Die Bypass-Chirurgie ist auch heute noch eine Option

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Die Bypass-Chirurgie ist auch heute noch eine Option
Schwerpunkt
Nachbehandlung nach Hirnschlag
Die Bypass-Chirurgie ist auch
heute noch eine Option
AMINADAV MENDELOWITSCH, AARAU
Zusammenfassung
PD Dr. med. Aminadav
Mendelowitsch, Aarau
E-Mail: a.mendelowitsch@
hirslanden.ch
Eine sorgfältig selektionierte Gruppe von Patienten
mit hämodynamisch relevantem Verschluss der
A. carotis interna profitiert von einem Bypass. Dies
zeigt sich aufgrund der signifikanten Besserung des
klinisch-neurologischen Bildes postoperativ sowie
in der Prävention von weiteren cerebrovaskulären
Episoden. Zusätzlich ist die Bypassoperation mit
einer tiefen Morbidität und bisher keiner Mortalität
behaftet. Es konnte auch eine lange Funktionstüchtigkeit des Bypass während der Nachkontrollperiode
gezeigt werden.
■ In der Schweiz erleiden jedes Jahr rund 15 000
Patienten einen Schlaganfall. 10–15% der Patienten,
die einen territorialen Infarkt im Versorgungsbereich der A. carotis interna oder transitorische ischämische Attacken (TIA) aufweisen, haben eine
ein- oder beidseitige Carotis-Okklusion.
Die Prävention von rezidivierenden Schlaganfällen bei Patienten mit einem Carotis-Verschluss
bleibt eine schwierige Herausforderung. Die Rezidivrate für ischämische Schlaganfälle ipsilateral zu
einem Carotis-Verschluss liegt bei 5,9% pro Jahr
[1]. Das gleiche Risiko besteht auch unter Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern. Pathophysiologisch handelt es sich bei den CarotisVerschlüssen mit ischämischen Schlaganfällen um
Thromboembolien oder um eine hämodynamische
Insuffizienz, verursacht durch einen mangelnden
Kollateralkreislauf.
Dank den neuen neuroradiologischen Möglichkeiten – speziell SPECT, PET und Diffusions- und
Perfusions-MRI – ist es heutzutage möglich, die
Patientengruppe zu selektionieren, die aufgrund
einer hämodynamischen Insuffizienz am meisten
von einem extrakraniellen-intrakraniellen (EC-IC)
Bypass profitieren würde.
Historische Hintergründe
Der erste extrakranielle-intrakranielle Bypass wurde 1966 von Yasargil an einem Hund durchgeführt,
und 1967 schafften es Yasargil und Donaghy unabhängig voneinander, den ersten extrakraniellenintrakraniellen Bypass am Menschen zu legen [2].
Fortan wurde diese neue mikrochirurgische Methode als wichtiger Durchbruch in der Behandlung
okklusiver cerebrovaskulärer Krankheiten gepriesen.
Bis Ende der 70er-Jahre wurde dieser elegante Eingriff an den meisten Neurochirurgischen Zentren
routinemässig vorgenommen.
Mit der Verbreitung dieser Operation wurde über
die Jahre auch ihre Indikation auf andere Krankheitsbilder ausgedehnt. So findet der extrakranielleintrakranielle Bypass heute auch Anwendung in der
komplexen Aneurysmachirurgie, der Tumorchirurgie und der Behandlung der in Japan häufigen MoyaMoya-Krankheit.
