Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens

Transcrição

Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Dr. phil. Joachim Reisaus
Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Vorbemerkung
Zur Zeit Griegs war Norwegen ein Land mit 1,5 Millionen Einwohnern. Musikkonservatorien
oder ähnliche Einrichtungen existierten nicht. Ein Musikstudium war daher nur im Ausland
möglich. Heute leben in Norwegen über 5 Millionen Menschen, und das Land besitzt 7
Kunst- und Musikhochschulen.
Grieg kam 1843 in der Hafenstadt Bergen zur Welt. Sein Vater, Alexander Grieg (1806 bis
1875), war ein Handelsherr und englischer Konsul, die Mutter, Gesine Grieg geb. Hagerup
(1814 bis 1875), eine angesehene Klavierlehrerin und Pianistin, die einen Musiksalon führte
und selbst Theaterstücke und Gedichte verfasste. Auch der Vater spielte Klavier mit kurzen
emsigen Fingern.
Edvard besuchte die Tanksche Schule in seiner Heimatstadt, eine Handelsschule mit gutem
Sprachunterricht. Hier wurden die künftigen Handelsunternehmer und Schiffskapitäne
ausgebildet. Doch die Schuljungen zeigten sich dem Lernen nicht besonders zugetan. Sie
waren zügellos, wild, die meisten von zu Hause her schlecht erzogen und manche von ihnen
sogar dem Trunk und Tabak verfallen. Mit brutalen Mitteln behaupteten sich die Lehrer.
Unerbittlich übten sie ihre Macht aus. Edvard litt sehr unter den Zuständen, in die er hier
geraten war. Sie standen im krassen Gegensatz zur musischen Atmosphäre im Elternhaus und
führten zwischen ihm und der Institution zu Spannungen, die seine Belastbarkeit übersteigen
sollten. Das aggressive Verhalten der Lehrer brachte den Feinfühligen stets aufs Neue in
Lernschwierigkeiten.
Der junge Grieg war 12 Jahre alt und hatte seine Variationen, Opus 1 in die Schule
mitgebracht. Ein Klassenkamerad meldete das dem Deutschlehrer. Der ließ sich das
Notenheft geben und holte seinen Kollegen aus der Nachbarklasse hinzu. Edvard fühlte sich
schon einem großen Erfolg nahe. Doch kaum hatte der andere Pädagoge das Klassenzimmer
wieder verlassen, packte der Deutschlehrer Edvard an den Haaren, schüttelte ihn bis ihm
schwarz vor den Augen wurde, schrie ihn an und verbot ihm das Komponieren. Der
Empfindsame fühlte sich in die Tiefe geschleudert und erlitt einen Schock. Edvard blieb
sitzen und musste die dritte Klasse wiederholen. Künftig sah er in jedem Lehrer seinen Feind,
eine Fiktion, die immer wieder Konflikte mit Machtbefugten verursachte und schließlich zum
Autoritätskomplex erstarrte. Der Erlebnisinhalt dieser überwertigen Ideen gab auch den
Anstoß zur republikanischen Haltung des späteren Komponisten.
Als Grieg mit 15 Jahren 1858 auf das Leipziger Konservatorium kam, sah er auch hier in den
Lehrern seine Feinde. Ein Leben lang lebte Grieg im Konflikt mit diesem Institut. Hinter
diesen Auseinandersetzungen stand nicht etwa die Unfähigkeit der Konservatoriumslehrer,
stand auf keinen Fall ein mangelhaftes Niveau der Lehranstalt, hinter diesem Konflikt verbarg
sich die Angst des Komponisten vor den Forderungen der Welt, versteckte sich Griegs
Lebensangst.
