Wegweiser_Architektur

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Wegweiser_Architektur
WEGWEISER
DURCH
DIE ARCHITEKTURLANDSCHAFT
CHARLOTTENBURG -
WILMERSDORF
Herausgeber: Projektagentur. Gemeinnützige Gesellschaft zur
Förderung von Bildung, Kultur und Umweltschutz (PA Berlin) mbh
Projektteam: Herbert Bolz, Simone Brosch, Tatiana Demidova,
Michael Jordan, Jutta Kindler, Georgios Nassioulas, Rainer Ritter,
Ursèl Ritter, Andreas Schwarz, Peter Thelen
Redaktion: Michael Jordan, Jutta Kindler, Ursèl Ritter
Titelbild: Ursèl Ritter
© 2008 Projektagentur Berlin
Geschäftsstelle Charlottenburg-Wilmersdorf
Helmholtzstr. 13/14, 10587 Berlin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Charlottenburg-Wilmersdorf
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Europa hat eine Fülle von sehenswerten Stadtbildern, die an Einzigartigkeit, Charme und Vielfalt nicht zu überbieten sind und es dem
Besucher schwer machen, eine Wahl zu treffen. Doch es gibt kaum
eine Stadt, die es an Vielseitigkeit mit Berlin aufnehmen kann, was
sich aus der sehr eigenen Historie dieser Stadt ergibt. Während
Metropolen wie Paris, Madrid, Rom und viele andere sich in den
letzten hundert Jahren kaum verändert haben, blickt Berlin auf eine
wechselvolle und turbulente Geschichte zurück. Bombenkrieg, politische Teilung, Insellage und schließlich die Wiedervereinigung veränderten das Gesicht der Stadt in rasanter, zum Teil positiver wie auch
Fotos: Peter Thelen – Text: Projektteam
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
negativer Weise. Speziell der Fall der Mauer und die anschließende
Wiedererlangung der Hauptstadtfunktion in den 90er Jahren lösten
einen Bauboom aus, der Berlin zeitweise zur größten Baustelle
Europas machte.
Berlin ist wunderschön - Berlin ist abgrundtief hässlich, beides ist
wahr, und die deutsche Hauptstadt vereint dieses Paradox auf mitunter bizarre, auch charmante, aber stets quirlige und lebendige
Weise.
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Fotos: Peter Thelen – Text: Projektteam
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Unser Ziel ist es, den Besucher an sehenswerte Orte in Berlin zu
führen, auch an solche, die sich abseits der touristischen Pfade
befinden und in gängigen Reiseführern nicht zu finden sind. Da es
unmöglich ist, die Fülle und Vielfalt, den Charme und die Einzigartigkeit der Dreimillionenstadt in eine einzige Broschüre zu packen,
stellen wir die Berliner Architektur des Bezirks CharlottenburgWilmersdorf vor, der während der Teilung der Stadt eine Innenstadtfunktion für den Berliner Westen erfüllte und diese noch immer innehat.
Wir laden Sie ein zu einem Rundgang durch diesen Bezirk und wünschen Ihnen viel Freude dabei.
Beginnen werden wir mit unserem Rundgang am Fasanenplatz und
seiner Umgebung, von dem es nachfolgend eine Menge Wissenswertes zu berichten gibt.
Ihr Projektteam
Fotos: Peter Thelen – Text: Projektteam
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Fasanenplatz
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Ein ungemein lauschiges Plätzchen ist der Fasanenplatz zwischen
Schaper-, Ludwigkirch- und Meierottostraße. Auf dem Stadtplan wirkt
er wie eine Ausbuchtung der Fasanenstraße, die nord- und südwärts
verläuft.
Der Platz wurde am 14.11.1901 nach dem Fasan aus der Familie der
Hühnervögel benannt. Die Straße halbrund um den Platz ist für den
Verkehr gesperrt. Rote Bänke laden zum Verweilen und Ausruhen
ein. Der Platz ist vorwiegend mit großen Bäumen und Rasen begrünt
und hat dadurch eine ruhige und sehr romantische Ausstrahlung.
Fasanenplatz
Dieser Eindruck wird durch die vorwiegend alte Bausubstanz noch
verstärkt. In der Mitte des Platzes befindet sich eine moderne Wasserstele, 1987 von Rolf Lieberknecht erstellt. Von hier hat man einen
malerischen Blick auf eine Backsteinvilla, heute Baudenkmal. 187880 von Friedrich Kleinwächter erbaut, diente das Gebäude seinerzeit
als Lehrerhaus des Joachimsthaler Gymnasiums in der Bundesallee.
Nach schweren Kriegsschäden wurde es vereinfacht wieder aufgebaut. Seit 1958 ist eine Kindertagesstätte dort untergebracht.
Plan aus Wikipedia
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Der Fasanenplatz ist städtebaulich der nordwestliche Eckpunkt
der Carstenn-Figur, die 1870
von Johann Anton Wilhelm von
Carstenn-Lichterfelde
geplant
und nach ihm benannt wurde.
Die Eckpunkte bilden Fasanenplatz, Nürnberger, Prager und
Nikolsburger Platz, gedacht als
Repräsentations- und Schmuckplätze. Sie wurden als Grünflächen gestaltet und mit Wohngebäuden umgeben. Die Mittelachse bildet die Bundesallee,
bis 1950 Kaiserallee genannt.
Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Durch ihren Ausbau zu einer Hauptverkehrsstraße nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde das innere Gefüge der Gesamtanlage
weitgehend zerstört. Nun zurück zum Fasanenplatz. Galerien,
Restaurants und ein Antiquitätengeschäft beleben den Platz auf angenehme Weise.
Gebäude Fasanenplatz
Bemerkenswert ist ein altes sehr schönes Gebäude entlang der
Fasanenstraße, welches in die Häuserzeile integriert ist. In die Backsteinstruktur fügen sich Fenster mit halbrunden, weißen Einrahmungen ästhetisch ein und geschwungene schmiedeiserne Gitter runden
das Bild ab. In einem der Nachbargebäude befindet sich die Galerie
Bremer, eine alteingesessene Galerie.
Im Anschluss an ihre Ausstellungsräume gibt es eine von Hans
Scharoun entworfene Bar, die original erhalten ist.
Die Galerie wurde am 13.10.1946 in der Meinekestraße von Anja
Bremer gemeinsam mit Rudolf van der Lak eröffnet und zog 1955 in
die Fasanenstraße. Nach dem Tod von Anja Bremer führte Rudolf
van der Lak, von Insidern liebevoll Rudi genannt, die Galerie weiter
und es ist ihm zu verdanken, daß die Galerie Bremer zu einem der
unprätentiösesten kulturellen Treffpunkte Berlins wurde, in dem seit
Jahrzehnten West-Berliner Kunstgeschichte geschrieben wird. Leider
ist auch Rudi mit über 90 Jahren mittlerweile verstorben. Ohne ihn
geht es nun weiter mit der Kunst. Auch die Bar ist noch immer
brechend voll, doch hier wird der große Schwarze mit dem silbernen
Haar, dem unbeschreiblichen Charme und den gut gemixten
Cocktails sehr vermisst.
Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Schaperstraße
links: Seniorenstift
rechts: Haus der Festspiele
Nördlich vom Fasanenplatz kommend, erstreckt sich die Schaperstraße im Halbrund zur Bundesallee, darüber hinaus bis zur
Spichernstraße (Nürnberger Platz als Teil der Carstenn-Figur). Auf
der linken Seite der Straße dominiert zunächst Altbaustruktur, die
durch ein modernes Gebäude mit hellblauen Sonnenrollos unterbrochen wird. Hier ist ein Seniorenstift untergebracht.
Cafés und Bars Ecke Bundesallee beleben die Szene der Schaperstraße. Schauspieler der ehemaligen Freien Volksbühne verkehrten
hier häufig.
Der Architekt der 1962/63 entstandenen Freien Volksbühne war Fritz
Bornemann (kürzlich mit 95 Jahren verstorben), auch Erbauer der
Deutschen Oper in der Bismarckstrasse. Er verwendete eine StahlBeton-Skelettkonstruktion mit großen Glaseinsätzen.
Etwas zurückversetzt, wirkt dieser glatte kubische Baukörper von
intimer Eleganz. Die zurückliegende Vorderfront ist verglast, während
die Seitenwände der den Theaterbau umschließenden Foyers mit
Waschbetonplatten, auch im Innenbereich sichtbar, geschlossen
werden. Im Zuschauerraum haben 1.000 bis 1.200 Besucher Platz.
Es gibt nur einen Rang, der seitlich herumgeführt ist, so dass von
allen Plätzen gute Sicht garantiert ist.
Die eingeschossige Kassenhalle wurde weitläufig zum Raucherfoyer
ausgebaut. Sie ist dem Haupttheaterbau etwas seitlich versetzt vorgestellt und mit dem Erdgeschossfoyer durch einen verglasten Gang
verbunden.
An der Westwand des Baus steht eine abstrakte Stahlplastik von
Volkmar Haase (1962).
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Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Rückansicht JoachimsthGymn.,
Haus der Festspiele
Links neben der Freien Volksbühne ist die rückwärtige Ansicht des
Joachimsthaler Gymnasiums zu sehen, einem mächtigen repräsentativen Bau, bestehend aus verschiedenen Bauabschnitten, die quer
und längs stehend das Gelände in Plätze aufteilen. In zwei kleinen
Glasschaukästen direkt an der Straße können bildende Künstler ihre
Kunst zeigen. Neben einem Parkplatz weit nach hinten befindet sich
das bekannte Spiegelzelt der „Bar jeder Vernunft“.
Nacht für Nacht kann man hier Unterhaltung der extravaganten Art
erleben sowie das kulinarische Angebot genießen. Kabarett neben
Musicals, Lesungen oder Comedy-Shows, Sänger, Schauspieler und
Künstler finden hier eine interessante Plattform.
Das Original-Jugendstil-Spiegelzelt, von dem weltweit nur noch acht
Stück existieren, wurde am 5. Juni 1992 mit bekannten Künstlern wie
„Die Geschwister Pfister“, Meret Becker, Georgette Dee, Ars Vitalis
und Otto Sander eröffnet. Dass das Haus bis heute besteht und auch
teilweise kriselnde Zeiten überlebte, ist dem Einsatz vieler Künstler
zu verdanken.
Haus der Festspiele
2002 wurde sogar eine Dependance, nämlich das doppelt so große
Veranstaltungszelt „TIPI“ im Tiergarten, eröffnet.
Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Bundesallee
Entlang der Bundesallee liegt langgestreckt zwischen Schaper- und
Meierottostraße das Joachimsthaler Gymnasium, ein mächtiger
gelber Backsteinbau, am Abend wirkungsvoll beleuchtet.
Das 1875-1880 von Ludwig Giersberg und Johann-Eduard
Jacobsthal nach Plänen von Johann Heinrich Strack im Stil der
italienischen Hochrenaissance erbaute Gebäude wird als spätes Beispiel der Schinkelschule gesehen.
Joachimsthaler Gymnasium
Der 4-geschossige Bau hat zwischen zwei Risaliten eine 13-achsige
Arkadenreihe, auf der sich obenauf, in der Höhe des dritten Stockes,
Balkone erstrecken. Im mächtigen Mittelteil, mit reichem figürlichen
Fassadenschmuck, befinden sich in zwei Nischen die vom Bildhauer
Max Klein geschaffenen Skulpturen Platons und Aristoteles’. Sie
verweisen auf die Ideale der humanistischen Bildung. Der Mittelrisalit
schließt oben mit einem großen Dreiecksgiebel ab, in dessen Mitte
sich ein Portrait des Kurfürsten Joachim Friedrich (1546-1608) befindet, der 1607 das Gymnasium in Joachimsthal gegründet hat.
Bis 1912 war hier das Joachimsthaler Gymnasiums untergebracht,
anschließend bis 1920 das Joachim-Friedrich-Gymnasium. Ab 1920
diente das Gebäude als „Stadthaus“ des Bezirksamtes Wilmersdorf.
Nach schweren Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg wurde das
Haus vereinfacht wieder hergestellt.
In den Folgejahren diente es verschiedenen Zwecken, u.a. war es
Stern’sches Konservatorium und Musikinstrumentenmuseum.
1995 bauten die Berliner Architekten Nalbach die Aula zum Konzertsaal um. Heute befinden sich hier Bereiche der Universität der
Künste und die Musik- und Stadtteilbibliothek.
Am Eingang ist eine Tafel angebracht, auf der an ehemalige Kommilitonen des Gymnasiums gedacht wird, die ihren Widerstand gegen
den Nazi-Staat mit dem Leben bezahlten.
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Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Bundeshaus
Links vor dem Gebäude steht eine Gedenksäule von Eberhard
Encke für Gefallene des Ersten Weltkrieges. Etwas zurückgesetzt
daneben sehen wir von Fritz Klimsch (Neuguss 1920) das Bronzebildnis Gerhart Hauptmanns, nach dem auch die Grünanlage zur
Meierottostraße hin benannt ist. Das Joachimsthaler Gymnasium
steht unter Denkmalschutz. Vor dem Eingang sind zwei Gingkobäume gepflanzt.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Bundesallee befindet sich das
Bundeshaus, heute Bundesverwaltungsamt, ein ebenfalls lang gezogener roter Backsteinbau aus der Gründerzeit. Das Bundeshaus
wurde 1950 von Konrad Adenauer eingeweiht, seitdem heißt die
ehemalige Kaiserallee Bundesallee. Sie verläuft von Süden nach
Norden und heißt ab Schaperstraße bis Bahnhof Zoo Joachimstaler
Straße. Sie ist ein Musterbeispiel Westberliner Verkehrspolitik. Nach
der Entfernung der Straßenbahn 1961 ersetzte man diese durch
mehrere Buslinien und später durch die U-Bahn. Gleichzeitig wurde
die Allee, allerdings späterhin teilweise mit Mittelgrünstreifen versehen, autobahnähnlich ausgebaut.
Zwischen Meierottostraße und Hohenzollerndamm befindet sich ein
brückenartiger zweigeschossiger moderner Bürobau, mit blaugrün
abgesetzten Fensterrahmen, der über die Pariser Straße gebaut
wurde und an der Ecke Meierottostraße mit einem verspiegelten Bau
endet.
Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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Spichernstr. Ecke Pariser Straße
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Die Pariser Straße sollte so von der Bundesallee abgetrennt werden,
um eine städtebauliche Korrektur vorzunehmen, nämlich den Knotenpunkt von sechs die Bundesallee kreuzenden Straßen zu entschärfen.
Die gleiche Funktion hat auch
das große moderne Gebäude
zwischen Spichernstraße und
Nachodstraße an der Bundesallee, in dem heute die Investitionsbank ihren Sitz hat und das
genau über die Regensburger
Straße gebaut wurde. Das Gebäude wurde 1971-74 von den
Architekten Hendel, Haseloff
und Hotzel erbaut.
Der 12-geschossige Betonbau
ruft durch seine abgerundeten
Ecken, die braun eloxierte Aluminiumverkleidung und in annähernd gleichem Ton gefärbte
Sonnenschutzverglasung
der
waagerecht
durchgehenden
Fensterbänder einen geschlossenen, gut designten Eindruck
hervor. Das Gebäude wurde
allerdings vor einigen Jahren
modernisiert und erscheint nun
in hellerem freundlicheren „Outfit“. Eine moderne Metallplastik
vor dem Gebäude soll das Interesse der Bank für Kunst demonstrieren.
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Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
Investitionsbank
Gebäude an der Bundesallee
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Die gesamte Bundesallee war vor dem Krieg hauptsächlich mit Altbauten und Villen ausgestattet, die im Zweiten Weltkrieg fast vollkommen zerstört wurden.
Die Bebauung in den folgenden Jahrzehnten, ab Hohenzollerndamm
Richtung Süden, wurde mehr oder weniger wahllos vorgenommen,
so erscheint es jedenfalls.
Zum Beispiel das ADAC-Haus, Ecke Güntzelstraße, macht keinen
besonderen Eindruck neben den wenigen noch gut erhaltenen und
zum Teil sehr schön sanierten Altbauten. Auch diverse neue Architektur, wie ein konkav geformtes Bürohaus Ecke Berliner Straße,
kann den chaotisch wirkenden Gesamteindruck der Architektur in der
Bundesallee auf beiden Seiten nicht besonders aufwerten. Der Blick
von der Berliner Straße nach Norden oder in die andere Richtung
zum Bundesplatz hin bekräftigt den einzigen Sinn dieser Straße,
Verkehrsachse zu sein, von Nord nach Süd und umgekehrt.
Von hier aus laufen wir wieder Richtung Norden bis zur Trautenaustraße, in die wir links einbiegen, um dieser lauten Achse den
Rücken zu kehren, und um uns den Nikolsburger Platz anzusehen.
Text, Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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... und hier ist er dann auch schon, der, ganz gegensätzlich zur lauten und hässlichen Bundesallee, nur zwei Minuten westlich dieser
Achse, ruhig und still, ja nahezu inkognito daliegende immergrüne
Nikolsburger Platz. Zuerst gönnen wir uns hier eine kleine Pause auf
einer der Bänke, lassen die zauberhafte Idylle auf uns wirken und
lassen den Blick in die Umgebung schweifen. Man kommt nicht umhin, seinen Blick länger bei dem Gebäude der Cecilien-Grundschule
– dem repräsentativsten Bau an diesem Platz – ruhen zu lassen und
diesem mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Auch gibt es neben den
erwähnenswerten faktischen Beschreibungen auch noch Nostalgisches aus der Erinnerung einer Ehemaligen zu lesen.
Hier erst einmal die Ansicht des imposanten Gebäudes, eingepackt
in dichte Baumkronen, direkt am verkehrsberuhigten Platz, südöstlich
vom Hohenzollernplatz.
Das Ensemble besteht aus einer Anlage, die 1909/10 von Otto
Herrnring (1858–1921) für das damalige Lyzeum errichtet wurde.
Längere Zeit befanden sich in dem Gebäude die Johann-PeterHebel-Grundschule, auch als 2. Grundschule bezeichnet, sowie die
Cäcilienschule, auch als 10. Grundschule bezeichnet.
Am 15.1.1919 wurden in dem Schulhaus die beiden KPD-Politiker
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nach ihrer Verhaftung in der
Zufluchtswohnung Mannheimer Straße gefangen gehalten.
Heute erscheint in dem Namen der Schule die Schreibweise „e“ statt
„ä“, dazu ist sie zu einer einheitlichen Ganztagsgrundschule – im
Übrigen die erste ihrer Art im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf –
geworden.
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Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Sie entstand im August 2003 nach der Zusammenlegung der zu diesem Zeitpunkt integrierten Hans-Fechner-Grundschule und der
Cecilien-Schule. Benannt ist die Schule nach der Kronprinzessin
Cäcilie, welche die ursprünglich im Gebäude befindliche höhere
Mädchenschule persönlich einweihte.
Die Schulanlage besteht aus einer 3-geschossigen Baugruppe mit
zwei parallel verlaufenden Haupttrakten. Dazwischen befinden sich
Lichthof, Wandelhalle, Treppenhaus und Nebenräume mit Giebeln.
Im vorderen Haupttrakt liegen Aula, Turnhalle, Fachklassen und
Wohnungen – im rückwärtigen Teil sind die Klassenräume angeordnet. Der Mauerwerksbau ist verputzt und wird durch Flächen, die in
rotem Sandstein gehalten sind, verziert. Zusätzlich ist die Fassade
mit Turmerkern und Korbbogenportalen gegliedert. Die architektonische Gestaltung enthält Anklänge an die beginnende Moderne sowie
auch Reminiszenzen an die deutsche Renaissance. Die Schulanlage
wurde 2003 renoviert und umgestaltet und steht unter Denkmalschutz.
Was der Denkmalschutz jedoch auch 2003 nicht verhindern konnte,
waren die massiven Eingriffe in die ehemals wunderschöne und sehr
offene Innenraumgestaltung durch die Anforderungen an den Brandschutz.
Früher tobten die Kinder über die riesige Treppenanlage des Haupteinganges in einen überdimensionalen Innenhof des ersten Schulgeschosses, mit Brunnen, Marmor, Glasüberdachung und einer den
Brunnen kreisförmig einfassenden dicken Stützenreihe mit antiken
Kapitellen.
Von dieser Halle aus waren alle Klassenzimmer dieser Etage direkt
zu betreten, das Lehrerzimmer lag schon immer etwas versteckter.
Man musste neben der von der Halle abgehenden übergroßen Freitreppe durch einen kurzen Stichflur laufen, um durch einen Vorraum
in das Sekretariat und dann in das Lehrerzimmer zu gelangen.
Diese Freitreppe zum Obergeschoss und in das eigentliche Erdgeschoss öffnete damals die Hallen zu den Etagen hin, und obwohl
alles aus massiven Materialien erbaut war, schien das Gesamtensemble der zwei Schuletagen leicht und barrierefrei. Die Geländer
waren aus Mauerwerksbrüstungen mit bogenförmigen Öffnungen, so
dass auch wir Kleinen immer den erwünschten Überblick bzw.
Durchblick hatten.
Kam man im Obergeschoss an, öffnete sich eine ähnliche Halle, die
als Galerie den Blick auf den unteren Brunnen frei gab. Auch hier
waren alle Klassenzimmer direkt zu betreten.
Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Keine Flure, keine Trennungen und Barrieren, es waren wunderschöne Innenräume! Oben wurde es schon unterteilter, da man die
Türmchen und Dachbereiche erreichte, doch für die Kinder waren es
genau diese Unterschiede, die für Spannung sorgten und den Schulbesuch hochinteressant machten.