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2005; Vol. 3, Nr. 4
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Abb. 1: Grenzscheiden-Infarkt im Versorgungsgebiet der A. cerebri media und A. cerebri anterior
rechts
Abb. 3: Präoperativer Perfusionsdefekt im SPECT (links); Postoperative Reperfusion im SPECT (rechts)
Kontroverse Studie aus den 70er-Jahren:
Die Folgen halten bis heute an
Die obwohl der extrakranielle-intrakranielle Bypass
in den 70er-Jahren eine weite Verbreitung fand,
blieb sein Benefit für die Patienten kontrovers. So
wurde 1977 von der «International Cooperative
Study Group» («EC-IC Bypass Study Group») eine
prospektive multicentrische randomisierte Studie
initiiert, um zu untersuchen, ob die medikamentöse
oder die chirurgische Behandlung bei Patienten mit
Verschluss der A. carotis interna eine potentere
Verhinderung weiterer Schlaganfälle bringe [3]. Die
Resultate wurden 1985 veröffentlicht: Patienten im
chirurgischen Arm der Studie hatten früher und
häufiger einen Schlaganfall als die medikamentös
behandelten Patienten. Dieses Resultat – obwohl
kontrovers diskutiert und kritisiert – führte dazu,
dass die Mehrheit der Neurochirurgischen Zentren
den extrakraniellen-intrakraniellen Bypass beim
atherosklerotischen Verschluss als Behandlungsmethode aufgab. Doch die Studie blieb über längere
Zeit ein heisses Diskussionsthema. Die Kritiker
beklagten vor allem folgende Schwachpunkte [4]:
• Die grosse Anzahl asymptomatischer Patienten
in beiden Armen
• Das Fehlen einer präoperativen Beurteilung der
cerebralen Durchblutung und einer präoperativen
neuroradiologischen Bildgebung (CT)
• Nur bei der Hälfte der Patienten wurde vor der
Studie die medikamentöse Therapie voll ausgeschöpft.
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Abgesehen von diesen Schwachpunkten gilt heute die grosse Anzahl an Patienten, die ausserhalb
der Studie operiert wurden, als die wahre Achillesferse der Studie. Nachforschungen des bekannten
Neurochirurgen Sundt ergaben, dass 2572 Patienten
nicht in die Studie aufgenommen worden waren,
weil man sie als Hochrisikopatienten beurteilt hatte, die eine baldige Operation nötig hatten und die
man nicht randomisieren wollte. Die Folge davon
Abb. 2: Angiographie: rechte A.
carotis communis
mit Verschluss der
A. carotis interna
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Tab. 1: Mögliche Kandidaten für EC-IC-Bypass
Diagnostischer Algorithmus für Patienten mit Verdacht
auf hämodynamische Insuffizienz
Alter
<70 Jahre
Anamnese
rezidivierende TIAs
rezidivierende PRINDs
Klinische Untersuchung
Normal
Leichte neurologische Defizite
Morphologische Diagnostik
(a) MRI
normal
Wasserscheiden-Infarkt
(b) Cerebrale Angiographie
uni- oder bilateraler Carotis int. Verschluss
Arteria cerebri media Verschluss/hochgradige Stenose
Funtionelle Diagnostik
SPECT (ohne und mit Diamox-Belastung):
pathologisch
EC-IC-Bypass
war, dass die Patienten, die am meisten von einer
Operation profitiert hätten, nicht in die Studie aufgenommen wurden, und so in den Resultaten nicht
figurieren [5].
Aufgrund dieser Kontroverse gab es eine handvoll Neurochirurgische Zentren, die den extrakraniellen-intrakraniellen Bypass weiter bei Patienten
mit symptomatischem Verschluss der A. carotis
interna mit guten Resultaten durchführten.
Wann und wie ist die
EC-IC-Bypasschirurgie angebracht?
Der diagnostische Algorithmus zur Identifizierung
von Patienten, die von einer Bypass-Operation profitieren könnten, wird in Tabelle 1 gezeigt.
Der Evaluationsprozess basiert auf Anamnese,
Klinik und diagnostischer Untersuchung. Obwohl
es offiziell keine Altersgrenze gibt, sollten Patienten, die älter als 70 Jahre sind, nur in Ausnahmefällen operiert werden. Klinisch gesehen sollten
Patienten mit rezidivierenden TIAs und/oder leichten, nicht einschränkenden neurologischen Ausfällen für einen Bypass berücksichtigt werden. Ein
EC-IC-Bypass bei Patienten mit persistierenden
schweren neurologischen Ausfällen (Hemiplegie,
schwere Aphasie) ist kontraindiziert.