1
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
1. Innere Bedingungen der Grieg’schen Individualität
Biologische und psychische Voraussetzungen
Als feingliedriger, zurückhaltender Knabe, begabt mit lebhaftem Drang sich auszudrücken,
ähnelte Grieg in seiner Kindheit mehr der Mutter und weniger dem Vater. Noch mit fünfzehn
Jahren, zu Beginn des Studiums in Leipzig, sah Edvard aus wie ein Schulkind: zarte Gestalt,
rundliches Gesicht sowie schlichtes, glattes Haar. Erst der Sechzehnjährige bekam allmählich
männlichere Züge. Verhältnismäßig spät, weit nach dem achtzehnten Lebensjahr, nahm das
Antlitz seine charakteristische Form an und wurde infolge körperlicher Reife nicht mehr von
schlichtem, glattem Haar, sondern von blonden Locken umrahmt. Die Ähnlichkeit mit der
Mutter verlor sich und machte der eigenen Individualität Platz. Der Hinweis aus den
Erinnerungen, „wir Norweger entwickeln uns nämlich gewöhnlich zu langsam, als dass wir
bereits im Alter von achtzehn Jahren vollauf zeigen können, was in uns steckt“, bestätigt, dass
die Reifung sich hinauszögerte.1
Grieg war ein Mann von nur geringer Körpergröße (1,52 m),
zeitlebens schlank und schmächtig, der Konstitution nach ein
Astheniker. Überall fiel sein Charakterkopf auf. Zwischen der
oberen Gesichtsebene mit der hohen Stirn, den buschigen Brauen
sowie der leicht nach vorn ragenden Nase und der unteren Ebene,
wo das Kinn - gemäß der asthenischen Konstitution - wenig
ausgeprägt und kurz, etwas zurückwich, bestand ein Gegensatz,
allerdings nicht so markant wie im Gesicht Richard Wagners. Seine
hellblauen Augen hatten den Blick eines Kindes. Der Bartwuchs
war jünglingshaft spärlich. Bis in sein Mannesalter besaß Grieg das
volle Haupthaar eines Asthenikers, welches sich jedoch später zu
lichten begann. Er selbst witzelte darüber, und auch Debussy (1862
bis 1918) beschrieb den Haarschwund mit Humor: „Von vorn sieht
er aus wie ein genialer Photograph; von hinten lässt ihn seine
Haartracht jenen Pflanzen ähneln, welche man Sonnenblumen nennt.“ 2 Griegs Hände - dünn,
klein, blutleer - erweckten den Eindruck, als wären sie zum Klavierspiel ungeeignet. Aber der
Schein trog. Paris verglich seinen energievollen Anschlag mit dem Spiel von Camille SaintSaëns (1835 bis 1921) und Nikolai Rubinstein (1835 bis 1881).3 Tschaikowski (1840 bis
1893), der dem norwegischen Tonschöpfer 1888 in Leipzig begegnete, überlieferte, wie
Griegs Erscheinung auf andere wirkte: „Die Gesichtszüge dieses Mannes, dessen Äußeres
sofort meine Sympathie erweckte, hatten nichts Besonderes, man konnte sie weder hübsch
noch regelmäßig, wohl aber ungewöhnlich anziehend nennen.“ 4
(Abb. oben: Edvard Grieg, F. Benestad og D. Schjelderup-Ebbe „Edvard Grieg“)
Verzögerte Reifung, geringe Ausprägung typisch männlicher Merkmale, allgemein
schwächliche Konstitution und die klein gewachsene Gestalt deuten auf eine Insuffizienz des
Hormonsystems, was sich zweifellos auch charakterlich und künstlerisch ausgewirkt haben
könnte; denn die überaus zarten, poesievollen Klavierstücke und Lieder des Norwegers
drücken eher weibliches als männliches Empfinden aus. Feminines Fühlen lässt sich
außerdem in folgenden Worten Griegs entdecken: „Jetzt bin ich aber so matt, als hätte ich
Zwillinge bekommen.“ 5
1
Zitiert nach Brock, Hella, Edvard Grieg als Musikschriftsteller, 1999, S. 47.
Zitiert nach Debussy, Claude, Einsame Gespräche mit Monsieur Croche, 1975, S. 86.
3
Vgl. dazu Finck, Henry T., Edvard Grieg, 1908, S. 59.
4
Zitiert nach Tschaikowski, Peter, Erinnerungen und Musikkritiken, 1974, S. 48.
5
Zitiert nach Zschinsky-Troxler, Elsa v., Edvard Grieg/Briefe an die Verleger der Edition Peters, 1932, S.70.