Heute nun, nach fast 100jährigem Bestehen, sind die massiven Eingriffe in diese Architektur zu bestaunen. Lässt man ein Gebäude wie
es immer war, greift der Bestandschutz, verändert man die Nutzung
und damit Bauliches, muss in diesem Falle „leider“ auch den heutigen Vorschriften entsprochen werden, was dieser Schule gänzlich
nicht zu Gesicht steht!
So durfte die Freitreppe nicht mehr „frei“ bestehen bleiben, ein Treppenhaus musste her und dieses zudem feuerbeständig gegenüber
den umliegenden Räumen abgeschirmt sein. Die bogenförmigen
Öffnungen in den Treppengeländern wurden geschlossen, die Brüstungen zu Wänden bis an die Decken vervollständigt und im jeweiligen Hallenbereich der Geschosse neue Wände erstellt.
Diese neuen Wände stehen heute so, dass die kunstvollen Kapitelle
der Stützen jeweils halbiert auf den Wandseiten zu sehen sind,
Türen dieser neuen Treppenhaussituation profilieren sich in weißem
Kunststoff und das Atrium mit Brunnen hat dadurch seine Wirkung
fast gänzlich verloren.
Dafür ist allerdings die Modernisierung des Schulhofes gelungen!
Neben Abenteuerspielplatz und vielfältigen Sportmöglichkeiten für
mehrere Mannschaften existieren Sandkästen für das Weitsprungtraining sowie Weichbelag für gesunde sportliche Betätigung auf dem
kompletten, rund 1000 qm großen Hof.
Wie hineingegossen findet man auf etwas höher gelegten Ebenen,
angrenzend an die Nachbargrundstücke, neben dem Spielplatz noch
kleine mit Treppchen zugängliche Plätze für allerlei sonstige
Pausenbeschäftigungen.
Die das Schulgrundstück eingrenzenden Mauern sind mit den
künstlerischen Ergebnissen vieler Jahrzehnte geschmückt.
Nach diesem Bogen von der Bundesallee zum Nikolsburger Platz
laufen wir nun nur rund einhundert Meter weiter in Richtung Norden
und landen am Hohenzollernplatz.
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Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Hohenzollerndamm - Hohenzollernplatz
Von der Bundesallee führt der relativ begrünte Hohenzollerndamm in
Richtung Hohenzollernplatz, Fehrbelliner Platz, Stadtautobahn und
weiter nach Grunewald. Es ist eine breite doppelspurige Straße mit
einem bis zur Fasanenstraße laufenden Mittelstreifen, auf dem reichlich Parkmöglichkeiten sind. Der Damm ist verkehrstechnisch die
West-Ost-Achse, die dann ab Bundesallee nach Osten hin zur
Nachodstraße wird.
Altes und neues
Abwasserpumpwerk
Auf der linken Seite befindet sich das Abwasserpumpwerk, an dem
besonders auffällt, dass es aus einem alten und einem neuen
Gebäude besteht.
1903-1906 nach Entwürfen des Architekten Hermann Müller erbaut
im Stil märkischer Backsteingotik, ist es Teil der 1906 in Wilmersdorf
realisierten Kanalisation und befindet sich an der tiefsten Stelle des
Einzugsgebietes. Das Mauerwerk ist mit roten Ziegeln verblendet,
und das mit Zinnen und Putzblenden sowie Ziegelornamenten verzierte Gebäude wirkt sehr repräsentativ. Außerdem ist das Bauwerk
mit breiten Giebeln gestaltet, die durch Rundbogenfenster gegliedert
und unter einem Triumphbogenmotiv vereinigt werden. Die Fenster
in der Innenhalle sind mit farbig glasierten Ziegeln eingefasst. Früher
befanden sich hier in der großen Halle die Dampfmaschinen und
Pumpen. Das Gebäude wurde während des Krieges 1943 stark beschädigt und 1947-1949 wieder aufgebaut. 1956/57 fanden Umbaumaßnahmen statt, und durch Maschinenleistungserhöhung konnte
die Anlage das Einzugsgebiet von Schöneberg mit übernehmen, weil
das dortige Pumpwerk stillgelegt wurde. Hier wird ein durchschnittlicher Abwasseranfall von 60.000 Kubikmeter pro Tag bewältigt.
1993/94 wurde direkt neben dem alten Gebäude nach den Entwürfen
der Bauabteilung der Entwässerungswerke unter den Architekten
Ackermann und Jaeger eine würfelartige freistehende zweigeschossige Halle aus Glas erbaut, die einen interessanten Kontrast zum
alten Bauwerk bildet.
Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
altes und neues Abwasserpumpwerk
Das Hauptpumpwerk Wilmersdorf/Entwässerung der Berliner Wasserbetriebe ist jetzt hier untergebracht. Die alte Halle wurde 1999
geschlossen und nach einem Umbau 2001 als Restaurant und Bar
unter dem Namen „Wasserwerk" wieder eröffnet. 400 Gäste haben
auf 1015 Quadratmetern in diesem Denkmal geschützten Ambiente
Platz.
Im weiteren Verlauf des Hohenzollerndamms kommt man zum
Hohenzollernplatz, an dem wir uns durch den Schlenker über den
Nikolsburger Platz bereits befinden.
Hier ist regelmäßig mittwochs und samstags Markttag. Man trifft sich,
plaudert und kauft ein. Neben der Evangelischen Kirche befindet sich
ein Delphinbrunnen von H. Bautz, dessen drei im Winkel übereinander gesetzte Delphine eine gute räumliche Wirkung erzielen. Der
Brunnen ist durch Parkbänke großzügig eingerahmt.
Kirche am Hohenzollernplatz
Die Kirche am Hohenzollernplatz wurde 1930/33 von Fritz Höger
erbaut und sorgte schon während der Bauzeit für Aufregung.
Der Betonskelettbau ist an der Längswand verkleidet mit einer kleinteiligen, senkrecht gegliederten glatt gemauerten Klinkerhaut. Dieses
Material verwendet Höger mit Vorliebe, während die Konstruktion für
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Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
ihn eher nachgeordnetes Hilfsmittel und kein Gestaltungsmittel darstellt.
Die dekorativen Zutaten der Fassade – vergoldete Klinker, vergoldete Fugen – haben allerdings bei den Vertretern der Materialreinheit
Betroffenheit und Ablehnung ausgelöst. Die Diskrepanz zwischen
dem straff gegliederten Baukörper und dem schönen Kupferdach und
dem Innenraum ist auffällig. Die 13 Spitzbögen wirken sehr gotisch
und der Architekt bezweckte damit eine besonders mystische Wirkung des Kirchenraumes, was der damals im evangelischen
Kirchenbau geforderten Sachlichkeit nicht gerade entsprach. Die
Fenster sind von dem Maler Achim Freyer gestaltet und haben in
ihrer farblichen Schlichtheit eine stark meditative Wirkung. Regelmäßig gibt es an den Seitenwänden moderne Kunst zu sehen, was auf
eine sehr aufgeschlossene und kulturell aktive Kirchenarbeit schließen lässt.
Dieser Kirche gegenüber mündet die Fasanenstraße in den Hohenzollerndamm, auf der wir nun wieder zurück Richtung Norden, vorbei
am Fasanenplatz weiter zur Lietzenburger Straße und zum Kurfürstendamm schlendern und so manches Interessante beäugen können.
Rundungen werden in der Architektur immer wieder aufgenommen,
wahrscheinlich aus dem Wunsch heraus, dem ständig wiederkehrenden Prinzip des rechten Winkels in der Architektur und Straßenführung etwas entgegenzusetzen.
rechts: Villa Griesebach
Dies wird besonders sichtbar bei einem modernen fast vollkommen
verspiegelten Bürohochhaus in konvexer Form Ecke Fasanenstraße
und Lietzenburger Straße.
Nicht weit davon entfernt Richtung Kurfürstendamm taucht das runde
Prinzip wieder auf. Der Altbau der Villa Grisebach hat einen runden
Turm nach vorne zur Straße hin.
Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
In der schönen Fasanenstraße gelegen, bildet die Villa Grisebach mit
dem benachbarten Käthe-Kollwitz-Museum und dem Literaturhaus
Berlin das sogenannte Wintergarten Ensemble, das so heißt, weil
sich ein wunderbarer Wintergarten am Literaturhaus befindet.
Die Villa ist 1891/92 von dem Architekten und Sammler Heinz Otto
Grisebach für sich als Stadtvilla und Atelier erbaut worden. 1905 kam
es zum Umbau, was die Innenraumgestaltung durcheinander
brachte. Im Zweiten Weltkrieg erlitt das gesamte WintergartenEnsemble starke Beschädigungen. Danach bekam das Gebäude ein
Notdach und seit 1976 stand die Ruine leer und verfiel immer mehr.
Bürgerinitiativen bewirkten, dass die Villa nicht abgerissen wurde.
Seit 1981 stellte man das gesamte Wintergarten-Ensemble unter
Denkmalschutz. 1984 erwarb die Deutsche Bank die Villa und das
Nachbargebäude und sorgte für eine sorgfältige Restaurierung. Seit
1986 befinden sich hier die Galerie- und Kunsthandlung PelsLeusden und das Auktionshaus Villa Grisebach. Gezeigt werden
Kunstausstellungen, sowohl der klassischen Moderne als auch der
zeitgenössischen Kunst (im Obergeschoss) sowie Kunstauktionen
statt. Die Villa avancierte in kürzester Zeit zum weltweit führenden
Auktionshaus für deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts. Hinter der
Villa befindet sich ein Skulpturenpark mit Werken namhafter Künstler
wie Gerhard Marcks, Horst Antes, George Rickey u.a.
Beim Bau der Villa wurden einheimische Materialien verwendet. Die
Gebäudearchitektur bildet drei Vertikalen. Links eine schmale
Giebelfront, in der Mitte ein vorstehender runder Turm und rechts ein
zurückgesetzter Trakt mit Eingangsloggia, darüber ein großes, über
zwei Geschosse reichenden Fenster, hinter dem sich eine große
Halle befindet. Schmiedeeiserne Fenster wurden von dem Hofkunstschlosser Paul Marcus gefertigt.
Das Käthe-Kollwitz-Museum daneben enthält 119 Zeichnungen,
Lithographien, Radierungen und Holzschnitte sowie dreizehn Bronzen der Künstlerin, darunter die "Muttergruppe“.
Das Literaturhaus nebenan ist eine spätklassizistische Villa erbaut
von Becker und Schlüter 1889-92. Ein Backsteinhaus mit Flachdach
im Überhang, Säulen, Balkonen und einem Treppenaufgang vom
Garten aus, der über eine kleine Terrasse zum prächtigen Wintergarten führt.
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Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
Literaturhaus
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Das Haus war ursprünglich Privatbesitz, im Ersten. Weltkrieg diente
es als Lazarett, später als Volksküche und Café. Es fanden schon
immer musikalische und literarische Veranstaltungen statt. Auch verkehrten hier viele Literaten, Wissenschaftler und Künstler. Heute
befindet sich ein Café-Restaurant in der unteren Etage und im Sommer kann man sehr schön draußen im Garten sitzen. In der ersten
Etage liegen ein großer Veranstaltungsraum, ein Kamin- und der
Tucholskyraum. Regelmäßig werden Lesungen, Diskussionen und
Ausstellungen veranstaltet.
Die Fasanenstraße ist ein interessantes Beispiel für urbane Wohnqualität im Altbau, gepaart mit kleinen Läden und Restaurants. Nach
der Überquerung der Lietzenburger Straße wird die Fasanenstraße
im Niveau gehoben. Mode, Design, Galerien und das WintergartenEnsemble bestimmen das exklusive und außergewöhnliche Flair der
Straße.
Am Kurfürstendamm angekommen, biegen wir rechts ein und gelangen zum Kreuzungspunkt des Kudamms und der Joachimstaler
Straße, der nördlichen Verlängerung der Bundesallee.
Fotos und Illustrationen: Ursèl Ritter (dipl.design)
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Die magnetische Gewalt der Götter
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Wenn Raumschiffe auf die Erde stürzen, verglühen sie meist unbemerkt in abgelegenen Gegenden wie Sibirien oder dem hessischen
Vogelsberg. In Berlin suchten sich die Besucher erstmals einen
Hauptstadtboulevard, mit verblüffendem Ergebnis: Die Außerirdischen entpuppten sich als exzellente Stadtplaner. Zwischen
Kaufhausgewimmel, Hotels und Sonderangeboten ist Meinhard von
Gerkan mit seinem Swissôtel erfolgreich gelandet.
Wer sich dem Gebiet Kurfürstendamm Höhe Joachimstaler Straße
von Süden oder Osten nähert, sollte dies nur tun, wenn er Zeit hat,
denn er wird unweigerlich stehen bleiben und rätseln: Soll ich mich
bedroht fühlen oder fasziniert?
Denn unvermittelt taucht aus dem gleichförmigen Häusermeer eine
gewaltige silbrig-schimmernde Metallmasse auf, ein gigantischer
monolithischer Bau, in dessen Lamellen sich das gleißende Sonnenlicht spiegelt. Wie eine Science-Fiction-Vision erhebt sich der metallene Koloss zwischen Kaufhäusern und Café Kranzler, ein kafkaeskes Raumschiff aus fernen Galaxien, in plumper Eleganz auf die
Erde hinabgestürzt. Und als ob der Gigant, der das ganze Areal zu
erschlagen scheint, nicht bereits Blickfang genug wäre, wird seine
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Präsenz beim Blick auf den elegant geschwungenen Vorbau noch
verstärkt. Irgendetwas zieht den Blick magisch gen Himmel, immer
weiter hoch den Baukörper entlang, hin zu einer bizarren Szenerie,
die unheimlich und faszinierend zugleich ist.
Fast wie eine Mahnung trohnt eine majestätische Skulptur hoch oben
auf dem Sockelbau des riesigen Gebäudes und kündet von göttlichen Grausamkeiten, mit einer Selbstverständlichkeit, als täte sie
dies seit Jahrtausenden. Die Statuengruppe verleiht dem ohnehin
surreal anmutenden Gebäude eine Ernsthaftigkeit und Tiefe, die wir
bei modernen Gebäuden sonst niemals finden, und taucht den glänzenden Metallkörper in eine beinahe religiöse Aura.
Und während die hoch oben wohnenden Geister eine albtraumhafte
Ahnung auf den Boulevard hinabstrahlen, strömen direkt darunter
Scharen schnatternder Hausfrauen mit kauflustigen Töchtern unablässig in das Gebäude hinein und plastiktütenbepackt wieder hinaus.
Wühltisch meets Surrealismus.
Bizarr, warum die Skulptur in Verbindung mit von Gerkans Bau eine
derart kafkaeske Atmosphäre erzeugt. Denn die Szene aus der
antiken Mythologie, die der Bildhauer Markus Lüpertz hier themati-
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
sierte, ist gemessen an allen möglichen Schrecklichkeiten der Welt
eigentlich recht harmlos.
Im "Urteil des Paris", so der Name des Kunstwerks, geht es lediglich
um Eitelkeit, Missgunst und zickige Frauen: Eris, Göttin der Zwietracht, wirft einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „für die Schönste“
unter die im Olymp feiernden Götter, aus Rache, weil sie nicht eingeladen war. Es kommt zum Streit unter drei Göttinnen, wer die
Schönste sei, und der weise Zeus, in kluger Voraussicht sich auf
zankende Weiber nicht einlassend, zieht sich aus der Affäre und
bestimmt den sterblichen Paris, das Urteil zu fällen. Eigentlich eine
Handlung, die eher an eine Soap Opera im Vorabendprogramm erinnert - nichts, wovor man Angst haben müsste.
Doch die Statuengruppe entfaltet eine beinahe bedrohliche Wirkung
über das gesamte Areal, und weder die bunt flimmernde Werbung zu
Füßen der mahnenden Skulptur noch das lebendige Gewimmel der
Menschenmassen unten auf dem Boulevard können die unheimliche
Ausstrahlung der Lüpertz-Szenerie aufheben.
Gerade die spannungsgeladene Mischung aus hauptstädtischer Geschäftigkeit, die eilend zwischen Kaufhäusern durch die Straßen
strömt, und hoch oben auf dem gigantischen metallenen Raumschiff
thronender tonnenschwerer Mythologie der Antike verleihen dem Ort
einen in Worten schwer zu beschreibenden Widerspruch, der seine
Energie unablässig über das Areal Ecke Joachimstaler Straße –
Kudamm verströmt.
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Es muss klar gesagt werden: Ohne die Statuen von Lüpertz hätte
das Gebäude sicherlich nicht dieselbe beeindruckende Wirkung,
denn eine unsichtbare Kraft zieht den Blick des Betrachters zielsicher
dorthin. Man fühlt sich unweigerlich an den Ausspruch des früheren
Architektenpräsidenten Kaspar Kraemer erinnert, der über die Wiederaufstellung der Figuren auf der Berliner Schlossbrücke sagte:
„Eines Tages standen diese wunderbaren Skulpturen wieder auf
ihren Postamenten - die Brücke war verzaubert! Hier wirkt eine
unglaubliche magnetische Gewalt.“ Und es ist genau die gleiche
Kraft, das lässt sich mit Fug und Recht sagen, die auch Lüpertz'
Statuen auf dem Swissôtel entfalten.
Doch auch ohne die Gewalt der Götter hätte das Gebäude des
Architektenbüro Gerkan, Marg und Partner eine beeindruckende
Wirkung. Es verblüfft alleine deswegen, da es bereits durch seine
gewaltigen Ausmaße völlig fehl am Platze wirken müsste, dies aber
seltsamerweise nicht tut. Plump ja, doch fehl am Platze? Nein. Und wo steht geschrieben, dass plumpe Formen schlecht seien? Genau
so wie Rubens kein Faible für magersüchtige Modelle hatte, sondern
ausladende Formen bevorzugte, ist offenbar auch in der Baukunst
das Erschaffen von Schönheit kein Privileg filigraner Bauten.
Denn von Gerkan lehrt uns genau an dieser Stelle, dass auch ein
massiger und scheinbar viel zu groß geratener Baukörper Grazie und
Eleganz entfalten kann. Trotz seiner Schwerfälligkeit vollbringt das
Gebäude etwas mit einer Leichtigkeit, das zeitgenössische Bauten
sonst sehr ungern tun: Es fügt sich ein in einen bereits bestehenden
urbanen Kontext, dominiert ihn sogar, ohne mit ihm gewaltsam zu
brechen. Ein solches Bauwerk dürfte eigentlich in einer europäischen
Stadt, selbst einer an Monumentalbauten reichen wie Berlin, kein
harmonisches Gesamtbild erzeugen. Der gewaltige Silberling tut es
aber.
Von Gerkan gelang hier etwas, was er an anderen Orten vergeblich
versuchte, und wo es ihm zum Teil sogar gänzlich misslang. Sein
Berliner Hauptbahnhof mag eine technische Leistung sein, aber eine
künstlerische? Zwei karge, gesichtslose Glasquader mit dem sterilen
Charme banalster Investorenriegel - nicht zu vergleichen mit klassischen Bahnhofsgebäuden wie beispielsweise dem Frankfurter
Hauptbahnhof, auf dessen Dach der mächtige Atlas höchstselbst
thront, die ganze Welt auf seinen Schultern tragend.
Ebenso darf von Gerkans Versuch, den zum Teil noch immer kriegszerstörten Altmarkt im Herzen Dresdens sinnvoll zu ergänzen, als
Scheitern bezeichnet werden. Auch hier hätte der Architekt etwas
mutiger das Diktat des starren Funktionalismus in Frage stellen kön-
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
nen, mehr Phantasie und Verspieltheit wagend. Die Dresdner nennen seinen klobigen Bau spöttisch „Legohaus“, und nur widerwillig
fügt dieser sich in den städtischen Kontext ein.
Nicht so das Swissôtel in Berlin. Mit dem 2001 fertiggestellten Gebäude ist dem Architekten ein Parodoxon gelungen, eine seltsame
Synthese von Schwerfälligkeit und Eleganz. Fast fühlt es sich an, als
jage der metallene Riese dem Betrachter ein stumpfes Messer durch
den Körper, das ihn zu seiner Verblüffung in Sekundenschnelle unversehrt wieder verlässt. Nicht die Schmerzen spürt man, sondern
alleine den gewaltigen Ruck und die Energie, die von dem Gebäude
aus- und durch den Betrachter hindurchgehen. Man wird sanft erschlagen und möchte es wiederholen.
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Ein Kuriosum bleibt die Frage, warum sich das Gebäude formensprachlich nicht mit den umliegenden wilhelminischen Altbauten und
der 70er-Jahre-Moderne „beißt“ - denn es nimmt in keinster Weise
Bezug auf irgendeinen am Kurfürstendamm bereits vorhandenen
Baustil und dürfte somit eigentlich überhaupt nicht in den urbanen
Kontext passen.
Es ergibt aber genau dort, wo es steht, einen Sinn. Sicherlich liegt es
auch daran, dass es sich um einen Kopfbau handelt, der der Ecke
eine Fassung, einen Halt gibt. Der geschwungene Sockelbau verleiht
dem Gebäude Eleganz, die Lamellenfassade das Relief; die
Staffelung der Obergeschosse lässt die Silhouette weicher
erscheinen.
