vom Beschluß der
Reichsregierung, sie umzusiedeln. Die Umsiedlung "heim ins Reich" erfolgte in die besetzten
polnischen Gebiete der sogenannten Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland. 1,2
Millionen Polen mußten den neu angesiedelten Volksdeutschen weichen und wurden ins
Generalgouvernement vertrieben.5 Eine Sprachregelung des Auswärtigen Amtes vom Oktober
1939 beschreibt die offizielle Sichtweise der deutschen Umsiedlung: "Es muß unter allen
Umständen vermieden werden, die Baltendeutschen als Emigranten oder Flüchtlinge hinzustellen.
Das wäre ... ein Fehler, weil die ... gegnerische Presse schlußfolgern würde, daß die Baltendeutschen entweder zu einem leidenden Objekt von Absprachen des Reiches mit Moskau gemacht
worden sind, oder daß man sie vor einem Schicksal retten wolle, das den anderen Bewohnern des
Baltikums droht."6 Die Reichsregierung führte diese "großzügige Umsiedlungsaktion" später
sogar der Sowjetunion gegenüber ausdrücklich als Maßnahme an, mit der ihr "Wunsch, zu einer
dauernden Befriedung mit der UdSSR zu kommen," unter Beweis gestellt werden sollte, "um
Divergenzen zwischen den beiden Staaten von vornherein auszuschalten."7 Der Versuch, einen
"rein deutschen" Staat zu errichten, implizierte also die bewußt herbeigeführte Entwurzelung von
fast einer Million Deutschen aus ihrer angestammten Heimat jenseits der Grenzen, und dies ohne
sie nach ihrem eigenen Willen gefragt zu haben.
Warum ist bei der Wehklage über den Heimatverlust der Ostdeutschen kaum je von dieser
Tatsache die Rede, daß nämlich der Exodus der Volksdeutschen begann mit einer von
Deutschland im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes durchgeführten Umsiedlungsaktion? Warum
erkennt kaum jemand diese Tatsache an, daß hier Deutsche und Polen zugleich die Leidtragenden
der rücksichtslosen Politik des deutschen Faschismus wurden, der Menschenmassen entwurzelte
und verpflanzte, und zwar eben auch deutsche? Die Antwort ist ziemlich einfach: weil diese
Umsiedlungen gegen Kriegsende übergingen in die Flucht vor der Roten Armee und die
systematische Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Ostprovinzen, weil der
Umfang dieser Bevölkerungsbewegung die Umsiedlungen der NS-Regierung um ein Vielfaches
übertraf, vor allem aber deshalb, weil in der Nachkriegszeit die Auseinandersetzung mit der
5
Sowjetunion diejenige mit dem Nationalsozialismus verdrängte. In das Bild von einer expansiven
Sowjetunion, die ihren Herrschaftsbereich in Osteuropa systematisch absicherte, paßten die
Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem deutschen Osten nur zu gut: als lebende Beweise für die
Unmenschlichkeit des stalinistischen Regimes. So wurden die Vertreibungen im Bewußtsein der
westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit nicht als ein teilweise vom Faschismus selbst herbeigeführter Vorgang, sondern als Menschenrechtsverletzung durch die Sowjetunion wahrgenommen, und die Vertriebenen folglich nicht als Opfer des expansiven Faschismus, sondern als
Opfer der Sowjetunion.
Auf einen weiteren Sachverhalt von hoher Bedeutung für das Verhältnis der Deutschen zu ihren
östlichen Nachbarn und zu sich selbst möchte ich in meiner zweiten These hinweisen: Der Versuch
des deutschen Faschismus, das "Reich der Deutschen" durchzusetzen, beinhaltete die Unterschichtung der deutschen Gesellschaft durch sogenannte "fremdvölkische" Arbeitskräfte, im
wesentlichen Slawen. Mit anderen Worten: die Durchsetzung des nationalen Prinzips bedeutete in
Theorie und Praxis die Schaffung einer ethnisch geschichteten, gespaltenen Gesellschaft, nicht
einer einheitlichen völkischen Ganzheit. Im Falle eines Sieges wollte Hitler die eroberten Gebiete
durch eine Herrenschicht von Deutschen besiedeln lassen, die natürlich - ganz im Gegensatz zur
Ideologie einer Verwurzelung in "Blut und Boden" - erst einmal aus dem Reichsgebiet hätten
abwandern müssen. Während des Krieges wurden aber vor allem Arbeitskräfte gebraucht, um die
Arbeitsplätze der Soldaten und in der Rüstungsindustrie zu besetzen. Bei Kriegsende arbeiteten
etwa 8 Millionen ausländische Arbeiter in Deutschland für das "Volk ohne Raum", davon etwa 6