2
2
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Der junge Edvard Grieg
Elfjährig
Fünfzehnjährig
Sechzehnjährig
Achtzehnjährig
Quellenverzeichnis der Fotos
F. Benestad og D. Schjelderup-Ebbe „Edvard Grieg“ (1)
D. M. Johansen „Edvard Grieg“ (2, 3, 4)
3
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Deshalb trifft es sicherlich zu, dass der Persönlichkeit des norwegischen Komponisten mehr
Elemente, die dem weiblichen Wesen zugeschrieben werden, beigemischt waren als dem
Durchschnitt. Offensichtlich aber erzeugten gerade diese die Besonderheiten seines
Schöpfertums und nutzten so der Kunst im hohen Maße.
Sehr früh kam es bei Grieg zu konstitutionell bedingten reizbaren Reaktionen, die sich
zunächst als Konzentrationsstörung äußerten. Oft wurde er als Kind während des
Klavierunterrichtes von der Mutter und später in der Schule von den Lehrern getadelt, weil er
unaufmerksam war. Anstatt aufzupassen, träumte er vor sich hin.6 Abgesehen davon, dass
Kinder bis zu einem gewissen Grade immer konzentrationsschwach sind, weil sie es erst
lernen müssen, aufmerksam zu sein, zeigte sich bei Grieg eine über die Kindheit
hinausgehende Zerstreutheit. Als Student hatte er damit zu ringen, und auch als Erwachsener
vermochte er nur kurze Zeit einem Vortrag zu folgen.7 Vermutlich versperrten ihm Gefühle
und Empfindungen oder die Weiterarbeit an Klängen, Bildern und Ungeformtem den Zugang
zu den augenblicklichen Forderungen der Realität, ohne dass er imstande war, dem, was ihn
innerlich beschäftigte, Einhalt zu gebieten.
Infolge der Fehlregulationen zeigte sich beim Schulkind zusätzlich ein ängstlicher
Wesenszug, der auch im Erwachsenenalter weiter bestehen blieb. Vor jedem öffentlichen
Konzertauftritt war Grieg so nervös, dass er bisweilen kein Wort hervorbringen konnte, im
Künstlerzimmer ruhelos auf und ab ging mit einem Gesichtsausdruck, der Hilflosigkeit und
Angst verriet. In Deutsch brachte er dann mit schwacher Stimme die Worte hervor: „Nein, ich
kann nicht, ich kann nicht!“8 Oftmals musste er sich mit einigen Opiumtropfen beruhigen.9
Außerdem traten funktionelle Störungen auf, die ebenfalls durch die Übererregbarkeit seines
Nervensystems hervorgerufen wurden. Noch nicht vierzig Jahre alt, litt er an einem
chronischen Magenkatarrh, „den loszuwerden unmöglich erschien.“ 10
Darüber hinaus äußerte sich die Übererregbarkeit in einer erhöhten Empfindsamkeit. Der
Komponist sagte selbst, dass er „etwas von einer Mimose“ an sich habe.11Als Folge davon
stellten sich übernachhaltige Reaktionen ein: Grieg konnte die Konflikte mit dem Leipziger
Konservatorium nicht vergessen. Sie blieben ihm ständig in Erinnerung und wirkten ein
Leben lang nach. Da Grieg außerdem meinte, die Konservatoriumslehrer hätten ihn in seiner
Entwicklung behindert, fühlte er sich zurückgesetzt, und um sich Geltung zu verschaffen,
strebte er danach, von aller Welt anerkannt zu werden, so dass sich die Übernachhaltigkeit
obendrein noch als Ehrgeiz manifestierte.
Äußerungen von Zeitgenossen bestätigen, dass Grieg sprudelnd geistreich sein konnte und mit
Gedankenblitzen andere in Erstaunen versetzte.12 Wie sein Bruder besaß auch er
Zeichentalent. Das überlieferte Porträt seines Bergener Musiklehrers sowie eine Skizze von
Larvik, alles Bleistiftzeichnungen, lassen die Schlussfolgerung zu, dass Grieg mehr ein
Formbeachter und weniger ein Farbbeachter war.
6
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O. , S.18 ff. .
Ebenda, a. a. O., S. 47.
8
Zitiert nach Finck, Henry T., a. a. O., S. 71.