Ein Hauptgrund aber, warum das Gebäude nicht den typisch modernistischen „Bruch“ mit dem urbanen Kontext vollzieht, sondern eine
beinahe „unmoderne“ Sanftheit vermittelt, liegt wohl in der simplen
Tatsache, dass von Gerkan weitflächig eine konsequent runde Form
wählte - etwas, das die noch immer dem starren Bauhausdenken
verhaftete zeitgenössische Baukunst kaum favorisiert. Fast könnte
man von Gerkans klare Absage an Kubus, Quadrat und scharfe
Kanten als rebellischen Akt gegenüber der herrschenden akademischen Meinung auffassen.
Zieht man dazu in Betracht, dass die zeitgenössische Architektenschaft noch immer Le Corbusiers Credo „die schmückende Kunst ist
tot“ nahezu widerspruchslos befolgt, ist das Gesamtwerk am neuen
Kudamm-Eck fast ein Tabubruch: Ein Bauwerk der Moderne – mit
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
schmückender Kunst? Le Corbusier dreht sich im Grabe um, doch
Aphrodite, Hera und Pallas Athene kümmert das wenig. Sie tänzeln
unablässig im Sonnenschein auf den hohen Terrassen des
Swissôtels, und verwandeln den Profanbau in eine Kathedrale. Ja,
das Bauwerk ist anachronistisch - was keineswegs „nicht mehr
zeitgemäß“ heißen muss. Es kann genau so gut heißen: noch nicht.
Der Bauherr des Swissôtels, Hans Grothe, ist ein bundesweit bekannter Kunstsammler und Eigentümer der sechs Meter hohen und
rund eine Million Euro teuren Skulptur "Urteil des Paris". Allerdings
teilen nicht alle Grothes Faible für Lüpertz'sche Werke, denn der
Bildhauer wurde wegen seiner Kunst schon regelrecht verfolgt und
geriet sogar in handgreifliche Auseinandersetzungen mit
aufgebrachten Bürgern.
In Salzburg wurde seine Mozartstatue auf dem Ursulinenplatz von
„Pornojäger“ Martin Humer mit rotem Lack geteert und gefedert,
Humer handelte sich daraufhin eine Haftstrafe wegen Sachbeschädigung ein. In Bamberg wurde eine weitere Lüpertz-Statue
gar geköpft, aber wieder instandgesetzt, und in Augsburg musste die
Lüpertz-Skulptur „Aphrodite“, die bereits einen öffentlichen Platz
geziert hatte, wegen wütender Bürgerproteste wieder entfernt
werden. Bei ihrem Abtransport geriet der Künstler derart in Rage,
dass er einen protestierenden Bürger mit der Faust attackierte,
woraufhin er eine Klage wegen Körperverletzung erhielt. Auch wenn
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Lüpertz' Kunst nicht jedermanns Geschmack trifft - aufsehenerregend ist sie in jedem Fall.
Auf dem Vorbau des Swissôtels in Berlin jedoch scheinen Lüpertz'
energetische Phantome bislang relativ sicher zu sein vor Lack- und
Farbbeutelattacken. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass der Künstler
die kaum bedrohliche Szene aus der antiken Sagenwelt mit Absicht
etwas „furchteinflößender“ gestaltet hat? Denn bisher haben sich
kein „Pornojäger“ und keine wütende Bürgerbewegung an das
Kunstwerk herangetraut.
Eris, die Göttin der Zwietracht, hatte hier jedenfalls noch kein Glück.
Vielleicht hat sie sich ja mit Zeus und den anderen wieder vertragen,
genießt beim Biss in einen - natürlich goldenen - Apfel den Blick
hoch oben vom Olymp herab auf Berlin, und der Friede ist wieder
eingekehrt.
Doch wer weiß - vielleicht erwacht in unserer Göttin beim Betrachten
des Treibens unten auf dem Kudamm wieder die Lust, Schabernack
zu treiben. Auch Götter gehen mit der Zeit, und diesmal zückt Eris
keinen Apfel, sondern ihr Handy. Und während drei Berliner Haus-
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
frauen in der Bekleidungsabteilung diskutieren, ob man quergestreifte T-Shirts tragen kann oder ob sie nicht doch zu dick
machen, tippt Eris grinsend die SMS: „Glückwunsch, Jackpot
gewonnen - für die Schlankste“, lehnt sich entspannt zurück und
denkt:
„Mal sehen, ob in 2000 Jahren wieder eine schöne Skulptur dabei
herauskommt....“
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Vom Swissôtel kommend, machen wir einen Abstecher zur Gedächtniskirche, die und deren Umgebung wir uns etwas genauer anschauen wollen.
Der Breitscheidplatz
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde um das Jahr 1895 gebaut und ist das Wahrzeichen der Stadt Berlin West schlechthin sowie ein deutlicher Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt.
Selbst in der heutigen Zeit, mit der Entstehung des Potsdamer Platzes und den somit neu gesetzten Akzenten für die Stadt Berlin, hat
dieses Berlin West, mit seinem Breitscheidplatz und den so vielen
anderen Sehenswürdigkeiten drum herum, kaum an Attraktivität verloren.
Hier sieht man die Ruine der schönen alten Kirche, so wie sie in den
50er Jahren restauriert wurde.
Nördlich und südlich der alten Kirche sieht man die neuen Kirchenräume, so wie sie nach dem Entwurf von Egon Eiermann 1963
gebaut wurden. Viele Anwohner und Touristen aus aller Welt gehen
hier an den Sonntagen zur Andacht und nehmen an der Messe teil.
Fotos und Text: Georgios Nassioulas
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Der Breitscheidplatz, der Kurfürstendamm, in frühester Zeit ein kurfürstlicher Reitweg, die Straßen um den Platz herum, die Menschen
und noch so vieles mehr haben im Laufe der Jahrhunderte ihr Aussehen verändert. Früher fuhr um den Platz herum die Pferdebahn,
und die Straßen entlang bimmelte die Straßenbahn. Als schließlich
die Autos die Straßen eroberten, waren Pferde, Pferdebahnen und
Straßenbahnen unmodern. Es wurde umgebaut, entsprechend
wurde der Platz auch verändert.
Gegenüber der Gedächtniskirche, heute Platz des Europa-Centers,
stand früher das Romanische Café, wo sich die Gläubigen nach der
Messe zum Kaffee trinken trafen. Hier verkehrten auch viele Künstler: Unter die Christen mischten sich Anarchisten und Bohémiens.
Baum am Breitscheidplatz
Ein wichtiger Komplex direkt neben der Kirche ist das Europa-Center
mit seinem Gesamt-Ensemble, dann das zurückgesetzte 22-stöckige
Markeas-Bürohochhaus. Beide wurden Nachahmungs-Prototypen.
Gebaut wurde hier ab 1963 (Hentrich, Petschningg und Partner mit
Egon Eiermann und Werner Düttman). Auf dem Sockel aus drei zum
Teil unterirdischen Geschossen erheben sich die interessanten Gebäudekomplexe.
An der nördlichen Seite des Breitscheidplatzes, an der Budapester
Straße, sieht man das Langhaus, ein fünfstöckiges Ensemble aus
den Fünfziger Jahren, das an den Tierpark angrenzt: Laden an Laden, unter Arkaden, große Schaufenster, Bücher- Schuh- und Bekleidungsläden, Imbisse und Ähnliches. Gleich nebenan findet man
das Weltkugelpanorama sowie auf der anderen Seite das berühmte
Kino „Zoopalast“, ein Anziehungs- und Vergnügungstreffpunkt für
Filmgenießer nicht nur während der Filmfestspiele.
In dem sehr schönen Hochhaus neben dem Zoopalast, auf dessen
Dach sich das Markenzeichen der Firma Bayer dreht, haben sich die
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Fotos und Text: Georgios Nassioulas
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
verschiedensten Firmen eingemietet. Im Erdgeschoss des modernen
Bürohochhauses sind wunderbare Läden zu finden. McDonalds,
Donuts, Cafés etc. An der südlichen Seite des Breitscheidplatzes,
von der Hardenbergstraße bis zum Kurfürstendamm hin, erstreckt
sich dann noch ein interessantes neungeschossiges Bauwerk, das
Hotel Boulevard mit seinem Dachcafé. Benettons, das Chinesische
Schiff und manch anderes Vergnügliche findet man hier noch.
In dem Satellhaus waren früher auch der Gloriapalast, ein weiteres
bekanntes Kino, und eine Konditorei untergebracht. Am Kurfürstendamm gegenüber der Gedächtniskirche sind auch noch das Marmorhaus, das Rotondahaus und das Hugendubelhaus. Beim Marmorhaus wie beim Rotondahaus findet man heute Mode. Im Eckhaus
gegenüber dem Rotonda hat sich die Großbuchhandlung Hugendubel niedergelassen.
Der Breitscheidplatz sowie der Kurfürstendamm selbst entwickelten
sich rasch zur wertvollsten Lage Berlins. Hier entstanden Wohnhäuser und Geschäftshäuser in allen erdenklichen Stilen und Stilgemischen. Von Mode, Schmuck, Leder und Pelz für die gehobenen
Ansprüche über Ramschläden, Arztpraxen und Supermärkte bis hin
zu Cafés und Restaurants ist hier alles zu finden.
Der neu gestaltete Breitscheidplatz bei Regen
Und weiter geht’s in Richtung Nordwesten zum Bahnhof Zoo, dem
ehemaligen Hauptbahnhof der Westseite dieser Stadt.
Fotos und Text: Georgios Nassioulas
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Bahnhof Zoologischer Garten
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Bahnhofsansicht
Der Bahnhof Zoologischer Garten ist ein Treffpunkt und eine interessante Attraktion neben der Gedächtniskirche im Zentrum WestBerlins. Wer weiß, wie viele Tränen von Liebenden hier vergossen
wurden, wie viele Stunden schöne Damen auf ihre Geliebten zu
warten hatten. Der Bahnhof Zoologischer Garten, der 1882 für die
Stadtbahn eröffnet wurde und der Fernbahnhof West-Berlins war,
führt heute Linien der S-Bahn, der U-Bahn und der Regionalbahn zusammen.
Die Architektur ist schlicht und interessant. Vor dem Bahnhof warten
Taxis und Busse, um den Besucherstrom aufzunehmen und jeden an
seinen Bestimmungsort zu bringen.
Früher stand ein dichter Wald auf dem heutigen Bahnhofsareal, der
abgeholzt wurde. Es wurde immer tiefer vorgestoßen, bis der Klang
mit der Natur harmonisierte. Man hörte nun nur noch den hart aufsteigenden Klang des Zuges. Klak klak. Klak Klak.... Man hörte den
Zug, die Erde bebte, ouh, oh mein Gott, und alles war eins geworden: Natur und Zug!
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Fotos und Text: Georgios Nassioulas
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
... ein Stück zurück und durch die Kantstraße in Richtung Westen
geht es nun zum Savignyplatz, dem, wie ich meine, urbansten Kiez
im Bezirk Charlottenburg, um den herum sich Tag für Tag und
Nacht für Nacht alles tummelt, was Beine hat.
Entwurfsplan von Erwin Barth 1926
Dieser Platz ist etwas ganz Besonderes! Hier lassen sich Wohnen,
Arbeiten, Einkaufen, Freizeit und Kultur in genüsslicher Weise vereinen.
Nimmt man auf den Bänken der Gartenanlage Platz, sitzt man im
Sommer am Südrand, eingerahmt von bogenförmig berankten
Kletterhilfen, schattig kühl, am Nordrand sonnig warm, und vergisst
leicht, dass dieser schöne Stadtplatz durch die recht breite und
stark befahrene Kantstraße in zwei Hälften zerteilt wird, was immer
schon, wie man am Entwurfsplan sehen kann, so geplant war.
Der Blick schweift über wunderschöne alte Gebäude, über das sich
am Südrand entlang schiebende Stadtbahnviadukt, den zahlreichen
Baumbestand mit dessen üppigen, auswuchernden Kronen, über
die langstielig angelegten Blumenrabatten sowie über die saftig
grünen Rasenflächen. Man staunt über die immer währende
Betriebsamkeit auf diesem Platz und um ihn herum.
1887 erhielt er seinen Namen; und dies nach dem Juristen Friedrich
Karl von Savigny, der von 1779 bis 1861 lebte und mit seiner
bemerkenswerten Schaffenskraft das preußische Leben beeinflusste. Heute erscheint der S-Bahnhof Savignyplatz in der Liste der
geschützten Denkmale, der Platz selbst wird als Gartenbaudenkmal
und Stadtplatz geführt.
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Der Kiosk am Westrand der Südhälfte, aus
gusseisernen Teilen, verziert in grün, mit
bereits dunkel patiniertem Kupfer gedecktem
Turmdach steht selbstverständlich auch unter
Denkmalschutz. Er wurde gebaut 1905 von
Alfred Grenander, dem schwedischen Architekten, der ab 1900 für die Gestaltung der UBahn, deren Farbgebungen, für Verzierungen
von Stahlteilen im Bahnverkehr, für einige
Brücken in unserer Stadt und Sonstiges die
Bahn betreffend gesorgt hat. Dieses Kleinod
zu zeichnen und dabei die Sonne zu genießen, macht viel Spaß.
Hier stehen ebenfalls noch zwei alte Wohn- und Geschäftshäuser,
die Hausnummern 5 und 9/10 direkt am Platz, unter Denkmalschutz.
Es ist wirklich spannend hier auszuruhen und sich umzusehen ohne
sich zu beeilen. Vieles ist zu entdecken und Unscheinbares aufzudecken. Dort gibt es „Adolf“ – ein Relikt aus alten Zeiten –, nämlich
ein Ladengeschäft für Hauswirtschafts- und Eisenwaren, in dem
man Nägel und Schrauben noch einzeln kaufen kann, und in dem
man den Satz „Haben wir nicht“ vergessen kann. Ein Stück weiter
das Elektrolädchen, in dem man alles bekommt, was im Haushalt
an Elektrozubehör benötigt wird.
Unter den Wölbbögen des Viadukts haben sich Kneipen, Restaurants, Eis-, Nippes- und Buchhändler eingerichtet. Und – es gibt
eine Restaurantterrasse neben der anderen, in welche Richtung das
Auge auch wandert.
Sitzt man also auf einer dieser Bänke, kommt einem alles auf diesem Platz so viel größer, so erhaben vor.
Die üppige Bepflanzung der Blumenrabatten auf der Nordhälfte, der
vielzählige alte Baumbestand mit seinen dichten Kronen, die von
wildem Wein und Efeu berankten Bögen über den Sitzbänken und
das die Südhälfte beherrschende, vorbei kriechende Urviech,
namens Viadukt, geben einem das Gefühl von der Einheit und
Zusammengehörigkeit der beiden Platzteile. So, dass die Kantstraße mit ihrem Verkehr weniger störend empfunden werden kann,
als man objektiv zu glauben bereit sein würde.
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Vielleicht ist es ja auch der nackte Knabe, der
eine störrische Ziege am Halsband zerrt, von
dem sich der Blick wegen der vielen lebensechten Details nicht mehr lösen kann, und
von dem es gleich zwei spiegelbildlich aufgestellte Abgüsse gibt. Vielleicht sind es die
beiden, die vom Verkehr ablenken. Jedenfalls
hat der Platz etwas Gemächliches, etwas Urgemütliches, etwas
Gediegenes und viel Beruhigendes, trotz aller Geschäftigkeit, allen
Trubels und allen Straßenlärms.
Der S-Bahnhof Savignyplatz, der auf den Wölbbögen des Stadtbahnviadukts gelegen ist, wurde am 01. August 1896 als letzter
Haltepunkt der Stadtbahnstrecke in Betrieb genommen. Nach heutiger Linienführung bedient die Station Strecken von Spandau nach
Wartenberg oder Strausberg Nord, von Wannsee nach Ahrensfelde,
vom Bahnhof Grunewald zum Flughafen Schönefeld und damit
natürlich auch alle wichtigsten Umsteigebahnhöfe. Die ganze Stadt
ist von hier aus bequem und auf schnellstem Wege erreichbar.
Sternförmig gehen die Grolmanstraße, die Knesebeckstraße, die
Carmerstraße und die Kantstraße vom Savignyplatz ab bzw. überqueren ihn.
Die Grolmanstraße ist schon 1874 auf einer Stadtkarte mit diesem
Namen, dem des Militärs Karl Wilhelm Georg von Grolman, verzeichnet und verlief von der Bismarckstraße bis zum „Platz C“, dem
hier betrachteten, seit 1887 umbenannten Savignyplatz.
1884 wurde auch ihre Verlängerung bis zum Kurfürstendamm
ebenso benannt.
Im Norden endet sie allerdings heute an der Goethestraße. Hier
wird sie durch ein bebautes Grundstück unterbrochen und heißt bis
zur Bismarckstraße seit 1967 „Straße am Schillertheater“.
Die Knesebeckstraße wurde am 07.05.1866 benannt. Sie erhielt
ihren Namen nach dem aus altmärkischem Uradelsgeschlecht
stammenden Militär Karl Friedrich Freiherr von dem Knesebeck, der
von 1768 bis 1848 lebte. Sie verlief zwischen Kurfürstendamm und
Hardenbergstraße. Um 1892 erhielt auch ihre Verlängerung
Richtung Süden bis zur Lietzenburger Straße den gleichen Namen.
Die Carmerstraße ist die dritte und kürzeste, vom Nordrand des
Platzes abgehende Straße, die bis zum Steinplatz führt. Sie erhielt
ihren Namen 1892 von Johann Heinrich Casimir Freiherr von
Carmer, einem Juristen und um 1800 amtierenden preußischen
Justizminister.
Die größte und den Platz teilende Straße ist die Kantstraße, eine
überaus verkehrsreiche Ost-West-Ader, die von der Joachimstaler
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Straße, nahe Bhf-Zoo, bis zum Amtsgericht von Charlottenburg, und
weiter als „Neue Kantstraße“ bis zum Bhf-Witzleben verläuft.
Ihren Namen erhielt sie 1887 nach dem großen Philosophen Immanuel Kant. Trotz der vielen denkmalgeschützten Bauten ist zu
erkennen, dass diese Straße schon immer bis heute ein Stiefkind
des Wiederaufbaues und einer urbanen Stadtbildpflege gewesen
ist.
Grundsätzlich herrscht in der gesamten Umgebung des Savignyplatzes ein schauderhaftes, den Blick des Betrachters oft irritierendes architektonisches Durcheinander, und so mancher mag auf
seinem Spaziergang an den unterschiedlichsten Gebäuden innehalten und sich fragen, wohin sich der Geist des Stadtplanungsamtes bei Erteilung der Baugenehmigungen verflüchtigt hat, ob
gestern oder heute! Diese Frage drängt sich dem Betrachter dieser
Umgebung immer wieder auf!
Zu erwähnen ist, dass im letzten Krieg 37% aller Häuser in
Charlottenburg, gegenüber 25% in der gesamten Stadt Berlin,
zerstört wurden, da die britische RAF ihren Luftangriff am
23.09.1940 gezielt auf diesen Bezirk gerichtet hat.
Heute bekommt man den Eindruck, dass der Wiederaufbau sowie
spätere Lückenschließungen, etliche Modernisierungsobjekte sowie
Wohnungsneubauten oder auch Prestigebauten eher von Aspekten
wie Wohnungsbedarf in Nachkriegszeiten, spezifische Finanzschwächen,
desinteressierte
Gebäudeinhaber,
wachsendes
Verkehrsaufkommen, Parkraumnot, Profitgelüste gieriger Investoren
und individuelle Profilneurosen geprägt sind als von einer verantwortlichen, dauerhaften und ausgewogenen Stadtbildpflege.
Neben vielen zum Glück heute unter Denkmalschutz stehenden
privaten Miethäusern in allen Straßen um den Savignyplatz, mit
allen Zeichen alter Baukunstwerte, seien hier als wichtige und
herausragende Orte in der Umgebung dieses Stadtplatzes zu
erwähnen: das Theater des Westens mit dem Siegesboten Marathon auf dem Dach, das Renaissance-Theater und die Vagantenbühne, der Delphi-Filmpalast, Skulpturen wie der gestürzte Krieger
und die Kaskaden vor dem Kant-Dreieck, der Weltbaum II auf dem
Bahnhof und noch einiges mehr – bereits umfassend und mit allen
Einzelheiten in den verschiedensten Medien dokumentiert.
Schlendert man aber über den Platz und in die abgehenden
Straßen hinein, zu welcher Tages- oder Nachtzeit auch immer, ist
es dennoch angenehm zu erleben, wie neben all diesen architektonischen Besonderheiten und den so oft erschreckenden Ausmaßen
neuzeitlicher „Baukunst“ der urbane Lebensraum dennoch funktioniert.
Außer in der breiten Kantstraße ist die ebenerdige Situation über
den Augen von dicht beieinander stehenden, dicken, ausladenden
Baumkronen überdeckt, so dass eine Betrachtung von Gebäuden
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
manchmal nur in Ausschnitten möglich ist – welch ein Glück das
sein kann, zeigen später noch einige Fotos!
Zu ebener Erde tobt jedenfalls das Leben! Da brennt der Himmel bis
in die frühen Morgenstunden, und jeder genießt diesen Kiez! Jeder
findet für die abendliche Muße, das nächtliche Vergnügen, den individuellen Einkauf oder die schnelle oder auch notwendige Besorgung alles, was er braucht – und kann zwischendurch einen
Espresso auf der einladenden Straßenterrasse genießen – einfach
zum Wohlfühlen!
