Heft 2/2003

Transcrição

Heft 2/2003
N R .
2
•
J U L I
2 0 0 3
•
A
9 1 1 3 F
„Millionen Menschen
starben im Feuer
des Krieges ...
Aber es gibt
auch Hoffnung …
in Ländern wie
Sierra Leone, Angola
und am Horn von Afrika.“
Afrika
Scheideweg
— Hochkommissar R UUD L UBBERS
am
EDITORIAL
Der Irak-Effekt …
UNHCR/S.MANN/CS/UGA•2002
W
2
ährend die Welt gebannt auf den Irak
schaute, glitten die Flüchtlinge Afrikas
noch tiefer in Elend und Verzweiflung ab.
Als die Koalitionstruppen in den Irak einmarschierten, standen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen
und Journalisten in Jordanien, im Iran, in Syrien und
der Türkei bereit, um Massen irakischer Flüchtlinge
in Empfang zu nehmen, die jedoch niemals kamen.
Währenddessen flohen fast 100.000 Menschen vor
dem Bürgerkrieg in Côte d’Ivoire in den Osten von
Liberia, der selbst von einem Konflikt erschüttert
wird. An den Rändern der liberianischen Hauptstadt Monrovia gab
es jedoch keine der so genannten
„eingebetteten Reporter“, die über
einen Angriff der Rebellen auf ein
Lager für Vertriebene hätten berichten können, bei dem mehrere
hundert Zivilisten entführt oder
ermordet worden sein sollen.
Erinnern Sie sich noch an Guinea,
das westafrikanische Land, das in
die Schlagzeilen kam, als man die
Stimme des Landes für eine Resolution des Sicherheitsrates
brauchte? Dorthin kamen kürzlich mehr als 7.000 liberianische
Sudanesische Frauen fliehen Flüchtlinge, von denen viele
vor einem Rebellenangriff.
Schussverletzungen hatten. Die
Mitarbeiter der Hilfsorganisationen taten ihr Möglichstes, um sie in ein sichereres
Gebiet weiter weg von der Grenze zu bringen.
Im Süden des Tschad nächtigen über 30.000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik unter
Bäumen und warten darauf, was nach dem jüngsten
Sturz der Patassé-Regierung in ihrer Heimat geschehen wird (vom dortigen Regimewechsel hat man
auch nicht viel gehört).
Natürlich war es auch schon schwierig, Interesse für
die Flüchtlinge Afrikas zu mobilisieren, bevor die
Kämpfe im Irak begannen. Am Valentinstag warnten
UNHCR und das UN-Welternährungsprogramm
(WFP) davor, die Nahrungsmittellieferungen an
Flüchtlingslager in Afrika wegen fehlender Mittel
möglicherweise einstellen zu müssen.
Im Gegensatz dazu hatte WFP binnen einer Woche
nach einem Spendenappell in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar zur Nahrungsmittelversorgung der
irakischen Bevölkerung (die noch über Vorräte für
die nächsten beiden Monate verfügte) finanzielle
Zusagen über insgesamt 315 Millionen US-Dollar
erhalten – fast dreimal so viel wie insgesamt für Afrika.
Noch bevor die Nachrichten über ein weiteres
schreckliches Massaker an fast 300 Zivilisten im
Nordosten der Demokratischen Republik Kongo
durchgesickert waren, wies die Hilfsorganisation
Refugees International bei einer Anhörung im
US-Kongress darauf hin, dass im Kongo in nur einer
Woche mehr Menschen durch Gewalt, Unterernährung und Krankheit gestorben waren als im Irakkrieg insgesamt.
Leitartikel und Talkshows haben sich intensiv mit
verschiedenen Szenarien für den Wiederaufbau des
Irak beschäftigt. Der erste Jahrestag des Endes des
27-jährigen Bürgerkrieges in Angola wurde dagegen
von kaum jemandem wahrgenommen, ebenso wenig
wie die Aufrufe der Weltbank, die Reintegrationshilfe
zu erweitern, um nicht nur die ehemaligen UNITARebellen, sondern auch Tausende von entführten
angolanischen Frauen zu unterstützen, die man dazu
gezwungen hat, als „Ehefrauen“ der Rebellen zu leben.
Bei der Eröffnung einer UN-Konferenz in Ottawa
dachte Stephen Lewis, der Sondergesandte des
UN-Generalsekretärs für HIV/AIDS in Afrika, laut
darüber nach, wie es wohl wäre, wenn der Globale
Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und
Tuberkulose voll finanziert wäre, bevor er den
800 anwesenden Studenten mitteilte, der Fonds sei
beinahe zahlungsunfähig.
Auch wenn der Irak die Aufmerksamkeit der Welt
beherrscht, wir müssen an die Not Afrikas und die
Hoffnung eines afrikanischen Flüchtlings denken:
„Wenn nur eine Koalition käme, um uns zu retten.“
Dieser Kommentar von JUDITH KUMIN, UNHCR-Vertreterin
in Kanada, ist zuvor in der „Montreal Gazette“ erschienen.
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
N R .
Redaktion:
Ray Wilkinson
Deutsche Ausgabe:
Stefan Telöken
Angelika Emmelmann
Andreas Kirchhof
Redaktionelle Mitarbeit:
Millicent Mutuli, Astrid Van
Genderen Stort, Delphine Marie,
Peter Kessler, Panos Moumtzis
Redaktionsassistenz:
Virginia Zekrya
Photoredaktion:
Suzy Hopper, Anne Kellner
Layout:
Vincent Winter Associés
Produktion:
Françoise Jaccoud
Klischees:
Aloha Scan, Genf
Vertrieb
John O’Connor, Frédéric Tissot
Karte:
UNHCR-Kartenabteilung
Historische Dokumente:
UNHCR-Archiv
UNHCR/M. CAVINATO/DP/BDI•2003
2
12
Afrika steht erneut an
einem Scheidweg. Aus
Sierra Leone, Angola,
Burundi (Foto) und vom Horn
von Afrika kommen gute Nachrichten über die Rückkehr
mehrerer hunderttausend
Menschen. In Côte d’Ivoire,
Liberia und in anderen Gebieten herrscht jedoch weiter
Krieg, sodass die Situation auf
dem Kontinent insgesamt sehr
uneinheitlich ist.
Abzüge der mit einer UNHCRReferenznummer versehenen
Photographien sind von der UNHCRInformationsabteilung erhältlich.
4
12
UNHCR/P. KESSLER/DP/IRQ•2003
28
Nach dem offiziellen
Ende des Irak-Kriegs
richtet UNHCR seine
Aufmerksamkeit auf die
Unterstützung der schätzungsweise 500.000 irakischen
Langzeitflüchtlinge in aller
Welt, die jetzt vielleicht in
das Land zurückkehren.
17
Titelbild:
Afrika: eine ungewisse Zukunft.
UNHCR/R. WILKINSON/
CS/CIV · 2003
TITEL
KARTE
Flüchtlinge und Binnenvertriebene.
Militär
Junge Flüchtlinge werden in Lagern
rekrutiert.
Burundi
Ein Machtwechsel in einem unruhigen Land.
Kongo
Das Erbe des schrecklichsten bekannten
Krieges in der Geschichte Afrikas.
Grenze
Ein typischer Tag an einem afrikanischen
Grenzposten.
ISSN 0252-791 X
UNHCR SCHWEIZ:
UBS SA
240-D7100000.0
AFRIKANISCHE EINDRÜCKE
Afrika auf einen Blick
Eine kurze Übersicht über die Lage
des Kontinents.
Angola
Ein Neuanfang.
Bestellungen der deutschen Ausgabe bei:
UNHCR, Wallstr. 9-13, 10179 Berlin
Tel.: 030/202202-26, Fax: 030/202202-23
E-Mail: [email protected]
UNHCR ÖSTERREICH:
Bank Austria Creditanstalt,
BLZ 120 00
Konto Nr. 09583600300
EDITORIAL
In einer Zeit kurzer Kriege und begrenzter
Opferzahlen scheinen die Ereignisse in Afrika
beinahe unbegreiflich.
Von Ray Wilkinson
Gesamtauflage: 224.000
Druck: (dt. Ausgabe)
DMB, Bonn
Spendenkonten:
2 0 0 3
Bilddokumentation vom afrikanischen
Kontinent.
Artikel und Photographien, die nicht
mit dem Vermerk Copyright versehen
sind, können ohne vorherige Anfrage
unter Erwähnung UNHCRs abgedruckt werden.
Deutsche Stiftung
für UNO-Flüchtlingshilfe e.V.
Sparkasse Bonn, BLZ 380 500 00,
Kto.-Nr. 2000 2002
-
Afrika gleitet tiefer in das Elend ab, während
sich die Welt auf den Irak konzentriert.
„FLÜCHTLINGE“ wird in deutscher,
englischer, französischer, spanischer,
italienischer, arabischer, chinesischer
und russischer Sprache von der Informationsabteilung des Amtes des Hohen
Flüchtlingskommissars der Vereinten
Nationen herausgegeben.
Die von beitragenden Autoren ausgedrückte Meinung entspricht nicht
unbedingt der Meinung UNHCRs. Die
in dieser Veröffentlichung verwendeten
Bezeichnungen und Darstellungen
drücken in keiner Weise die Meinung
UNHCRs über den rechtlichen Status
eines Gebietes oder seiner Behörde aus.
2
UNHCR/E. PARSONS/DP/SOM•2003
28
30
Manche bezeichnen
sie als die neue
Mutter Teresa. Die
Italienerin Annalena Tonelli
wurde für ihre jahrzehntelange Arbeit für Not leidende
Menschen in Somalia mit dem
Nansen-Flüchtlingspreis
ausgezeichnet.
IRAK
Wie wird es nach dem Krieg im Irak
weitergehen?
30
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
MENSCHEN
Afrikas Mutter Teresa.
3
Bilder
aus Afrika
HOFFNUNG:
©S. SALGADO•AGO
Nach einem jahrzehntelangen Krieg sieht Angola
einer besseren Zukunft entgegen.
© S. SALGADO•ZRE
Bilder
aus Afrika
KRIEG:
Der Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo wurde als der Schlimmste in der Geschichtsschreibung
Afrikas bezeichnet. Schätzungsweise drei Millionen Menschen verloren ihr Leben.
Bilder
aus Afrika
UNHCR/J. AUSTIN/CS/SLE•2000
RÜCKKEHR:
Nach dem Ende eines zehn Jahre langen Krieges sind etwa 240.000 Sierraleoner
zurückgekehrt, um am Wiederaufbau des Landes mitzuwirken.
Bilder
aus Afrika
ON THE MEND
UNHCR/S. BONESS/CS/ERI•2001
DIE ZUKUNFT:
Selbst wenn Flüchtlinge zurückkehren, kann die Zukunft sehr schwierig sein –
wie hier in Eritrea.
UNHCR/M.KAMBER/DP/CIV•2003
AFRIKA am ABG
Die Zahl der Opfer war erschreckend groß.
Wann hellt sich das Licht am Ende des Tunnels ein wenig auf ?
von Ray Wilkinson
Nach dem Ausbruch von Kämpfen
im Nachbarland
Côte d’Ivoire fliehen
liberianische
Flüchtlinge zurück
in ihr Heimatland.
12
I
n einer Zeit kurzer Kriege, „kontrollierter“ Opferzahlen und bereinigter Kriegsbilder wie denen aus
dem Irak, scheint der Zustand Afrikas fast unbegreiflich.
Tief im Inneren des Kongobeckens starben etwa drei
Millionen Menschen – wenn nicht viele mehr – in einem
nicht enden wollenden Krieg, den manche als den
schrecklichsten bekannten Konflikt in der Geschichte
Afrikas beschreiben. Und noch während amerikanische
Marineinfanteristen im Scheinwerferlicht Tausender von
Fernsehkameras die letzten Widerstandsnester in Bagdad
aushoben, wurden in einer abgelegenen Gegend der
Demokratischen Republik Kongo beinahe unbemerkt
von der Weltöffentlichkeit mehrere hundert Menschen
abgeschlachtet.
Im Lauf dieses Konflikts, der 1998 begann und in
den in manchen Phasen das Militär aus den sechs angrenzenden Ländern sowie zahllose Milizen und einheimische Banden verwickelt waren, wurden 2,5 Millionen
Menschen entwurzelt und gezwungen, Zuflucht im
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
Bürgerkrieg forderte zwei Millionen Menschenleben.
Vier Millionen Binnenvertriebene ziehen durch die nördlichen Wüsten und die südlichen Grassavannen des größten Landes Afrikas. Eine halbe Million Flüchtlinge suchen Zuflucht in den Nachbarländern.
Die gerade genannten Beispiele sind nur die größten
und längsten Konflikte in einer ganzen Serie von
Erschütterungen, von denen große Teile Afrikas erfasst
und schließlich weitgehend verwüstet wurden: Burundi,
Eritrea, Äthiopien, Westsahara, Liberia, Republik Kongo
und zuletzt Côte d’Ivoire und die Zentralafrikanische
Republik.
Und dann gab es noch Ruanda: Bis zu einer Million
Menschen wurden Mitte der neunziger Jahre in diesem
jüngsten Völkermord der Weltgeschichte abgeschlachtet.
Auch damals gab es Bilder von endlosen Kolonnen von
Flüchtlingen, die inmitten von Staubwolken die Region
durchwanderten, gnadenlos vorangetrieben im neuesten
Chaos.
EINE NARBE
RUND
tropischen Regenwald und in den benachbarten Staaten
zu suchen.
Angola erlitt ein ähnliches Schicksal. In einem
Bürgerkrieg, der sich über fast drei Jahrzehnte hinzog,
wurden schätzungsweise eine Million Menschen getötet.
Zwischen drei und fünf Millionen Menschen mussten die
Dörfer und Städte ihrer Vorfahren verlassen. Sie zogen
durch eine zerstörte Landschaft von einem Zufluchtsort
zum nächsten und ernährten sich oft von Beeren und
Wurzeln, um irgendwie zu überleben. Sie waren ständig
in Gefahr, getötet oder verstümmelt zu werden, nicht nur
durch Soldaten und Milizen, sondern auch durch die Millionen von Minen, die eines der reichsten Länder des
Kontinents in eine riesige tödliche Falle verwandelt hatten.
Im Norden des afrikanischen Kontinents wurde der
Sudan durch innere Konflikte destabilisiert, seitdem das
Land im Jahr 1956 seine Unabhängigkeit erlangte. Der
Die Weltöffentlichkeit kennt diese Bilder. Man kennt
sie so gut, dass der britische Premierminister Tony Blair
in einer viel beachteten Rede hervorhob, so könne es mit
der Anarchie nicht weitergehen: „Der Zustand Afrikas
ist eine Narbe auf dem Gewissen der Welt. Aber wenn die
Welt sich als Gemeinschaft damit befassen würde, könnten wir sie glätten.“
Wie steht es heute um Afrika, zwei Jahre nach Blairs
Appell?