Der erste diagnostische Schritt bei der Patientenevaluation ist heutzutage das MRI. Charakteristisch bei Patienten mit hämodynamisch bedingter
cerebraler Ischämie ist das Vorliegen eines normalen MRI oder eines «Grenzscheiden»-Infarkts
(s. Abb. 1 auf S. 7). Der nächste Schritt besteht im
Durchführen einer cerebralen Angiographie. Bei
dieser dynamischen Untersuchung können der
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Kollateralkreislauf (Circulus vilisii) und der Gefässverschluss evaluiert werden (s. Abb. 2), ebenso
der geeignete Donor (Gefäss) für den Bypass.
Der cerebrale Blutfluss und die hämodynamische
cerebrale Reserve werden quantitativ mit dem
SPECT («single photon emission CT») untersucht
(s. Abb. 3). Diese Untersuchung wird in Ruhe und
in sog. Stimulation (mit Diamox) durchgeführt.
Charakteristischerweise haben Patienten mit hämodynamisch verursachter Ischämie (fast) normale
Werte in Ruhe, jedoch unter Belastung mit Diamox
eine interhemisphärische Seitendifferenz zuungunsten der betroffenen Hemisphäre (signifikant niedriger Anstieg des Blutflusses unter Stress).
Diese Demonstration einer insuffizienten cerebrovaskulären Reaktivität ist das wichtigste Entscheidungskriterium für die Indikationsstellung zur
Bypasschirurgie.
Postoperative Resultate
der Bypasschirurgie
Mögliche operative Komplikationen und die postoperativen Resultate wurden anhand einer retrospektiven Untersuchung dargestellt [6]: Die Daten
von 67 Patienten mit gesamthaft 73 Bypässen, welche zwischen 1986 und 2000 an der Neurochirurgischen Klinik des Universitätsspitals Basel operiert
wurden, wurden analysiert. Die Patienten waren
durchschnittlich 61 Jahre alt (Streuungsbreite: 38–79
Jahre), und ein Total von 65 Patienten mit 66 Bypässen wurde während durchschnittlich 44 Monaten
(Streuungsbreite: 1,5–150 Monate) jährlich nachkontrolliert. Das bedeutet eine Gesamtnachkontrollperiode von 2860 Monaten, was wiederum 238
Patientenjahren entspricht.
Die folgenden Selektionskriterien galten für die
Bypassoperation: Alle Patienten litten unter einem
symptomatischen Verschluss der A. carotis interna.
Die voll ausgeschöpfte medikamentöse Therapie
brachte keinen Erfolg. Der Beweis für einen Verschluss der A. carotis interna mit wenig Kollateralfluss wurde mit Doppler/Duplex Ultraschall und
Angiographie erbracht. CT und/oder MRI wurden
gebraucht, um die Hirnpathologie zu evaluieren.
Und schliesslich wurde eine hämodynamische Insuffizienz mit der Untersuchung des cerebralen Blutflusses (CBF) und/oder SPECT diagnostiziert.
Die Patienten zeigten vor der Operation folgendes klinisches Bild: 15 Patienten (22%) hatten
wiederholte TIAs, 33 Patienten (49%) ein neurologisches Defizit nach Schlaganfall im Versorgungsgebiet der A. cerebri media und 16 Patienten (24%)
litten sowohl unter einem neurologischen Defizit
nach Schlaganfall als auch an wiederholten TIAs.
Bei drei Patienten (4%) konnte nicht sicher zwischen neurologischem Defizit und TIAs unterschieden werden.