Die Gastronomie in diesem Kiez ist so ausgeprägt wie an keinem
anderen Platz dieser Stadt. Vom Rotlichtmilieu mit allen Schattierungen der Berliner Unterwelt über die Boxerszene, Chicky-MickyLokale, eins neben dem anderen, bis hin zu allen nur erdenklichen
Nationalitäten der Fresskultur – und, jeder Wirt freut sich über die
klingende Kasse!
Meinen Platz in der Sonne verlassend, schaue ich in die Grolmanstraße. Kein einziger Parkplatz
ist hier mehr zu ergattern. Anwohner, Gäste, Geschäftsleute und
Lieferanten – alle suchen händeringend einen Abstellplatz für das
Blechvehikel. Doch damit leben wir Berliner in einem derart urbanen
Kiez gerne! … Und gleich daneben wandert der Blick in die Knesebeckstraße, die zwar breite Bürgersteige und einen Fahrdamm für
vier LKW nebeneinander präsentiert, doch die Parkplatzprobleme
sind die gleichen wie in allen diesen Straßen.
Überall herrscht reges Treiben. Man trifft sich, man hält ’nen Klönschnack beim gepflegten Espresso, man macht Geschäfte, man
flirtet, man frisst sich durch die internationale Küche, man lässt sich
sehen und wird gern gesehen. All das scheinen Berliner wie auch
hungrige und erlebnisfreudige Berlingäste gleichermaßen zu genießen und Tag für Tag wie Abend für Abend mit Wonne zu wiederholen.
Zwischendrin sind’s die Hotels, Pensionen, die Kücheneinrichtungen, die Möbelgeschäfte, die Hüte, die Weine und Spezialitäten aus
aller Herren Länder, Naturkostlädchen, Zinnfigurenhändler, das
Nützliche wie Stempel und Druckartikel, der Trödel, die Antiquität,
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
der Zeichenbedarf, die Drogerie, die Apotheke und die Wäscherei,
die Backwaren, das Postamt um die Ecke, Papier und Schreibwaren, die Bücher, der Friseur und die Copyshops, die sowohl dem
Anwohner als auch dem Gast oder dem Flaneur eine gelungene
Mischung in einem äußerst urbanen und funktionierenden Stadtkiez
bieten.
Die wunderbaren 60er Jahre – die Gebäudeflucht ab der Ecke Kantstraße mit Sparkasse und Einrichtungshaus (Bild links)
und –
der legendäre „Zwiebelfisch“ in der Einmündung der Grolmanstraße! Immer voll,
immer angesagt! Geöffnet bis morgens
um 6 Uhr! – tolles Publikum! (Bild rechts)
In dieser Grolmanstraße gibt es nur noch wenig alte, reich verzierte
Bausubstanz, doch das Eckhaus Goethestraße zeigt uns noch
etwas davon. Auf dem Bild rechts eine besonders anschauenswerte
Loggia dieses Wohngebäudes.
Hier zeigt sich das Mietshaus
mit spitzem Winkel auf der
Ecke Goethe-/Grolmanstraße
– ist das eine Pracht?!
Und gegenüber finden wir Altes und Neues sehr fragwürdig direkt
nebeneinander. Man kommt nicht umhin, sich wie schon erwähnt zu
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
fragen, ob die Stadtplanung zum Zeitpunkt der rechten Erbauung
gerade geschlossen in einen Gruppenurlaub gestartet war!
Läuft man daran vorbei und schaut an
den Fassaden hinauf, wird einem
bewusst, wie der so üppige und
gesunde Baumbestand einem die Sicht
nach oben versperrt, und diese sündhafte Bauart dadurch tatsächlich nicht
sofort ins Auge fallen muss.
Dieses Beispiel moderner Architektur
steht zum Glück recht allein und nicht
direkt neben einem Prachtexemplar
alter Baukunst. Ich stehe davor und
denke, wie langweilig es wohl innen für
den Nutzer sein muss, wenn es schon
außen nichts bietet, was zum Eintreten
veranlasst.
Hier dann doch lieber zwei einladende Beispiele für die Gastronomie dieser Kiezecke, das „mar y sol“ und das ehemalige „Shell“ in
der Knesebeckstraße, mit ihren wunderbaren Terrassen und dem
tatsächlich guten Essen.
Nach dem Genuss eines Espressos auf einem dieser lauschigen
Terrassenplätze will ich mich nun wieder den Highlights der alten
Baukunst zuwenden, die hier doch an vielerlei Stellen der Umgebung noch zu finden sind, und die fraglos zur urbanen Kiezstimmung beitragen.
Hier ein paar Beispiele mit ihren eindrucksvollen Fassaden...
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
... neben Hauseingängen, wie sie schöner nicht sein können – und
erst das Innenleben! Jedes Detail ist von Meisterhand mit Liebe
hergestellt.
Manchen Hauseingangstüren ist leider nur noch wenig von der
Hochkultur der Jahrhundertwende geblieben, und ich fühle Traurig-
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
keit bei der Betrachtung der verwitternden, defekten und nur noch
spärlich vorhandenen Details dieser kunstvollen Epochen.
Mit diesen traurigen Gedanken an bessere Tage des Baugewerbes
gehe ich noch einmal zurück zum „fehlenden Stadtplanungsgedanken“ – wenn Sie hieran vorüber laufen, wird Ihnen gewahr,
was ich damit meine:
Dieses Fassadenbild ist eines der
Beispiele für die Sünden der Moderne!
Es spiegelt das neue Begehren der
70er Jahre wider, Stahlbeton, Rastermaße und Fertigteile im Wohnungsbau
– phantasielos, gleichförmig und
minimiert auf die Anzahl der Wohneinheiten. Doch ausgerechnet in dieser Straße hätte man nicht in der Form
experimentieren dürfen! In diesem
alten Kiez, in der Nähe der wunderschönsten Gebäudefronten – einfach
unverantwortlich!
Hier ist zu vermuten, dass die
Macht der Investoren und der politische Wind dafür gesorgt haben,
dass das Stadtplanungsamt seine
sonst so „vorbildlichen“ Ziele vergessen hat. Betrachte ich solche
Gebäude, fällt mir wieder gleich ein,
dass das Innenleben für den Bewohner äußerst betrüblich und die
Wohnungsgrundrisse ähnlich uniform gestaltet sein müssen – eine
bedrückende Vorstellung!
Allerdings kann man in den Gebäudefluchten dieses Kiezes auch
Wohnhäuser sehen, die mit viel Bedacht und Behutsamkeit saniert
wurden, manchmal sogar mit einfachsten und preiswerten Methoden. So erkennt der Betrachter zwar das Alter des Gebäudes, findet
jedoch kaum mehr Stuckelemente auf der Fassade, außer eben an
der Hauseingangstür, die dafür akribisch aufgearbeitet wurde.
Auch sind noch alte schmiedeeiserne Balkon-Brüstungsgeländer zu
sehen, die restauriert oder sogar neu hergestellt wurden. Man kann
auch individuelle und wohlgeformte Balkonplatten, halbrund mit
neuen, nachgearbeiteten Geländern sehen. Dazu diese achtsam
restaurierten Hauseingänge, neue profilierte Gesimsbänder hier und
dort und das Bild ist abgerundet.
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
41
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Trotz heute verhältnismäßig glatter Fassade erkennt man noch die
Liebe zum Detail und eine behutsame und der Geschichte des
Hauses angepasste Modernisierung.
Alles das findet man in einem bunten Gemisch, neben willkürlich
scheinenden, offenen Höfen und futuristisch anmutenden HotelAnfahrtsportalen mit Edelstahl-Glas-Überdeckungen, so lang, wie
der Bürgersteig breit ist.
Am Ende der Knesebeckstraße auf der
Ecke Hardenbergstraße befindet sich das
Renaissance-Theater. Ist der Anblick
dieses Gebäudes für uns Berliner nur
Gewohnheit, oder ist es tatsächlich so
hässlich? Selbst die „große Kunst“ des
nachträglichen Anbaues wirkt wie ein
Fremdkörper.
Doch diese Bewertung überlasse ich gern jedem anderen Betrachter, denn letztlich zählt hier nur, dass sich der Besuch der künstlerischen Darbietungen allenfalls lohnt!
Die erste Vorstellung nach dem Krieg fand hier am 27.05.1945 mit
„Der Raub der Sabinerinnen“ statt. Seither ist es ein beliebtes und
stark frequentiertes Theater mit stets ausgesuchten und hochinteressanten Programmen.
Nicht, dass man denken könnte, das wären nun schon alle Bausünden, die ich bisher erwähnt habe! Es gibt derer noch einige, die
ich gern aufzeigen möchte, schon, um den zukünftigen Betrachter
zu sensibilisieren, ihm die Augen zu öffnen und ihn zu bitten, sich
einzumischen, wann immer und wo immer es ihm möglich gemacht
wird! Es ist unsere Stadt – und sie sollte nicht so aussehen wie in
einigen meiner Beispiele!
Besonders hervorzuheben sind hierbei Gebäude, die unter dem
Druck der Parkraumbeschaffung in diesem Kiez entstanden sind,
und von denen gleich zwei im südlichen Teil der Knesebeckstraße
stehen:
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Man betrachte den Anschluss an
eines der schönen alten und behutsam sanierten Gebäude gleich links
neben einem solchen Parkhaus.
Die übelste und brutalste Baulückenschließung zur Beseitigung der Parkraumnot in dieser Straße ist schon
beim Fotografieren schmerzlich. Mir
drängt sich der Wunsch auf, die
genehmigende Stelle des zuständigen Bauamtes könnte heute noch
schadenersatzpflichtig gemacht und
zum Abriss und Neubau aus eigener
Tasche verpflichtet werden.
Der Neubau gegenüber der einmündenden Mommsenstraße, im
Bild unten, wäre gerade noch zu vertreten, wenn er nicht neben
diesem Altbau stünde, auch hier kann der subjektive Eindruck entstehen, dass es hätte besser gemacht werden können.
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Doch zurück zur Ästhetik – denn es gibt eben auch schöne Anblicke
– Wunderwerke alter Baukunst im spätabendlichen Licht!
Das linke Bild zeigt eines dieser Wunderwerke in der Knesebeckneben dem Eckhaus zur Mommsenstraße, das mit reich verzierten,
stark profilierten Fenster-, Tür- und Schaufensterelementen aus
Holz gerade restauriert und fertig gestellt wurde. Jedes hochwertige
Detail des Fassadenschmucks ist wieder hergestellt worden, auch
der Dachausbau passt zur antiken Fassade.
Und rechts ein wirklich individuelles Althaus auf der Ecke
Mommsen-/ Bleibtreustraße, mit Türmchen, Erkern und tausend
anschauenswürdigen Details.
Die behutsam sanierten Altbauten erfreuen das Auge mit alten und
neuen Details, schlicht und dennoch wirkungsvoll, wie man auf den
beiden nächsten Bildern erkennen kann.
Hier lohnt es sich, stehen zu bleiben und sich an jeder Kleinigkeit zu
erfreuen. Das rechte Bild zeigt das Gebäude, in dem sich der
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
„Vagabund“ befindet, eine stadtbekannte Schwulenbar für Nachtschwärmer jeden Geschlechts, doch eben nur für die nächtlichen
Amüsements bis in die Morgenstunden. Hier brennt der Himmel
hinter verschlossener Tür! Bittet ein Gast läutend um Einlass, wird
er mit einem Gesichtsprüfungstürchen auf des Eintretens würdig
kritisch beäugt. Ist dies geschehen und der Gast unter gestrengen
Maßstäben als angenehm befunden, wird er überschwänglich
freundlich mit viel ChiChi eingelassen.
Tage danach muss das nicht unbedingt wieder so sein, denn der
Einlass richtet sich sehr nach den Launen der jeweiligen Herren der
Pforte!
Tagsüber wirken nur die purpurfarbenen Markisen und nichts und
niemand rührt sich mehr.
Ein Imbisswagen am Ende der Knesebeckstraße, Ecke Kudamm,
lieferte dem Liebhaber der Currywurst lange Zeit eine nette
Gaumenfreude, dies ist leider wegen der nicht mehr erwünschten
Standplätze heute vorbei.
Früher gab es am Savignyplatz direkt gegenüber dem alten Kiosk
Jahrzehnte lang die beste Currywurstbude weit und breit, an der
man den Magen nach dem Stress im Büro oder einiger späten
Trinkfreuden Tag und Nacht beruhigen konnte. Leider gibt es auch
die nicht mehr, denn sie ist dem städtischen Bedürfnis zum Opfer
gefallen, derartige Buden aus Berlins Stadtbild zu verbannen. Eine
Genehmigung für diesen ehemaligen Standort wird es nicht mehr
geben, dafür dient allerdings jetzt der alte Kiosk diesem Zweck,
dessen Betreiber seine Sache auch nicht schlecht macht, wie ich
mit meiner Vorliebe für diese Delikatesse bereits mehrfach
schmecken durfte.
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
45
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Zu guter Letzt will ich noch einige von all den vielen vorzufindenden,
wundervollen Eingangsportalen und Eingangstüren zeigen, die
wahrlich jeden Blick auf sich ziehen, die jeden staunen lassen ob
dieser kunstvollen Details, und bei denen es sich lohnt, ein wenig zu
verweilen und genauer hinzusehen:
Rundherum ein lohnenswerter Anlaufpunkt, dieser Savignyplatz und
seine Umgebung!
Ich persönlich liebe diesen Kiez! Mit zwanzig träumte ich davon, hier
zu wohnen, doch es sollten noch weitere zwanzig Jahre vergehen,
bis ich endlich in die Nähe der Mommsenstraße ziehen konnte.
Heute lebe ich hier, laufe mit meinem Hund durch die Straßen und
erfreue mich an jedem neuen Geschäft und an jeder positiven
Veränderung. Ich sitze in der Eisdiele und lasse die Sonne auf mein
Haupt scheinen, schlendere über den nahegelegenen Wochenmarkt
am Karl-August-Platz oder gehe schnell zu meinem kleinen
Elektrolädchen in der Grolmanstraße, weil ich wieder einmal mein
Licht im Wohnzimmer vervollständigen muss.
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Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Braucht die Arbeit eine Pause, ist die Bank neben dem nackten
Knaben und seiner Ziege geradezu prädestiniert, auf ihr ein halbes
Stündchen der Sonne entgegen zu blinzeln.
Bevor wir nun vom Savignyplatz aus weiter durch die nördlich abgehende Carmerstraße schlendern, die uns zum Steinplatz führt, von
dem mit Sicherheit viel Interessantes zu berichten sein wird,
machen wir noch einen kleinen Abstecher um die Ecke in die Bleibtreustraße, in der sich die Joan-Miró-Grundschule befindet, und in
der noch so manch Sehenswertes wie Lukullisches festgehalten
werden kann.
Fotos, Text und Zeichnungen: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Joan-Miró-Grundschule
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Wer die Bleibtreustraße 43 passiert, denkt wohl kaum daran, dass
sich hinter dieser unscheinbaren Gebäudesituation die größte und
architektonisch wie historisch bemerkenswerteste Schulanlage des
gesamten Bezirks verbirgt. Die Schule befindet sich zum allergrößten
Teil im Blockinneren und kann nur über eine zu passierende Pforte
erreicht werden. Wer das Glück hat, außerhalb der regulären
Schulöffnungszeiten auf das Grundstück zu gelangen, dem
erschließt sich ein imposanter Gebäudekomplex, welcher ab 1888
von dem Architekten Paul Bratring erbaut wurde.
Es handelt sich um ein viergeschossiges Schulgebäude, das in den
Formen des sog. Akademischen Historismus errichtet wurde. Auf
dem Schulgelände befinden sich neben drei Turnhallen auch vier
Spiel- und Sportplätze. Die Mauerwerksbauten wurden mit roten
Ziegeln verblendet, die gliedernden Gebäudeteile heben sich mit
schwarzen Glasurziegeln ab. In den Jahren 1964 bis 1968 wurden in
Verbindung mit einer Modernisierung kleine Umbauarbeiten vorgenommen. Das Schulgebäude ist selbstverständlich denkmalgeschützt.
Namensgeber der Schule ist Joan Miró (1893-1983), ein bekannter
spanischer Maler und Bildhauer. Zunächst war in dem Gebäudekomplex die 19. und die 20. Gemeindeschule beheimatet. Danach
beherbergten die einzelnen Gebäude verschiedenen Nutzer; u.a.
wurden sie von einem Gymnasium mit Realschule (1903), einem
Lazarett (1. Weltkrieg), der Schlüter-Oberschule für Jungen (1938),
einem Krankenhaus für Kinderlähmungskranke (1939) sowie der
Ostpreußen-Hauptschule (bis 1969) genutzt.
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Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Diese Schule hat wunderschöne Gesichter, eine riesengroße, sich
durch den großen Hinterhof schlängelnde Anlage, mit roten Backsteinfassaden, Türmen, Gesimsen und einladenden Spiel- und
Sportflächen auf den zwischen den Gebäudetrakten befindlichen
Flächen.
Aber man schaue selbst:
Hier der Haupteingang im Innenbereich mit seinen angrenzenden
Fassaden, den Klinkermustern aus Glasurziegeln, den einladenden
Torbögen sowie dem
auf dem Bild leider nur
angerissen erkennbaren Ausschnitt dessen,
was man einen Spielplatz für Kinder nennen
kann (linker Bildrand).
Die vielen unterschiedlichen Innenansichten
wirken wie im Kirchenbau, wie an einem Schloss oder einer
Ritterburg, in diesem akademischen Historismus sind eben genau
diese Stilelemente verwendet – eindrucksvoll – oder?
Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Das untere linke Bild zeigt den Eingang ins Verwaltungsgebäude, der
direkt vom Savignyplatz/Knesebeckstraße aus zugänglich ist, wohingegen der kleine, unscheinbare Eingang auf dem Bild unten rechts
derjenige ist, der eigentlich in den Haupttrakt der Schule führt und
auf den man von der Bleibtreustraße aus direkt zu läuft.
Hiernach fahren wir fort mit einer kleinen fotografischen
Dokumentation ganz besonders zu erwähnender Gebäude der
Bleibtreustraße, deren Architektur sich – alt wie neu – sehen lassen
kann!
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Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Steht man vor dem Eingang der zuvor beschriebenen Joan-MiróGrundschule, ist es nur zu empfehlen, ein paar Schritte nach links zu
gehen und sich die Bleibtreustraße 45 intensivst anzuschauen!
Dieses Gebäude ist ein um 1900 entstandener Wohnungsbau, dessen gerade erst abgeschlossene, aufwendige und dazu musterhafte
Modernisierung sich anzusehen wirklich lohnt.
Beige, karminrot, Metall und grün am werksseitig patinierten Kupfer
sind vorherrschende Farben und harmonieren miteinander an allen
Fassaden.
Über der eingeschossigen Überdachung des Schuleinganges rechts
neben dieser Hausfassade wurde der Seitenflügel raffiniert zur
Straßenfront so geöffnet, dass zwei Geschosse mit verglasten
Fronten sichtbar werden. Hier muss schon einiges an wohlwollender
Amtseinstellung zur gewünschten Modernisierung gezeigt worden
sein, um den Nachteil einer Baulasteintragung zu Lasten des
Schulgrundstückes akzeptabel werden zu lassen! Fenster im Giebel
auf der Grundstücksgrenze bedeuten immer eine Wertminderung
des angrenzenden Grundstückes, da straßenseitig nie mehr Giebel
an Giebel, also in geschlossener Bauweise mit voller Breitenausnutzung in voller Höhe gebaut werden könnte, ohne diese Öffnung in
der 45 wieder zu schließen! Hier sind sich Ämter und Eigentümer
jedoch offensichtlich einig geworden, und dieser kleine Kunstgriff
erscheint als außerordentlich reizvoll an dem sonst so glatten überstehenden Brandwandgiebel der Nr. 45.
Die Geländer der Balkonbrüstungen oder der französischen Austritte
sind individuell so hergestellt, dass die schachbrettartig eingelegten
quadratischen Metallplättchen im Sonnenlicht funkeln und den
Betrachter zu mehr Aufmerksamkeit auffordern.
Gebräuchlich bei hochwertigeren Modernisierungen sind manches
Mal dekorative Kugeln auf Balkon- oder Erkerbrüstungen, hier hingegen sind es keine Kugeln, sondern tropfenähnliche massive
Körper, die obendrein mit einem diagonal eingeritzten Rhombenraster verziert sind.
Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Die Fenster und Eingangstüren leben in diesem wunderschön
warmen Karminrot und kommunizieren mit dem Rot der Markisen
über dem Bistro „Café Bleibtreu“ und dem „Ali Baba“, der ältesten
Pizzeria im Hause.
Geht man erst auf den Hof und betrachtet die Gebäudeteile, so kann
man nicht genug bekommen von den vielen Raffinessen, derer sich
der Architekt zu bedienen in der Lage befand, um die Funktionen in
diesem Hause zu gewährleisten, oder sie erst richtig interessant zu
machen.
Der im Quergebäudestumpf versteckte Aufzug, die Öffnungen in den
Hauswänden, die Brücken aus leicht wirkenden Materialien, über die
man vom Aufzug in die Etagen gelangt, die vor die Fassade
gehängten Laubengänge mit diesen im Sonnenlicht glitzernden
Brüstungsgeländern, die Dachgauben, die aussehen wie kleine
Häuschen auf dem Dach, jedes anders!
Hier lohnt es sich, jedes Detail länger zu betrachten!