Millionen als zivile Zwangsarbeiter und etwa 2 Millionen als Kriegsgefangene. "Ohne diese Masse
ausländischer Arbeitskräfte, die zu etwa einem Drittel in der Landwirtschaft und etwa zur Hälfte in
der Industrie eingesetzt wurden, wäre die nationalsozialistische Kriegswirtschaft und damit die
Kriegführung selbst frühzeitig zusammengebrochen."8 Man muß auch immer wieder daran
erinnern, in welch schrecklicher Lage sich hierbei vor allem die sowjetischen Kriegsgefangenen
befanden: So starben von den insgesamt etwa 7 Millionen rund 5,7 Millionen in der Gefangenschaft. Die nächstgroße Gruppe stellten mit etwa 2 Millionen die Polinnen und Polen, im
wesentlichen Zivilverschleppte.9
6
Das Schicksal dieser Menschen ist bei den Betroffenen, in ihren Familien und Völkern in
Osteuropa unvergessen, bei uns in der Bundesrepublik aber mit einem dicken und zähen Schleier
des Verschweigens zugedeckt. Welche Sperren haben bisher dieses Erinnern verhindert? Es
müssen schwerwiegende Faktoren gewesen sein, denn einerseits war die Anwesenheit der
Fremdarbeiter im ganzen Reichsgebiet, in Stadt und Land bekannt und selbstverständlich,
andererseits erinnert in der Öffentlichkeit nichts - außer den Gräbern der verstorbenen
Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen - an sie. Sicherlich trug auch hier zunächst einmal der Geist
des Kalten Krieges zum Vergessen bei, erschienen doch nach 1945 die; osteuropäischen Staaten
insgesamt als feindliches Lager.
Zwei Dinge spielten aber außerdem eine Rolle: Einmal die Tatsache, daß es nicht deutsche
Behörden waren, die sich um das weitere Schicksal dieser Kriegsgefangenen und Verschleppten
kümmerten, sondern die Flüchtlingsorganisationen der UNO (UNRRA, später IRO). Diese
Organisationen bewerkstelligten die Rückführung in die Heimatländer oder vermittelten die
Auswanderung, vornehmlich in die USA. Die deutsche Politik brauchte sich insofern mit diesem
Problem nicht zu befassen. Mitte der fünfziger Jahre lebten noch etwa 200.000 dieser sogenannten
Displaced Persons in Westdeutschland, meist in Lagern (übrigens rechtlich den Deutschen
gleichgestellt), und auch heute leben noch etliche Familien von ehemals Zwangsverschleppten hier
(insgesamt ca. 46.000), z.B. auch in Dortmund.10 Zum zweiten spielt bei der öffentlichen
Verdrängung dieses Komplexes eine Rolle, daß wir es im Verhältnis zu den Slawen mit einem
eigenen Kapitel "unbewältigter" Vergangenheit zu tun haben, das bis in die Zeit des BismarckReiches zurückreicht. Die Abwertung der slawischen Völker zu einem bloßen Arbeitskräftereservoir stufte diese schon damals in eine minderwertige Kategorie ein, aus der es für die
Betroffenen nur einen Ausweg gab: die totale Germanisierung. Das Herrenmenschentum der
Nationalsozialisten versperrte ihnen als "rassisch Minderwertigen" auch diese Möglichkeit der
Assimilierung und wollte sie damit auf ein ewiges Sklavendasein festlegen. Diese Verachtung der
Slawen hat sich dann nach meiner Überzeugung auch in der Ignorierung ihres Schicksals
ausgewirkt.
Meine dritte These besagt, daß der Versuch des Nationalsozialismus, ein Reich der Deutschen zu
errichten, direkt und absichtsvoll die Zerstörung eines wichtigen Teils der deutschen Kultur
7
beinhaltete. Ich spreche zunächst von dem Teil der deutschen Kultur, der in Wissenschaftlern,
Künstlern, Schriftstellern jüdischen Glaubens verkörpert war. Zur Erinnerung: zwischen 1905 und
1931 erhielten insgesamt elf Juden aus Deutschland den Nobelpreis (vier Chemiker, drei
Mediziner, drei Physiker, ein Schriftsteller).11 Jüdischen Glaubens waren bzw. sind bekanntlich
zahlreiche Maler, Schauspieler, Regisseure und Autoren, die getötet wurden oder Deutschland
verlassen mußten, um zu überleben. Das Dritte Reich hat diesen Teil der deutschen Kultur und
Intelligenz zerstört, der unbestreitbar deutsche Kulturleistungen verkörperte. Diese Leistungen
werden auch heute durchaus anerkannt, aber ohne ausreichendes Bewußtsein der Tatsache, daß
ihre Träger seinerzeit einer diskriminierten Minderheit angehörten. Wir haben die erfolgreichen
Juden als große Deutsche vereinnahmt und sehen geflissentlich über ihr Judentum hinweg, obwohl
es für sie selber ein ganz existenzielles Schicksal war.