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Schwerpunkt
extrakraniell
intrakraniell
Abb. 4: End-zu-Seit Anastomose zwischen A. temporalis superficialis
und corticalem Ast der A. cerebri media
Ergebnisse der Basler Studie
Es gab keine perioperative Mortalität, die Morbidität betrug 3% (2 Patienten). Während der Nachkontrollperiode hatten 55 Patienten (85%) keine
weiteren cerebrovaskulären Episoden mehr. Unter
den sieben Patienten (11%), welche eine weitere
cerebrovaskuläre Episode erlitten, gab es nur einen
Schlaganfall, die restlichen sechs Patienten hatten
eine einmalige TIA ohne weitere Episoden oder
Konsequenzen. Bei drei Patienten war das Vorliegen einer weiteren cerebrovaskulären Episode
unklar. Kein Patient starb aufgrund eines cerebrovaskulären Geschehens während der Nachkontrollperiode.
Weiter wurde der Verlauf der klinisch neurologischen Symptomatik in jährlichen Abständen untersucht. 57 Patienten (88%) zeigten eine Verbes-
serung ihrer neurologischen Symptomatik. Eine
Verbesserung wurde definiert entweder als eine
Verbesserung des vorbestehenden neurologischen
Defizits von mindestens einem Punkt auf der
«Muscle Grading Scale» (0–5), als Sistieren oder als
Minderung der Häufigkeit von auftretenden TIAs
nach dem Bypass. Von den drei Patienten, denen
es nach der Operation neurologisch schlechter ging,
waren zwei aufgrund der perioperativen Morbidität
betroffen. Nur ein Patient hatte während der Nachkontrolle, zwei Jahre nach der Operation, einen
Schlaganfall. Bei fünf Patienten (8%) gab es weder
eine Verschlechterung noch eine Verbesserung
der neurologischen Symptomatik.
Die Funktionstüchtigkeit wurde auch jährlich
mit Doppler/Duplex Ultraschall evaluiert. 58 Patienten (89%) hatten während der ganzen Nachkontrollperiode einen funktionstüchtigen Bypass.
Bei drei Patienten (5%) war der Bypass nicht durchgängig und bei vier Patienten (6%) konnte die Funktionstüchtigkeit nicht sicher etabliert werden.
Schlussfolgerungen
Die zugrunde liegende Idee ist es, bei Patienten,
die an einem Verschluss der A. carotis interna leiden, den cerebralen Blutfluss zu erhöhen und so
eventuellen Schlaganfällen vorzubeugen. Beim Verfahren des extrakraniellen-intrakraniellen Bypass
wird eine Anastomose zwischen der A. temporalis
superficialis und einem Ast der A. cerebri media
geschaffen (s. Abb. 4).
Studien konnten bisher keine Mortalität und nur
eine tiefe Morbidität des EC-IC-Bypass belegen.
Für den Erfolg ist vor allem die sorgfältige Selektionierung der Patientengruppen entscheidend.
PD Dr. med. Aminadav Mendelowitsch
Neurochirurgie
Cranio-Faciales-Centrum Hirslanden
Hirslanden Klinik Aarau
Schänisweg, 5000 Aarau
E-Mail: [email protected]
Literatur:
1. Marshall J: Prognostic significance of severity of carotid
atheroma in early manifestations of cerebrovascular disease. Cerebrovasc Dis 1991; 1: 245–256.
2. Yasargil MG: Anastomosis between the superificial temporal artery and a branch of the middle cerebral artery, in
Yasargil MG (ed): Microsurgery applied to Neurosurgery.
Stuttgart: Georg Thieme Verlag 1969: 105–115.
3. The EC/IC Bypass Study Group: Failure of extracranial/intracranial arterial bypass to reduce the risk of ischemic
stroke. Results of an international randomized trial. N Eng
J Med 1985; 313: 1191–1200.
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4. Ausman JI, Diaz FG: Critique of the extracranial-intracranial
bypass study. Surg Neurol 1986; 26: 218–221.
5. Sundt TM Jr: Was the international randomized trial of extracranial-intracranial arterial bypass representative of the
population at risk? N Engl J Med 1987; 316: 814–816.
6. Mendelowitsch A, Taussky P, Rem JA, Gratzl O: Clinical outcome of standard extracranial-intracranial bypass surgery
in patients with symptomatic atherosclerotic occlusion
of the internal carotid artery. Acta Neurochir 2004; 146:
95–101.
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