... Und hier die Rückfront mit der imposanten
senkrechten Öffnung mit den Zugangsbrücken
über diese Öffnung zu den Wohnungen im
Seitenflügel. Diese Lösung der neu geschaffenen Wohnungseingänge und des immer Probleme bereitenden Einbaues von Aufzügen in
Altbauten ist eine äußerst raffinierte und gekonnte Variante, die sich auch an der Fassade positiv
niederschlägt und die im Übrigen vom Schulgrundstück aus anzuschauen ist.
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Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
... Als Krönung dann auch noch die
Rückfront des anderen Seitenflügels
auf der Grenze zum Schulgrundstück,
deren ansehnliche und formschöne
Balkone wohl einzigartig für einen
Hinterhaustrakt sein dürften! Das Gegenüber steht zwar recht dicht, doch
dafür ist das rot verklinkerte Schulgebäude sehr imposant und zudem
vom üppigen Grün der Schulhofbepflanzung unterbrochen.
... Meine Hochachtung für den Eigentümer, der seinen Nutzern eine
überaus liebevolle, ganz offensichtlich auch nutzerfreundliche und
dem Betrachter eine das Stadtbild besonders veredelnde Modernisierung geliefert hat!!
... Schließlich als letzten Beweis für durchdachte architektonische
Wirkungen an diesem Gebäude – der schon eingangs angedeutete
Giebel über der Eingangsüberbauung des Schulgebäudes. Hier ist
den Räumen im Seitenflügel auf individuelle Weise räumliche
Öffnung und Tageslicht gegeben worden, ohne dass auf die Verbindung zum Vorderhaus verzichtet werden musste.
Leider ist die Eingangsüberbauung der Schule rechts im Bild nicht
wirklich gelungen, hier hätte ein wenig mehr Mühe in die bauliche
Anpassung gut getan, doch ist das in den 70ern wohl rundherum
eher selten gelungen. Die spartanische Gleichförmigkeit, ja Ideenlosigkeit dieser Ära ist sicherlich vielerorts wieder zu erkennen. Allerdings sind sowohl die Einwirkungen der Nachbargebäude als auch
die wunderbar kräftigen und üppigen Baumkronen tatsächlich so
Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
eindringlich, dass diese architektonische und stadtplanerische Fehlentscheidung zum Glück nur bedingt ins Auge fällt.
So wird nach Betrachtung des linken
Nachbarn der Blick ganz schnell auch
auf das rechte Nachbargebäude gelenkt, das noch zum Bestand der
Schulanlage
gehört.
Ein
derart
schöner alter Klinkerbau muss sich
einfach sofort in jedermanns Blickfeld
schieben.
Nun gönne ich mir erst einmal eine
Pause im „Ali Baba“, die sich immer
lohnt, wie man glauben darf!
In dieser Pizzeria, einer der ältesten Berlins, findet man die wohlschmeckende, reich belegte und preislich akzeptable italienische
Pizza noch wie vor 20 Jahren, auch stückweise zum Mitnehmen,
allerdings längst nicht mehr durch italienisches Personal kredenzt.
Frisch gestärkt will ich nun noch ein paar mehr der wunderschönen
Bauten aufzeigen, die sich in dieser Straße befinden, hier ein ganz
besonders schönes Exemplar alter, gekonnter und repräsentativer
Baukunst:
Die Schaufenster sind neueren Datums, doch hat sich der Architekt
hierbei über nichts hinweg gesetzt, sondern hat genauestens darauf
geachtet, dass mit der Erneuerung Altes noch deutlicher wird.
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Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Einfach ein Prachtexemplar, dessen Details einen zum längeren Hinschauen bewegen! Allerdings sollte man den Blick nicht eine Sekunde lang in die rechte Nachbarschaft rücken lassen. Am rechten
Bildrand (vorherige Seite unten rechts) kann man vage erkennen,
was ich meine. Dieser Neubau aus den 70er Jahren ist eine
Todsünde von Architekten und Stadtplanern, wie man sie nicht
anders nennen kann. Leider sind diese Todsünden, wenn einmal
gebaut, über Jahrzehnte präsent und nicht so einfach zu beseitigen.
Links neben dem Hauseingang dieses prachtvollen Altbaues steht
das kleine Türmchen der Portierloge, das neuerdings mit zwei
Stühlen und einem Caféhaustischlein einem Eiscafébetreiber und
seinem Gastpärchen als Domizil dient. Der angrenzende lange
schmale Raum beinhaltet einen ebenso langen Tresen mit allerlei
Köstlichkeiten, und wenn die Sonne scheint, gibt’s auch noch ein
paar Plätzchen auf dem Trottoir – ein Kleinod! Zum Naschen nur zu
empfehlen!
Dann muss ich auch schnell noch einmal auf die andere Straßenseite zurück, denn hier ist etwas ähnlich „Süßes“ zu empfehlen,
nämlich links neben der eben beschriebenen Hausnummer 45.
Hier wurde in einem Treppenabstellraum kleinster Dimension unterhalb einer sehr großen und imposanten Hauseingangstreppe ein
winziges Gasthäuschen, das NIBs, eingerichtet, das einem den
Genuss besonderer Schokoladengetränke mit kleinen Teigköstlichkeiten beschert. Das sind neben den insgesamt recht guten Restaurants und den vielen unterschiedlichsten Geschäften in dieser
Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Straße, ob rauf bis zur Pestalozzi- oder runter bis zur Lietzenburger
Straße, die beiden absoluten Highlights, hinsichtlich romantischen
Genusses!
Auch der folgende Altbau, Bleibtreu- Ecke Mommsenstraße, ist ein
sehr ansehnlicher und interessanter Beleg alter Kunst, an dem das
Auge länger festhalten möchte, um alle Details intensiv wahrzunehmen.
Zu guter Letzt möchte ich aber auch noch eine sehr gelungene Neubausituation zeigen, die eine in den 90er Jahren abgerissene ersetzt
hat, und in der sich zudem ein legendäres Kino befand, das „Filmkunst 66“.
Als es damals hieß, der Altbau würde abgerissen und ein neues
Wohnhaus würde gebaut, bangten alle Anwohner um ihr Kiezkino.
Klein, gemütlich, mit hervorragendem Betreiber, der immer die beste
und individuellste Filmauswahl präsentierte – so wurde es von jedem
Anwohner, ja von jedem Berliner geliebt und war aus der Savignyplatzumgebung nicht weg zu denken.
Was immer tatsächlich den Grund geliefert haben mochte, der
Finanzierende hatte jedenfalls ein Herz für dieses Kino. Es wurde
übernommen und in das neue Wohnhaus integriert.
Die Ansichten Niebuhr- wie Bleibtreustraßen seitig wirken warm und
wohnlich, wie es von einem Mietshaus erwartet werden will. Bei dem
Anblick dieser klar und dennoch sehr ansprechend gestalteten Fassaden könnte man in den Gedanken ans Umziehen verfallen. Es ist
schon toll, gegenüber die Pizza, Zilles Alt-Berliner Bier- und Frühstückslokal, Cafés, Restaurants, Bäcker und Apotheker gleich
nebenan zu wissen, der S-Bahneingang nur einen Steinwurf entfernt
und das Grün der Baumkronen unter der Nase, wenn man seinen
Balkon betritt. Das nenne ich „Wohnwert“!
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Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Wie gut dieser Neubau gelungen ist sieht man auch an den
Anschlüssen an die Altbaunachbarn, sehen Sie selbst, auf den
nächsten Fotos habe ich es festgehalten.
In der jeweils linken Fotohälfte ist der
Altbau zu sehen, erbaut um 1900, auf
der rechten Seite der Neubau, erbaut
um 1990.
Das könnte man als eine angenehme Symbiose bezeichnen.
Auch die Geschäfte im Erdgeschoss zeigen sich, als hätten sie
schon immer zusammen gehört. Zudem ist es ein schönes Gefühl,
an dieser Ladenzeile entlang zu laufen, oder gar in die Läden einzutreten, da es viel Außergewöhnliches zu sehen und zu erstehen gibt.
Nun, nach diesem Abstecher in die Bleibtreustraße wieder zurück
zum Savignyplatz, denn unser Spaziergang führt uns jetzt weiter
durch die Carmerstraße in Richtung Steinplatz.
Fotos und Text: dipl. ing. jutta kindler – architektin
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
- und da wären wir auch schon am
Steinplatz
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Der kleine Erholungsplatz an der Hardenbergstraße wurde 1885
nach Heinrich Freiherr Friedrich Karl vom und zum Stein benannt.
Entsprechend den zeitgemäßen Vorstellungen wurde er als Erholungsplatz mit geometrischem Grundriss angelegt und erhielt eine
raumbildende Bepflanzung mit Bäumen und umrahmenden Sträuchern. Auf dem Platz findet man neben den Gedenksteinen für die
Opfer des Nationalsozialismus (1953) und des Stalinismus (1951)
auch die Büste des Freiherrn von Stein. Sie wurde 1987 als Geschenk des Deutschen Städtetages zur 750-Jahr-Feier Berlins aufgestellt. Der Staatsmann leitete ab 1807 mit der Gesetzgebung zur
Bauernbefreiung die nach ihm und Karl August Fürst von Hardenberg benannten "liberal-demokratischen" Reformen in Preußen ein.
Neben dem mit Naturstein verkleideten Geschäftshaus der Hoechst
AG Farben aus den 50er Jahren findet man hier das Geschäftshaus
der Verwaltung der Deutschen Bundesbank, ein Gebäude jüngeren
Datums. Aus der Jahrhundertwende sind zu erwähnen das Wohnhaus Steinplatz 3 und das Hotel am Steinplatz, 1906 bis 1907 im
Jugendstil erbaut.
Gegenüber dem Eckhaus der ehemaligen Filmbühne, einem Gebäude aus der Nachkriegszeit mit Cafeteria im Erdgeschoss, und
dem allseits beliebten und stark frequentierten Zeitungskiosk befindet
sich die Universität der Künste, deren älteste Vorgängerinstitution,
die „Academie der Mahler-, Bildhauer- und Architecten-Kunst“, 1696
gegründet wurde. Obgleich ihr jetziges Domizil erst um die Jahrhundertwende erbaut wurde, gehört sie somit zu den ältesten Hochschulen.
Die ehemalige Hochschule der Künste, kurz HdK genannt, erhielt im
Jahre 2001 den Titel Universität, heute wird sie kurz als UdK
bezeichnet. Die vom alten Hochschulnamen stammende Abkürzung
ist ebenfalls noch verbreitet und nach wie vor im hauseigenen Logo
vorhanden.
Neben der UdK findet man den Konzertsaal. Der herausragende
50er-Jahre-Bau von Paul Baumgarten gilt als Auftakt der Moderne im
Nachkriegsberlin. Heute ist dieses Haus Zentrum der Fakultät Musik
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Text: Georgios Nassioulas
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
an der UdK Berlin. Hier finden die Proben und Konzerte des
Symphonieorchesters statt, Konzertexamina werden absolviert und
Wettbewerbe ausgetragen. In den sechziger Jahren war der Konzertsaal Heimstatt der Berliner Philharmoniker unter der Leitung
Herbert von Karajans.
Mit seinem Foyer wird der Saal, der wie nur wenige Räume in Berlin
den authentischen Stil seiner Zeit bewahrt hat, spielfertig vermietet.
Die Miethöhe hängt von den veranschlagten Eintrittspreisen ab und
richtet sich darüber hinaus nach den in Anspruch genommenen
Leistungen, wie z. B. zusätzliche Technik und Dienstleistungen (Einlasspersonal, Garderobenkräfte und Tonmeister). Im oberen Foyer
werden die Gäste vor der Veranstaltung und in der Pause oder bei
Empfängen bewirtet.
1336 Plätze
Foto aus der Homepage der UdK
Nicht zu vergessen: Die Mensa der TU Berlin gegenüber dem
Steinplatz an der Hardenbergstraße - nicht nur Studenten treffen sich
hier in den neugestalteten Räumen. Man findet hier ein Reisebüro,
einen Zeitungsladen, Internetplätze und natürlich eine sehr moderne
Cafeteria. Nach der vollständigen Renovierung im Jahre 2005
präsentiert sich die Hauptmensa der Technischen Universität Berlin
in einem zeitgemäßen und freundlichen Ambiente. Man bekommt
hier immer etwas Leckeres und Bekömmliches. Ich selbst besuche
sie gerne.
Unweit dieser Mensa, noch in der 1865 nach dem preußischen
Politiker und Reformer Karl August Fürst von Hardenberg (17501822) benannten Hardenbergstraße in Richtung Ernst-Reuter-Platz
laufend, findet man Ecke Knesebeckstraße das RenaissanceTheater mit dem Entenbrunnen. Das Theater entstand nach Plänen
des auf Theaterbauten spezialisierten Berliner Architekten Oskar
Kaufmann in den Jahren 1926 und 1927 durch den Umbau eines
bereits bestehenden Gebäudes. Das ehemalige Vereinshaus, 1901
bis 1902 von Reimer & Körte errichtet, wurde 1919 von Otto Berlich
Text: Georgios Nassioulas
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
zum Kino teilumgebaut. Daraus entstand das Theater von Oskar
Kaufmann.
Oskar Kaufmann (1873-1956) war in Berlin unter anderem für den
Bau des Hebbel-Theaters, der Volksbühne am heutigen RosaLuxemburg-Platz und des Theaters am Kurfürstendamm verantwortlich. Mit dem Ausbau des Renaissance-Theaters schuf er ein Musterbeispiel eines intimen Theaters. Das Intarsienwandbild im Innenbereich geht auf César Klein (1876 - 1954) zurück, es gilt als einziges gerettetes Zeugnis seines Könnens. Klein entwarf u. a. Glasfenster für den Lichthof des Warenhauses Wertheim wie auch
Mosaiken und Deckengemälde im Theater am Kurfürstendamm und
in der Kroll-Oper.
Das Renaissance-Theater ist vielleicht das einzige vollständig erhaltene Art-Déco-Theater Europas. Von außen fällt im Eingangsbereich
der halbrunde zweigeschossige Vorbau mit den über beide Geschosse reichenden rundbogigen Fenstern auf, deren blaue Verglasung von der Künstlerin Hella Santarossa entworfen wurde. Im Inneren beeindrucken die expressionistische Formenvielfalt sowie die von
César Klein geschaffenen Intarsien, die im Balkonbereich Szenen
der Commedia dell´arte zeigen. Eröffnet wurde das Theater 1922 mit
dem Stück „Miss Sara Sampson“ von Gotthold Ephraim Lessing.
1933 schloss das Theater. In den Jahren von 1936 bis 1938 wurde
es durch Ernst Bechler zum Verwaltungsgebäude umgebaut und
diente als Sitz der Reichsschrifttumskammer.
Erst am 27. Mai 1945 nahm man den Spielbetrieb wieder auf. 1946
erfolgte eine einfache Instandsetzung. Eine weitere Restaurierung
nahm erst 1985 Michael Lindenmeyer vor. Dabei wurde auch die
blaue Verglasung eingebaut.
Das traditionsreiche kleine Theater mit 545 Plätzen war nach dem
Zweiten Weltkrieg eine Bühne für anspruchsvolle Unterhaltungskunst
mit namhaften Schauspielern wie etwa Olga Tschechowa, Helene
Weigel, Tilla Durieux, Curt Goetz, O. E. Hasse, Otto Sander und
Hubert von Meyerinck.
Seit 1995/96 wurde unter der Direktion von Horst-H. Filohn, beraten
von Hans Magnus Enzensberger, ein Konzept für einen Spielplan
entwickelt, in dem die internationale Gegenwartsdramatik den Akzent
setzt.
Mit dem halbrunden, zweigeschossigen Vorbau des Eingangsbereichs und den markanten schlanken, über beide Geschosse
reichenden Rundbogenfenstern, mit der expressionistischen For-
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Text: Georgios Nassioulas
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
menvielfalt im Zuschauerraum und den besonders im Balkonbereich
geschaffenen Intarsien aus vielfältigen kostbaren Materialien, den
seit Mitte der 90er Jahre installierten Leuchten, wie auch mit dem
Foyer und den Wandelgängen, die in den Originalfarben restauriert
wurden, ist dieses Theater etwas Besonderes.
Vor dem Eingang befindet sich der Entenbrunnen aus dem Jahre
1911 von August Gaul. Auf einem zweifach gestuften niedrigen
Sockel ruht ein Brunnenbecken aus Muschelkalk, aus dessen Mitte
sich ein steinerner Pilz erhebt, über dessen Spitze Wasser austritt
und in das Becken rinnt. An den beiden schmalen Seiten des Bassins befinden sich je eine Dreiergruppe Enten in verschiedenen Haltungen.
Auch das schöne Haus, in dem lange Jahre die Buchhandlung
Kiepert ihr Domizil hatte, steht an dieser Ecke, auf der anderen Seite
der Knesebeckstraße. Das Haus gilt als ein gelungenes Beispiel für
moderne Architektur oder auch der „Architektur der Moderne“. Heute
ist hier unter anderem die Fachbuchhandlung Lehmanns ansässig.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Hardenbergstraße sieht man
das Ensemble der Technischen Universität Berlin. Die heutige Technische Universität wurde 1878 bis 1884 als Technische Hochschule
erbaut.
Weiter geht es auf unserem Weg durch die Fasanenstraße in nördliche Richtung, vorbei an der Bundesbaudirektion und dem neuen
Gebäude der UdK-Bibliothek, wo wir die Straße des 17. Juni und die
Charlottenburger Brücke erreichen.
Um etwas ganz Wichtiges und Wunderschönes, doch häufig Ignoriertes aus Berlins Architekturgeschichte nicht zu vergessen, machen
wir einen Abstecher nach Osten zu einem imposanten Bauwerk, das
uns nun als nächstes vorgestellt wird.
Text: Georgios Nassioulas
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Athen?
Klassisches Hellas? Denkste - det is Berlin. Aufgrund der zahlreichen
Bauwerke, deren Schöpfer sich bewusst am antiken Griechenland
orientiert hatten, wird Berlin auch "Spree-Athen" genannt. Wer also
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
beim obigen Bild spontan an Akropolis & Co. dachte, lag gar nicht so
falsch. Wenn auch mit "Spree-Athen" eher auf Berlins historischen
Kern im Bezirk Mitte verwiesen wird, finden sich diese Spuren auch
an vielen anderen Stellen Berlins - so eben auch in Charlottenburg.
Das Eingangstor in die frühere Stadt Charlottenburg, heute Grenze zwischen Berliner Bezirken. Ansicht
von Westen.
Sicher sind Charlottenburger Schloss, Kurfürstendamm und all die
anderen Highlights sehenswert. Doch Charlottenburg hat ebenso
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
eine Fülle sehenswerter Bauwerke, Denkmäler, Straßen und Plätze
zu bieten, die fast kein Tourist je zu Gesicht bekommt, und die auch
in der Literatur kaum behandelt werden. Eines davon ist das
Charlottenburger Tor
Fast jeder kennt das Brandenburger Tor, wandert es doch auf den
Cent Stücken täglich von Sizilien bis zum Polarkreis durch sämtliche
Geldbeutel Europas. Doch wer kennt außerhalb Berlins das Charlottenburger Tor? Niemand - der kleine Bruder des Brandenburger Tors
ist fast unbekannt. Dies wollen wir ändern.
Das Charlottenburger Tor, heute praktisch in der City Berlins gelegen, lag noch im 19. Jahrhundert weit draußen vor den Toren Berlins. Denn Charlottenburg war damals eigene Stadt, und ebenso wie
Berlin Sitz der preußischen Könige. Das Charlottenburger Tor war
damals die "Entrée" nach Charlottenburg und bildete somit früher die
Stadtgrenze. Seit Charlottenburg in den 20er Jahren nach Berlin eingemeindet wurde, bildet es die Grenze zum benachbarten Berliner
Bezirk Tiergarten.
Berliner Luft über dem Charlottenburger Tor
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Charlottenburger Tor, nördlicher Flügel, Ansicht von Westen. Links das Ernst-Reuter-Haus
Erbaut wurde das Charlottenburger Tor 1907/08 von Bernhard
Schaede. Ursprünglich befanden sich auf den Pfeilern allegorische
Bronzeskulpturen von Georg Wrba, die jedoch im Zweiten Weltkrieg
zerstört wurden bzw. verschollen sind. Ebenso befanden sich
ursprünglich zwei mächtige Sandsteinkandelaber am westlichen Abschluss des Tores, die wegen schwerer Schäden nach Kriegsende
abgebrochen wurden. Erst wenige Monate vor Erstellung dieses
Artikels wurde die erfreuliche Nachricht amtlich bestätigt: Die historischen Kandelaber werden wieder aufgebaut.
Die beiden überlebensgroßen Bronzestandbilder des Stadtgründers
Friedrich I. sowie seiner Gemahlin Sophie Charlotte mit dem Modell
des Charlottenburger Schlosses von Heinrich Baucke sind erhalten
und zieren nach wie vor die westliche, dem Tiergarten zugewandte
Seite.
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Charlottenburger Tor von Norden, mit den Statuen Friedrichs I. und Sophie-Charlottes
Das Tor bildet mit der Charlottenburger Brücke eine architektonische
Einheit. Die ursprüngliche massive Gewölbebrücke war reichhaltig
künstlerisch ausgestaltet und wurde Ende der 1930er Jahre von
Richard Ermisch durch einen Neubau ersetzt. Auch das Tor selber
wurde in diesem Zeitraum verändert: Seine beiden Flügel standen
ursprünglich enger zusammen und wurden 1937 im Zuge der
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Planung einer „Via Triumphalis“ vierzehn Meter weiter auseinandergerückt.