Neben Albert Einstein ist hierfür ein beredtes Beispiel Walther Rathenau, der brillante Erfinder,
national gesonnene Chef der AEG, Außenminister der Weimarer Republik, Jude und Opfer eines
Mordanschlags von Rechtsextremisten, schrieb 1911 über seine eigene Erfahrung: "Den Juden
trifft ein sozialer Makel. In die Vereinigung und den Verkehr des besseren christlichen Mittelstandes wird er nicht aufgenommen. Zahlreiche Geschäftsunternehmungen schließen ihn als
Beamten aus. Die Universitätsprofessur ist ihm durch stille Vereinbarung versperrt, die
Regierungs- und Militärlaufbahn, der höhere Richterstand durch offizielle Maßnahmen. In den
Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich
zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse
in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien
kann."12
Die Bonner Regierung und die bundesdeutsche Öffentlichkeit reduzierten dann in den fünfziger
Jahren die offenen Fragen der deutsch-jüdischen Vergangenheit auf finanzielle Regelungen
zugunsten der Überlebenden des Holocaust und des Staates Israel, die sogenannte "Wiedergutmachung". Ihre Entlastungsfunktion für das moralische Gewissen der Westdeutschen ist
bekannt. Ich meine, diese finanzielle und außenpolitische Erledigung des Problems hat aber auch
dazu beigetragen, die eben erwähnten deutsch-jüdischen Erfahrungen der Zeit vor dem Nazi8
Terror zu verdrängen. Das zeigt sich meines Erachtens in einer deutlichen Schwäche unserer
öffentlichen, d.h. intellektuellen und politischen Diskussion: Uns fehlt heute die Tradition und die
Übung im Umgang mit nichtchristlichen religiösen Minderheiten. Wir sind groß geworden mit dem
als selbstverständlich hingenommenen Monopol der christlichen Konfessionen für Fragen der
religiösen Moral. Die westdeutsche Intelligenz hat sich häufig genug mit diesem Formulierungsanspruch kritisch auseinandergesetzt und lebt meist in der einen oder anderen Form eines
nachchristlichen Skeptizismus oder Atheismus. Daß es andere Traditionen, Lebensentwürfe und
Erklärungsversuche auf religiöser Basis gibt, wird uns erst durch die moslemischen Minderheiten
wieder bewußt. Die Vereinheitlichung der religiös-weltanschaulichen Landschaft ist auch ein
Ergebnis des Holocaust, eine Selbstverstümmelung des geistigen Lebens in Deutschland. Wir
haben uns in der von den Nazis planierten Kultur und Gesellschaft sehr schnell bequem
eingerichtet. Nicht nur die jüdische Tradition samt ihren säkularisierten Nachkommen fehlt uns
heute, sondern auch die Erfahrung eines Pluralismus der normativen, religiös-weltanschaulichen
Auseinandersetzung. In der Zukunft wird beides notwendig sein: eine gegenseitige Kritik der
religiösen Traditionen vor allem des Christentums, des Judentums und des Islam, aber auch eine
kritische Bearbeitung des Phänomens Religion, die dieses nicht auf die vertrauten Muster
christlicher Konfessionen reduziert.
Ich habe bisher zu zeigen versucht, warum das NS-Regime kein Bezugspunkt sein kann für die
Bestimmung einer deutschen Identität. Der Preis, den Hitler für die Verwirklichung dieses fiktiven
Zieles zu zahlen bereit war, beinhaltete die Zerstörung seiner Voraussetzungen: Heimatverlust für
die verstreut lebenden Deutschstämmigen, ethnische Spaltung der Gesellschaft durch Versklavung
der Nachbarvölker, kulturelle Selbstverstümmelung durch Vernichtung deutscher Kultur. Zugleich
wurde deutlich, daß die politische Entwicklung der Nachkriegszeit dazu beigetragen hat, daß uns
die Lehren dieses Irrwegs nicht immer bewußt geblieben sind: daß nämlich ein ethnisch homogenes Deutschland nicht möglich ist. Dennoch möchte ich im folgenden von der Annahme
ausgehen, daß das Grundgesetz und die politischen Fundamente der Bundesrepublik Ansätze
enthalten, die diese Lehren ernst nehmen und mutiger und zukunftsweisender sind, als ihre
tagespolitische Umsetzung es vermuten läßt. Ich meine die Definition des Deutschen im
Grundgesetz, die politische Entscheidung für eine europäische Integration und die Anerkennung
der weltweiten Geltung der Menschenrechte. Dazu im einzelnen wieder drei Thesen.