Hilfsorganisationen und verschiedene Staaten stellen
dem Kontinent in großem Umfang Hilfe zur Verfügung.
Das diesjährige veranschlagte UNHCR-Jahresbudget
für Afrika z. B. beläuft sich auf fast 400 Millionen
US-Dollar.
Es gibt auch andere gute Neuigkeiten. Im Jahre 1995
unterstützte UNHCR sieben Millionen Flüchtlinge.
Heute ist ihre Zahl nicht einmal mehr halb so groß
(obwohl die Organisation inzwischen auch andere
Gruppen Not leidender Menschen unterstützt, so die
Opfer von Krieg und Verfolgung, die in ihrem eigenen
Land geblieben sind. Die Gesamtzahl der entwurzelten
Menschen auf dem afrikanischen Kontinent beläuft sich
immer noch auf erschütternde 15 Millionen).
Der westafrikanische Staat Sierra Leone durchlebte in
den neunziger Jahren ein ganzes Jahrzehnt des Bürgerkriegs. Verstümmelungen durch das Abhacken von
Armen und Beinen wurden zum schrecklichen Symbol
für die Brutalität dieses Konflikts. Heute hat das Land
einen fragilen Zustand des Friedens erlangt.
Nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens
im letzten Jahr kehrten eine bis eineinhalb Millionen binnenvertriebene Angolaner und weitere 100.000 Flüchtlinge eines der längsten Kriege der Welt auf eigene Initiative in die Heimat zurück. Wenn die Waffen weiter
schweigen, dürften ihrem Beispiel in diesem Jahr mehrere hunderttausend weitere Rückkehrer folgen.
Im Rahmen der gewaltigen Völkerwanderung, die
sich in alle Himmelsrichtungen auf dem gesamten
Kontinent vollzieht, kehrten in den letzten Jahren un- Ã
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
1995
UNTERSTÜTZTE
UNHCR SIEBEN
MILLIONEN
FLÜCHTLINGE.
HEUTE IST IHRE
ZAHL NICHT
EINMAL MEHR
HALB SO GROSS.
13
AFRIKA AM ABGRUND
Flüchtlinge
(in Millionen)
18,0
16,0
14,0
12,0
10,0
8,0
6,0
4,0
2,0
-
14
Afrika
Global
1951-1955 ‘56-‘60
‘61-‘65
‘66-‘70
ten der Geberländer sowie in den Aufnahmeländern für
Flüchtlinge macht sich Verdruss über die immer neuen
Flüchtlingsströme breit. Die Hilfe, die geleistet wird,
reicht einfach nicht aus, und seine strategische Bedeutung scheint der Kontinent völlig verloren zu haben.
Noch vor wenigen Jahren standen Länder wie Zaire
und Angola wegen ihrer Öl- und Mineralienvorkommen
hoch im Kurs. Inzwischen sind die kubanischen und die
weißen südafrikanischen Soldaten – einst als Stellvertreter der Supermächte ins Land gekommen – längst aus
Angola abgezogen. Die Einmischung von außen wurde
zum Katalysator für viele Probleme des Kontinents. Als
die Fremden gingen, überließ man Afrika sich selbst,
ohne die Hilfe zu leisten, die notwendig gewesen wäre,
um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Volkswirtschaften, die sich
selbst tragen könnten, werden
durch Regelungen zum Zusammenbruch gebracht, die in
weit entfernten Hauptstädten
aufgestellt werden. Die Bauern
Afrikas könnten ihren Beitrag
zur Ernährung der WeltbevölAM SCHEIDEWEG
kerung leisten, doch unterlauDoch zweifellos steht das
fen Agrarsubventionen für ErSchicksal Afrikas auf Messers
zeuger in den Industrieländern
Schneide.
eine der wenigen realen MögDer UN-Flüchtlingskomlichkeiten des Kontinents, aus
missar Ruud Lubbers sagte:
dem Teufelskreis von ökono„Afrika steht erneut an einem
mischer Verelendung und ArScheideweg.“ Während „im
mut auszubrechen, der immer
wahrsten Sinne des Wortes
wieder aufs Neue Kriege und
im Feuer des Krieges MillioFlüchtlingsströme anfacht.
nen von Zivilisten starben,
Reiche Geber und intergibt es in manchen Ländern
nationale Institutionen haben
wie Sierra Leone oder Angola Algerier: Die ersten Flüchtlinge in Afrika.
Millionen US-Dollar für kurzund am Horn von Afrika
fristige humanitäre Hilfe ausHoffnung“.
gegeben, besonders, als TauDavid Lambo, Leiter der Afrika-Abteilung von sende von Menschen vor den Fernsehkameras starben,
UNHCR, ist der Überzeugung, dass die Organisation bei wie es in Ruanda der Fall war. Sie zeigen jedoch wenig
den rein humanitären Problemen „etwas weiter ist als vor Bereitschaft, die langfristige Entwicklung auf dem
sechs Monaten. Das Licht am Ende des Tunnels wird ein Kontinent zu fördern.
wenig heller. Es ist aber ebenso wahr, dass der Kontinent
Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Sozialerneut an einem Scheideweg steht“.
dienste brechen zusammen. HIV/AIDS hat in vielen afriWarum scheint Afrika so verzweifelt und so ver- kanischen Ländern epidemische Ausmaße erreicht. Algessen, wo doch eine immer kleinere Welt Ländern wie lein im Jahr 2001 sind über zwei Millionen Menschen an
Afghanistan und unlängst dem Irak – zumindest kurz- dieser Krankheit gestorben. Weitere acht Millionen sind
fristig – so viel Aufmerksamkeit und Hilfe spendet? an leicht behandelbaren Erkrankungen wie Malaria, MaDer Kontinent bringt nach wie vor seine eigenen sern und Durchfall gestorben. Bei dieser SterblichkeitsDespoten und fehlgelei- rate wäre die Bevölkerung eines europäischen Staates
teten politischen Kon- mittlerer Größe wie Großbritannien oder Frankreich in
zepte hervor. Die Ur- weniger als einem Jahrzehnt vollkommen ausgelöscht.
sachen des Übels liegen
Afrika ist jedoch kein „ferner“ Kontinent mehr. Zehnjedoch wesentlich tiefer. tausende Afrikaner machen sich jedes Jahr auf den Weg
Afrika gilt immer noch zu den mehrere tausend Kilometer entfernten nördals „ferner“ Kontinent, lichen Ufern des Kontinents, wo sie sich auf unsicheren
humanitäre Krisen spie- Booten einschiffen, um illegal nach Europa zu gelangen.
len sich „da unten“ ab, David Lambo warnt: „Unter vielen Afrikanern herrscht
‘71-‘75 ‘76-‘80 ‘81-‘85 ‘86-‘90 ‘91-‘95 ‘96-‘00
2003
und in den Hauptstäd- ein Gefühl der totalen Verzweiflung, und diese Menschen Ã
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
UNHCR/S. WRIGHT/524
TIEF IM
INNEREN DES
KONGOBECKENS
STARBEN
ETWA DREI
MILLIONEN
MENSCHEN IN
EINEM NICHT
ENDEN
WOLLENDEN
KRIEG, DEN
MANCHE
ALS DEN
SCHRECKLICHSTEN
BEKANNTEN
KONFLIKT
IN DER
GESCHICHTE
AFRIKAS
BESCHREIBEN.
gefähr 440.000 Langzeitflüchtlinge an ihre früheren
Wohnorte am Horn von Afrika zurück.
Für fast zwei Millionen Flüchtlinge aus Burundi, dem
Sudan, Somalia und der Kongo-Region hängen all ihre
Hoffnungen auf baldige Rückkehr in die Heimat von den
verschiedenen Friedensverhandlungen ab, die derzeit
geführt werden.
Länder wie die Vereinigten Staaten, die traditionell
besonders schutzbedürftige Flüchtlinge zur dauerhaften
Ansiedlung aufnehmen, widmen Afrika verstärkt ihre
Aufmerksamkeit (obwohl sich das gesamte amerikanische
Weiterwanderungsprogramm noch von den negativen
Auswirkungen des 11. September 2001 erholen muss).
Ein Projekt mit dem Namen „Neue Partnerschaft für
die Entwicklung Afrikas“ (New Partnership for Africa’s
Development – NEPAD), das
die nachhaltige Entwicklung
fördern und so Frieden und
Stabilität auf dem Kontinent
unterstützen soll, ist weltweit
mit großem Beifall aufgenommen worden.
UNHCR/E. PARSONS/BW/TCD•2003
Afrika auf einen Blick
B Es gibt auf dem afrikanischen
Kontinent schätzungsweise
15 Millionen Flüchtlinge, Binnenvertriebene und andere entwurzelte Menschen. Mit einem
veranschlagten Budget von
knapp 400 Millionen US-Dollar
für das Jahr 2003 will UNHCR
fast 4,6 Millionen Menschen
unterstützen.
B Die Unterstützung Afrikas
durch UNHCR hatte 1994 ihren
Höhepunkt erreicht, als die
Organisation sieben Millionen
Flüchtlingen half, von denen
viele vor dem Völkermord in
Ruanda geflohen waren.
B Im Jahr 2002 flohen mehr als
eine Million Menschen aus ihren
Wohnorten, während schätzungsweise 600.000 Flüchtlinge und
Binnenvertriebene mit Unterstützung von UNHCR zurückkehrten. Allein in Angola kehrten
allerdings zusätzlich eine bis eineinhalb Millionen Binnenvertriebene aus eigener Initiative an ihre
früheren Wohnorte zurück.
B Die größten Flüchtlingsgruppen Afrikas kamen aus den
folgenden Ländern: Burundi
570.000, Sudan 490.000, Angola
421.000, Demokratische Republik
Kongo 395.000 und Somalia
357.000.
B Zu den afrikanischen Ländern
mit den meisten Flüchtlingen
zählen: Tansania 690.000,
Demokratische Republik Kongo
330.000, Sudan 328.000, Sambia
247.000, Kenia 234.000 und
Uganda 217.000.
B Seit dem Ende der Kolonialzeit
war Afrika Schauplatz einiger der
längsten und schlimmsten
Konflikte weltweit. Der Sudan
wurde durch einen Bürgerkrieg
zwischen dem überwiegend muslimischen Norden und dem animistischen und christlichen
Süden zugrunde gerichtet, der
praktisch seit der Unabhängigkeit
des Landes im Jahr 1956 andauert.
Schätzungsweise zwei Millionen
Menschen wurden getötet,
vier Millionen wurden innerhalb
der Landesgrenzen vertrieben,
und eine halbe Million floh in die
Nachbarländer.
Provisorische Unterkunft im Tschad.
B Angola litt unter einem
vergleichbaren Krieg, der in den
sechziger Jahren begann. Mindestens eine Million Menschen
wurden getötet, vier Millionen
wurden innerhalb der Landesgrenzen vertrieben, und weitere
500.000 wurden zu Flüchtlingen.
B Der Konflikt in der Demokratischen Republik Kongo, der 1998
seinen Anfang nahm, ist als
„Afrikas erster Weltkrieg“
bezeichnet worden. In diesen
Krieg waren ein halbes Dutzend
Armeen verwickelt. Zwischen
drei und fünf Millionen
Menschen sollen gestorben sein,
entweder direkt im Krieg oder
durch Krankheit und Unterernährung. Zwei Millionen Menschen
sind im Land selbst auf der Flucht
und 300.000 Menschen wurden
Flüchtlinge im Ausland.
B Nach dem erneuten Ausbruch
des Bürgerkriegs in Liberia im
Jahr 1989 wurde ganz Westafrika
destabilisiert. Beinahe 70 Prozent
der Bevölkerung dieses Landes,
schätzungsweise 2,4 Millionen
Menschen, wurden vertrieben
und 150.000 getötet. Der
benachbarte Staat Côte d’Ivoire,
der früher zu den Stabilsten auf
dem afrikanischen Kontinent
gehörte, stürzte gegen Ende des
Jahres 2002 ebenfalls in einen
Bürgerkrieg, durch den bis zu
800.000 Menschen vertrieben
wurden und weitere 400.000 zur
Flucht aus dem Land gezwungen
waren.
B Burundi ist eines der ärmsten
und kleinsten Länder der Welt.
Dennoch wurden dort in einem
Konflikt, der sich über ein Jahrzehnt hinzog, über 200.000 Menschen getötet und beinahe
1 Million Menschen entwurzelt –
fast 14 Prozent der Gesamtbevölkerung.
B In politischer Hinsicht gab es
auch ermutigende Entwicklungen.
Nach der Unterzeichnung eines
Friedensabkommens zu Beginn des
Jahres 2002 begann die Rückkehr
nach Angola, und deren Tempo
dürfte sich in den kommenden
Monaten noch beschleunigen. Vorläufige Friedensabkommen wurden
in Burundi und im Kongo unterzeichnet. Nach einem zehnjährigen
Bürgerkrieg in Sierra Leone hat
auch dieses Land sich weiter
stabilisiert.
B Kriege und Vertreibungen sind
durch ökonomische und soziale
Umwälzungen angeheizt worden.
Die Zahl der Menschen, die in
Afrika südlich der Sahara in absoluter Armut lebt, wird in den
nächsten Jahren wahrscheinlich
von 315 auf 404 Millionen
steigen und den Kontinent zur
ärmsten Region der Welt machen.
B Die Hälfte der Bevölkerung bestreitet ihren täglichen Lebensunterhalt mit weniger als einem
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
Dollar. Über 50 Prozent haben
keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und über zwei Millionen
Kleinkinder sterben jährlich, noch
bevor sie ihren ersten Geburtstag
erreichen.
B Die Verbreitung von HIV/AIDS
hat in vielen Ländern epidemische Ausmaße angenommen.
Allein im Jahr 2001 starben mehr
als zwei Millionen Menschen an
dieser Krankheit. Acht Millionen
weitere Menschen starben an Malaria, Masern, Tuberkulose und
Durchfallerkrankungen.
B Nach Angaben des Welternährungsprogramms droht
schätzungsweise 40 Millionen
Afrikanern in Äthiopien, Eritrea,
der Sahel-Zone und Westafrika
der Hungertod.
B Flüchtlinge sind Menschen, die
auf der Suche nach Sicherheit vor
Krieg und Repressionen aus ihrem
Land geflohen sind. Binnenvertriebene sind aus denselben Gründen geflohen, aber innerhalb der Grenzen
ihres eigenen Landes geblieben.
UNHCR unterstützt alle Flüchtlinge weltweit. Die Organisation
begann in den neunziger Jahren
damit, einem Teil der Binnenvertriebenen zu helfen. Aus diesem Grund
sind Tabellen und Schaubilder zu
Artikeln in dieser Ausgabe für
manche Zeiträume gelegentlich
nur für eine der beiden Gruppen
verfügbar.
15
UNHCR beginnt
seine Tätigkeit in
Afrika im Jahr 1957.