9
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, Edvard Grieg, Oslo 1934/Übersetzung von Eugen Schmitz, 1943,
Maschinenschrift, Musikbibliothek der Stadt Leipzig, S. 16.
10
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 261.
11
Ebenda, S. 234
12
Vgl. dazu ebenda, S. 308.
7
4
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Griegs Bleistiftzeichnungen
Musiklehrer Schediwy
Larvik
(F. Benestad og D. Schjelderup-Ebbe „Edvard Grieg“)
Das Fundament seines Wesens setzte sich aus vielfältigen, polar sich gegenüberstehenden
Anlagen zusammen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kombination durch Vererbung
entstand; denn Griegs Eltern waren Persönlichkeiten, die sich extrem voneinander
unterschieden. Der Vater mit der heiteren, nach außen gewandten Grundstimmung, dem aber
auch depressive Verstimmungen nicht fremd waren, war der eine Pol, während die nach innen
gekehrte, feinfühlige, nach außen jedoch schroff und herrisch wirkende Mutter den Gegenpol
verkörperte. Im Sohn vereinigten sich Persönlichkeitseigenschaften beider Eltern.
Vermutlich als Erbteil des Vaters durchlebte Grieg neben Zeiten produktiven Schaffens
immer wieder Perioden eines kraftlosen Zustandes, in denen er nichts hervorbrachte und ihm
Untauglichkeitsgefühle bedrängten. Auch sein Bruder litt unter dem Schwanken der
Gemütsverfassung, wobei in seinem Falle die Niedergeschlagenheit dominierte. Bei Edvard
jedoch wechselten solche Gemütslagen „mit einer Gewaltsamkeit, die dem Schaffensakt einen
5
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
beinahe explosiven Charakter gab“. Grieg vermochte eben nur, wie er es nannte, „ruckweise“
zu komponieren.13
Am eindrucksvollsten zeigte sich das im Jahre 1898, als der Komponist zusammen mit
Svendsen (1840 bis 1911) das erste norwegische Musikfest in Bergen veranstaltete, bei dem
er ein bewunderungswürdiges Organisationstalent bewies. Damals befand sich Grieg in einer
derart euphorischen Gemütsverfassung, dass er nach dem Gelingen schreiben konnte, er sei
zehn Jahre jünger geworden und habe sich noch nie so gesund gefühlt wie in dieser Zeit.14
Bezeichnenderweise entstanden im gleichen Jahr - seit langem wieder - Kompositionen für
großes Orchester („Sinfonische Tänze über norwegische Motive“ op. 64), die innerhalb des
von Kammermusik geprägten Gesamtwerkes Griegs eine Seltenheit darstellten. Ohne
periodische Erregungen, die den Höhenflug im Schaffensprozess ermöglichten, wäre es dem
Norweger wahrscheinlich kaum gelungen, Bleibendes zu gestalten, obwohl Depression und
Leistungsversagen - vielleicht als Schutz vor Überforderung, als eine Art Psychohygiene unabwendbar dazugehörten.
Seine eigenständigsten und ausdrucksvollsten Werke schuf der Komponist nach dem 23. und
vor dem 40. Lebensjahr, im Anschluss daran klagte er vermehrt über ein Schwinden der
Schaffenskraft, äußerte 1882, keine Note mehr zu schreiben und wollte mit 51 Jahren ganz
auf die Kunst verzichten.15 Der norwegische Arzt Finn Böe stellte ein Nachlassen der
Produktivität vom 35. Lebensjahr an fest und machte dafür erbliche Faktoren
verantwortlich.16 Demnach ergaben sich vermutlich diese Erscheinungen weniger aus dem
Schwanken der Gemütsverfassung als vielmehr aus Griegs asthenischer Konstitution; denn
vorzeitiges Altern ist bei Asthenikern ein „wichtiges biologisches Stigma“, das sich in
ausgeprägten Fällen schon zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr beobachten lässt.17
Das phasische Schwanken des Gemütszustandes jedoch wurde für Grieg nicht, wie das bei
seinem Bruder der Fall gewesen war, zum lebensbedrohenden Schicksal. Vor Zerrüttung und
Zerstörung schützten ihn neben seiner Kunst vermutlich phlegmatische Eigentümlichkeiten,
die sich, ähnlich wie bei seinem Vater, in einer genüsslichen, bequemen Lebensart äußerten.