9
Erste These: Das Grundgesetz hat sich gegen eine ethnische oder völkische Definition des
Deutschseins entschieden. Es unterscheidet in Art. 116,1 zwischen den Deutschen durch
Staatsangehörigkeit und denen durch Volkszugehörigkeit. Mit anderen Worten: Es kann jemand
Deutscher sein mit allen Rechten und Pflichten, obwohl er zu einem gegebenen Zeitpunkt eine
andere Staatsangehörigkeit besitzt. Bedingung ist, daß er dem deutschen Volke zugehört. Diese
Volkszugehörigkeit ist an bestimmten Kriterien zu überprüfen. Sie muß laut Gesetzestext (BVG,
StARegG) durch Bekenntnis zum deutschen Volkstum belegt und durch bestimmte Merkmale wie
Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt werden. Aber diese Merkmale müssen nicht
immer vollständig gegeben sein. Auch wird von den Abkömmlingen deutscher Volkszugehöriger
das Bekenntnis zum deutschen Volkstum in der Heimat nicht verlangt. "Wenn demnach ein
Abkömmling deutscher Volkszugehöriger mit beispielsweise polnischer Staatsangehörigkeit in
Hamburg einen Wohnsitz begründet, ist er wahlberechtigt, ohne daß von ihm weitere Nachweise
seiner Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen verlangt werden."13
Das Beispiel bezieht sich nicht zufällig auf Polen, wie ja auch der Vorgang der Einbürgerung
junger Menschen, die die deutsche Sprache erst erlernen müssen, aus dem Bereich der
Spätaussiedler aus Polen wohlbekannt ist. Die genannten Bestimmungen sind unmittelbare Folgen
der Kriegsereignisse, und zwar insbesondere der Ankunft von ca. 9 Millionen Flüchtlingen und
Vertriebenen im Westen. Von diesen waren schätzungsweise ein Drittel Auslandsdeutsche, also
deutschstämmige Staatsangehörige anderer Länder. Sie galten für die Westdeutschen nicht ohne
weiteres als Deutsche: Die US-Regierung wies noch im Juli 1947 ihre Militärregierung an,
gegenüber den Deutschen "darauf zu bestehen, daß Personen deutscher Abstammung, die nach
Deutschland zurückgebracht worden sind, die deutsche Staatsangehörigkeit mit vollen
bürgerlichen Rechten zuerkannt wird...".14 Wiederholt ergingen Mahnungen der angelsächsischen
Besatzungsmächte an die deutsche Flüchtlingsverwaltung und die einheimische Bevölkerung, ihre
Pflichten gegenüber den deutschen Flüchtlingen zu erfüllen. Die Vertriebenen unterlagen im
Westen zunächst fremdenrechtlichen Einschränkungen, vor allem dem Koalitionsverbot: Erst 1948
durften sie eigene Interessenverbände gründen, erst seit 1950 sich parteipolitisch betätigen.15
10
Trotz dieser nachweislichen Zurückhaltung der ersten Jahre wurden mit dem Art. 116,1 GG und
dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 die Weichen für eine Integration gestellt. Deutsche durch
Volkszugehörigkeit haben seitdem einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung (es sei denn, sie
stellten ein Sicherheitsrisiko dar); die einmal erworbene Staatsangehörigkeit kann nicht mehr
aberkannt werden (Art. 16,1 GG). Grundlage für diese Integrationspolitik bildet bis heute die
Anerkennung der Tatsache, daß sich weder deutsche Staatsangehörigkeit mit deutscher
Volkszugehörigkeit decken, noch auch deutsche Volkszugehörigkeit ein für alle mal eindeutig
abgrenzbar wäre; das wird heute, wie gesagt, besonders deutlich erkennbar an den jungen
Menschen, die mit ihren deutschstämmigen Eltern aus Osteuropa nach Westdeutschland kommen.
In einem gemischten Siedlungs- und Lebenszusammenhang wie dem Osten Europas wäre alles
andere ein Akt definitorischer Gewalttätigkeit. Der Vollständigkeit halber ist noch hinzuzufügen,
daß diese relativ flexible Definition deutscher Identität gegenüber den Staaten Österreich und
Schweiz eine weitere Unterscheidung erfordert. Ich zitiere eine Formulierung der Bayerischen
Regierung von 1963: Dieser Volkstumsbegriff ist nicht "ethnologisch" gemeint, d.h. er erstreckt
sich nicht auf Schweizer und Österreicher, die demzufolge zwar "Deutsche im ethnologischen
Sinne sind", sich aber kaum zum deutschen Volkstum bekennen.16 So bietet der Ansatz des Art.
116,1 GG und seine praktische Weiterentwicklung in der Gegenwart einen Beleg dafür, daß
deutsche Identität im Sinne des Grundgesetzes nicht an starren Kriterien festgemacht werden
kann. Die Problematik der auch seinerzeit umstrittenen Sicherheitsklausel des Staatsangehörigkeitsgesetzes braucht in diesem Zusammenhang nicht weiter erörtert zu werden.
Meine zweite These bezieht sich auf die Entscheidung für die europäische Integration. In ihrer
idealistischen Version lautet sie: Die Idee eines europäischen Bundesstaates bedeutet
logischerweise zugleich die Idee eines Vielvölkerstaats Europa, denn wer ein Europa ohne
Grenzen will, will damit auch den freien Zutritt a11er Europäer zu allen Teilen eines geeinten
Europa. Die Vision eines Europa ohne Grenzen ist freilich heute keine Leitlinie praktischer Politik,
sondern dient höchstens der rhetorischen Vernebelung revisionistischer Absichten. Daher biete ich
die These in realistischer Version: Die Integration Westeuropas impliziert notwendigerweise die
Freizügigkeit seiner Bewohner; diese Migration erweitert die nationale Identität um eine
europäische Dimension.