„DAS LICHT
WIRD AM ENDE
DES TUNNELS
EIN WENIG
HELLER. ES IST
ABER EBENSO
WAHR, DASS
DER
KONTINENT
ERNEUT AN
EINEM
SCHEIDEWEG
STEHT.“
16
werden
sich den Weg
nach Europa und in andere wohlhabende Regionen der
Welt notfalls mit Gewalt bahnen“.
Afrika könnte sich auch als die entscheidende
Schwachstelle im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus erweisen. Flüchtlingslager und das Chaos
in Ländern wie Somalia bieten nicht nur existierenden
terroristischen Netzwerken wie El Kaida Schutz, sondern bringen auch neue Anhänger hervor. Ostafrika ist
bereits Schauplatz tödlicher Angriffe auf die Botschaften
der USA in Kenia und Tansania geworden, und auch
israelische Touristen wurden in Kenia zur Zielscheibe.
UNGLEICHBEHANDLUNG
Und dann gibt es noch den Verdacht der Ungleichbehandlung: Entwurzelte Afrikaner erhalten schlichtweg
nicht gleich viel Hilfe wie Flüchtlinge in anderen Teilen
der Welt – ein Problem, das durch die Irak-Krise in den
Blick geraten ist.
Als der Krieg im Irak näher rückte, appellierte der
afghanische Präsident Hamid Karsai an Washington:
„Vergesst uns nicht, wenn es zum Krieg im Irak kommt.“
Sein Land hatte die Invasion durch die Sowjetunion
und den anschließenden Kampf der Supermächte ebenso erlebt wie Jahre der völligen Vernachlässigung von
Seiten einer desinteressierten internationalen Gemeinschaft, eine weitere Invasion von außen und schließlich
erneute Beteuerungen, dass die Vergangenheit sich nicht
wiederholen und der Westen Kabul dieses Mal nicht im
Stich lassen würde.
Angesichts der allseits bekannten Regeln der Realpolitik war Karsai nicht davon überzeugt, dass es wirklich
so kommen würde.
Auch für die Kritiker des heutigen Systems der
humanitären Hilfe hat sich der Irak-Krieg als Lackmustest
dargestellt. Für sie hat er endgültig die Ungleichbehandlung bewiesen, nämlich, dass man im Nahen Osten massiv militärische, wirtschaftliche und finanzielle Ressourcen für Ziele einzusetzen bereit ist, die man ebenso in
Afrika verfolgen könnte: Freiheit und Demokratie zu unterstützen, humanitäre Hilfe für eine verzweifelte Bevölkerung zu leisten und den Terrorismus zu bekämpfen.
Das UN-System hatte dazu aufgerufen, für die humanitäre Hilfe im Irak Mittel im Umfang von 2,2 Milliarden
US-Dollar bereitzustellen, der höchste je angeforderte
Betrag. Diese Summe wäre zweifellos erreicht worden,
hätte der Konflikt sich in die Länge gezogen.
Im gleichen Zeitraum berichteten alle, die versuchten, Mittel für Afrika zu beschaffen, dass die traditionellen Geber zu Anfang des Jahres untätig verharrten und
keine anderen Verpflichtungen eingehen wollten, bis
man wusste, wie sich der Krieg im Irak entwickeln
würde. Eine europäische Delegation bemerkte spitz:
„Angola ist reich genug, um in diesem Jahr seine
Rückführungsaktion selbst zu finanzieren.“ Ein
Mitarbeiter einer humanitären Organisation stellte daraufhin laut und deutlich die Frage, ob diese
Regeln auch für irakische Flüchtlinge gelten würden.
Afrikanische Kommentatoren wiesen auf die riesigen,
aber menschenleeren Zeltstädte an den Rändern der
irakischen Wüste hin, die auf Flüchtlinge warteten, die
niemals kamen, und verglichen den dafür betriebenen
Aufwand mit dem geringen Grad des Interesses und der
Berichterstattung der internationalen Medien, als Zehntausende von Menschen aus dem westafrikanischen Staat
Côte d’Ivoire flohen.
Der UN-Flüchtlingskommissar Lubbers betonte: „Ich
bin besorgt, dass das Interesse am Irak das Interesse an
Afrika verringert hat. Wenn man Geld für Afrika
braucht, werden die Mittel immer nur weniger, nie
mehr.“
Prognosen lassen vermuten, dass das Afrika-Budget
von UNHCR in diesem Jahr um mindestens 15 Prozent
unterschritten wird, ein Betrag, der Lubbers zufolge
„geringer ist als die Kosten für eine Stunde Krieg im
Irak“. Er wird dennoch schmerzhafte Kürzungen bei
Programmen für Bildung, Selbstversorgung und andere
grundlegende Probleme erzwingen.
Nach Schätzungen des Welternährungsprogramms
(World Food Program – WFP) droht 40 Millionen Afrikanern der Hungertod. James Morris, Exekutivdirektor
des WFP, teilte vor kurzem dem UN-Weltsicherheitsrat
mit: „Auch wenn es mir nicht gefällt, kann ich mich des
Gedankens nicht erwehren, dass es wirklich Ungleichbehandlung gibt. Wie kommt es, dass wir in Afrika einen
Grad des Leidens und der Hoffnungslosigkeit einfach als
alltäglich hinnehmen, den wir in keinem anderen Teil
der Erde akzeptieren würden. Wir können es dabei nicht
belassen.“
Angesichts der Tatsache, das jede Familie zu Beginn
des Irak-Krieges über einen Nahrungsmittelvorrat für
einen Monat verfügte, sagte Morris, dass es für Hunger
leidende Afrikaner, „von denen die meisten Frauen und Ã
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
Afrikas entwurzelte Menschen
Marokko
Algerien
Tunesien
Libyen
Ägypten
WestSahara
Mauretanien
Niger
Eritrea
Tschad
Sudan
Guinea
Nigeria
Sierra
Leone
Äthiopien
Zentralafrikanische
Republik
Côte
d’Ivoire
Liberia
Uganda
Republik
Kongo
Somalia
Kenia
Ruanda
Demokratische
Republik
Kongo
Burundi
Tansania
Malawi
Angola
Sambia
Mosambik
500.000
Simbabwe
2.500.000
5.000.000
Namibia
Flüchtlinge
Binnenvertriebene
Rückkehrer
Hauptaufnahmeländer von
Flüchtlingen
Südafrika
Tansania
Demokratische Rep. Kongo
Sudan
Sambia
Kenia
690.000
330.000
328.000
247.000
234.000
Uganda
Guinea
Algerien
Äthiopien
Republik Kongo
217.000
182.000
169.000
133.000
109.000
Flüchtlinge werden zu Kämpfern
ie kamen bei Sonnenaufgang mit Geld
und Versprechungen auf Abenteuer,
Macht und Frauen. In nur drei Stunden
hatten sie im Flüchtlingslager Nicla im
Westen von Côte d’Ivoire 150 junge liberianische Männer als staatliche Söldner für die so
genannte „Lima“-Truppe rekrutiert.
Jeder bekam 10.000 lokale CFA-Francs
(17 US-Dollar), sie bestiegen einen der beiden
Lastwagen und verließen das Lager unter der
Führung eines Kämpfers mit einem roten Piratentuch, der ein auf einem Jeep montiertes Maschinengewehr hin und her schwenkte. Den
anderen Flüchtlingen, die die Szene verfolgten,
sagten sie: „Wir wollen Geld. Hier sind wir
nichts und haben nichts.“
Nach der Ausbildung sollten die neuen
Söldner auf der Seite der Regierung gegen
andere Liberianer in den verschiedenen Rebellentruppen kämpfen, die in der besonders
gefährdeten Grenzregion zwischen den beiden
westafrikanischen Staaten operierten.
Nicla war früher ein verschlafenes kleines
Nest auf dem Land wie viele andere ivorische
Orte auch. Es bot nur einem kleinen Teil der
mehreren hunderttausend Flüchtlinge Zuflucht,
die nach über einem Jahrzehnt immer neuer
Unruhen aus dem benachbarten Liberia 35 Kilometer weiter westlich geflohen waren.
Die große Mehrheit der Liberianer integrierte sich schnell in die ivorischen Dörfer, statt in
Flüchtlingslager zu gehen. Als Côte d’Ivoire im
September 2002 jedoch selbst vom Bürgerkrieg
erfasst wurde, mussten viele der entwurzelten
Zivilisten aufs Neue fliehen. 6.000 bis 8.000
drängten in das Lager Nicla, in die Sicherheit
einer Einrichtung mit internationaler Unterstützung, statt sich der Gefahr zunehmender
Fremdenfeindlichkeit im Land auszusetzen.
Angesichts der Nähe zu einer extrem instabilen Grenze, eines nahen Konflikts und einer
Ansammlung einsatzfähiger weiblicher und
männlicher Flüchtlinge war es jedoch nicht
überraschend, dass das Lager stattdessen zu
einem Tummelplatz für Rekrutierer wurde.
UNHCR/R.WILKINSON/CS/CIV•2003
Macht und Abenteuer statt Armut,
Langeweile und Isolation – eine schwierige Entscheidungsschlacht
um Herz und Geist der jungen Generation
S
Lager Nicla – Mahnung an Rekruten.
Seit vielen Jahren kommt es immer wieder
zum Widerstreit zwischen humanitären Idealen
und militärischen Interessen – Nicla ist nur
eines der jüngsten und offensichtlichsten
Beispiele.
Schätzungsweise 300.000 Kindersoldaten,
davon allein 3.000 in Côte d’Ivoire, dienen
heute in Armeen und Milizen auf der ganzen
Welt. Ein Teil von ihnen kommt direkt aus
Flüchtlingslagern. Eine unbekannte Zahl älterer,
aber immer noch besonders schutzbedürftiger
junger Menschen ist hier ebenfalls rekrutiert
worden. Vor allem Mädchen sind gefährdet, die
als Trägerinnen und/oder Sexsklavinnen missbraucht werden.
Die nationalen Regierungen, nicht die
humanitären Organisationen sind für die Sicherheit von Flüchtlingslagern verantwortlich. Wenn
sie wirkliche Sicherheit jedoch nicht schaffen
können oder wollen, stehen Organisationen
wie UNHCR oder die Caritas, die ebenfalls
in Nicla vor Ort ist, vor schwierigen Entscheidungen.
Als Mitte der neunziger Jahre über eine
Million Ruander vor dem Völkermord in ihrem
Land flohen, benutzten die gefürchteten
Interahamwe-Milizen die Flüchtlingslager im
damaligen Ostzaire nicht nur zur Rekrutierung,
sondern auch als Ausgangspunkt für ihre
Gegenangriffe auf Ruanda. Angesichts des
zerfallenden staatlichen Sicherheitsapparats
rief UNHCR die UN-Mitgliedstaaten ohne
Erfolg zu militärischer Unterstützung auf und
bezahlte schließlich für eine eigene Sicherheitstruppe – mit mäßigem Erfolg.
Letztlich musste die umstrittene Entscheidung getroffen werden, ob man weiter
Hunderttausende echter Flüchtlinge versorgen sollte, obwohl man wusste, dass die
Kämpfer aus dieser Hilfe und der internationalen humanitären Präsenz ihren Vorteil
zogen.
Seit Monaten hat UNHCR an „Lösungen“
für Nicla gearbeitet. Diese reichen von lokalen
Bildungsprogrammen und kleinen Selbsthilfeprojekten bis zu dem Versuch, das Lager aus
dem unmittelbaren Kampfgebiet zu verlegen
und andere Länder zu bitten, die schutzbedürftigsten Liberianer zur dauerhaften Ansiedlung
aufzunehmen.
WILDER WESTEN
Obwohl die Flüchtlinge den Ort „Stadt
des Friedens“ nennen, erinnert er eher an den
Wilden Westen.
Es ist ein erschreckender Anblick, wenn Dutzende laut johlender Jugendliche, begleitet von
dem unvermeidlichen Mann mit Maschinengewehr und rotem Piratentuch, am helllichten Tag
auf Lastwagen durch das Lager kurven (Rekrutierungsaktivitäten dieser Art finden in anderen
Lagern oft versteckter statt, unter dem Schutz
der Dunkelheit).
ES GIBT WEDER ARBEIT NOCH GELD FÜR SIE, DAFÜR ABER IMMER MEHR ARMUT, WENIG BILDUNG UND
KAUM ETWAS ZU TUN – NUR LÄHMENDE LANGEWEILE, WACHSENDE RESSENTIMENTS UND ANGST.
18
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
UNHCR/A. HOLLMANN/CS/DZA•1998
Schusssalven unterbrechen immer wieder
den Alltag, wenn die „Soldaten“ in das Lager
zurückkehren, um ihre Familien zu besuchen.
Kürzlich verließ eine Gruppe von Schulkindern
ihr Klassenzimmer voller Panik durch Türen
und Fenster, als Kugeln um das Schulgebäude
sausten.
Den Flüchtlingen zufolge steht ihr Leben
unter solchen Bedingungen ständig auf Messers
Schneide. „Schon die Tatsache, dass ich jetzt
mit Ihnen spreche, könnte mich das Leben kosten“, sagt ein Flüchtling, der seine Identität
nicht preisgeben will. „Hier ist es wie auf einem
gewaltigen Viehmarkt“, beklagt sich ein anderer
Flüchtling bei einem Mitarbeiter der Lagerverwaltung. „Was geschieht, wenn es zu einem
Massaker kommt? Sie werden am Morgen in
das Lager kommen (UNHCR-Mitarbeiter
übernachten nicht im Lager), um die Toten
einzusammeln. Und das werden wir sein.“
Weshalb das Militär für junge Flüchtlinge
attraktiv ist, lässt sich leicht nachvollziehen.
Ivorer, die einst den Liberianern freundlich
begegneten, sehen diese nun als Rebellen.
Bestimmte Gebiete in der Umgebung von Nicla
werden gemieden. Im Lager, abgekapselt von
der Außenwelt, gibt es weder Arbeit noch Geld
für sie, dafür aber immer mehr Armut, wenig
Bildung und kaum etwas zu tun – nur lähmende
Langeweile, wachsende Ressentiments und
Angst.
Unter solchen Bedingungen können viele
zu dem Schluss kommen, dass ihnen keine
Alternative bleibt, als sich rekrutieren zu lassen.
Andere suchen die Aufregung und die nackte
Macht, über die jeder verfügt, der eine Waffe
hat.
Junge Mädchen werden auf anderen Wegen
rekrutiert und sind auf andere, indirektere Art
und Weise betroffen. Manche können sich
durch die weit verbreitete Prostitution etwas
verdienen, indem sie sich an die jungen
Kämpfer verkaufen, die plötzlich zu Geld
gekommen sind. Es gibt sexuellen Missbrauch
(ein zwölfjähriges Mädchen wurde vor kurzem
zu neuen Pflegeeltern gegeben, weil sie von
Männern rituell missbraucht wurde), doch
andere Mädchen, die eigentlich die Schule
besuchen sollten, schließen sich aus eigenem
Antrieb den Trinkgelagen in den sechs oder
sieben Bars im Lager an und werden freiwillig
Freundinnen der Kämpfer.