Königin Sophie-Charlotte, nach der die frühere Stadt und der heutige Berliner Bezirk Charlottenburg
benannt wurde. In ihrer rechten Hand ein Modell des Schlosses Charlottenburg
In Berlin ist alles möglich: Hier hüpfen auch schon mal freche Gören im Minirock völlig respektlos um
preußische Könige herum:
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Südflügel des Tores, Ansicht von Norden. Dahinter der Tiergarten.
Charlottenburger Tor und Straße des 17. Juni, Ansicht von Westen
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Straße des 17. Juni
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Die große Ost-West Achse, die sich vom Theodor-Heuss Platz
schnurgerade und kilometerweit über Ernst-Reuter-Platz und Siegessäule bis zum Brandenburger Tor hinzieht und von dort aus in die
berühmten "Linden" übergeht, führt auch direkt durch das Charlottenburger Tor hindurch. Der noch heute benutzte Begriff Ost-WestAchse, der die gesamte Linie Kaiserdamm/Bismarckstraße/Straße
des 17. Juni/Unter den Linden bezeichnet, wurde von den Nationalsozialisten geprägt, die die Straße zu Paradezwecken benutzten.
Der Bereich zwischen Ernst-Reuter-Platz und Brandenburger Tor
hieß früher "Charlottenburger Chaussee" und wurde 1953 umbenannt in "Straße des 17. Juni".
Straße des 17. Juni - Sicht vom Ernst-Reuter-Platz zum Charlottenburger Tor; rechts das
Hauptgebäude der TU Berlin, links davon weitere Institute der Uni (Fachbereich Mathematik u.a.) im
typischen Stil der 60er und 70er Jahre
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Im Hintergrund die Siegessäule; das Charlottenburger Tor ist von Werbeträgern verdeckt
Hitlers unbemerkte Hinterlassenschaft
Die Lampen rechts im Bild, von den Berlinern spöttisch "NaziLeuchten" genannt, stammen noch von Hitlers Chefarchitekten Albert
Speer. Speer entwarf im Auftrage Hitlers ein wahnwitzig-megalomanisches Modell einer Hauptstadt "Germania", zu der Berlin umgestaltet werden sollte. Die Ost-West-Achse war Teil dieses Konzepts
und sollte als Prachtstraße direkt auf völlig überdimensionierte Monumentalbauten in Berlin-Mitte zuführen. Die Geschichte entschied
jedoch anders - "Germania" wurde nicht gebaut, statt dessen wurde
Berlin in Schutt und Asche gebombt.
So sind diese unscheinbaren Lampen am Rande eines Boulevards
das einzige Relikt, das an diesem Ort von nationaler Verblendung,
Weltherrschaftswahn und kollektivem Irrsinn des 20. Jahrhunderts
übrig blieb. Sie sind als authentische Zeitzeugnisse Teil der Geschichte Berlins - unabhängig davon, wie man die jeweilige Epoche
bewertet. Architektur ist immer auch Ausdruck von Herrschaft und
spiegelt die jeweiligen Machtverhältnisse und Gesellschaftssysteme
wider. Speziell die Straße des 17. Juni ist ein hervorragendes
Beispiel hierfür und zeigt, wie sich Bauwerke und Bauweise ändern,
wenn sich Machtverhältnisse, politische Systeme und Gesellschaftsformen ändern.
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
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Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
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Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
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Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
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Fotos, Grafiken und Text: Rainer Ritter
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Ernst-Reuter-Platz
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Platzansicht
Der Ernst-Reuter-Platz wurde 1953 zu Ehren des ehemaligen
Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter benannt und verbindet die Hardenbergstraße, Straße des 17. Juni, Marchstraße, Otto-Suhr-Alle
und Bismarckstraße miteinander. In dem Kreisverkehr kann man die
Professoren in ihren Lamborghinis erkennen. Nicht selten sieht man
auch einen Universitätsprofessor auf dem Fahrrad um den Platz
rasen.
Im Jahre 1902 gab es hier mit dem Bau des U-Bahnhofes eine Umgestaltung mit Mittelinsel. 1945 wurde dann der Platz durch das
Bombardement zerstört. Des Platzes heutige Form geht nun auf den
1955 ausgelobten städtebaulichen Wettbewerb und dessen Sieger
Bernhard Hermkes zurück.
Obwohl der Ernst-Reuter-Platz natürlich nicht zu den attraktivsten
Orten der Stadt gehört, hat er etwas Besonderes. Zu allen Himmelsrichtungen hin ist hier der Blick offen. Die modernen Bauten wirken
angenehm.
Foto und Text: Giorgios Nassioulas
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Das Diktat der Kuben, Kisten und Klötze
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Der Ernst-Reuter Platz - wegweisend oder Bausünde?
In den 60er und 70er Jahren war es Mode, möglichst überdimensionierte und monoton wirkende Bauten zu errichten, gleichgültig ob für
Wohn-, Geschäfts- oder öffentliche Nutzung. Die Einfallslosigkeit,
mangelnde Sensibilität sowie komplette Ignoranz gegenüber dem
Genius Loci kompensierten diese Bauten problemlos durch ein
Übermaß an Dimension und Quantität.
Beispielhaft für die Architektur dieses Zeitraums ist der Ernst-ReuterPlatz. Obwohl einige seiner Bauten bereits in den 50ern entstanden,
wurde dieser Baustil vor allem typisch für die 60er und 70er Jahre.
Viele der Gebäude des Ernst-Reuter-Platzes erhielten einen Preis
und stehen heute unter Denkmalschutz; die Platzanlage wird in der
Fachliteratur ausschließlich gelobt und gepriesen als "herausragendes städtebauliches Ensemble der deutschen Nachkriegsmoderne".
So findet man in der Literatur häufig Beschreibungen wie die
folgende für die Bauten des Platzes:
„Die Fassade (wird) durch Fensterbänder und dunkle Brüstungsfelder als horizontal verlaufende Gestaltungselemente gegliedert.
Rhytmisierende Wandpfeiler dienen als vertikale Gestaltungselemente.“ (Berliner Bezirkslexikon Charlottenburg-Wilmersdorf)
Was in der Fachsprache wirkt, als handele es sich um beeindruckende und aufwendig gestaltete Bauwerke, ist in der Realität sehr
viel ernüchternder. Der Platz vermittelt eine Kälte, Sterilität und Seelenlosigkeit, die nur von Plattenbausiedlungen in Berlin-Ost übertroffen werden. Die Gebäude wurden im starren Funktionalismus entworfen, d.h. es finden sich praktisch keine Gestaltungselemente
außer monotoner Rasterfassade, strengem rechtem Winkel und der
Grundform des Kubus bzw. des Quaders. Ornamente sind auch hier,
gemäß der noch heute gültigen Loos-Doktrin, streng verboten - eine
Ideologie, die zeitgenössische Architekten noch heute nahezu widerspruchslos befolgen. Wer sich nicht daran hält, wie beispielsweise
die Patzschkes, als sie das Berliner Hotel Adlon nachbauten,
bekommt Drohanrufe und Schmähungen in Feuilletons. Die Moderne
duldet keinen Widerspruch - und Ornamente hat der moderne
Mensch (was immer das sein mag) gefälligst nicht schön zu finden.
Schön sind: Kubus, Quadrat, rechter Winkel.
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Monotone Architektur – es herrschen Kubus, Quadrat und rechter Winkel
Nun könnte man entgegnen: Das Empfinden, ob ein Platz oder ein
Bauwerk schön ist oder nicht, sei subjektiv. Es gibt aber ein relativ
einfaches Indiz, das diese Behauptung widerlegt und aufzeigt, dass
dieser Platz nicht nur subjektiv, sondern objektiv von sowohl den
Besuchern der Stadt als auch den Berlinern selber als wenig attraktiv
angesehen wird:
Und das ist die Tatsache, dass niemand diesen Platz aufsucht, um
an ihm zu verweilen. Man überquert ihn, um von Nord nach Süd oder
von Ost nach West zu gelangen, doch es scheint fast niemand so
recht an den Ort selber zu wollen. Dass der Platz keine Aufenthaltsqualität hat, ist, wenn man so will, eine "messbare" Tatsache anhand
der Menschen, die hier verweilen, besser: nicht verweilen. Tausende
von Studenten strömen täglich mehrmals von der nahe gelegenen
Universität in die Eingänge der Untergrundbahn und wieder zurück,
überqueren den Platz, verlassen ihn aber so schnell sie können. Das
Argument, der Verkehr mache diesen Platz unattraktiv, scheint wenig
überzeugend: Es gibt zahlreiche Straßen und Plätze in Berlin mit
kaum weniger, dafür genau so nervendem Verkehr, seien es die
berühmten "Linden", der Wittenbergplatz oder der Kurfürstendamm,
allesamt laute und verkehrsreiche Orte, an denen sich Café an Café
reiht, Restaurant an Restaurant. Dort sitzen die Leute dennoch zu
Hauf im Freien, aufgrund der simplen Tatsache, dass die jeweiligen
Orte aufgrund ihrer Architektur menschengerecht und - ein von
Architekten vermiedenes Wort - "schön" sind.
Der Ernst-Reuter-Platz mag alles mögliche sein - aber "schön"? Dies
ist sicher die unangemessenste aller möglichen Beschreibungen.
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Zerdehnte Fläche ohne Verweilqualität
Obgleich dieser Architekturstil und die ihr zugrundeliegende Ideologie in diesem Abschnitt scharf kritisiert und zum Teil auch spöttisch
behandelt wird, soll diese Kritik nicht als einseitig missverstanden
werden. Man muss fairerweise sagen, dass der Funktionalismus und
die dahinterliegende Ideologie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung
durchaus eine Legitimation hatte. Damals galt dieser Baustil als
etwas Neues, Bahnbrechendes. Seine Essenz war der Bruch mit
allem, was vorher da gewesen war: der Bruch mit der Vergangenheit
und der Konvention. Dies schien zum damaligen Zeitpunkt auch richtig und ergab aus damaliger Sicht einen Sinn.
Das Problem besteht nicht darin, dass diese Ideologie aus heutiger
Sicht als Fehler angesehen wird. Problematisch ist, dass in der
Architektenschaft diese Ideologie aufrechterhalten wird und noch
heute als Grundlage für Bauen und urbanes Planen gilt.
Mit anderen Worten: Die Architektenschaft hat aus den Fehlern der
60er und 70er Jahre nicht gelernt, es wird unbeirrt weiter im starren
Funktionalismus gebaut, und alleine der Nutzen eines Gebäudes soll
seine Form bestimmen. Was zum einen nicht nur unsinnig ist, da die
Nutzung eines Gebäudes sich mehrmals ändern kann - aus Speichergebäuden und Fabriken werden Hotels, aus Hotels werden
Finanzämter, aus Palästen werden Verwaltungen der örtlichen Krankenkasse. Vor allem aber ist die Ideologie des Funktionalismus fatal
für den größeren Kontext, nämlich für das städtische Gefüge und
somit vor allem für das Stadtbild. Diese Ideologie beruht maßgeblich
auf der Bauhaus-Theorie von Walter Gropius, den Dogmen von Le
Corbusier und vor allem dem bereits erwähnten Loos’schen Credo
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Fotos und Text: Peter Thelen
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
„Das Ornament ist ein Verbrechen“, eine Schrift von Adolph Loos aus
dem Jahre 1908. Eine Formensprache, die sich auf Bauhaus und
Loos beruft, konnte bereits in den 60er Jahren, also über 50 Jahre
nach Loos, eigentlich nicht mehr „modern“ sein. Kann sie es im 21.
Jahrhundert - über 100 Jahre später? Wohl kaum. Doch noch immer
gilt der Funktionalismus als „modern“. Architekten, die sich für zeitgenössisch und avantgardistisch halten, argumentieren noch immer
mit dem Leitsatz Form follows function, einer Theorie von Louis
Sullivan, die noch älter ist als die von Adolph Loos - nämlich nicht
letztes, sondern vorletztes Jahrhundert. Abgesehen davon, dass
auch dies kaum Grundlage „modernen“ Bauens sein kann, haben die
meisten Architekten, die sich auf Sullivan und seine Chicagoer
Schule berufen, Sullivan mit Ausnahme des Satzes „Form follows
funcion“ niemals gelesen. Der amerikanische Volksmund hat daraus
übrigens gemacht: Form follows fiasco.
Man lasse sich durch die Farbaufnahmen nicht täuschen - bei gutem
Wetter mit strahlender Frühlingssonne, farbigen Blumenbeeten und
Menschen, die den Platz säumen (weil sie müssen), wirkt so manche
Architektur farbiger, lebendiger und qualitativ hochwertiger als sie ist.
Gute Architektur erkennt man daran, dass sie auch an einem kahlen,
öden Herbsttag im November mit Regen und tristem grauen Himmel
noch fasziniert. Warnung: Besuchen Sie den Ernst-Reuter-Platz nicht
im Herbst, wenn Sie zu Depressionen neigen.
Die Architektenschaft findet den Entwurf von Bernhard Hermkes noch immer wegweisend - die restliche
Bevölkerung findet ihn abweisend
Fotos und Text: Peter Thelen
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Ludwig-Cauer-Schule
Vom Ernst-Reuter-Platz aus geht unser Weg weiter durch die OttoSuhr-Allee in Richtung Nordwesten. Mit unserem Interesse an
repräsentativen öffentlichen Gebäuden machen wir einen weiteren
kleinen Abstecher und biegen rechts in die Cauerstraße ein, wo sich
das heutige Gymnasium befindet, das seinen Namen nach dem
bekannten Berliner Pädagogen Ludwig Cauer (1792-1834) hat.
Cauer war Direktor der Cauer’schen Erziehungsanstalt, die von
1826-1834 an der Berliner Straße (heute Eckgrundstück Otto-SuhrAllee/Cauerstraße) ihren Sitz hatte.
Als das Schulgebäude für den Schulbetrieb zu eng geworden war,
entstand 1897-1899 auf dem hinteren Grundstücksteil an der
Cauerstraße der repräsentative Schulneubau. Dieser Neubau wurde
nach Entwürfen des Landesbauinspektors Poetsch und des
Regierungsbaumeisters Haubach realisiert und beheimatet bis heute
die Ludwig-Cauer-Schule.
Das Schulhaus ist dreigeschossig und lang gestreckt. Im
rückwärtigen Bereich befindet sich nördlich ein weiterer Seitenflügel.
Das Äußere der Schule weist historisierende Schmuckformen auf. In
der Eingangshalle befinden sich toskanische Säulen mit einem
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Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Kreuzgratgewölbe. Im ersten Obergeschoss gibt es eine weitere
Säulenhalle. Die Aula liegt im zweiten Obergeschoss. Auf dem
Schulgelände befinden sich der Schulhof mit Sportflächen, der
Schulgarten sowie eine Turnhalle. Das Schulgebäude steht unter
Denkmalschutz und wurde vor kurzem vollständig renoviert. Der
Schulzugang befindet sich allerdings nicht an der Cauerstraße,
sondern im rückwärtigen Bereich an der Loschmidtstraße.
Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Damals war’s – malerische Geschichten aus dem alten Dorf Lietzow
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Zeichnung: Tatiana Demidova
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
- und die Bilder erzählen eine Geschichte!
Zeichnung: Tatiana Demidova
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Alt-Lietzow
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Wir spazieren weiter die Otto-Suhr-Allee entlang. Vor uns leuchtet
von ferne die Kuppel des Schlosses Charlottenburg und rechts davor
reckt sich der prächtige Rathausturm empor. Doch wir wollen uns
dem Rathaus von hinten nähern.
Unser nächstes Ziel ist Alt-Lietzow. Das Dorf wurde 1239 erstmals in
einem Dokument erwähnt unter dem Namen Lucene, später hieß es
mal Lietze, dann Lützow oder Lützen. Über die Herkunft des Dorfnamens streiten sich die Gelehrten. Am wahrscheinlichsten ist die
Herleitung aus dem Slawischen: Lietze war die Bezeichnung für die
possierlichen Tauchhühner, die sich überall in der Spree tummeln.
Auch der Lietzensee ist nach dem Vogel benannt, ebenso das Sommerschlösschen Lietzenburg, das 1699 für die Kurfürstin Sophie
Charlotte erbaut worden war – ohne Kuppel, ohne Anbauten, aber
immerhin schon mit einem französischen Barockgarten inmitten von
Rübenäckern.
1590 wohnten in Alt-Lietzow ganze sechs Bauern, die unter der Kuratel der Nonnen von St. Marien in Spandau standen. Außer den
Gehöften existierte hier nur eine Dorfkirche.
Von der einstigen ländlichen Idylle mit Schweinen und Gänsen ist
nichts mehr übrig. Alt-Lietzow ist heute ein eher verborgener, etwas
verschlafener Stadtplatz. Umrahmt wird der ovale ehemalige Dorfanger von einigen mehr oder weniger historischen Gebäuden. Als
erstes fällt ein hellroter Klinkerbau aus dem 19. Jahrhundert ins
Auge: die alte Feuerwache Alt-Lietzow, die nunmehr vom „Malteser“Hilfsdienst genutzt wird.
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Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Auf der östlichen Seite des Platzes haben die evangelischen
Christen 1960 ihre Kirche errichtet: einen avantgardistischen Bau in
Form einer skandinavisch anmutenden Hütte, dessen Dachseiten bis
zum Boden reichen, daneben ein kleiner freistehender Glockenturm
und das Stein auf Stein gemauerte Gemeindehaus samt Kindertagesstätte. Die großformatigen Glasflächen geben dem ganzen
Ensemble Transparenz und Licht, beleben den einstigen Dorfanger
auf freche und dennoch harmonische Weise.
Das attraktivste Haus am Platze ist das Charlottenburger Standesamt, Alt-Lietzow 28. Es gehört zu den 100 schönsten Standesämtern
Deutschlands. Den spätklassizistischen Bau ließ der reiche Holzhändler Carl Kogge 1866 als Stadtvilla errichten. Der Bauherr
bestand ausdrücklich darauf, dass sich sein Architekt den preußischen Baumeister Karl-Friedrich Schinkel zum Vorbild nahm. Das ist
in diesem Fall sehr gut gelungen. Besonderes Merkmal dieses kleinen architektonischen Schmuckstücks: die geflügelten Löwinnen
unter dem Dachgiebel zur Gartenseite. Ihr männliches Gegenstück
ruht steinern auf der westlichen Seite des einstigen Dorfangers.
Fotos und Text: Michael Jordan
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Ein Stück vom eigentlichen Platz entfernt stoßen wir auf einen massiven roten Backsteinbau. Es handelt sich dabei um das ehemalige
Kloster „Vom Guten Hirten“. Nach der Auflösung dieser Einrichtung
diente der mehrteilige Bau zwischenzeitlich auch mal als Ausbildungsstätte für Gefängnisaufseherinnen. Heute beherbergt der Gebäudekomplex die katholische Herz-Jesu-Kirche samt Gemeindezentrum. Hier predigte in der Nazizeit der Pfarrer Bernhard Lichtenberg gegen den Antisemitismus der Machthaber. Er starb auf dem
Transport in ein Konzentrationslager.
Wenn wir weiter entlang der Rückfront des Rathauses spazieren,
kommen wir zu einem großen Parkplatz, an dessen Kopfende ein
moderner Zweckbau thront, in dem noch vor einigen Jahren ein
Squash-Center Fitness zu verbreiten suchte. Seitdem dieser Sport
aus der Mode gekommen ist, hat sich hier ein Supermarkt etabliert,
der sich verzweifelt darum bemüht, in dieser Nischenlage Geschäfte
zu machen.
Bevor wir das nun gänzlich unidyllische Alt-Lietzow verlassen, zeigen
wir noch ein paar malerische Darstellungen des Dorfes und schleichen uns hiernach durch die Hintertür ins Rathaus.
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Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Zeichnung: Tatiana Demidova
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Das Rathaus
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Wenn der Besucher das Rathaus betritt, fühlt er sich erst einmal
ganz klein: Die Höhe der Räume wirkt in der Tat überwältigend. Das
ist Wilhelminismus pur: Jeder, der Amtsräume besuchte, sollte sich
klar darüber sein, dass er hier ein Untertan des Kaisers sei. Das ist
heute im Sitz des Bezirksamtes und der Bezirksverordnetenversammlung natürlich in Wirklichkeit längst nicht mehr so. Aber die
Architektur des hohen Hauses spricht diese Sprache.
Und dann die schweren, mit Ornamenten aus Eisen und Messing
verzierten Türen! Man kriegt sie kaum auf. Wenn sie dann hinter
einem zufallen, krachen sie wie die zusammengeschlagenen Hacken
eines preußischen Feldwebels zur Kaiserzeit – nur unendlich viel
lauter, denn es hallt hier wie in einer Tropfsteinhöhle. Die Angestellten haben einige dieser massiven Ruhestörer mit Puffern und
Stoppern versehen, um den Bombenkrach ein wenig zu entschärfen.
Schaut man sich die Türen etwas genauer an, ist man bald schon mit
ihnen versöhnt: Die schmiedeeisernen Jugendstilverzierungen sind,
ganz im Gegensatz zur massiven Konstruktion, sehr elegant und
zeigen eine zauberhafte Leichtigkeit!
Wir durchqueren das Rathaus nun durch lange, nicht enden wollende
Flure, in deren labyrinthischen Abbiegungen und nochmaligen Abbiegungen man sich leicht verlaufen kann. Endlich erreichen wir den
Vordereingang (unseren Ausgang), schreiten über eine majestäti-
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Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
sche Treppe hinab, öffnen noch einmal eine der Riesentüren und
gelangen schließlich über eine steinerne Freitreppe auf den Boden
des Alltags zurück.