Morgens stand Grieg spät auf, frühstückte gelassen, rauchte gemächlich eine Zigarette „und
ließ es sich wohl sein“. Doch wenn er dann zu arbeiten begonnen hatte, löste er sich, seinem
Phlegma entsprechend, nur schwer wieder davon. Auch das Stadtleben mit seinen
Gesellschaften und Abwechslungen vermochte ihn „zur Faulheit“ zu verleiten. Nach dem
Bericht des amerikanischen Dirigenten und Komponisten van Stucken, der während eines
Aufenthaltes in Leipzig, wo er Griegs a-Moll-Konzert op. 16 im Gewandhaus aufführte,
Gelegenheit hatte, den Norweger etwas näher kennenzulernen, konnte „eine schöne Portion
Austern, Kaviar oder ein norwegisches Schneehuhn zusammen mit einem Glase guten alten
Weins Grieg wunderbar aufmuntern“.18 Sonst trank der Komponist Tee, morgens stark und
abends schwach. 19
Wie Richard Strauss (1864 bis 1949) liebte auch Grieg das Kartenspiel. Zusammen mit van
Stucken pflegte er nach dem Mittagessen ins Leipziger Café Francais zu gehen, um dort eine
13
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 141, S. 149 und S. 178.
Vgl. dazu Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, Edvard Grieg, 1908, S. 64 und S. 66.
15
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 160, S.182 und S. 196.
16
Vgl. dazu Guttmann, Alfred, Ein neues Buch über Griegs Persönlichkeit, in: Schweizerische Musikzeitschrift,
Heft 4, 1950, S.166 f. .
17
Vgl. dazu Kretschmer, Ernst, Körperbau und Charakter, 1961, S. 26 und S. 58 ff. .
18
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 77, S. 142 und S. 165.
19
Vgl. dazu Finck, Henry T., a. a. O., S. 62.
14
6
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Stunde Whist zu spielen. Bei dieser Gelegenheit lernte der Amerikaner Griegs depressive
Züge kennen, die sich besonders dann zeigten, wenn er mit ihm allein war. Doch Frau Nina
Grieg vertrat zu des Gatten Depressionen eine eigene Ansicht und meinte, die
Verstimmungen hätten nicht zum Wesen ihres Mannes gehört. Sie machte dafür die leichte
Störanfälligkeit seines Gesundheitszustandes verantwortlich und wollte auf diese Weise den
berühmten Gatten in ein vorteilhaftes Licht rücken. 20Die tatsächlichen Zusammenhänge
jedoch sahen wie folgt aus:
Grieg, der sich selbst als „melancholischen Menschen“ bezeichnete21, gehörte, genauer
betrachtet, zu den depressiv-hysterischen Persönlichkeiten.22 Wahrscheinlich bildeten
gemüthafte, gefühlsbetonte Anlagen zusammen mit der angeborenen Lebhaftigkeit
emotionaler Abläufe die konstitutionelle Grundlage dieser Wesensart, wobei das
Durchsetzungsvermögen bei gleichzeitiger Neigung zur Ängstlichkeit zurücktrat, das innere
Erleben jedoch - ähnlich wie bei seiner Mutter - zur künstlerischen Gestaltung drängte. Aber
erst der Widerspruch zwischen der musikalischen Begabung und den Erziehungsabsichten der
Heimatschule führte - soweit sich die biografischen Quellen zurückverfolgen lassen - zur
endgültigen Ausprägung der depressiv-hysterischen Persönlichkeitsstruktur. Die Schule löste
im jungen Grieg eine übergroße Lebensangst aus. Dort waren Forderungen an ihn
herangetragen worden, die er, da sie seiner Veranlagung sehr fern lagen, gar nicht oder nur
unter Zwang erfüllen konnte. Als ihn die Lehrer daraufhin sogar von seinen
Kompositionsversuchen abbringen wollten, flüchtete Grieg aus Verzweiflung und unter
Missachtung der Kausalität (was für Hysteriker bezeichnend ist) in irreale Vorstellungen.