Jette Isaksen hat in Ruanda, Afghanistan, im
Kosovo und in Liberia gearbeitet. Ihr jetziger
Einsatzort in Nicla, wo sie täglich das Lager
besucht, unterscheidet sich jedoch von all
ihren anderen Einsätzen in Krisengebieten.
„Ich habe noch nie so viel Angst gehabt wie
hier“, sagt sie bei ihrem Rundgang durch das
Lager. „Mir gefällt die Atmosphäre nicht.“ B
Sahrauische Flüchtlinge in Algerien.
Kinder sind, ein unglaublicher Segen wäre, für einen
ganzen Monat Nahrung zu haben“.
BENACHTEILIGT
Werden die Afrikaner also ungerecht behandelt? Die
Summen zu vergleichen, die in verschiedenen Teilen der
Welt für jeden Flüchtling aufgebracht werden, ist eine
unsichere Sache. Ein solcher Vergleich spiegelt nicht unbedingt den „effektiven“ Umfang der Hilfe wider, die ein
Mensch erhält. Beispielsweise können die Kosten für den
Bau von Unterkünften auf dem Balkan höher sein als in
Afrika, was jede direkte Gegenüberstellung von Dollarbeträgen pro Flüchtling verzerren würde.
UNHCR hat jedoch einen Mindeststandard der Unterstützung festgelegt, die jeder Flüchtling erhalten sollte.
Selbst diese grundlegenden Fixpunkte im Hinblick auf Lebensnotwendigkeiten wie Nahrung, Wasser und Unterkunft werden in Afrika jedoch immer wieder unterschritten, weil es an finanziellen Mitteln und Personal fehlt.
Das Welternährungsprogramm hat für manche
Flüchtlingslager die Rationen, die ohnehin bereits an dieser untersten Mindestgrenze lagen, noch einmal halbieren
müssen. Vertriebene am Horn von Afrika, in den heißen
Sommermonaten einer der unwirtlichsten Orte der Welt,
sollten jeden Tag mindestens 20 Liter Wasser erhalten.
Trotzdem mussten einige in der Krise der neunziger
Jahre mit weniger als drei Litern täglich überleben.
Vergleichbare Knappheiten gibt es auch heute. In
manchen Lagern erhalten nur etwa 30 Prozent der Kinder irgendeine Form von Schulbildung.
Nach Auskunft von Jeff Crisp, dem Leiter der UNHCREvaluierungsabteilung, verschlechtern sich die ohnehin
schon schrecklichen Bedingungen in manchen Lagern, je
länger sie bestehen. Ursachen hierfür seien der allgemeine
„Überdruss“, der bei Langzeitkrisen eintrete, und die
Umleitung knapper Mittel zu anderen Projekten.
UNHCR hat jetzt mit einer umfassenden Einschätzung der Finanzierungslücken zwischen den festgelegten
Mindestzielvorgaben und der Realität vor Ort begonnen.
Mit Blick auf den gesamten Kontinent ist dabei nicht
zu vergessen, dass die Bedingungen sich je nach Region
stark unterscheiden. Die Erhebung erfasst zudem nur Ã
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
DER SCHLIMMSTE
ALBTRAUM, DEN
SICH EIN
FLÜCHTLING
VORSTELLEN
KANN, IST FÜR
DIE 26-JÄHRIGE
ABIGAIL
REALITÄT. SEIT
DEM
DREIZEHNTEN
LEBENSJAHR WAR
SIE STÄNDIG AUF
DER FLUCHT UND
AUF DER SUCHE
NACH EINEM
SICHEREN
ZUFLUCHTSORT.
… STATTDESSEN
GERIET SIE
IMMER WIEDER
IN EINEN NEUEN
KRIEG.
19
AFRIKA AM ABGRUND
Flüchtlinge in festen Lagern oder Durchgangslagern,
nicht jedoch diejenigen, die zusammen mit der einheimischen Bevölkerung leben.
Die Lager Kakuma und Dadaab in Kenia gehören zu
den größten Lagern in Afrika mit insgesamt 180.000
Menschen. Die Erhebung zeigte, dass selbst so einfache
Dinge wie Decken, Kanister und Kochutensilien in
größerer Menge zum letzten Mal vor sieben Jahren verteilt wurden und die damals ausgegebenen Gegenstände
vermutlich längst nicht mehr zu gebrauchen sind. Der
Bericht warnte: „Die ausbleibende Erneuerung (solcher
Gebrauchsgegenstände) wird die ohnehin heikle Lage in
den Lagern weiter verschlimmern. Das kann zum Ausbruch von verschiedenen Krankheiten führen, die durch
Kälte, fehlende hygienische Einrichtungen usw. verursacht werden.“
In Dadaab, wo die Temperaturen im Sommer auf über
40 Grad steigen, erhalten die Flüchtlinge momentan
17 Liter Wasser pro Tag, mit dem sie jedoch auch ihr Vieh
versorgen müssen. Es gibt nur eine Toilette für jeweils 275
Schüler an der Schule, obwohl eigentlich eine Toilette pro
20 Schüler verfügbar sein sollte. 144 Kinder teilen sich ein
Gewalt und Unruhen seit der Unabhängigkeit
UNHCR/L.TAYLOR/CS/TZA•2002
Burundi steht erneut an einem Scheideweg
Auf der Flucht in das Nachbarland Tansania.
eit 30 Jahren wird das Land von gewaltsamen Konflikten erschüttert.
Obwohl Burundi eines der kleinsten
Länder Afrikas ist, sind in dem innerafrikanischen Staat allein im letzten Jahrzehnt
150.000 Menschen getötet und weitere
1,5 Millionen entwurzelt worden. Die Welt hat
sich kaum dafür interessiert.
Wie der gesamte Kontinent, so steht auch
Burundi heute erneut an einem Scheideweg.
Nach Jahren geduldiger Diplomatie, erst von
Seiten des verstorbenen Staatspräsidenten
Tansanias Julius Nyerere und später des ehemaligen südafrikanischen Staatspräsidenten
Nelson Mandela, konnte eine nationale Übergangsregierung eingerichtet werden. Deren
dreijährige Regierungszeit ist Anfang Mai zur
Hälfte abgelaufen.
S
20
Angesichts dieses Ereignisses übergab
Staatspräsident Pierre Buyoya, ein Angehöriger der Volksgruppe der Tutsi, sein Amt – das
er 1996 durch einen Coup erlangt hatte – an
seinen Vizepräsidenten Domitien Ndayizeye
von der Volksgruppe der Hutu.
Die beiden Bevölkerungsgruppen kämpfen
um die Macht, seitdem das Land 1962 die Unabhängigkeit erlangte. Eine friedliche Machtübergabe war seitdem ein seltenes Ereignis.
Die Zukunft des Landes und seiner sechs
Millionen Einwohner hängt nun vom Erfolg
des neuesten Versuchs ab, einen dauerhaften
Frieden zu schaffen.
Selbst in der Übergangsphase gab es unterschiedliche Signale. In manchen Teilen des
Landes kam es weiterhin zu Zusammenstößen
zwischen der von den Tutsi dominierten
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
Armee und den beiden wichtigsten Rebellengruppen der Hutu, den Kräften für die Verteidigung der Demokratie (Forces for the
Defense of Democracy – FDD) und den Nationalen Befreiungskräften (National Liberation
Forces – NLF).
DIE GRÖSSTE FLÜCHTLINGS BEVÖLKERUNG
Die Burundier bilden die größte geschlossene Flüchtlingsbevölkerung in Afrika. Etwa
570.000 Zivilisten sind offiziell als Flüchtlinge
anerkannt worden. Die meisten von diesen
leben im benachbarten Tansania. Mehrere
hunderttausend Menschen haben zudem seit
Jahrzehnten im Ausland gelebt und werden
offiziell gar nicht statistisch erfasst.
In dem seltsamen politischen Klima
Zentralafrikas, in dem nichts unmöglich
scheint, sind noch während der Verhandlungen und Kämpfe, die gleichzeitig stattfanden,
schätzungsweise 40.000 Burundier in friedliche Landesteile zurückgekehrt. Gleichzeitig
floh parallel dazu an anderen Orten eine
vergleichbar hohe Zahl von Menschen vor
den andauernden Kämpfen, um Zuflucht in
einem Nachbarstaat zu suchen.
UNHCR hat die langfristigen Chancen
auf eine friedliche Lösung auch durch den
Bau von Gesundheitszentren und Schulen
für Flüchtlinge und einheimische Gemeinschaften zu verbessern versucht. Sie unterstützt die besonders Hilfsbedürftigen
ebenso wie ältere Menschen und bemüht
sich sogar um die Einrichtung eines „mobilen
Gerichts“, das durch den Norden Burundis
reisen soll, um Streitigkeiten zwischen Einheimischen und heimkehrenden Flüchtlingen beizulegen. B
©PANOS/S. TORFINN
Unterwegs im Sudan.
Klassenzimmer, und auf einen Lehrer kommen beinahe
60 Schüler. Wegen der Mittelknappheit wird diese Lücke
in nächster Zukunft auch nicht gefüllt werden können.
Dem Bericht zufolge wird UNHCR „seine Pflicht verletzt
haben, sich um die Grundrechte des Kindes auf Grundschulbildung zu kümmern“.
75 Prozent aller schwangeren Frauen leiden unter
Anämie. Der jedem Flüchtling zur Verfügung stehende
Platz beträgt weniger als drei Quadratmeter, während
der Mindeststandard bei 3,5 Quadratmetern liegt, „und
die Unterkünfte sind in einem erschreckenden Zustand“.
Im Bericht wurde hinzugefügt, dass „das Versäumnis, die
Lebensbedingungen der Flüchtlinge zu verbessern …
ihren Schutz vor Atemwegserkrankungen und anderen
Krankheiten behindern würde sowie ihre Privatsphäre
verletzen und ihre seelische Stabilität gefährden könnte“.
KAMPF UM MITTEL
Abgesehen von spektakulären Krisen wie der im Irak
wird es immer schwieriger, von den traditionellen
Gebern in den Industrieländern Mittel zur Unterstützung der fast 20 Millionen Menschen zu erhalten,
denen UNHCR auf der ganzen Welt hilft.
Manche Kritiker haben den Vorwurf erhoben, dass
die humanitären Organisationen selbst zu den Finanzproblemen Afrikas beigetragen hätten, indem sie nur das
angeben, was ihrer Meinung nach die Geber zu geben bereit sind, statt den tatsächlichen Bedarf vor Ort realistisch
zu schätzen – was letztlich hieße, dass sie selbst den
Bedarf herunterreden.
Vor drei Jahren sagte Julia Taft, damals stellvertretende
amerikanische Außenministerin in der Abteilung für
Bevölkerung, Flüchtlinge und Migration und damit
ranghöchste amerikanische Beamtin für Flüchtlingsfragen, gegenüber dieser Zeitschrift: „Die unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen im Kosovo und
beispielsweise in Guinea war für uns alle vollkommen
inakzeptabel. Man kann nicht 20 Millionen Dollar für
500.000 Flüchtlinge aus Sierra Leone aufwenden und
dann 240 Millionen für die gleiche Zahl im Kosovo
fordern. Das ist weder fair noch richtig.“
Taft skizzierte im Anschluss daran einen Ansatz, auf
den Washington seither in allen Diskussionen über
Mittel für Afrika gedrängt hat: „Nötigenfalls sollten die
Geber angeprangert werden. UNHCR sollte sagen, wie
viel Geld das Amt braucht, und die Geber zwingen zu
sagen: „Das können wir uns nicht leisten.“ Man darf aber
nicht die Messlatte bei dem anlegen, was die Geber nach
Einschätzung der Organisationen zu zahlen bereit sind.“
Dennoch hat sich kaum etwas geändert, und die
Mittel sind insgesamt weiter geschrumpft. Jedes Jahr
müssen die regionalen Büros in einem schmerzhaften
Prozess um jeden knappen Dollar kämpfen und feilschen.
Einer der jüngst in Westafrika eingetroffenen Mitarbeiter,
der an diese Auseinandersetzungen noch nicht gewohnt
war, kam regelrecht traumatisiert aus seiner ersten
Sitzung über die Mittelverteilung: „Das Büro vor Ort hatte
in seinen Berechnungen ursprünglich 185 US-Dollar für
jeden Vertriebenen zu Grunde gelegt, dem geholfen
werden sollte“, erinnert er sich. „Dieser Betrag wurde auf
70 US-Dollar reduziert. Schließlich haben wir uns
irgendwo in der Mitte getroffen. Ich habe mich wie in
einem Basar gefühlt, in dem man um einen Teppich
feilscht, und nicht wie jemand, der Menschenleben zu
retten versucht.“
HOFFNUNG UND VERZWEIFLUNG
Westafrika ist ein Mikrokosmos – der Hoffnung wie
der Verzweiflung, die den gesamten Kontinent beherrschen. Die Region ist eine Mahnung dafür, wie schnell die
Lage selbst in den stabilsten Gesellschaften außer Kontrolle geraten kann. Umgekehrt zeigt sie aber auch, dass
ein Land mit angemessener Hilfe wieder auf den richtigen Weg gebracht werden kann.
Im Jahre 1998 wurde ein Dorfschneider und Vater von
sieben Kindern, Alie K., von Rebellen in Sierra Leone gefangen genommen. In einem schrecklichen Ritual, das in
dem ein Jahrzehnt währenden Bürgerkrieg alltäglich
werden sollte, schlugen ihm die Guerillas seine linke
Hand ab. „Drei von ihnen waren es, einer hielt mich mit
dem Gewehr in Schach, die anderen schlugen sie mir ab“,
erinnert sich Alie später. „Ich riss den Rest der Hand
selbst ab und warf ihn weg, weil ich sie nicht festhalten
konnte, während ich rannte“, sagte er.
Solche Gräueltaten wurden Alltag. Dennoch ist heute,
in einem bemerkenswerten Umschwung nach zehn
Jahren des Bürgerkrieges, der 2002 endete, ein fragiler
Erholungsprozess erreicht worden. Eine zivile Regierung
wurde gewählt, die Polizei und das Militär werden neu
aufgebaut, und etwa 14.000 UN-Soldaten tragen dazu bei,
den Frieden zu sichern. UNHCR und andere humanitäre Organisationen halfen in den letzten zwei Jahren über Ã
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
ZWEI MILLIONEN
MENSCHEN
STARBEN 2001 AN
HIV/AIDS. WEITERE
ACHT MILLIONEN
SIND AN LEICHT
BEHANDELBAREN
ERKRANKUNGEN
WIE MALARIA,
MASERN UND
DURCHFALL
GESTORBEN. BEI
DIESER STERBLICHKEITSRATE
WÄRE DIE
BEVÖLKERUNG
EINES EUROPÄISCHEN STAATES
MITTLERER GRÖSSE
IN WENIGER ALS
EINEM JAHRZEHNT
VOLLKOMMEN
AUSGELÖSCHT.