11
Auf europäischer Ebene wiederholt sich in gewisser Weise ein Vorgang, der sich bereits bei der
Entstehung der modernen Staaten abspielte: die Überwindung enger lokaler und regional
begrenzter Wirtschaftsräume und Arbeitsmärkte durch den Motor kapitalistischer Entwicklung.
Das Bewußtsein für die Antiquiertheit kleinräumiger Gebiete mit Grenzen und Zöllen ist in
Deutschland vielleicht auch deshalb so deutlich, weil ihre Überwindung auf deutschem Gebiet erst
spät erfolgte. So geht denn auch die Aufnahme der Freizügigkeit in den EWG-Vertrag auf eine
bundesdeutsche Initiative zurück: Nachdem die Benelux-Staaten in einem gemeinsamen
Memorandum die Errichtung eines geeinten Europa durch fortschreitende Verschmelzung der
nationalen Wirtschaften, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch Angleichung
der Sozialpolitik vorgeschlagen hatten, fügte die Bundesregierung im April 1955 ausdrücklich die
schrittweise Herstellung der Freizügigkeit hinzu. Diese Forderung fand sich dann in der MessinaErklärung der Außenminister wieder und floß von da in den Text des EWG-Vertrags. In den
Abkommen zur Erweiterung der EG finden sich analoge Bestimmungen zur Einführung der
Freizügigkeit.
Die Aufnehme der Bundesrepublik in die westeuropäische Staatengemeinschaft ist eine Leistung,
für die Konrad Adenauer und die bundesdeutsche Gründergeneration im allgemeinen einhellig
gerühmt werden. Die Anwesenheit von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik ist nur die soziale, die alltägliche Seite dieser Leistung. Beides läßt sich nicht voneinander
trennen. Es entspricht auch der Logik der wirtschaftlichen Entwicklung, der langen Geschichte
Europas wie auch seiner internationalen politischen Situation, daß nunmehr die meisten nördlichen
Anrainerstaaten des Mittelmeers dazu gehören oder, wie die Türkei, ihm eng verbunden sind.
Dritte These: Das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte ist ein tragender Pfeiler unserer
Demokratie; es ist daher unteilbar und unverzichtbar. Im tagespolitischen Streit wird manchmal so
getan, als sei dieses in Art. 16,2 GG niedergelegte Grundrecht nur eine Geste humanitärer
Großzügigkeit, die man auch einsparen dürfe, wenn ihre Kosten zu hoch würden.18 Nach meiner
Meinung hat aber die Aufnahme dieses Grundrechts in das Grundgesetz eine politische Bedeutung.
Sie drückt aus, daß die Grundrechte nicht an den Grenzen der Bundesrepublik ihren Sinn
verlieren, sondern von universaler Bedeutung sind. Denn die Bundesrepublik erklärt sich ohne
Wenn und Aber zur Zufluchtsstätte für Menschen, denen anderswo die Ausübung ihrer Rechte
12
durch politische Verfolgung verwehrt wird. Wir nehmen politisch Verfolgte also nicht aus bloß
humanitären Gründen auf, etwa weil sie sich in materieller Not befinden und unsere Hilfe
brauchen, auch nicht aus Opportunitätsgründen, etwa wenn es sich um "Feinde unserer Feinde"
handelt. Vielmehr genießen sie bei uns Asylrecht, weil wir grundsätzlich ihr Recht auf freie
politische Betätigung und auf Schutz vor politischer Verfolgung bejahen. Dies gilt daher ohne
Einschränkung, also nicht nur für bestimmte Opfer, bestimmte Regimes, eine bestimmte Dauer.
Würde man diese uneingeschränkte Bedeutung des Art. 16,3 abschaffen, wie es heute in den
Regierungsparteien des Bundes diskutiert wird, wäre sofort die Tragweite des Verlustes sichtbar:
politisch Verfolgte würden nur noch nach politischer Opportunität aufgenommen, vielleicht auch
noch, je nach Haushaltslage, unter humanitären Gesichtspunkten. Grundrechte sind aber nicht
billig zu haben. Wenn der Verdacht besteht, sie würden mißbraucht, dann ist der Mißbrauch zu
verhindern, nichts sonst.