Wir stehen auf der Otto-Suhr-Allee und gucken nach oben auf die
beeindruckende Rathausfassade. Nein, so geht das nicht! Wieder
sind wir zu klein. Also überqueren wir die zweispurige Straße. Aus
dem gehörigen Abstand haben wir endlich das gesamte Rathaus im
Blick: Was für eine prächtige Fassade!
Das Charlottenburger Rathaus wurde 1899 bis 1905 nach den Entwürfen der Architekten Reinhardt und Süßenguth errichtet, die zuvor
(ganz modern) einen Bauwettbewerb gewonnen hatten. Es ist in
einer eigenwilligen Mischung aus Jugendstil und Neogotik gestaltet.
Auffällig sind die bisweilen verspielten, bisweilen strengen Figuren,
die die Fassade zieren: Weingötter sind zu erkennen, aber auch so
etwas wie Teufelsfratzen, die aus dem grauen Sandstein hervorglotzen. Der Betrachter fühlt sich ein wenig an gotische Kathedralen
erinnert. Dafür steht auch der prachtvolle Turm, in dessen Dachstuhl
allerdings keine Glocken läuten. Ein Wolkenkratzer der Jahrhundertwende! Er überragt mit seinen 88 Metern Höhe die gesamte Stadt –
und ist exakt 14 Meter höher als der Turm des Berliner Rathauses,
das etwa 40 Jahre zuvor erbaut worden war. Dies lag in der Absicht
des Bauherrn, des damaligen Bürgermeisters Schustehrus. Es war
ein Triumph für die damals freie Reichsstadt Charlottenburg (erst
1920 wurde sie Groß-Berlin einverleibt) über die nicht allzu sehr
geliebte Nachbarstadt Berlin.
Anlässlich des 200. Stadtgeburtstags 1905 feierten die „Schlorrendorfer“ (nicht ganz freundlicher Spitzname für Charlottenburger) dann
auch ordentlich die Einweihung ihres neuen Rathauses – des dritten.
Schließlich hatten sie zum Feiern allen Grund: Charlottenburg war
damals Boomtown, eine der reichsten Städte Deutschlands, im
Ranking weit vor dem armen Berlin.
Das Rathaus in seiner heutigen Gestalt entspricht fast vollkommen
dem 1905 fertiggestellten Bau – 1913 wurde noch ein östlicher Anbau errichtet, in dem sich nun die Stadtbücherei befindet.
Während des Zweiten Weltkrieges legten alliierte Bombengeschwader fast die gesamte Berliner Straße, die heutige Otto-Suhr-Allee, in
Schutt und Asche. Nur wenige Häuser blieben stehen, unter
anderem das Gebäude der Hof-Apotheke schräg gegenüber vom
Rathaus und - wie durch ein Wunder, ragte der Turm des Rathauses
stolz über das Trümmerfeld. Die Bomben hatten ihn nicht zum
Einsturz gebracht. In den Nachkriegsjahren wurde das insgesamt
Fotos und Text: Michael Jordan
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
schwer beschädigte Gebäude annähernd originalgetreu wieder
aufgebaut. Um den Bau herum entstanden in den fünfziger und
sechziger Jahren viele gesichtslose Wohnbauten, die das Rathaus in
seinem historischen Gewand ziemlich alleine dastehen lassen.
Wir werfen noch einen letzten Blick auf das stolze Rathaus, das
gleich noch malerisch erfasst sein wird, träumen kurz davon, einmal
seinen Turm zu besteigen und die Aussicht von da oben zu genießen, wie es die Turmfalken tun, die auf dem Turmdach genistet
haben sollen. Dann wenden wir uns wieder Bodenständigerem zu
und spazieren weiter zum Richard-Wagner-Platz.
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Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Richard-Wagner-Platz
Nach dem berühmten Opernkomponisten wurde der damalige
Wilhelmplatz zusammen mit der nach Süden führenden Spreestraße
erst 1935 benannt, eine der wenigen Umbenennungen der Nazis, die
nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand hatte. Was kann der Wagner
denn dafür, dass der Hitler ihn so liebte, werden sich die Verantwortlichen gedacht haben. Und die Nähe zur Deutschen Oper an der
Bismarckstraße wird wohl auch eine Rolle gespielt haben.
Eigentlich ist der Richard-Wagner-Platz bloß ein Halbplatz. Auf der
nördlichen Seite der Otto-Suhr-Allee entstand durch den SiebzigerJahre-Bau an der Ecke Wintersteinstraße eine Ladenmeile, eine
Passage also, die überhaupt keine Platzsituation schafft. Von Platz
kann also nur noch auf der südlichen Seite die Rede sein.
Doch die alte Pracht ist hin. Die Lücken, die der Zweite Weltkrieg
geschlagen hatte, sind durch Neubauten mit gesichtslosen Fassaden
geschlossen worden. Die stolzen Spitzkuppeln auf den Häuserdächern haben Krieg und Nachkrieg weggeschliffen. Übrig geblieben
ist allein die Eckbekrönung am Eingang zur Schustehrusstraße. In
diesem Fall hat der Architekt des Neubaus auf der rechten Straßenseite begriffen, was die Historie gebietet und seinen ansonsten völlig
schnörkellosen Bau mit einem winzigen würfelförmigen Türmchen
bekrönt.
Nur noch ein einziger U-Bahn-Eingang an der östlichen Seite des
Platzes, eine Art Tor mit zwei verzierten sandsteinernen Säulen und
einer dreieckigen Dachgaube mit dem U-Bahn-Logo darüber, zeugt
von der historischen Gestalt des bereits 1906 eröffneten U-Bahnhofs
Wilhelmplatz. Der schwedische Architekt Alfred Grenander, der viele
Berliner U-Bahnhöfe erbaute, hatte auch diesen entworfen. Die
Strecke war allerdings eine Sackgasse; schon an der nächsten Station „Knie“ (heute Ernst-Reuter-Platz) endete sie. Im Rahmen der
Umstrukturierung des U-Bahnnetzes wurde der gesamte U-Bahnhof
Richard-Wagner-Platz 1970 abgerissen und erst 1978 in völlig neuer
Gestalt wiedereröffnet: modern, praktisch, bequem, aber trotzdem
nicht ohne eigenes Gesicht. Eine gelungene Modernisierung.
Der Richard-Wagner-Platz war einst der zentrale Marktplatz Charlottenburgs. Heute zeugen davon nur noch eine Handvoll Marktstände, die einmal in der Woche ein bisschen Obst und Gemüse,
Billigklamotten und Currywurst anbieten. Früher war hier jeden Tag
Fotos und Text: Michael Jordan
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Markt – außer sonntags natürlich – und es gab alles mögliche zu
kaufen, Pferde zum Beispiel, denn einmal in der Woche war hier
Pferdemarkt.
Klaus Wendel, der bis 1980 das „Restaurant Wendel“ an der Ecke
Richard-Wagner-Straße führte, erzählte: „Da lief auch schon mal ein
Pony durch die
Gaststube und soff
aus der Spülwanne.“ Sein Vater Max
Wendel hatte das
damalige „Restaurant
zur
Untergrundbahn“ 1919 übernommen. „Hier
verkehrten vor allem
Viehhändler.
Es herrschte ein
rauer Ton“, berichtet der Sohn. Doch irgendwann warf der Vater die Pferdehändler allesamt raus. Erst blieb das Lokal leer, dann kamen die Beamten aus
dem Rathaus. So ist es bis heute geblieben im „Wendel“, auch nachdem Klaus Wendel in Rente ging und die Gaststätte verkauft hat.
Unter die Beamten und Angestellten mischen sich inzwischen viele
Geschäftsleute und Handwerker aus dem Kiez, ein paar Künstler und
Arbeiter von der Oper und im Sommer auch mal der eine oder andere Tourist. Alle genießen die deftige deutsche Küche und probieren sich durch die zwölf Biere vom Fass. Spielautomaten gibt es bis
heute nicht in dieser Gaststätte. Um 23 Uhr werden frisch gebratene
Bouletten serviert. Punkt Mitternacht ist Feierabend.
Ganz anders nebenan im „Bierhaus 3“: Diese Kneipe hat praktisch
rund um die Uhr geöffnet. Hier trinkt man und frau das Bier eher aus
der Flasche als vom Hahn. Am Tresen treffen sich nachts bis in den
frühen Morgen Kiezschwärmer unterschiedlichster Couleur, da sitzt
schon mal ein Regierungsrat aus der Baubehörde oder ein Bühnenbildner von der Oper mit einer fröhlichen Runde von Frührentnern
und Kiezhalunken zusammen, die ihr Geld eher nicht legal verdienen. Übrigens: In dieser Kneipe befindet sich die heißeste Gerüchtebörse des Stadtteils. Aber Vorsicht: „Absturzgefahr!“
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Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Schustehrusstraße
_________________________________
Wir kehren dem Richard-Wagner-Platz den Rücken und biegen in die
Schustehrusstraße ein. Namensgeber für die einstige Scharrenstraße war Oberbürgermeister Karl Schustehrus, der Charlottenburg
von 1898 bis 1913 regierte.
Gleich am Anfang stoßen wir auf noch `ne Kneipe: das „Restaurant
Lavandevil“: Früher speiste man hier persisch, jetzt eher Tapas oder
Pizza. In den achtziger Jahren tagten im Hinterzimmer die Grünen,
die damals noch Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz
hießen und einen possierlichen Igel im Parteiwappen trugen. Ob sie
heute noch tagen, wissen wir nicht. Dafür gibt’s einmal in der Woche
Kasperletheater im „Lavandevil“.
Wir überqueren die Wilmersdorfer Straße und kommen nun zu unserem nächsten Ziel: der Schustehrusstraße 13, einem kleinen grün
gestrichenem, einstöckigen Häuschen mit einer dreieckigen Dachgaube über dem Portal. Fast unscheinbar wirkt das Haus auf der linken Straßenseite, aber dieses Bauwerk hat es in sich. Es handelt
sich tatsächlich um das einzige erhaltene Bürgerhaus aus der
Gründerzeit Charlottenburgs, errichtet um 1712.
Es ist das letzte noch vorhandene Musterhaus der
historischen Stadtanlage,
die der königliche Baumeister Eosander von
Göthe Anfang des 18.
Jahrhunderts
entworfen
hatte. Kurfürst Friedrich III.
krönte sich 1701 eigenhändig, ohne Einwilligung
des deutschen Kaisers, in
Königsberg zum König. Nun nannte er sich Friedrich I., König in
Preußen, und brauchte für die neue Würde eine angemessene Residenz. In Berlin war er ja bloß Kurfürst von Brandenburg. Also ließ er
das Sommerschlösschen Lietzenburg zu einem stattlichen Schloss
mit eindrucksvoller Kuppel (nach dem Modell des Petersdoms in
Rom) erweitern. Vor den Toren des Schlosses baute Eosander
seinem König eine Stadt, die dieser 1705 nach seiner gerade
verstorbenen Ehefrau Sophie Charlotte benannte. Der König selbst
war der erste Bürgermeister Charlottenburgs.
Fotos und Text: Michael Jordan
97
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Entlang des schachbrettartigen Straßenrasters der barocken Stadtanlage (begrenzt durch Schloß- und Richard-Wagner-Straße, sowie
Otto-Suhr-Allee und Zillestraße) standen damals kaum 100 Häuser
im Format der Schustehrusstraße 13. Alle Stadthäuser besaßen
Acker- und Wiesenflächen im hinteren Bereich, die aber allein der
Selbstversorgung und nicht dem landwirtschaftlichen Erwerb dienten.
Die damals etwa 200 Bürger Charlottenburgs waren keine Bauern,
sondern Handwerker und Schloss-Bedienstete, die auf königliche
Order von 1711 nicht zur Miete wohnen durften, sondern allesamt
verpflichtet waren, ein Grundstück zu erwerben und ein Haus zu
bauen. So tat es dann auch der Goldschmied Gottfried Berger, der
sein Eosandersches Musterhaus in der heutigen Schustehrusstraße
13 errichtete.
Das unscheinbare Bürgerhaus mit dem idyllischen Hinterhof, in dem
Weinreben ranken, überstand fast 300 Jahre, mehrere Kriege, den
Bauboom der Gründerzeit, Wiederaufbau und Stadtsanierung. Es
war dabei nahezu in Vergessenheit geraten, bis es Anfang der achtziger Jahre ins Visier von Bauspekulanten geriet. Die wollten abreißen und sechsstöckig neu bauen. Der damalige Baustadtrat Wolfgang Antes hatte Abriss- und Baugenehmigung schon in der Schublade. Doch da kamen ihm engagierte „Schlorrendorfer“ und die
Stadtforscher Susan Prösel und Michael Kremin in die Quere. Sie
wiesen anhand historischer Dokumente das wahre Alter und die einzigartige Bedeutung des kleinen Häuschens nach. Der Landeskonservator stellte es 1983 unter Denkmalschutz. Der Abriss war vom
Tisch. So schien es.
Am Morgen des 24. Dezember 1983 fuhren ein Bagger und ein
Caterpillar vor dem Portal der Schustehrusstraße 13 auf und begannen sofort mit dem Abriss des Gebäudes. Anwohner, die sich über
den Krach zu Heiligabend wunderten, riefen die Polizei. Die ermittelte: Die Bagger gehörten einer Bau- und Abrissfirma, die bis heute
am Saatwinkler Damm ihren Firmensitz hat. Dort war ein paar Tage
zuvor ein Herr aufgekreuzt, der den Abriss in Auftrag gab und sofort
bar bezahlte. Er hatte sich als Vertreter der 3. Spree GmbH & Co.
KG ausgegeben, eben dem Eigentümer des Grundstücks Schustehrusstraße 13. Eine Abrissgenehmigung legte er nicht vor - konnte er
auch schlecht: Ein solches amtliches Dokument existierte gar nicht.
Der Abriss war also illegal. Die Staatsanwaltschaft übernahm die
Ermittlungen. Nach gut zwei Jahren endlich platzte im Januar 1986
eine Bauskandal-Bombe größeren Kalibers, deren Explosion zahlreiche Spekulanten und Politiker erwischte, unter anderen auch den
Charlottenburger Baustadtrat Wolfgang Antes. Der CDU-Politiker
hatte sich von mehreren Spekulanten bestechen lassen und kas-
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Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
sierte dafür fünf Jahre Knast, von denen er allerdings aus gesundheitlichen Gründen nur ein paar Monate absaß.
Das Haus Schustehrusstraße 13 schien nach dem weihnachtlichen
Abrissversuch endgültig auf der Strecke geblieben zu sein: Die Hälfte
des Häuschens lag in Trümmern, die Fassade war fast vollständig
zerstört. Wer sollte das wieder aufbauen? Und vor allem: Wer sollte
das bezahlen? Kosten in Millionenhöhe kamen auf die Stadt zu, den
neuen Eigentümer von Haus und Grundstück. Nennenswerte Entschädigungszahlungen waren von der Spekulanten-GmbH nicht zu
erwarten. Die hatte längst Konkurs angemeldet. Andererseits hatte
der Abrissversuch bei den Charlottenburgern, aber auch in der
Fachwelt eine Welle der Sympathie für das kleine Bürgerhäuschen
ausgelöst. Plötzlich floss Geld: Der Wiederaufbau konnte beginnen.
Mit den Restaurierungsarbeiten beauftragte die Denkmalpflege den
Architekten Ulrich Böhme. Der ließ sich jahrelang Zeit. Es war ja
auch eine sehr schwierige Aufgabe, ein Gebäude nach den Methoden und mit den Materialien des 18. Jahrhunderts neu zu errichten.
Wir wissen nicht, ob der Architekt den Mörtel tatsächlich aus Quark
und die Farben aus Eigelb und Kräutern anrühren ließ – aber so
baute man tatsächlich im 18. Jahrhundert. Allein das Besorgen der
historisch korrekten Dachziegel nahm viel Zeit und Mühe in Anspruch. Aber schließlich war das Werk getan. Das Häuschen stand
wieder an seinem Platz.
Es kam nun darauf an, für das Gebäude eine die Bausubstanz möglichst schonende Nutzung zu finden. Seit 2004 ist das KeramikMuseum dort zu Hause. Jeder, der will, kann sich hier nun für zwei
Euro Eintritt Keramik-Gefäße, Plastiken und Ofenkacheln angucken
und sich dabei auch noch ein Bild davon machen, wie die Charlottenburger im 18. Jahrhundert wohnten. Zu empfehlen ist, einen
Augenblick in dem kleinen Hinterhof zu verweilen. Der Besucher findet hier eine stille, weinumrankte Oase innerhalb der Großstadt.
Geöffnet ist das Museum samstags, sonntags und montags jeweils
von 13 bis 17 Uhr.
Fotos und Text: Michael Jordan
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
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Zeichnung: Tatiana Demidova
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Gierkeplatz
Die nächste Station unseres Spaziergangs ist der Gierkeplatz.
Namensgeberin des ehemaligen Kirchplatzes ist die frühfeministische Sozialpädagogin Anna von Gierke, die sich in den zwanziger
Jahren vor allem der Mädchenerziehung und -ausbildung widmete.
Nachdem sie 1933 von den Nazis Berufsverbot erhalten hatte, kümmerte sie sich bis zu ihrem Tode 1943 im Rahmen kirchlicher Gemeindearbeit um verfolgte Juden. Nach Anna von Gierke ist auch die
den Platz kreuzende Gierkezeile benannt.
Der ehemalige Kirchplatz war der zentrale Platz der barocken Stadtanlage, kreisrund geformt, was damals eine Seltenheit war. Stadtbaumeister Eosander setzte diesen Platz in direkte Beziehung zum
Schloss: An dem einen Ort residierte die weltliche Macht, der König,
an dem anderen Ort die geistliche Macht, Gott.
Schon 1716 stand hier eine Kirche aus Holz mit der Rathausuhr im
Giebel, die allmählich im morastigen Untergrund versank. 1826
errichtete der preußische Baumeister Karl-Friedrich Schinkel ein
vollkommen neues, steinernes Gotteshaus im klassizistischen Stil.
Einen hellen, fast leuchtenden Bau von vollkommen schöner Einfachheit, dessen Kirchturm die ganze Stadt überragte und in absichtvoller Kommunikation mit der Schlosskuppel stand. Auch der Innenraum ist schnörkellos und bescheiden, aber lichtvoll gestaltet, wie es
sich für eine protestantische Kirche gehört. Die Kirche wurde auf den
Namen der verstorbenen Königin Luise getauft.
Fotos und Text: Michael Jordan
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Schinkels Kirche behielt ihre Gestalt bis heute. Fast: Beim Wiederaufbau des kriegsbeschädigten Baus verzichtete man auf die Spitzkuppel des Turmes und entschied sich für eine abgeflachte Variante
mit einem bescheidenen Kreuz darauf. Auch die Uhren an allen vier
Seiten des Turms fehlen. Dies geschah wohl weniger aus ästhetischen Überlegungen, denn aus Kostengründen.
Und das hatte eine ganz einfache Ursache: Der Magistrat, die Berliner Stadtregierung, wollte nach 1945 das kriegsbeschädigte Gotteshaus vollständig abreißen und war deshalb keineswegs bereit, auch
nur eine Mark für den Wiederaufbau auszugeben.
Doch die Charlottenburger wollten ihre Stadtkirche nicht aufgeben.
Die Gemeinde sammelte Geld und viele Bürger waren bereit, durch
ehrenamtliche Beteiligung die Restaurierungsarbeiten zu unterstützen. Darunter waren nicht nur Christen; vor allem die Charlottenburger Kommunisten beteiligten sich kräftig am Wiederaufbau der
Luisenkirche.
Wieso sollten Kommunisten eine christliche Kirche retten? Das kam
so: Ein Mitglied des Gemeindekirchenrates war während der Nazizeit
Polizeikommandant (so hieß das damals) im Revier am heutigen
Klausenerplatz, ein prinzipienfester, erzkonservativer preußischer
Beamter, der allerdings die Nazis und ihren Rassismus zutiefst verabscheute. Über seinen Schreibtisch gingen regelmäßig Amtshilfeersuchen der Gestapo, wenn die mal wieder Juden oder Nazigegner
abholen wollte und dafür Polizeischutz benötigte. Der Polizeikommandant wusste also oft ein paar Tage vorher von den geplanten Aktionen der Gestapo. Diese Informationen gab der Beamte
weiter an einen Kohlenhändler in der Seelingstraße, der damals der
Chef des kommunistischen Widerstandes im Kiez war. Der sorgte
dafür, dass die Betroffenen rechtzeitig gewarnt wurden, unter anderem angeblich mit der Hilfe eines katholischen Mönchs aus dem
Kloster am Klausenerplatz.
Der Kohlenhändler war nach dem Untergang der Hitler-Diktatur noch
immer Kommunist und mit dem Polizeibeamten befreundet. Und so
marschierten bald ein oder zwei Dutzend kommunistische Maurer
und Zimmerleute auf und machten sich als erstes daran, den Turm
der Luisenkirche wieder zu errichten, bei dem akute Einsturzgefahr
bestand. Auch das Kirchenschiff musste fast von Grund auf rekonstruiert werden. Es dauerte etwa drei Jahre, bis die Glocken von
Schinkels Kirche zum ersten Mal wieder läuteten. Zum Richtfest am
9. Januar 1953 kamen Hunderte von Charlottenburgern, die in den
erst provisorisch wiederhergestellten Innenraum gar nicht hineinpassten – das waren bestimmt nicht alles Christen.