21
©S. SALGADO•ZRE
UNHCR HAT EINEN
MINDESTSTANDARD
DER
UNTERSTÜTZUNG
FESTGELEGT, DIE
JEDER FLÜCHTLING
ERHALTEN SOLLTE.
SELBST DIESE
GRUNDLEGENDEN
FIXPUNKTE IM
HINBLICK AUF
LEBENSNOTWENDIGE
DINGE WIE
NAHRUNG, WASSER
UND UNTERKUNFT
WERDEN IN AFRIKA
JEDOCH IMMER
WIEDER
UNTERSCHRITTEN.
22
220.000 Flüchtlingen und mehreren hunderttausend
Binnenvertriebenen bei der Rückkehr nach Sierra Leone. Dazu zählten auch etwa 26.000 Flüchtlinge, die bis
jetzt in diesem Jahr zurückgekehrt sind.
Außerdem wurde das Projekt der so genannten „4R“
eingeleitet. Der UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers nennt diese Initiative den Versuch, in den vier
Hauptphasen der Rückkehr von Flüchtlingen – Rückführung, Reintegration, Wiederherstellung der Infrastruktur und Wiederaufbau – die Hilfe von Regierungen,
humanitären Organisationen und Entwicklungshilfeorganisationen nahtlos zu gewährleisten. Mancher frühere Flüchtlingseinsatz litt unter Unterbrechungen in der
Kette der Hilfeleistungen. Diese berüchtigte „Lücke“
drohte in vielen Fällen, einen gesamten Friedensprozess
zu untergraben oder neue Flüchtlingswellen auszulösen.
Wenn UNHCR seine eigene Beteiligung in Sierra
Leone im Jahr 2005 ausklingen lässt, nachdem die Organisation dort zwischen 80 und 100 MillionenUS-Dollar
aufgewendet hat, werden Entwicklungshilfeorganisationen wie die Weltbank übernehmen, um den langfristig
angelegten Wiederaufbau weiterer Schulen, Ambulanzen
und von Teilen der Infrastruktur zu beschleunigen.
Sierra Leone hat vor kurzem eine Wahrheits- und
Versöhnungskommission eingesetzt, ähnlich dem Gremium, das in Südafrika zur Überwindung des Traumas
und zur Ahndung der Verbrechen aus der Zeit der
Apartheid beigetragen hat. Staatspräsident Ahmed Tejan
Kabbah zufolge werde die Kommission „einen therapeutischen Beitrag zum Friedensprozess leisten, um das
Trauma und die emotionalen Wunden des bewaffneten
Konflikts heilen zu lassen“.
Der erste Zeuge vor dieser Kommission, Tamba Finnog,
beschrieb, wie er entführt und ihm sein rechter Arm abgeschlagen wurde. Dann aber fügte er hinzu: „Ich habe all
das hinter mir gelassen und bin bereit, zu vergeben.“
DER SCHLIMMSTE ALBTRAUM
Im Vergleich dazu ist für die 26-jährige Abigail der
schlimmste Albtraum, den sich ein Flüchtling vorstellen
kann, immer noch Realität. Ihr Fall zeigt, wie schnell die
Dinge in Afrika eine fatale Entwicklung nehmen können.
Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr war sie ständig auf
der Flucht und auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort. Diesen Ort hat sie nie gefunden; immer wieder
geriet sie in einen neuen Krieg.
Als Jugendliche floh sie 1990 aus Liberia, als das Land
in die neueste Phase seines Bürgerkriegs eintrat. Zu Fuß
zog sie die Küste am Golf von Guinea entlang, wo überall
Krankheiten herrschten, und gelangte schließlich in die
Hauptstadt des Nachbarstaats Côte d’Ivoire. Ein Jahrzehnt zuvor war Abidjan der Inbegriff des postkolonialen afrikanischen Traums, eine Stadt mit glitzernden
Bürohochhäusern, eleganten französischen Restaurants,
gepflegten Diplomaten, blühender Wirtschaft und der
einzigen Eislaufbahn von ganz Schwarzafrika, die am
Rande von alten Mangrovensümpfen lag.
Liberianische Flüchtlinge und Hunderte von Gastarbeitern aus den Nachbarstaaten trugen zum wirtschaftlichen Aufschwung des Landes bei, lebten aber
unter weit weniger angenehmen Bedingungen in einer
Reihe von Slums um Abidjan.
Abigail konnte ihre Ausbildung abschließen und
wurde Lehrerin in der Stadt Tabou, die in der Nähe der
Grenze zwischen den beiden Ländern liegt. Im letzten
Jahr jedoch löste sich der ivorische Traum, der seit Jahren
immer fadenscheiniger wurde, in Nichts auf, und es kam
zum Bürgerkrieg zwischen der Regierung und den
Militärrebellen.
Das Unvorstellbare geschah: Liberianische Flüchtlinge, ivorische Staatsbürger und Gastarbeiter flohen
voller Panik aus dem Land. Beinahe 100.000 gingen nach
Liberia, obwohl dort immer noch der Bürgerkrieg wütete.
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
UNHCR/R. CHALASANI/CS/YUG•2001
Die Bedingungen für Flüchtlinge in Afrika sind sehr
viel schlechter als in Europa.
NEUE ERWARTUNGEN
Panos Moumtzis, ein Veteran aus früheren Flüchtlingskrisen wie denen nach dem ersten Golfkrieg, in Somalia und im ostafrikanischen Seenhochland Mitte der
neunziger Jahre, hatte sich auf seinen neuen Job in Abidjan gefreut. „Ich hatte ein gutes Gefühl. Einmal in dem
ganzen Elend würde das ein positiver Einsatz sein.“
An der Küste in Tabou hegte die neue Leiterin des
Flüchtlingsbüros, Anne Dolan, die ebenfalls in vielen
Flüchtlingskrisen Erfahrung gesammelt hatte, die gleiche Hoffnung wie er.
„Es sollte ganz anders kommen“, sagte Anne Dolan
später.
Côte d’Ivoire hatte zeitweise etwa 200.000 liberianische Flüchtlinge aufgenommen. Viele waren vom
Gründungsvater der Nation, Staatspräsident Felix
Houphouet-Boigny, als „Brüder und Schwestern in Not“
willkommen geheißen worden und hatten sich in die
lokalen Gemeinschaften integriert. Es gab nur ein kleines Flüchtlingslager, Nicla, mit Platz für etwa 3.000 Menschen.
In dieser scheinbar so positiven Umgebung gingen
Moumtzis und Dolan davon aus, dass sie sich auf Projekte
zur Förderung von Integration, Bildung und Selbsthilfe
würden konzentrieren können, „auf etwas, das im Unterschied zu all dem Leid und dem Sterben in den anderen
Krisen wirklich einmal positiv und befriedigend sein
würde“.
In der Nacht vom 18. zum 19. September erwachte
Moumtzis in der Hauptstadt durch das Geräusch von
Schüssen – der Beginn eines Konflikts, der das einst stabile
Land in den Abgrund stürzen und nicht nur das Leben
der Flüchtlinge verändern sollte, die dort Zuflucht
gefunden hatten, sondern auch das Leben von vielen
Zehntausenden Einheimischen und Gastarbeitern aus
den Nachbarländern.
„Die UNHCR-Hilfseinsätze wurden gewissermaßen
über Nacht vollständig umgestellt“, sagt Moumtzis. „Der
Bau von Schulen, Ambulanzen, Infrastruktur, Integrationshilfe für Flüchtlinge, all das war plötzlich vorbei. Wir
Der schlimmste Krieg Afrikas
Was die humanitäre Seite anging, so schuf UNHCR in der
Demokratischen Republik Kongo
ein Netz von insgesamt zehn Büros.
Die dort tätigen Mitarbeiter und
ihre Kollegen in den Nachbarstaaten hatten die Aufgabe, den unglücklichen
Menschen zu helfen, deren Wege sich wiederholt ebenso untereinander wie mit den Staatsgrenzen kreuzten und die schließlich in der
Mehrheit in ihre Heimatdörfer zurückkehrten.
Gruppen von Flüchtlingen sind über
Zehntausende von Quadratmeilen eines oft
undurchdringlichen Regenwaldes und der
Grassavanne zerstreut. Es gibt praktisch keine
Straßen, selbst an einfachsten Sicherheitsvorkehrungen fehlt es meist, und immer
wieder kommt es zu Massakern. Jede Woche
tauchen aus dem geheimnisvollen Herzen des
Kontinents neue Reste einer Armee ruandischer Flüchtlinge auf, die vor fast neun Jahren
vor dem Völkermord in Ruanda in diese Wälder geflohen waren.
Ein großer Einsatz zur Rückführung
von Tausenden von Angolanern wird in diesem
Jahr beginnen, aber angesichts so gewaltiger
Schwierigkeiten könnte es sein, dass der
humanitäre Gesamtauftrag nicht erfüllt werden kann und viele Flüchtlinge nicht gerettet
werden können. B
Allen entwurzelten Menschen im Herzen des afrikanischen
Kontinents zu helfen, könnte sich als unmöglich erweisen
ine bunte Karte der Vereinten
Nationen erzählt die Geschichte des
Kongo. Sie ist ein Flickenteppich aus
Gelb-, Grün-, Blau-, Rosa- und sogar
Zartrosatönen und stellt die Wirklichkeit
anschaulich dar – lauter Gebiete, die von der
Regierung und den verschiedensten Splittergruppen kontrolliert werden. Ein Querstreifen
– eine so genannte entmilitarisierte Zone – teilt
das Gebiet, das offiziell als Demokratische
Republik Kongo bekannt ist und das seit fast
fünf Jahren vom Krieg erschüttert wird.
Das International Rescue Committee mit Sitz
in Washington hat jüngst die Zahl der Opfer des
Konflikts beziffert: Schätzungsweise 3,3 Millionen
Menschen gingen in einem Krieg zugrunde, in den
zeitweise Militärs aus den sechs umliegenden
Ländern verwickelt waren. Die Organisation
nannte diesen Krieg „den tödlichsten bekannten
Konflikt in der Geschichte Afrikas“.
Aber wie viele der Langzeitkriege Afrikas
wurde auch er von der Welt weitgehend
ignoriert, während das Blutvergießen unvermindert weiterging.
E
Die Kombattanten haben jetzt eine Reihe
von Friedenspakten unterzeichnet, die meisten
Truppen ausländischer Staaten haben sich
zurückgezogen, und die Vereinten Nationen
haben eine winzig kleine Streitmacht von
4.300 Soldaten entsandt, die den fragilen
Frieden stabilisieren soll.
DIE HUMANITÄRE TRAGÖDIE
Etwa zwei Millionen Zivilisten aus dem
Kongo wurden während der jüngsten Verwerfungen innerhalb des Landes vertrieben.
Weitere 400.000 haben den Kongo ganz
verlassen und in den Nachbarländern Zuflucht
gesucht.
Einige dieser Aufnahmeländer befanden
sich jedoch ebenfalls im Kriegszustand. In
einem tragischen Austausch des Elends flohen
330.000 Menschen aus Angola, Uganda, der
benachbarten Republik Kongo, Burundi,
Ruanda und der Zentralafrikanischen Republik
in die Demokratische Republik Kongo – auf
der Suche nach Hilfe in einem Land, das viele
andere gleichzeitig zu verlassen suchten.
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
23
Der Weg über die Grenze
s ist das letzte und größte Hindernis,
das zwischen Angst, Chaos und der
möglichen Rettung liegt. Jeder der
über 50 Millionen Flüchtlinge, denen
UNHCR seit 1951 geholfen hat, hat diese Hürde
überwunden. Viele andere haben es versucht
und sind gescheitert.
Die „normalen“ Reisenden und Touristen,
die jeden Tag ohne nennenswerte Beeinträchtigungen Grenzen überqueren, haben kaum
eine Vorstellung davon, welch ungeheure
Barriere der Angst der Schlagbaum für einen
potenziellen Flüchtling bedeutet. Die Abweisung könnte erneute Verfolgung bedeuten,
Hunger oder sogar den Tod in dem Land, aus
dem sie zu fliehen versuchen, ein „Ja“ dagegen
die Chance auf Zuflucht und darauf, ein neues
Leben beginnen zu können.
Menschen auf der Flucht überqueren
Grenzen heutzutage in glitzernden Flugzeugen,
schnittigen Zügen, mit dem Auto oder in
Lastwagen. Menschenschmuggler haben das
Geschäft mit dem Transport von Menschen auf
der Flucht in ein den gesamten Globus
umspannendes Milliardengeschäft verwandelt.
Afrikaner nehmen oft den altmodischen
Weg. Sie gehen zu Fuß oder werden von altersschwachen Bussen mitgenommen, die oft Tage
brauchen, bis sie an einen Grenzübergang
gelangen – häufig eine kleine Bude mit einer
einsamen Schranke quer über dem Weg oder
eine unzugängliche natürliche Grenze wie ein
Fluss. Dort kann ihnen größte Freundlichkeit
ebenso begegnen wie der offizielle Spießrutenlauf in Form von endlosen Verzögerungen
und finanziellen oder sexuellen Schikanen.
Sie gehen in kleinen Gruppen fort oder in
Massen, wie dies beispielsweise 1994 während
des Exodus aus Ruanda der Fall war, als täglich
mehrere hunderttausend Menschen in Ostzaire eintrafen.
E
ABSEITS DER GROSSEN WEGE
Nero ist ein gesichtsloser Grenzübergang
am Fluss Cavally zwischen Liberia und
Côte d’Ivoire, mehrere Stunden entfernt von
der großen asphaltierten Straße, getrennt
durch ein Labyrinth von Palmölplantagen und
Regenwald. Er ist schwer zu finden, selbst wenn
man gezielt nach ihm sucht. Eine Bambusschranke, ein offener Unterstand und ein
Empfangsbereich mit Lehmboden sind alles,
was es dort gibt. Hundert Meter weiter jenseits
24
UNHCR/R. WILKINSON/CS/CIV•2003
Am Schlagbaum entscheidet sich das Schicksal von
Millionen von Menschen
übrig bleiben, als mitten in den Konflikt
zurückzukehren.
Edward Moore, der liberianische Zollbeamte, erläutert in perfektem Englisch:
„Wir haben Anweisungen, an die sich
jeder halten muss.“ Aber dann fügt er
hinzu: „Wir werden sie trotzdem gehen
lassen. Wir müssen uns an die Genfer
Flüchtlingskonvention von 1951 halten.“
ABGESCHNITTEN
Das Leben hier kann hart sein, nicht
nur für die Flüchtlinge, sondern auch für
die Einheimischen. Moore hat von seiner
Familie in Monrovia, der abgeschnittenen
und fernen Hauptstadt Liberias, seit zwei
Jahren nichts mehr gesehen oder gehört.
Seinen Lohn bekommt er nur sporadisch.
Er ist begierig, sich mit Fremden zu unterhalten. „Warum bringen wir Afrikaner uns
die ganze Zeit gegenseitig um?“, fragt er.