Zum Thema Asyl in der Bundesrepublik noch zwei Ergänzungen. Die unmittelbar erlebte
existentielle Bedeutung des Asyls im Ausland während der Nazizeit steht als Hintergrund hinter
der klaren Formulierung des Grundgesetzes. Die leidvolle Erfahrung vieler Emigranten, um Asyl
betteln zu müssen und auf das Wohlwollen der jeweiligen Behörden angewiesen zu sein, wirkt hier
nach. Allerdings war die Erfahrung des Exils nicht in allen bundesdeutschen Parteien gleich
präsent: am stärksten in SPD und KPD, so gut wie garnicht in den bürgerlichen Parteien.19 Diese
Konstellation wirkt meines Erachtens noch bis heute nach. Die zweite Ergänzung bezieht sich auf
die Universalität des Asylrechts in einem empirischen Sinn, auf die Tatsache nämlich, daß es seit
einigen Jahren zunehmend von Asylanten "aus aller Herren Länder" in Anspruch genommen wird.
An den Stammtischen der Republik wird dies erklärt mit der Behauptung, es habe sich bei den
Schmarotzern aller Länder herumgesprochen, die Gutmütigkeit der Westdeutschen lasse sich auf
diese Weise ausnutzen. Politiscb wird diese These unter dem Etikett "Wirtschaftsflüchtlinge" und
"Scheinasylanten" gehandelt.20 Immer ist in den einschlägigen Äußerungen das Erstaunen darüber
enthalten, daß Menschen, die uns so ganz fremd sind, uns ihre Anwesenheit zumuten. Daß dabei
der Kern des Asylrechts unbegriffen bleibt, liegt auf der Hand. Daß andererseits nicht jeder
Asylbewerber auch tatsächlich das Opfer politischer Verfolgung sein muß, ist ebenfalls klar.
13
Was jedoch anscheinend bei vielen Politikern noch nicht genügend ins Bewußtsein gedrungen ist,
das ist der unwiderrufliche Vorgang des Näherrückens aller Völker und Staaten der Erde durch
die politische Entkolonisierung. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurde nicht nur der deutsche
und japanische Faschismus besiegt, Deutschland geteilt, Osteuropa sowjetischer Herrschaft
unterworfen, Westeuropa amerikanischem Einfluß ausgeliefert; es wurden auch die Kolonialreiche
der europäischen Mächte so entscheidend geschwächt, daß sie danach aufgegeben werden
mußten, wenn auch teilweise erst nach blutigen Kriegen. Die USA haben den Prozeß der
Entkolonisierung gefördert, weil und insofern die neuen Staaten dadurch amerikanischem
politischem und wirtschaftlichem Einfluß geöffnet wurden. Die Bundesrepublik hat von der
Öffnung der vormals kolonial beherrschten Gebiete profitiert und sich dabei ihre angebliche
Unbelastetheit durch eine eigene koloniale Vergangenheit zugute gehalten. In Wirklichkeit war
Deutschland lediglich an den Entkolonisierungskonflikten, die zur Bildung der heutigen Staaten
führten, nicht beteiligt.
Das scheint viele Deutsche und besonders westdeutsche Politiker zu der irrigen Annahme zu
verleiten, die politischen Ereignisse in diesen Ländern gingen uns nichts an, es sei denn unter
ökonomischen oder humanitären Aspekten. Die Bundesrepublik lebt aber in der nachkolonialen
Epoche und profitiert davon, also kann sie von den nachkolonialen Problemen und Konflikten
nicht unberührt bleiben. Wir bauen ganze Fabriken in Lateinamerika, also werden wir auch die
sozialen Folgen nicht ignorieren können. Wir erklären Südvietnam zum Vorposten Berlins, also
gehen uns die Boat-people etwas an. Wir richten Fluglinien in die ganze Welt ein, um in der Ruhe
exotischer Diktaturen Urlaub zu machen, also können wir nicht verhindern, daß auch von dort auf
denselben Linien Menschen aufbrechen, um bei uns Schutz vor politischer Verfolgung zu suchen.
Was hat das alles nun mit dem Begriff "Vielvölkerstaat" in Bezug auf die Bundesrepublik zu tun?
War das bisher Gesagte ein Plädoyer dafür oder dagegen? Ich halte die Verwendung dieses
Begriffs, egal von welcher Seite, in diesem Zusammenhang für verantwortungslos, weil
vollkommen unzutreffend und irreführend. Natürlich haben wir einen höheren Ausländeranteil an
der Bevölkerung als in den fünfziger Jahren, die von der Integration der deutschen Zuwanderer
gekennzeichnet waren. Der Ausländeranteil liegt zur Zeit bei 7,1 Prozent, mit sinkender Tendenz,
was erst seit kurzem so ist und auch nicht ohne weiteres so weitergehen muß.22 Aber stellt diese
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Ansammlung von Spaniern, Österreichern, Griechen, Italienern, Jugoslawen und Türken, um nur
die wichtigsten zu nennen, wirklich eine Vielfalt von Völkern dar, unter denen die Deutschen nur
eines wären? Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, daß einige dieser sogenannten Völker
sehr heterogene Bestandteile umfassen; jeder vierte türkische Staatsangehörige in der Bundesrepublik beispielsweise ist Kurde, von den verschiedenen jugoslawischen Bevölkerungsteilen nicht
zu reden. Aus Bequemlichkeit fassen wir im alltäglichen Sprachgebrauch diese Menschen unter der
Rubrik Ausländer zusammen, womit nur ihr rechtlicher Status für die deutschen Behörden
benannt, aber nur wenig über ihre soziale und kulturelle Identität gesagt ist: ob sie als Arbeiter
oder Ärzte, Studenten oder Asylanten, orthodoxe Christen, Katholiken oder Moslems leben, ob sie
Angehörige einer Mehrheits- oder einer Minderheitskultur ihres Herkunftslandes sind.