102
Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
So ist es bis heute geblieben. Nicht nur Christen besuchen gerne
„ihre“ Luisenkirche, auch Nichtgläubige erfreuen sich immer wieder
gern an der schönen Schlichtheit von Schinkels Kirche. Die
Gemeinde tut allerlei dafür, um Publikum anzulocken: Rock- und
sogar Rocker-Konzerte hat die Stadtkirche schon erlebt. Regelmäßig
finden Soul- und Gospelkonzerte, unter anderem mit den Sängerinnen Queen Yana oder Jocelyn B. Smith, statt. Ab und zu gibt es
Trödelmärkte, vor allem für Kinderspielzeug und Klamotten, auf dem
Kirchenvorplatz.
Der absolute Renner aber ist die weihnachtliche Mitternachtsmesse
– Heiligabend immer um 23 Uhr. Da ist die Kirche proppenvoll; wer
nicht eine halbe Stunde früher da ist, kriegt garantiert keinen Sitzplatz mehr auf den Holzbänken. Aber Stehen ist nicht so sehr
schlimm, der Pastor predigt kürzer als sonst. Denn auch er weiß
wahrscheinlich, warum die meisten gekommen sind: Sie wollen
Weihnachtslieder singen und zwar aus vollem Halse, egal ob jeder
Ton richtig getroffen wird. Und so steht die ganze Gemeinde am
Schluss des Gottesdienstes mit einer brennenden Kerze in der linken
und einem Zettel mit den Liedertexten in der rechten Hand und
schmettert begeistert: „O, Du fröhliche...“
Wir verlassen den Gierkeplatz, der außer Schinkels Kirche nicht viel
zu bieten hat – ein bisschen sozialer Wohnungsbau, ein massiges
Gemeindezentrum und eine in Beton gegossene Berufsschule für
KfZ-Mechaniker. Wir könnten nun die Schustehrusstraße weiter
Richtung Westen gehen, entscheiden uns aber für einen kleinen
Schlenker: Wir spazieren das kurze Stückchen Gierkezeile in
Richtung Norden, stoßen auf die Otto-Suhr-Allee, wenden uns nach
Westen, immer die Schlosskuppel im Blick, und gelangen zum...
Fotos und Text: Michael Jordan
103
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Luisenplatz
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Der heutige Kreisverkehr hat nichts, was das Auge des Betrachters
erfreuen könnte. Im 19. Jahrhundert sah das anders aus. 1806 ließ
König Friedrich Wilhelm III. den sumpfigen Platz durch Hofgärtner
Steiner gestalten: Der legte eine längliche Rasenfläche an, die von
doppelten Baumreihen gesäumt und von Spazierwegen durchschnitten war. 1905 stand an der Nordseite des Platzes ein Denkmal
für den früh verstorbenen Kaiser Friedrich III., der nur 99 Tage
regierte: ein bronzenes Reiterstandbild, umrahmt von zwei Säulen.
Der Kaiser samt Pferd wurde 1943 eingeschmolzen. Und so schmolz
nach dem Zweiten Weltkrieg die Schönheit des ganzen Platzes
dahin.
An seiner Nordseite befinden sich Neubauten der achtziger Jahre.
Der östliche von ihnen ist mit einem leicht gewölbten Flachdach versehen, das einem Hubschrauberlandeplatz ähnelt. Westlich davon
steht ein schmuckloser zweistöckiger Zweckbau. Die beiden Neubauten klemmen eine kleine Stadtvilla zwischen ihren massiven
Baukörpern ein, das letzte erhaltene historische Gebäude am
Luisenplatz. Es beherbergt heute die Botschaft Kirgisiens.
In dem flachen Zweckbau, der sich fast bis zum Charlottenburger
Ufer erstreckt, ist jetzt unter anderem das „Brauhaus Lemke“ untergebracht. Dort kann man an Ort und Stelle selbstgebrautes Bier verkosten und Deftiges speisen, was hier vorwiegend Touristen tun.
Bis in die fünfziger Jahre stand an dieser Stelle das „Schlosspark“Hotel und Restaurant, ein Gebäude mit Sommerterrasse und einem
kleinen Türmchen. Man kann es am linken Rand unseres Photos
104
Fotos und Text: Michael Jordan
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
erkennen. Bis 1905 hatte sich ungefähr an diesem Ort die legendäre
„Flora“ befunden, das größte und eleganteste Ausflugs-Lokal und
Vergnügungs-Etablissement, das Charlottenburg um die Jahrhundertwende zu bieten hatte. Dazu gehörten ein reich mit
Jugendstil-Ornamenten verzierter Speisesaal, so groß wie die
Kuppel eines Domes, und ein Palmengarten, der sich bis ans
Spreeufer erstreckte. In der „Flora“ soll sogar einmal Buffalo Bill mit
seiner Rodeo-Show aufgetreten sein.
Historisch am Luisenplatz ist allenfalls noch das „Café Möhring“ an
der Südseite, das letzte seiner Art, alle anderen Möhrings in Berlin
sind längst von der Bildfläche verschwunden. Das Café verbreitet
heute den verblichenen Schick der fünfziger Jahre. Der prominenteste Gast dieses Etablissements war wohl Wolfgang Neuss, der bis
zu seinem Tod 1989 um die Ecke in der Lohmeyerstraße wohnte und
regelmäßig im „Möhring“ frühstückte, umhegt und umsorgt von den
mütterlichen Bedienungen, die dem am Ende seines Lebens furchtbar abgemagerten Künstler stets ein opulentes Mahl vorsetzten. Sie
freuten sich, wenn ihr „Wölfchen“ mit gutem Appetit reinhaute – da
machte es gar nichts, wenn er oft nicht zahlen konnte.
In Gedanken an Wolfgang Neuss spazieren wir weiter in Richtung
Schlosskuppel, dem wahren Wahrzeichen Charlottenburgs, werfen
noch einen kurzen Blick gen Norden zur Schloßbrücke mit ihren
eindrucksvollen metallenen Rundbögen, über die im Sommer
manchmal Betrunkene kraxeln. Und schon sehen wir die Kuppeln der
Stüler-Türme vor uns, die uns zur nächsten Station unseres Spaziergangs führen: zur Schloßstraße.
Aber vorher schauen wir uns noch einmal das Schloss mit seiner
prächtigen Kuppel an.
Fotos und Text: Michael Jordan
105
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
– und hier noch ein „malerischer“ Blick aus der Sichtachse Schloßstraße auf das
Schloss Charlottenburg, oder Schloss Lietzenburg, wie es früher einmal hieß:
- wie könnte es schöner wirken, als in dieser barocken Aufmachung!
106
Zeichnung: Tatiana Demidova
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
Die Bauten der Schloßstraße
Impressionen
Text: Simone Brosch
107
Die Sichtachse zum Schloss.
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
Die Schloßstraße, eine der ältesten Straßen des Bezirkes Charlottenburg, wurde im Jahr 1698 vom Schloss Charlottenburg aus als
senkrechte, barocke Sichtachse angelegt. Später im Jahre 1840
entstand der Mittelstreifen. Sie erstreckt sich vom Spandauer Damm
bis zum Sophie-Charlotte-Platz (Bismarckstraße/Kaiserdamm).
Aufgrund ihrer weitläufigen
Ausmaße und wegen ihrer
Bepflanzung wurde sie früher
auch Breite Straße bzw. Große
Allee genannt. In einem gemütlichen Spaziergang entlang der
Schloßstraße kann man ihre
Anmut und Vielseitigkeit erfahren. So bietet sie eine Architekturlandschaft von Villen im
spätklassizistischen Stil der
Gründerzeit über ganz normale Bauten und Neubauten bis hin zu
auffälligen Gebäuden der Postmoderne.
Östlicher und westlicher Stülerbau.
Kasernen der Gardes du Corps (ehemals)
Ganz am Anfang der Schloßstraße, vom Spandauer Damm aus betrachtet, befinden sich die heute als Baudenkmal geschützten ehemaligen Gebäude der Kasernen der Gardes du Corps. Sie wurden
von 1851 bis 1859 nach Entwürfen des Architekten August Stüler im
spätklassizistischen Stil als
Gegenüber
des
Schlosses
Charlottenburg erbaut. Als Eingangsboten der Schloßstraße
vermitteln sie einerseits einen
harmonischen Übergang zum
Schloss und tragen andererseits zur Akzentuierung der
Straße selbst bei. Die beiden
dreigeschossigen Gebäude mit
quadratischem Grundriss werden von kleinen Rundtempeln gekrönt, die Licht in die Innenräume
fallen lassen. Die Fassade ist reichhaltig gegliedert. Die Ebene
zwischen Erdgeschoss und erstem Obergeschoss verziert als
horizontal verlaufendes Gestaltungselement ein Gesims. An den vier
Schauseiten der Gebäude treten Mittelrisalite mit nach oben hin
abschließenden Dreiecksgiebeln hervor. Deren korinthische Pilaster
gliedern die Fassade als vertikal verlaufendes Gestaltungselement.
Der Übergang zum Dach wird von einer breiten Attika gebildet.
Auffällig sind die von hohen Säulen getragenen runden
108
Text: Simone Brosch
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
Dachaufsätze mit Kuppeldach, welche die Gebäude nach oben hin
abschließen. In dem östlichen Gebäude (Schloßstraße 70), in dem
ursprünglich das Ägyptische Museum residierte, ist heute das
Museum Scharf-Gerstenberg untergebracht. Die ehemalige westliche
Kaserne (Schloßstraße 1) beherbergte anfänglich das Antikenmuseum. Seit 1996 ist sie das Domizil der Sammlung Berggruen. Auf
die Museen wird im Folgenden näher eingegangen.
Der östliche Stülerbau.
Östlicher Stülerbau
In der ehemaligen Kaserne in der Schloßstraße 70 war bis zum Jahr
2005 das Ägyptische Museum untergebracht. Der Umbau dazu fand
1966/67 durch den Architekten Wils Ebert statt. 1976 kam der
angrenzende Marstall, der von Wilhelm Drewitz 1855 bis 1858 erbaut
wurde, als Ausstellungsraum hinzu. Im Jahr 1987 erweiterten die
Architekten Helge Sypereck,
Ursulina Schüler-Witte und
Ralph Schüler das Gebäude mit
einem Anbau. Derzeit beherbergt der östliche Stülerbau das
Museum Scharf-Gerstenberg.
Eigens dafür fügte das Architekturbüro Sunder-Plassmann
einen großzügig verglasten Eingangsbereich mit Café hinzu.
Der Besucher des Museums
kann sich hier an den Beständen der „Stiftung Sammlung Dieter
Scharf zur Erinnerung an Otto Gerstenberg“ erfreuen. Ab Frühjahr
2008 zeigt das Museum die Werke der Surrealisten und ihrer
Vorläufer. Zu verdanken ist dies der Sammelleidenschaft Otto
Gerstenbergs und dessen Enkel Walther, sowie Dieter Scharf. Das
Spektrum der Exponate erstreckt sich über Künstler wie Piranesi,
Goya, Redon, Dalí, Magritte bis hin zu Max Ernst und Dubuffet.
Text: Simone Brosch
109
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
Der westliche Stülerbau.
Westlicher Stülerbau
Die ehemalige westliche Kaserne in der Schloßstraße 1 beherbergte
ursprünglich das Antikenmuseum. Seit 1996 findet man darin die
Sammlung Berggruen mit herausragenden Werken der Klassischen
Moderne. Ursprünglich stellte Berggruen die Sammlung als zehnjährige Leihgabe zur Verfügung – im Jahr 2000 wurde sie der Stadt
Berlin vollständig übereignet. In
dem als Kleinod geltenden
Museum finden sich auf drei
Etagen in 18 Räumen verteilt
insgesamt etwa 175 Kunstwerke von Künstlern wie Pablo
Picasso, Paul Klee, Georges
Braque, Alberto Giacometti und
Henri Matisse. Kernstück des
Museums bildet mit über 100
Exponaten das Werk Picassos.
Dieses ist in allen Facetten seines Schaffens zu sehen. Angefangen
mit einem Blatt aus seiner Studienzeit von 1887 bis hin zu Exponaten, die 1972, ein Jahr vor seinem Tod, entstanden sind. Der zweite
zentrale Schwerpunkt der Sammlung liegt, mit über 60 Bildern aus
den Jahren 1917 bis 1940, auf Paul Klee. Das nachfolgend größte
Spektrum ist mit über 20 Werken von Henri Matisse vertreten. Abgerundet wird die Sammlung mit plastischen Ensembles von Alberto
Giacometti und mit Beispielen afrikanischer Skulpturen.
Das markante Eckhaus der Wohnanlage.
Baller-Wohnanlage
Der zeitgenössische Architekt Hinrich Baller hinterließ gleich bei
mehreren Gebäuden in der Schloßstraße seine unverkennbare,
phantasievolle Handschrift. Nicht nur bei der hier betrachteten
Wohnanlage in der Schloßstraße 45 bis 47, sondern darüber hinaus
auch noch bei der CarlSchuhmann-Sporthalle, auf die
an anderer Stelle eingegangen
wird. Einordnen lässt sich sein
in der Fachwelt teils umstrittener Stil am ehesten zwischen
Hundertwasser und Gaudí. An
Letzteren fühlen sich sicherlich
diejenigen, die schon einmal
durch Barcelona flanierten,
beim Betrachten seiner Gebäude erinnert. Die Wohnhäu-
110
Text: Simone Brosch
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
ser sind ungewöhnlich gestaltet: teils schief gebaute Wände, viele
Baller-typische filigrane Verzierungen und Verwendung von in der
Architektur eher atypischen Formen, wie beispielsweise das
dreieckig geformte Wohnhaus im Bild zeigt. Sie wirken verspielt,
freundlich und heben sich durch den auffälligen, ungewöhnlichen Stil
von den Nachbargebäuden ab.
Die Oppenheim-Oberschule.
Oppenheim-Oberschule
Die Oppenheim-Oberschule in der Schloßstraße 55 a mit Hauptseite
zum Schustehruspark besteht aus einer von 1919 bis 1922 durch
den Architekten Hans Winterstein erbauten zweiflügeligen Anlage, an
die sich südlich die Villa Oppenheim angliedert. Der untere Teil des
fünfgeschossigen Mauerwerkbaus ist mit roten Ziegeln gearbeitet,
während der obere Teil verputzt ist und teils mit dunklem Holz
verkleidet wurde. Auffällig sind die schön gearbeiteten Fenster der
Aula mit Kielbögen mit Blick zum Park. Von 1922 bis 1942
beherbergte der Neubau die Sophie-Charlotte-Oberschule und Teile
der Elisabeth-Schule. Während das Gebäude im Zeitraum von 1943
bis 1945 als Seuchenlazarett genutzt wurde, zogen nach 1945
wieder beide Schulen dort ein,
bis dann die Sophie-CharlotteOberschule im Jahr 1949
ausgelagert und auf dem
Grundstück die 15. Volksschule
eröffnet wurde. Die heutige
Schule, die 1953 den Namen
Schlesien-Oberschule erhielt,
ging aus der Anfang der 1950er
Jahre gegründeten Oberschule
„Praktischer Zweig“ hervor. Im
Zusammenhang mit der Restaurierung der Villa Oppenheim wurde die Elisabeth-Oberschule im
Zeitraum 1985 bis 1987 ausgelagert. In Gedenken an die
Oppenheims, die ursprüngliche Besitzer des Grundstücks, trägt die
Schule seit 2003 den Namen Oppenheim-Oberschule.
Carl-Schuhmann-Halle
Parallel zur Restaurierung der Villa Oppenheim wurde im Zeitraum
1987/88 nach Entwürfen der Architekten Inken und Hinrich Baller die
Carl-Schuhmann-Halle, eine Großturnhalle in der Schloßstraße 56,
erbaut. Diese wurde nach dem ersten deutschen Olympiasieger,
dem Turner Carl Schuhmann, benannt. Inmitten der Baufluchtlinie
Text: Simone Brosch
111
Die Carl-Schuhmann-Halle.
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
der benachbarten Wohnhäuser erhält die mehrgeschossige
Sporthalle ein besonderes, auffälliges Gepräge. Um Freiräume für
Parkplätze zu schaffen, wurde sie um ein zusätzliches Geschoss
aufgestockt, welches alternativ
auch für Schulfeiern genutzt
werden
kann.
Die
Doppelsporthalle
beherbergt
eine Großturnhalle von 44 m
Länge und 22 m Breite im
ersten Obergeschoss und eine
dreiteilig nutzbare Halle mit
olympischen Normmaßen von
45 m Länge und 27 m Breite im
zweiten Obergeschoss. Die
Umkleideräume, welche über zwei Treppenhäuser erschlossen sind,
befinden sich auf drei Etagen jeweils an den Seiten des Gebäudes.
Die straßenseitig als Erker der Fassade vorgelagerte weitere Treppe
dient als unabhängige Fluchttreppe. Abgeschlossen wird das
Gebäude durch ein Tonnendach mit Kupferabdeckung.
Villa Oppenheim und Schustehruspark
Die Rückseite der Villa.
Die Villa Oppenheim.
Die Villa Oppenheim mit ihren Remisengebäuden und der
großzügigen Gartenanlage wurde 1881/82 von Christian Heidecke
für
Margarethe
Oppenheim,
zweitälteste
Tochter
des
Obertribunalrates Otto Georg Oppenheim, erbaut. Sie wurde in
Anlehnung an den Stil venezianischer Renaissancevillen als eine
dreiflügelige Anlage aus Backstein mit langem Mittelflügel errichtet.
Die Geschosse sind durch durchgehende Gesimse untergliedert.
Parkseitig führen Treppen von den Eckrisaliten ins Freie. Das erste
Obergeschoss wurde mit Loggien mit eingestellten Säulen erbaut,
von denen heute nur noch der Südflügel erhalten ist. Auch die
Südseite ist durch einen Risalit akzentuiert, der vier Fensterachsen
umfasst. Bei dem Dach der Villa handelt es sich um ein
Mansardschwalmdach.
112
Text: Simone Brosch
Wegweiser durch die Architekturlandschaft Charlottenburg-Wilmersdorf
Im Jahr 1910 verkaufte der älteste Sohn der Oppenheims, der
Bankier Hugo Otto Oppenheim, das Grundstück an die Stadt
Charlottenburg. In dem seinerzeit schon dicht besiedelten Gebiet
sollte ein öffentlich zugänglicher Park entstehen. Beauftragt damit
wurde der Architekt Erwin Barth, es entstand der heute bekannte
Schustehruspark mit Zugang zur Schloßstraße.
Außerdem sollte der Kauf des Grundstücks noch eine andere
Funktion erfüllen: Die Stadt benötigte ein weiteres Schulgebäude.
Nach Entwürfen von Hans Winterstein wurde das heutige
Schulgebäude (siehe „Oppenheim-Oberschule“) geschaffen. Aufgrund der guten Bausubstanz der Villa wurde diese erhalten und mit
dem Komplex der Schule verbunden, während der Nordflügel sowie
die Nebengebäude abgerissen wurden. Der weitere geschichtliche
Abriss in Kurzform: 1945 schwere Kriegsschäden; 1985 bis 1986
Restaurierung. Seitdem wurde die Villa teilweise für Ausstellungen
genutzt. Im Jahr 2005 zog das Kulturbüro City West dort ein und
machte sie zum Ausstellungshaus für Gegenwartskunst mit
Schwerpunkt zeitgenössische Malerei und Fotografie, Objektkunst
und Rauminstallationen. Darüber hinaus wird derzeit ein
museumspädagogisches Angebot für Kinder und Jugendliche
aufgebaut.
So kommen wir schließlich zu unserer letzten Station, der
Witzlebenstraße, in der sich noch eine interessante Schule befindet.
Text: Simone Brosch
113
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Die Lietzensee-Grundschule
___________________________________________________
befindet sich in der Witzlebenstraße 34-35, welche mit der
Steifensandstraße (Süden), der Suarezstraße (Osten) und dem
Kaiserdamm und in dessen östlicher Verlängerung dem SophieCharlotte-Platz (Norden) ein längliches Viereck bildet. Der namengebende Lietzensee liegt südöstlich des Witzlebenplatzes, der die
Verlängerung der Steifensandstraße bildet.
Das Gebäude wurde 1903-1904 nach Plänen von Paul Bratring und
Rudolf Walter (1888-1971) errichtet. Bei seiner Eröffnung waren im
Schulhaus die 21. und 22. Grundschule untergebracht. Das im
Zweiten Weltkrieg ausgebrannte Dachgeschoss wurde nach 1945
vereinfacht wiederhergestellt.
Bei dem Gebäude handelt es sich um einen Mauerwerkbau, der mit
orangeroten Ziegeln verblendet ist. Die schmückenden und gliedernden Teile sind aus Muschelkalk und Sandstein. Die Fassade ist teilweise mit bildhauerischem Schmuck versehen.
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Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Hier noch zwei Ansichten bei Sonnenschein:
Fotos und Text: Herbert Bolz und Andreas Schwarz
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Wegweiser durch die Architekturlandschaft – Charlottenburg Wilmersdorf
Hier endet unsere Tour durch Charlottenburg-Wilmersdorf, die wir
nicht mit der Pferdekutsche zurückgelegt haben, sondern per Pedes.
Hoffentlich hat’s allen Spaß gemacht.
116
Zeichnung: Tatiana Demidova

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