„Hier sollte Frieden herrschen. Wir kommen aus demselben Stamm. Aber im Irak
bringen sie sich auch gegenseitig um“,
Gepäckdurchsuchung an der ivorischen Grenze. fügt er dann noch hinzu.
Die Flüchtlinge beginnen die Grenze
zu überqueren, immer acht in einem Kanu, ihre
des träge dahinfließenden Flusses hängt die
wenige verbleibende Habe hoch um sich
liberianische Flagge schlaff in der Hitze.
aufgetürmt. Sie verteilen Schmiergeld hier und
Vor einigen Monaten flohen mehrere zehnda und zahlen einen enormen Betrag für das
tausend Liberianer, Ivorer und Gastarbeiter vor
Kanu – das ist üblich, um den Prozess zu bedem Chaos, das in Côte d’Ivoire ausbrach, um
schleunigen.
auf das nicht minder gefährliche Territorium
Dann folgt das Ritual der Demütigung.
von Liberia zu gelangen. Zwischen zwei Kriegen
Die Patrioten, die sich an ihrer ungewohnten
gefangen, beginnen nun manche wieder
Macht berauschen, werfen die Habe der
zurückzukehren.
Flüchtlinge einfach auf den Boden. Der Knabe
Die Lage ist verwirrend. Ein Ivorer sagt, die
in dem schwarzen Abendkleid ist besonders
Grenze sei geschlossen, ein anderer, sie sei
begeistert bei der Sache. „Verdächtige“
offen. Die „offizielle Seite“ wird durch ein paar
Gegenstände wie Radios und Taschenlampen
abschreckende „Junge Patrioten“ repräsentiert,
werden genauestens untersucht. Ein paar Dinge
Angehörige einer zusammengesammelten Regierungsmiliz, die als Wachpersonal an Kontroll- werden konfisziert und auf einen Haufen geworfen. Zivilisten werden befragt.
punkten auf Straßen und an Flüssen eingesetzt
Sie haben praktisch kein Geld mehr, wenig
wird. Sie sind mit uralten Gewehren, Macheten
zu Essen, kaum noch andere Besitztümer, und
und Messern bewaffnet, und einer von ihnen
wenn sie sich auf den Weg ins Inland machen,
trägt das schwarze Abendkleid einer Frau.
werden sie aufs Neue der Feindseligkeit der
Vertreter der liberianischen Seite kommen
zu einer Lagebesprechung mit einem Kanu über Ivorer begegnen, die erleben mussten, wie ihr
eigenes Land zerstört wurde.
den 100 Meter breiten Fluss. Auch die
Trotzdem war dieser Grenzübertritt noch
liberianische Grenze ist geschlossen worden,
verhältnismäßig leicht; nur einen Tag hat er geobwohl sich 50 bis 60 Zivilisten angesammelt
dauert, und jeder durfte einreisen.
haben, die vor einem Krieg geflohen sind, der
Jetzt müssen sie irgendwo hier im Busch eider Grenze jeden Tag ein Stück näher rückt.
nen Bus finden … oder weiter zu Fuß gehen. B
Unter Umständen wird ihnen nichts anderes
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
UNHCR/R. WILKINSON/CS/CIV•2003
gingen zu den üblichen Aufgaben in einer
Krise über – für Menschen eine sichere Unterkunft finden, sie aus gefährlichen Situationen herausbringen. Fremdenangst und
Nationalismus haben Brüderlichkeit und
Nachbarschaftshilfe zerstört.“
Während Dolan einer traurigen Prozession von Menschen dabei half, nach Liberia
zu gelangen, wusste sie: „Jeder stand vor
einem schrecklichen Dilemma. ‚Soll ich hier
bleiben, wo ich vielleicht getötet werde, oder
soll ich nach Liberia gehen, wo ich auch
getötet werden könnte, aber vielleicht nicht
so schnell?‘ Es war furchtbar, das mit anzusehen.“
Im April wagte ein Teil der Tausenden
von Zivilisten, die nach Liberia geflohen waren, die
Rückkehr. Im Osten von Liberia waren praktisch keine
Mitarbeiter von Hilfsorganisationen mehr vor Ort.
UNHCR überwachte die gemeinsame Grenze, leistete
Hilfe, wo dies möglich war, und versuchte mehreren Tausenden von Flüchtlingen zu ihrer eigenen Sicherheit den
Weg in die in aller Eile errichteten Transitzentren zu erleichtern, während in benachbarten Ländern angefragt
wurde, ob sie einen Teil der bedrohten Liberianer aufnehmen könnten. Es gab jedoch kaum Angebote.
„Es ist eine traurige Tatsache, dass etwas, dessen
Aufbau vielleicht Jahrzehnte gedauert hat, quasi über
Nacht zerstört werden kann“, sagt Moumtzis.
EIN GEFÄHRLICHER RIESE
Die Liberianer mit ihrer langen Leidensgeschichte
sind in den Nachbarstaaten zu Parias geworden, die als
Unruhestifter oder Schlimmeres gebrandmarkt werden
– als Rebellen, Waffenschmuggler und Drogenhändler.
Die Bedingungen in dem Land zwischen der aufblühenden Hoffnung in Sierra Leone und der Verzweiflung in
Côte d’Ivoire haben sich weiter verschlechtert.
Flüchtlingskrisen entstehen aus einer Kombination
von Faktoren – politischen, wirtschaftlichen oder
militärischen Problemen in einem Land, die in der Folge
durch Ereignisse in den Nachbarländern und von außen
kommende Einflüsse verschlimmert werden können.
Ein erfahrener Mitarbeiter einer Hilfsorganisation
nannte Liberia den „gefährlichen Riesen“ Westafrikas,
ein Land, das seit 1989 mit sich selbst im Krieg liegt, das
Chaos und Anarchie aber wie eine Krebskrankheit in die
benachbarten Länder weiterträgt.
Ein großer Teil des Landes ist heute nicht mehr
zugänglich. Die ausländischen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen wurden Anfang Juni aus Liberia evakuiert, nachdem der Bürgerkrieg erneut eskalierte. Zu
Beginn dieses Jahres waren bereits drei Mitarbeiter der
US-Hilfsorganisation ADRA brutal ermordet worden. In
einem allgemeinen Zustand der Anarchie, der einige
Wochen später jenseits der Grenze in Côte d’Ivoire herrschte, wurden vier Mitarbeiter des Roten Kreuzes ebenfalls gezielt ermordet.
Das Welternährungsprogramm hat für die Monate
April und Mai die Nahrungsmittelrationen für die
UNHCR-Mitarbeiterin befragt liberianische Flüchtlinge.
Hilfeempfänger reduziert. Bis zum Frühjahr hatten die
vorsichtig gewordenen Geber nur zwei Prozent der 42,6
Millionen US-Dollar bereitgestellt, die die UN für dieses
Jahr für humanitäre Aufgaben in einem Appell angefordert hatten. Anfang Juni war die internationale Hilfe
praktisch zum Erliegen gekommen.
Bei einer strategischen Konferenz in Genua debattierten vor einigen Wochen hochrangige Vertreter
humanitärer Organisationen über Optionen für die
Unterstützung der verzweifelten Zivilbevölkerung von
Liberia: Einrichtung sicherer Korridore für Hilfskonvois,
Versorgung aus der Luft, Schutzzonen, eine internationale Friedenstruppe, grenzübergreifende Einsätze.
Jede dieser Möglichkeiten wurde geprüft und ohne die
gleichzeitige Umsetzung einer politischen Lösung als
undurchführbar verworfen.
DER ERSTE KONTAKT
UNHCR nahm seine Tätigkeit 1951 auf – damals in
erster Linie, um den Flüchtlingen in Europa nach dem
Zweiten Weltkrieg zu helfen. Schon wenige Jahre später
begann die lange Verbindung zu Afrika. Am 31. Mai
1957 ersuchte der tunesische Ministerpräsident Habib
Bourguiba UNHCR darum, „zu prüfen, auf welche Weise
der Hohe Flüchtlingskommissar meiner Regierung Hilfe
dabei leisten kann, das Problem der algerischen Flüchtlinge zu lösen“, die vor dem Unabhängigkeitskrieg ihres
Landes gegen Frankreich in die umliegenden Staaten
flohen.
Die Organisation reagierte und wurde im Rahmen
dieser Krise zum ersten Mal in eine Nachkriegssituation verwickelt – Hilfe für ehemalige Flüchtlinge, nachdem diese in die Heimat zurückgekehrt waren. „Das
Schicksal der zurückgeführten früheren Flüchtlinge
kann nicht länger von dem der algerischen Bevölkerung
in ihrer Gesamtheit getrennt werden, ohne dass die soziale Stabilität des Landes ernsthaft gefährdet wird“,
schrieb der UN-Flüchtlingskommissar Felix Schnyder
damals. Dies wurde ein wichtiger Maßstab für den
zukünftigen Einsatz von UNHCR in Sachen Flüchtlingsschutz.
Im Jahr 1969 leistete Afrika ebenfalls einen bedeutenden Beitrag zum generellen Schutz von Flüchtlingen, als
die Organisation für Afrikanische Einheit (Organization Ã
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
WESTAFRIKA IST EIN
MIKROKOSMOS –
DER HOFFNUNG WIE
DER VERZWEIFLUNG,
DIE DEN GESAMTEN
KONTINENT
BEHERRSCHEN. DIE
REGION IST EINE
MAHNUNG DARAN,
WIE SCHNELL SELBST
IN DEN STABILSTEN
GESELLSCHAFTEN
DIE LAGE AUßER
KONTROLLE
GERATEN KANN.
UMGEKEHRT ZEIGT
SIE ABER AUCH,
DASS EIN LAND MIT
ANGEMESSENER
HILFE WIEDER AUF
DEN RICHTIGEN
WEG GEBRACHT
WERDEN KANN.
25
AFRIKA AM ABGRUND
UNHCR/A. HOLLMANN/CS/ZRE/•1994
for African Unity – OAU) eine eigene
Konvention verabschiedete. Diese erweiterte die Anerkennung von
Flüchtlingen zum ersten Mal auf
Menschen, die in großen Gruppen
flohen, und auf Menschen, die auf
der Flucht vor Angriffen von außen,
Besatzung oder Fremdherrschaft
waren. Zu dieser Konvention gehörte auch das heute allgemein anerkannte Prinzip der „freiwilligen“
Rückführung.
In diesen frühen postkolonialen
Ein riesiges Flüchtlingslager für Ruander Tagen ließen sich viele Menschen,
in Tansania.
die in afrikanischen Ländern Sicherheit suchten, einfach in Dörfern und Städten der
Aufnahmeländer nieder – in der Amtssprache hieß das,
sie wurden vor Ort integriert.
In späteren Jahrzehnten hat sich das allerdings geändert. Immer öfter wurden Flüchtlinge in großen
Lagern untergebracht. Dies löste bei Regierungen und
humanitären Organisationen eine lebhafte und häufig in
großer Schärfe geführte Debatte darüber aus, wer für die
Ausbreitung dieser „Lagerkultur“ verantwortlich war
und welche Vor- oder Nachteile das System hatte.
Jeff Crisp von der UNHCR-Evaluierungsabteilung
verfolgte die Anfänge der sich verschlechternden Stimmung gegenüber Flüchtlingen und die wachsende Tendenz, sie in Lagern zu isolieren, zurück auf die Mitte der
achtziger Jahre. Die westlichen Länder hatten begonnen,
ihre Gesetze im Hinblick auf Asylsuchende zu verschärfen, was die afrikanischen Staaten ermutigte, ihrem
Beispiel zu folgen. Die Flüchtlingszahlen stiegen genau
zu der Zeit in dem Maße drastisch an, als die wirtschaftliche Lage der afrikanischen Staaten sich verschlechterte.
Paradoxerweise konnten immer mehr Politiker die
Flüchtlingsfrage im Zuge der allgemeinen Demokratisierung als politisches Instrument missbrauchen.
„ES IST EINE
TRAURIGE
TATSACHE,
DASS ETWAS,
DESSEN
AUFBAU
VIELLEICHT
JAHRZEHNTE
GEDAUERT HAT,
QUASI ÜBER
NACHT
ZERSTÖRT
WERDEN
KANN.“
Heute leben weltweit schätzungsweise 2,4 Millionen
Menschen in 267 Lagern, von denen sich 170 in Afrika befinden.
Bilder von Zelten und Hütten, die sich scheinbar
endlos über die afrikanische Landschaft erstrecken, sind
zum Synonym für die Notlage von Flüchtlingen geworden. Die Lebensbedingungen von Zehn- oder Hunderttausenden von Menschen, die dort oft unter schrecklichen Bedingungen auf engstem Raum zusammenleben, sind oftmals in dramatischen Bildern festgehalten worden. Dort entstehen Krankheit und Verbrechen,
hier wird die Umwelt zerstört und der Nachwuchs für
bewaffnete Milizen rekrutiert, die dort ebenfalls Unterschlupf finden.
Immer mehr afrikanische Regierungen, die letztlich
dafür verantwortlich sind, wo Flüchtlinge untergebracht
werden, entschieden jedoch, dass solche Lager trotz ihrer
offensichtlichen Nachteile die beste Lösung darstellten:
aus Sicherheitsgründen, zum Schutz der einheimischen
Bevölkerung – und um in der Hoffnung auf mehr internationale Mittel Journalisten und Politikern bei deren
Besuchen die großen Ansammlungen von Flüchtlingen
besser „vorführen“ zu können.
Jeff Crisp zufolge können die Lager aber auch andere
Vorteile haben. Manche Flüchtlinge ziehen es vielleicht
vor, sich in eine einheimische Gemeinschaft zu integrieren, wenn die neuen Nachbarn denselben ethnischen
Hintergrund haben. Aus Sicherheitsgründen bleiben sie
jedoch möglicherweise lieber im Lager, wenn sie sich in
einer fremden ethnischen Umgebung wieder finden. Die
Lager können auch in einer breit angelegten Überlebensstrategie ein wichtiges Sicherheitselement darstellen. Jüngere und stärkere Flüchtlinge wagen sich zur
Arbeitsuche weiter von ihnen weg, während Frauen und
Kinder im Lager bleiben, in dem ihnen ein gewisses Maß
an Sicherheit und ein Minimum an humanitärer Versorgung gewiss sind.
Hoffnung statt „Elend und Verzweiflung“
Angola sieht einer besseren Zukunft entgegen, doch wird das Land
noch sehr lange Unterstützung brauchen.
D
as ist ein Albtraum. Die Zahl der
Toten geht schon in die Hunderttausende, die der Vertriebenen in die Millionen, und die
der Verstümmelten beträgt ebenfalls mehr als
100.000. Wegen der Morde, Entführungen,
Bodenminen und Krankheiten ist dies der
schrecklichste Ort der Welt für Kinder, um
aufzuwachsen, und wenn sie überleben sollten, werden sie später, so weit das Auge
reicht, nur verbrannte Erde vorfinden.“
„
26
So schätzte vor vier Jahren Catherine
Bertini, die damalige Leiterin des Welternährungsprogramms (WFP), die Lage Angolas ein.