Nun gibt die Prozentzahl 7,1 nur einen Mittelwert an, es gibt bekanntlich Straßenzüge, Schulen
usw., in denen die Mehrheitsverhältnisse für die deutsche Seite wesentlich ungünstiger aussehen,
und unbestritten ergeben sich daraus konkrete Probleme für eine Kommune, eine Schule usw.
Aber eine Überfremdung der Bundesrepublik insgesamt zu beschwören, oder umgekehrt die
romantische Idylle eines bunten Kosmos im Kleinen herauszulesen, ist wirklichkeitsfremd. Ganz
unbestreitbar ist die herrschende Kultur, das Werte- und Normensystem der westdeutschen
Gesellschaft, eine deutsche, Ergebnis vieler auch widersprüchlicher Traditionen und Einflüsse aus
den deutschen Landschaften und der übrigen Welt. Es zeichnet die europäischen Kulturen, auch
die deutsche, in ihrer Geschichte geradezu aus, daß sie immer wieder ihre Fähigkeit bewiesen,
Einflüsse fremder Minderheiten und Kulturen aufzugreifen und zu verarbeiten. Bei nüchterner
Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung erweist sich ohnehin als ihr zentrales Element
nicht der Kampf zwischen unterschiedlichen nationalen Kulturen und Lebensweisen (zwischen
Bratwurst, Hamburger und Gyros sozusagen), sondern die tendenzielle Vereinheitlichung der
Lebensweisen (um im Beispiel zu bleiben: der Vormarsch des Schnellimbiß). Die industrielle
Homogenisierung, die Modernisierung erfaßt nach dem Arbeitsleben auch die letzten Nischen des
Alltags aller Einwohner der westlichen Gesellschaften: Medien wie Telefon, Fernsehen, Video
passen auch die Privatsphäre, und gerade auch bei Zugewanderten, an die Strukturen der
industriellen Einheitskultur an. Ich nenne als Beispiel die tendenzielle Angleichung der
Geburtenrate von Zugewanderten an die der industriellen Aufnahmegesellschaft.23 Als Reaktion
dagegen stellt sich ein starkes Bedürfnis nach Differenzierung, nach individueller Besonderheit ein,
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die sich an allen möglichen Symbolen festmacht: Kleidung, Gruppenzugehörigkeit, Religion,
Sprache, regionale oder landsmannschaftliche Herkunft usw. Für die Identitätsbildung von
Individuen und Gruppen ist dieser Bereich symbolischer Differenzierung notwendig, hier werden
Erkennungs- und Zuordnungsmerkmale ausgetauscht. Diese Vielfalt ist auch nicht ohne weiteres
konfliktfrei. Aber die hier wurzelnden Konflikte lassen sich auf der Basis der Grundrechte regeln.
Ja, in gewissem Sinne wurden die Grundrechte gerade auch als Schutz für dieses Bedürfnis nach
Differenzierung und für die Regelung daraus entstehender Konflikte entwickelt.
Nun ist es wohl kein Zufall, daß wir bei unseren Betrachtungen zum Jahr 1945 wieder beim
Thema Grundrechte angelangt sind. Der 8. Mai 1945 zeigte den Deutschen und der Welt, wohin
eine Politik führt, die Menschen- und Bürgerrechte systematisch abbaut. Die Überlebenden haben
versucht, daraus zu lernen. An uns ist es, diesen Neuanfang für unsere Generation zu
verwirklichen.
Anmerkungen
1) "Toxi. Die Geschichte eines Mulattenkindes. "Illustrierte Film-Bühne, Nr. 1598.
2) Weitere Hinweise bei: Arno Klönne: Zurück zur Nation? Kontroversen zu deutschen
Fragen, Köln 1984; Werner Weidenfeld (Hg.): Die Identität der Deutschen, Bonn 1983
(Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 200); Wolfgang Venohr
(Hg.): Die deutsche Einheit kommt bestimmt, Bergisch-Gladbach 1982 (mit Beiträgen von
H. Diwald, P. Brandt/H. Ammon u.a.).
3) Lothar Gall: "Die Bundesrepublik in der Kontinuität der deutschen Geschichte",
Historische Zeitschrift, Bd. 239, H. 3, S. 603-614, hier S. 604.