Zu Beginn dieses Jahres kam der UN-Generalsekretär, Kofi Annan, in einem Bericht zu
dem Schluss, „dass die Angolaner ohne Furcht
vor einem wiederaufflackernden und verheerenden Krieg leben können“.
Drei Jahrzehnte eines tödlichen Bürgerkrieges gingen im April letzten Jahres nach
dem Tod von Jonas Savimbi, dem Anführer
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
der Rebellenbewegung UNITA, faktisch zu
Ende, und Angola erlebt seitdem einen
bemerkenswerten Wandlungsprozess.
Die Schusswechsel verstummten, die
Kämpfer wurden im Zuge der Demobilisierung entlassen, und immerhin 1,5 von
4 Millionen Binnenvertriebenen kehrten aus
eigener Initiative in ihre Heimat zurück, ebenso wie etwa 100.000 von schätzungsweise
470.600 Flüchtlingen, die in den Nachbarländern Zuflucht gefunden hatten.
©S. SALGADO•AGO
Bei ihrem Versuch, zwischen den konträren Interessen auszugleichen, haben humanitäre Organisationen
wie UNHCR eine Reihe flexibler Programme entwickelt.
Zunehmend werden beim Bau von Schulen, Ambulanzen oder Straßen nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch
die einheimische Bevölkerung einbezogen.
Auch wenn man unter bestimmten Umständen auf
Lager nie wird verzichten können, hat UNHCR die Ausweitung der Integration vor Ort unterstützt, wo immer sie
möglich ist. In Sambia wird ein jüngst eingeleitetes Projekt beispielsweise einem Teil der 247.000 Flüchtlinge in
diesem Land dabei helfen, sich in nahe gelegenen Dörfern und Städten niederzulassen, Arbeitsplätze zu finden
und zu möglichst produktiven Mitgliedern der Gesellschaft Sambias zu werden.
In diesem Sommer beginnt UNHCR eine
organisierte Rückführung weiterer Flüchtlinge. Die Organisation hat in den Grenzregionen bereits mehrere Büros eröffnet,
während Partnerorganisationen damit
beschäftigt sind, Schulen, Ambulanzen und
Trinkwasserzapfstellen zur Vorbereitung der
Rückkehr instand zu setzen.
SCHWIERIGE ZUKUNFT
Auch wenn diese Entwicklungen sehr
ermutigend sind, steht Angola eine ausgesprochen schwierige Zukunft bevor.
Während des Konflikts war ein großer Teil
des Landes von der Außenwelt abgeschlossen.
Als die Hilfsorganisationen die Lage zu erkunden begannen, fanden sie eine Welt „des
Elends und der Verzweiflung“ vor, wie es Lucia
Der Irak und zuvor Afghanistan haben die Vermutung genährt, die internationale Gemeinschaft würde
sich zu einem gewissen Zeitpunkt immer nur auf eine
einzige Krise konzentrieren. Afrika verharrt jedoch in einem ständigen Krisenzustand. David Lambo äußert deshalb die Befürchtung: „Wir kämpfen auf der Weltbühne
um unseren Platz. Trotzdem dürfen wir Afrika nicht aufgeben.“
Der UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers will,
wie er sagte, die Industrienationen weiterhin immer wieder darauf hinweisen, dass sie sich ungeachtet der Ereignisse in anderen Teilen der Welt „stärker auf afrikanische
Flüchtlinge konzentrieren müssen“. B
Teoli von UNHCR formuliert. „Ein großer Teil
der Bevölkerung war nahe daran, zu verhungern“, sagt sie. Oft überlebten die Menschen
nur durch Beeren und Wurzeln. „Viele fand
man im Busch, wo sie geboren worden waren
und aufgewachsen sind. Sie wussten zum Teil
nicht einmal, dass der Krieg zu Ende war.“
Die gesamte Infrastruktur des Landes
– Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser –
und die Umwelt waren zerstört. Dadurch war
es nicht nur für die Menschen schwierig,
manchmal gar unmöglich, in ihre alten Dörfer
zurückzukehren und ein neues Leben zu beginnen, auch den Hilfsorganisationen war der Zugang und die Möglichkeit zu helfen entsprechend erschwert. Zurück bleibt eines der am
stärksten verminten Länder der Welt mit einer
unvorstellbaren Zahl von Sprengkörpern, die in
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
Bildung ist der
Schlüssel für eine
erfolgreiche
Reintegration von
Flüchtlingen.
der fruchtbaren Erde verborgen liegen.
Den Menschen steht eine schwierige Heimkehr bevor. Viele sind seit Jahren von Nahrungsmittelzuweisungen abhängig gewesen. Für
sie wird es nicht leicht sein, sich auf Landwirtschaft oder eigene Arbeit umzustellen, wenn
ihnen diese Möglichkeit überhaupt gegeben
wird. Lebensmittel werden auf dem freien
Markt möglicherweise bald erhältlich sein,
aber die meisten Menschen sind viel zu arm,
um etwas zu kaufen. Schulen könnten bald
wieder öffnen, doch sprechen viele Kinder
nicht einmal Portugiesisch, die offizielle Landessprache. Familien sind auseinander gerissen
worden und haben den Kontakt zueinander
verloren, oft schon seit Jahrzehnten. Unterernährung und früher Tod durch an sich leicht
behandelbare Krankheiten sind häufig. B
27
IRAK: Was geschah?
Der jüngste Krieg hat keinen Flüchtlingsstrom ausgelöst.
D
as Szenario: Mehrere Millionen
Flüchtlinge würden über die durchlässigen Grenzen strömen, um dem
bevorstehenden militärischen Angriff zu entgehen.
Globale Spendenappelle wurden veröffentlicht, Nahrungsmittel, Zelte und Decken
angesichts der befürchteten Katastrophe für
den Krisenfall auf Vorrat bereitgestellt und
Hilfsteams vorsorglich in die Berge und in die
Wüste geschickt.
Die Medien, die heute zu einem integralen Bestandteil aller großen Krisen geworden sind, entsandten ihre eigenen Kräfte in
großer Zahl – Hunderte von Reportern,
Fotografen und Kameraleuten, die über das
angekündigte Drama berichten sollten.
Doch der Flüchtlingsstrom blieb aus. So
war es vor zwei Jahren an den Grenzen
Afghanistans, und so war es zu Beginn dieses
Jahres an den Grenzen zum Irak. Die befürchteten Flutwellen fliehender Menschen
waren wenig mehr als ein Rinnsaal. Mitarbeiter humanitärer Organisationen warteten. Journalisten waren zunehmend frustriert, weil die Ereignisse an anderen Orten
ihren Lauf nahmen.
Was war geschehen?
Prognosen im Hinblick auf Flüchtlingsströme sind bestenfalls eine unsichere Angelegenheit. Planer analysieren eine Situation, vor allem, wenn ein Krieg wahrscheinlich ist, die Geschichte der Region, frühere
Flüchtlingsströme, Berichte aus ihren Büros
vor Ort sowie alle staatlichen und militärischen Informationen, die sie bekommen
können, um auf dieser Grundlage zu einer
28
Einschätzung der möglichen Entwicklungen und der eventuell erforderlichen Schutzmaßnahmen zu gelangen.
EINE ÜBERRASCHUNG
Es ist eine Binsenweisheit, dass auch die
besten militärischen Pläne kaum je die ersten
Kriegstage überstehen. Das Gleiche gilt für
den Versuch, die Entwicklung humanitärer
Krisen zu antizipieren und für sie vorauszuplanen. Überraschungen sind das Einzige,
was in einer Krise nicht überraschen kann.
Zu Beginn des Konflikts im Kosovo im
Jahr 1999 prophezeiten nicht einmal die Geheimdienste, dass die serbischen Truppen
mehrere hunderttausend Angehörige der
albanischen Volksgruppe gezielt mit Waffengewalt aus der Region vertreiben würden.
Selbst wenn die humanitären Organisationen die ethnischen Säuberungen vorhergesehen hätten – was nicht der Fall war –,
hätten sie unter den damaligen Umständen
keine Mittel in großem Umfang mobilisieren
können, weil die Geberstaaten ihnen nicht
geglaubt hätten.
Im aktuellen Fall kam man zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen. Es gab
viele gute Gründe, für einen Massenexodus
von Zivilisten aus dem Irak zu planen, nachdem die von den Amerikanern geführten
Truppen mit dem Angriff begonnen hatten.
In den Jahrzehnten zuvor hatten mehrere
Millionen Iraker das Land verlassen. Nach
dem ersten Golfkrieg 1991 flohen schätzungsweise zwei Millionen Menschen aus
ihren Wohnorten. Als Vorbereitung auf
dieses Szenario einer „mittelschweren“ Krise
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
schmiedete UNHCR Pläne zur Unterstützung von bis zu 600.000 Flüchtlingen.
Gleichzeitig warnte UNHCR-Sprecher Ron
Redmond öffentlich, dass es je nach Entwicklung des Krieges möglicherweise wenige, vielleicht auch gar keine Flüchtlinge
geben könnte.
Letzten Endes sind dann bekanntlich
auch tatsächlich nur wenige Menschen geflohen. Dem Internationalen Institut für Strategische Studien in London zufolge war das
Ausbleiben von Flüchtlingsbewegungen unmittelbar mit der Taktik der Koalitionstruppen verbunden: „Die militärische Anfangsstrategie der Alliierten, große Städte zu
umgehen, militärische Angriffsziele gezielt
zu bombardieren und Zivilisten davor zu
warnen, ihre Wohnorte zu verlassen und die
großen Verkehrsstraßen zu benutzen, hat
die Zahl der Menschen reduziert, die sich auf
den Weg machten.“
Sten Bronee, UNHCR-Vertreter in Jordanien, sagt: „Die Menschen hatten Besitz und
wollten nicht gehen. Kriegsmüdigkeit kam
auf. Dieser Konflikt war für die Iraker nicht
der Erste.“ Dem fügt der britische Journalist
Jonathan Steele hinzu: „Die Menschen entwickelten angesichts der Bombardements
einen gewissen Gleichmut. Als sie schließlich von der Wasser- und Elektrizitätsversorgung abgeschnitten waren, wurde dies
durch die Tatsache ausgeglichen, dass
Saddam bereits gestürzt war.“
DIE ZUKUNFT
Und wie geht es jetzt weiter?
In einem Rückblick auf die Ereignisse im
UNHCR/L. BOLDRINI/DP/JOR•2003
Wie geht es weiter?
Werden nun viele Exil-Iraker in ihre Heimat zurückkehren können?
Nahen Osten sagt Ron Redmond: „Es war
zwingend, die erforderlichen Programme für
den Krisenfall auf der Grundlage der aktuellen Ereignisse vorzubereiten. Wir haben
dieser Notwendigkeit entsprochen und sind
mit unserer Planung zufrieden. Wir waren
sicherlich nicht unglücklich darüber, dass es
nicht mehrere hunderttausend neue Flüchtlinge gab, die die Zahl der beinahe 20 Millionen Menschen vergrößert hätten, denen wir
auf der ganzen Welt bereits zu helfen versuchen.“
Nach dem kurzen, von den Amerikanern
geführten Krieg in Afghanistan stellte
UNHCR seine Pläne von einem potenziellen
Exodus auf die Unterstützung für diejenigen
Flüchtlinge um, die lange im Exil gelebt hatten und in der Folge in das Land zurückkehrten. Über zwei Millionen Menschen kamen innerhalb des ersten Jahres zurück, und
die Rückführung wird stetig fortgesetzt.
Auch wenn die internationale Aufmerksamkeit für den Irak bereits abnimmt, setzt
die Flüchtlingsorganisation nun einen Teil
ihrer Mitarbeiter sowie ihrer finanziellen
und materiellen Ressourcen, die sich bereits
vor Ort befinden, in diesem Land für ähnliche Zwecke ein.
Die Lage im Irak bleibt ungewiss. Die
religiösen und ethnischen Spannungen
könnten in der Zukunft immer noch Flüchtlingsbewegungen auslösen, vor allem, da die
Straßen nun relativ sicher geworden sind.
Gelagerte Hilfsgüter wie Zelte, Herde,
Kochtöpfe, Decken und Plastikplanen werden vorläufig dort bleiben, wo sie sind, und
schließlich entweder innerhalb oder
außerhalb des Irak eingesetzt werden.
Zusätzlich wurde nun ein ambitioniertes
neues Programm begonnen, mit dem nicht
den prognostizierten Flüchtlingen aus dem
letzten Krieg, sondern immerhin 500.000
Irakern geholfen werden soll, die in früheren
Jahren aus ihrem Land geflohen sind und
möglicherweise zurückkehren, um dort ein
neues Leben zu beginnen.
Das Budget für einen vorläufigen Plan zu
ihrer Rückführung und Wiedereingliederung beläuft sich für einen Zeitraum von acht
Monaten auf 118 Millionen US-Dollar. Damit
würde die Organisation sich innerhalb des
Rahmens des vorhergehenden Irak-Krisenbudgets von 154 Millionen US-Dollar bewegen.
In der Zeit der Herrschaft Saddam
Husseins haben wahrscheinlich mehrere
Millionen Iraker das Land verlassen. Nach
Schätzung von UNHCR waren etwa
900.000 von ihnen Asylsuchende, Flüchtlinge oder andere Personen in flüchtlingsähnlichen Situationen. Vorläufige
Schätzungen ließen vermuten, dass etwa die
Hälfte von ihnen Unterstützung bei der
Heimkehr benötigen könnte.
Von der oben genannten Gruppe beherbergt allein der Iran die Hälfte der schätzungsweise 400.000 irakischen Flüchtlinge.
Etwa 165.000 Menschen dieser Gruppe könnten möglicherweise zurückkehren.
Weitere 183.000 Flüchtlinge leben in den
Industrieländern. Nur eine relativ kleine
Zahl von ihnen, vielleicht 35.000, wird sich
unter Umständen für die Rückkehr in das
Land ihrer Vorfahren entscheiden.
Von den 84.000 Irakern, die derzeit – vor
allem in den Industrieländern – Asyl beantragt haben, dürften etwa drei Viertel
beziehungsweise 60.000 zurückkehren.
Von den 450.000 Irakern, die insbesondere in Jordanien und Syrien unter „flüchtlingsähnlichen“ Bedingungen leben und dort
illegal arbeiten, könnten bis zu 240.000 in den
Irak zurückgehen.
ERWEITERUNG
Um für diese Massenrückkehr gerüstet zu
sein, will UNHCR sein derzeitiges Netzwerk
im Nahen Osten erweitern und 250 überwiegend irakische Mitarbeiter einsetzen, die
15 Büros im gesamten Land eröffnen und
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
sechs mobile Überwachungsteams bilden
sollen.
Alle Rückführungen werden überwacht,
um sicherzustellen, dass es sich um eine „freiwillige“ Rückkehr handelt und die Iraker aus
ihren Gastländern nicht herausgedrängt
oder abgeschoben werden. Eine Reihe von
Kriterien wird festgelegt, „die die körperliche, materielle und rechtliche Sicherheit
der Rückkehrer sowie ihr Wohlergehen
sicherstellen sollen“, sagt Redmond.
„Dazu zählt, dass der Gewalt und der
Unsicherheit ein Ende gesetzt und handlungsfähige Rechtsinstitutionen geschaffen
werden“, fügt der Sprecher hinzu. „Zur
materiellen Sicherheit gehört auch der
Zugang zu grundlegenden Dingen wie
Trinkwasser, Lebensmitteln und Gesundheitsversorgung.
Längerfristig müssen Maßnahmen
ergriffen werden, die eine dauerhafte Reintegration ermöglichen. Rechtssicherheit
umfasst die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, Nichtdiskriminierung
und ungehinderten Zugang zum Justizsystem.“
Die Rückkehrer werden wie die Bevölkerung insgesamt mit gewaltigen praktischen
Schwierigkeiten konfrontiert sein – von den
ungefähr acht Millionen Landminen, die im
Norden des Landes liegen, über eine kaum
funktionierende Infrastruktur bis hin zu der
groß angelegten Vernichtung von Grundbesitzeintragungen, Staatsbürgerschaftsnachweisen und anderen wichtigen Urkunden.
Zwei Drittel der heimkehrenden Iraker
dürften in die städtischen Zentren in der Mitte und im Süden des Irak zurückgehen, das
letzte Drittel, überwiegend ethnische Kurden, dagegen in die ländlichen Gebiete in den
drei nördlichen Provinzen des Irak.
Zu weiteren ungelösten Fragen im humanitären Bereich gehört die Zukunft von
Tausenden von binnenvertriebenen Zivilisten innerhalb des Landes.
Das UNHCR-Mandat erstreckt sich nicht
direkt auf Binnenvertriebene. Da ihre Lage
der von Flüchtlingen jedoch häufig gleicht,
hat die Organisation in der Vergangenheit
schon oft beide Gruppen unterstützt. Dies
war etwa auf dem Balkan der Fall.
Auch im Irak könnte das so sein, wenn die
Vereinten Nationen eine entsprechende Entscheidung treffen. B
29
EINE NEUE MUTTER TERESA
Eine italienische Ärztin ist für ihren jahrzehntelangen einsamen
Einsatz zur Bekämpfung von Krankheiten und Vorurteilen in einem
vergessenen Winkel der Erde ausgezeichnet worden
von Kitty McKinsey
E
in fünfjähriger Junge, dessen Buckel Zeichen seines Kampfes
gegen die Tuberkulose ist, nimmt seine Gehhilfe aus Aluminium und bahnt sich entschlossen einen Weg zwischen
den Krankhausbetten, nur um zu zeigen, dass er das schafft.
Eine 39 Jahre alte Frau, deren Arme und Beine sich vor einem Jahr
in eine fötale Stellung gekrümmt haben, entfernt sich ein paar
Schritte von ihrem Krankenhausbett; auch sie demonstriert, dass
sie auf dem Weg der Gesundung ist. Das Gesicht von Marian
Hassan Duale, einer 60-jährigen Frau, die vor kurzem im Koma
liegend ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hellt sich sichtlich
auf, als sie vom „Wunder“ ihrer Genesung berichtet.
Ihre „Retterin“ ist eine 60-jährige italienische Ärztin, Annalena
Tonelli, die Gewalt, Entführung, Raub und Tod nicht davon abhalten konnten, ganz allein am Horn von Afrika, gewissermaßen
am Ende der Welt, einen 33-jährigen Kampf gegen Tuberkulose,
AIDS, Analphabetentum, Blindheit, Unterernährung und die
Verstümmelung weiblicher Genitalien zu führen.
Dr. Tonelli wurde vor kurzem in Würdigung ihres lebenslangen
und einsamen Einsatzes der Nansen-Flüchtlingspreis verliehen.
Diese Auszeichnung wurde 1954 geschaffen, um Einzelpersonen
oder Organisationen zu ehren, die sich um die Sache der Flüchtlinge besonders verdient gemacht haben. Der Preis trägt den
Namen Fridtjof Nansens, des norwegischen Polarforschers und
erste Hohen Flüchtlingskommissars, und ist mit 100.000 US-Dollar
für ein Flüchtlingsprojekt dotiert, das der Preisträger beziehungsweise die Preisträgerin frei wählen kann.
Dr. Tonelli, die von ihren Patienten Annalena genannt wird und
manchen Besuchern wie eine neue Mutter Teresa vorkommt,
arbeitet vollkommen allein. Jeden Monat gelingt es ihr durch ihren
ganz persönlichen Einsatz, die 20.000 US-Dollar an Mitteln aufzutreiben, die sie für die Finanzierung medizinischer Projekte und
die Bezahlung der insgesamt 75 Mitarbeiter in ihrem Krankenhaus
benötigt. In der Hoffnung, die internationale Aufmerksamkeit auf
die chronischen Probleme Somalias zurücklenken zu können, die
von anderen Krisenherden der Welt seit langem überschattet werden, brach sie ihr Gelöbnis, „im Verborgenen zu arbeiten“ und die
Öffentlichkeit zu meiden. So entschied sie, den Nansen-Flüchtlingspreis anzunehmen.
SCHWERE TAGE
Die schlanke Frau, die ihr graues Haar in einem Knoten trägt
und sich wie die einheimischen Frauen sittsam in ein Tuch hüllt,
hat sich daran gewöhnt, jede Nacht nur vier Stunden zu schlafen.
Dr. Tonelli beginnt ihren Arbeitstag um 7 Uhr morgens mit
einem Gespräch mit ihren somalischen Ärzten, die ihre
Ausbildung im Ausland absolviert haben. Wenn sie anschließend
30
ihre Runde im Krankenhaus macht, unterhält sie sich in fließendem Somali mit ihren Patienten. Die Kinder nennen sie „Großmutter“ und kuscheln sich zutraulich an sie, während sie berichtet,
dass die heute so munter wirkenden Kleinkinder als Säuglinge mit
schwerer Unterernährung zu ihr gekommen sind und im Alter
von sechs Monaten weniger wogen als ein Neugeborenes. Ihr
strikter Arbeitstag endet erst in den frühen Morgenstunden des
nächsten Tages, wenn sie ihre Dankesbriefe an private Spender
schreibt.
Vor fast sieben Jahren hat sie sich in Borama niedergelassen,
einer trockenen Stadt, in der starke Winde den Wüstensand in
tornadoähnliche Formationen wirbeln und in der es mehr Ziegen
und Kamele als Autos gibt. In ihrem Krankenhaus werden etwa
200 Patienten stationär und weitere 200 ambulant behandelt. Acht
Stationen wurden für sie von UNHCR gebaut, darunter auch das
einzige zweistöckige Gebäude der ganzen Stadt, das sich noch im
Bau befindet.
Ein bequemes Leben ist für Dr. Tonelli völlig unwichtig. Wiederholt berichtete sie von ihrer lebenslangen Leidenschaft: „Ich bin
den Tuberkulose-Patienten vollkommen verfallen“, sagt sie und
fügt später hinzu: „Ich möchte bis zum letzten Tag meines Lebens
arm sein.“
Sie lebt einfach und ernährt sich von denselben Nahrungsmitteln wie ihre Patienten – Fleisch gibt es nur zweimal die Woche,
öfter Mais oder Reis und Bohnen. In ihrem Haus hat sie ein
Fernsehgerät, damit taube Kinder Videos in Zeichensprache sehen
können, doch selbst sieht sie nie fern. Vom Krieg im Irak hat sie nur
über die somalischen Ärzte gehört, die in ihrem Krankenhaus
arbeiten.
Die Ärztin besitzt lediglich zwei bescheidene Kaftane. Ihre
Sandalen hat ihr eine Patientin geschenkt, und ihr Kopftuch war
ein Geschenk ihrer Mitarbeiter. Sie ist davon überzeugt, dass
Armut notwendig ist, um die Kluft zwischen ihr und den
Menschen, denen sie hilft, zu überbrücken. „Ich könnte niemals
diesen Dienst tun, wenn ich Kleider, Möbel und all die Dinge hätte,
die für unsere Gesellschaft normal sind“, sagt sie.
UNAUSWEICHLICHER ZUSAMMENPRALL
Allerdings sollte man ihr nicht mit dem Begriff des Opfers
kommen, da muss sie lachen. Als gläubige Katholikin sagt sie: „Das
Wort ‚Opfer‘ hat für mein Leben keine Bedeutung. Ich kann nicht
verhehlen, dass es in vielen Beziehungen ein sehr schweres Leben
war, aber es war ein Leben der Freude, ein Leben des Glücks und
der Belohnung, ein privilegiertes Leben.“
Ein solches Leben zu führen, hat sie sich seit ihrem fünften
Lebensjahr gewünscht. „Meine Sehnsucht, mein ganzes Streben
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
und Wollen war seit diesen jungen Jahren darauf gerichtet, leidenden Menschen zu helfen.“
Von diesen hat sie in ihren langen Jahren in Afrika viele gefunden. Nach dem Jurastudium, das sie mit 26 Jahren abgeschlossen
hatte, ging sie direkt in den Nordosten von Kenia, um somalische
Nomaden zu unterrichten. Dort wurde sie 1970 zum ersten Mal mit
der Notlage von Menschen konfrontiert, die an Tuberkulose
erkrankt waren. Nicht nur ihr körperliches Leiden hat sie berührt,
sondern auch die seelischen Schmerzen, die diese wegen ihrer
Krankheit aus der Gesellschaft Ausgestoßenen erlebten, einer
Krankheit, die in Verbindung mit Armut, beengten Wohnbedingungen und Unterernährung besonders häufig auftritt.
Sadruddin Aga Khan
D
er frühere UN-Flüchtlingskommissar
Prinz Sadruddin Aga Khan starb Anfang
Mai nach langer Krankheit in Boston im Alter
von 70 Jahren. Prinz Sadruddin, der Onkel von
Karim Aga Khan, dem geistigen Oberhaupt von
zwölf Millionen ismailitischen Muslimen, hat
sein ganzes Leben der humanitären Arbeit gewidmet. Nach drei Jahren als Stellvertretender
UN-Flüchtlingskommissar wurde er 1966 im
Alter von 33 Jahren zum Leiter von UNHCR ernannt. Er war der jüngste Hochkommissar, den
die Organisation je hatte, und führte sie zwölf
Jahre durch eine ihrer turbulentesten Phasen. In
seine Amtszeit fielen die Bangladesch-Krise von
1971, in deren Verlauf zehn Millionen Menschen
entwurzelt wurden, der Exodus mehrerer hunderttausend Hutu aus Burundi 1972 und die
Flucht der indochinesischen Boatpeople Mitte der
siebziger Jahre.
Nach dem Ende seiner Tätigkeit für UNHCR im
Jahr 1977 setzte er seine humanitäre Arbeit für
die Vereinten Nationen in verschiedenen Teilen
der Welt fort, unter anderem in Afghanistan und
FLÜCHTLINGE NR. 2/2003
UNHCR/J. LOWE
UNHCR/E. PARSONS/DP/SOM•2003
„Mutter Teresa“ mit einem kranken Kind.
Zusätzlich zu ihrem Juraexamen bildete sie sich weiter und
erwarb Diplome in Tropenmedizin, Gemeinschaftsmedizin sowie
Tuberkulose- und Leprabekämpfung, obgleich sie keine voll
ausgebildete Ärztin wurde.
In den siebziger Jahren konnte die Tuberkulosebehandlung
durch ein neues Medikament von 12 bis 18 auf sechs Monate verkürzt werden. Dr. Tonelli setzte sich für die TB-Schnellbehandlung in Afrika ein, ein Ansatz, der in der Folge von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übernommen wurde. Was ihre
Behandlung so wirksam macht – ihre Genesungsrate liegt ihren
Angaben zufolge bei 96 Prozent – ist die Tatsache, dass sie viele
der somalischen Nomaden zwingt, bis zur endgültigen Genesung das Krankenhaus nicht zu verlassen. Ambulante Patienten
behält sie genauestens im Blick.
Seit 1986 lebt sie in Somalia. Zuerst wohnte sie in der Hauptstadt Mogadischu, wo sie Tausende von verhungernden
Einwohnern mit Nahrung versorgte, später in Merca im Süden
des Landes, wo sie ebenfalls Tuberkulosepatienten behandelte.
Nachdem sie wiederholt Opfer tätlicher Angriffe geworden war
und einmal sogar entführt wurde, ergriff sie die Flucht. Die
Ärztin, die sie geschult hatte, damit diese ihre Stelle einnehmen
konnte, wurde nur ein Jahr später getötet. Auf Bitte der WHO
setzte Dr. Tonelli in der Folge ihren Kampf gegen die Tuberkulose
fort, dieses Mal im relativ friedlichen Somaliland. Sie erweiterte
ihr Arbeitsfeld und begann, HIV/AIDS-Infektionen zu behandeln und sich für die AIDS-Prävention einzusetzen, denn
AIDS ist eine Krankheit, die gerade geschwächte Tuberkulosekranke befällt. Sie gründete eine Schule für taube und behinderte
Kinder und finanziert den Besuch von Ärzten einer deutschen
Wohltätigkeitsorganisation, die zweimal im Jahr kommen und
3.700 Patienten, die an grauem Star litten, das Augenlicht wiedergegeben haben. Sie setzt sich ebenso rückhaltlos im Kampf gegen
die Verstümmelung weiblicher Genitalien ein und konnte nach
ihren eigenen Angaben inzwischen beinahe alle traditionellen Beschneiderinnen in Borama davon überzeugen, diese Praxis aufzugeben und sich ihrer Kampagne anzuschließen.
Selbst im Alter von sechzig Jahren lässt Dr. Tonelli keine Anzeichen erkennen, kürzer treten zu wollen. Wenn sie jemals gezwungen sein sollte, Somalia zu verlassen, sagte sie leise, „dann werde ich
Menschen helfen, die an anderen Orten der Welt leiden. Die Welt
ist voll davon.“ B
Sadruddin Aga Khan im Jahr 1974.
im Irak. Er veröffentlichte mehrere Bücher und
erhielt internationale Auszeichnungen wie den
Titel eines Kommandeurs der französischen
Ehrenlegion und den UN-Menschenrechtspreis.
31
Über drei Millionen Menschen sind in dem
Bürgerkrieg im Kongo gestorben.
Schätzungsweise zwei Millionen wurden in
dem andauernden Konflikt im Sudan getötet.
In Angola wurden in den letzten drei
Jahrzehnten mindestens eine Million
Menschen getötet.
Die Konflikte in Liberia, Côte d’Ivoire und
anderen Staaten dauern an.
Wegen dieser Kriege leben etwa 15 Millionen
Menschen weiterhin als Vertriebene.
Mehrere hunderttausend Menschen kehren
nach Angola, Sierra Leone und in andere
Länder zurück.
Zwei Millionen Flüchtlinge warten auf den
Ausgang derzeit laufender Friedensgespräche.