4) So insbesondere der "Schutzbund für das deutsche Volk e.V.", vgl. die Aufsatzsammlung
"Deutschland - ohne Deutsche", Tübingen 1984, und Rolf Meinhardt:
Ausländerfeindlichkeit - eine Dokumentation, Berlin 1982.
5) Bevölkerungsploetz IV, S. 184f; Friedrich Zipfel: "Krieg und Zusammenbruch": in:
Eberhard Aleff (Hg.): Das Dritte Reich, Hannover 1970, S. 177-240, bes. S. 180.
6) zit. nach Dietrich A. Loeber: "Deutsche Politik gegenüber Estland und Lettland. Die
Umsiedlung der deutsch-baltischen Volksgruppe im Zeichen der Geheimabsprache mit der
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Sowjetunion von 1939", in: Manfred Funke (Hg.): Hitler, Deutschland und die Mächte,
Kronberg/Düsseldorf 1978, S. 675-683, hier S. 680.
7) zit. nach Loeber, S. 677.
8) Knuth Dohse: Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat, Königstein/Ts. 1981, S. 119.
9) Dohse, S. 122; Herbert Spaich: Fremde in Deutschland, Weinheim/Basel 1981, S. 201.
10) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Zehn Jahre Bundesrepublik
Deutschland, Bonn 1959, S. 77-82; Bundesminister des Innern (Hg.): Eingliederung der
Vertriebenen, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigten in der Bundesrepublik Deutschland,
Bonn 1982, S. 133-135.
11) nach Reiner Bernstein: Geschichte des jüdischen Volkes, Bonn 1981, S. 33 (Informationen
zur politischen Bildung 140).
12) Walther Rathenau: Gesammelte Schriften, I. Band, Berlin 1918, S. 188f; s.a. Fritz Stern:
"Einstein und die Deutschen. Der Weg eines Genies vom Leiden an Deutschland zur
Mitleidlosigkeit", Die Zeit, Nr. 15/1985 (5.4.1985), S. 41-45.
13) Helmut Rittstieg: Wahlrecht für Ausländer, Königstein/Ts. 1981, S. 54.
14) Heinrich Rogge: "Vertreibung und Eingliederung im Spiegel des Rechts", in: Eugen
Lemberg und Friedrich Edding (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland, Band 1, Kiel
1959, S. 174-245, hier S. 184.
15) Manfred Max Wambach: Verbändestaat und Parteienoligopol. Macht und Ohnmacht der
Vertriebenenverbände, Stuttgart 1971, S. 28f.
16) zit. nach Alexander N. Makarov: Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar. 2.,
neubearbeitete Auflage, Frankfurt/M., Berlin 1971, S. 242.
17) Reinhard Lohrmann: "Die Tätigkeit internationaler Organisationen auf dem Gebiet der
Arbeitskräftewanderung", in: Reinhard Lohrmann und Klaus Manfrass (Hg.):
Ausländerbeschäftigung und internationale Politik, München Wien 1974 (Schriften des
Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn, Band
35), S. 349-365, hier S. 354.
18) z.B. Heinrich Lummer: "Opfer von Scbmarotzern. Ein Grundrecht wird mißbraucht", in:
Die Zeit, Nr. 18/1985 (26.4.1985), S.11.
19) siehe Hartmut Mehringer, Werner Röder, Dieter Marc Schneider: "Zum Anteil ehemaliger
Emigranten am politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen
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Demokratischen Republik und der Republik Österreich", in: Wolfgang Frühwald und
Wolfgang Schieder (Hg.): Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge
im Ausland 1933-1945, Hamburg 1981, S. 207-223.
20) Derartige Versuche, Flüchtlinge zu diskriminieren, sind nicht neu; siehe Martin
Kornrumpf: "Flüchtlinge und Vertriebene (I) Weltflüchtlingsprobleme", in:
Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 3, bes. S. 753f.
21) zum Verhältnis der USA zu den Kolonialmächten und zum Schlüsselereignis Vietnamkrieg
vgl. Karl Markus Kreis: Großbritannien und Vietnam, Hamburg 1973 (Mitteilungen des
Instituts für Asienkunde).
22) Statistisches Bundesamt Wiesbaden, lt. Frankfurter Rundschau vom 20.2.1985.
23) Nach Angaben des Landesamtes Nordrhein-Westfalen für Datenverarbeitung verringerte
sich im Jahre 1984 bei den Deutschen die Geburtenzahl um 1,8 Prozent, bei den
Ausländern hingegen um 12,1 Prozent. Das Landesamt sieht darin "Anpassungen im
generativen Verhalten" der Ausländer an die deutsche Bevölkerung (lt. Ruhr-Nachrichten
vom 28.2.1985). Vgl. Hermann Korte: "Bevölkerungsbewegungen als Beispiel ungeplanter
Prozesse", in: Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Korte (Hg.): Materialien
zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie, Frankfurt/M.1977, S.407-431.
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