Übertriebene Ideen kamen auf, „ein Prophet, ein Verkünder“ wollte er sein, und da sein
Geltungsbedürfnis in der Schule unbefriedigt blieb, stellte er sich daheim vor Eltern und
Geschwistern hinter einen Stuhl, ließ dem Drang nach Geltung freien Lauf und predigte
drauflos, ohne Rücksicht.
Als Grieg dann auf das Leipziger Konservatorium kam, hatte er trotz depressiver
Verstimmungen sofort wieder hoch fliegende Pläne vom Ausgang seiner Studien. Doch wie
auf der Bergener Schule erlebte er als hysterisch-depressive Persönlichkeit die neuen
Verhältnisse hier einzig und allein unter dem Blickpunkt der Forderung, und, ähnlich wie in
der Heimat, war er auch auf dem Konservatorium nicht imstande, den Forderungen ein
Eigensein gegenüberzustellen; denn das kam noch hinzu: Infolge verzögerter
Reifungsvorgänge und frustrierender Erlebnisse verzögerte sich auch die Ich-Werdung. Da
Grieg fürchtete, er könne die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, nicht erfüllen, ängstigte
er sich vor dem Selbstständigwerden, vor der Last der Verantwortung und wollte deshalb
lange Kind bleiben. Eigene Unzulänglichkeiten sah der Student nicht ein, und so wandelte er,
als die erwünschten Erfolge ausblieben, in typisch hysterischer Weise die Selbstvorwürfe in
Fremdvorwürfe um, kritisierte den Unterricht und projizierte das, was eigentlich er
verschuldet hatte, auf seine Lehrer. Da durch ein Musikstudium, das die Beachtung von
Regeln zur Hauptsache erhob, die Angst des Hysterikers vor Ordnung und Gesetzmäßigkeiten
sogar noch verstärkt wurde, lernte es Grieg selbst in Leipzig nicht, mit der Wirklichkeit besser
umzugehen. Auch nach der Studienzeit versetzten ihn die Forderungen der Welt immer
wieder in große Ängste und lösten im Zusammenwirken mit den konstitutionellen
Eigenheiten zeitlebens in ihm depressive Verstimmungen aus. Lebensangst war auch die
Ursache dafür, dass Grieg erst relativ spät zu dem ihm gemäßen Kompositionsstil fand.
20
Siehe Grieg, Nina, Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, C. F. Peters: Mappe Grieg, Nina, Nr. 23.
Vgl. dazu Zschinsky-Troxler, Elsa, a. a. O., S. 101.
22
Der Terminus „depressiv-hysterisch“ wird dabei völlig wertfrei im Sinne von Fritz Riemann verwendet.
Riemanns Charakterklassifizierung (Grundformen der Angst, 1996, S. 59 ff. und S. 156 ff.) gehört zum Bestand
der Tiefenpsychologie, auch wenn der Begriff hysterisch heute nicht mehr zur Anwendung kommt.
21
7
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Während der Studentenzeit erwachte in Grieg das
Verlangen nach dem schönen Geschlecht. Die Liebe zu den
Frauen war bei ihm, soweit sich dieser Lebensbereich
überblicken lässt, immer mit der Liebe zur Musik
verknüpft. Seine erste Zuneigung gehörte wahrscheinlich
der gleichaltrigen Theresa Berg, der hübschen,
musikbegabten Tochter eines reichen Kaufmanns im
südschwedischen Karlshamn. 1860 widmete er ihr drei
Klavierstücke. Grieg heiratete 1867 seine zwei Jahre
jüngere Cousine Nina Hagerup, Tochter eines Bruders
seiner Mutter. Wie er, in Bergen geboren, war sie
achtjährig mit den Eltern nach Kopenhagen übergesiedelt,
wo sich beide kennenlernten. Der junge Komponist
verliebte sich in die Stimme des Mädchens. Ninas Nähe
beflügelte ihn. Später wurde sie die beste Interpretin seiner
Lieder. Beide verlobten sich 1864. Ihre Eltern waren gegen
die Verbindung, doch das junge Paar ließ sich nicht beirren. Nina sah Edvard sehr ähnlich,
teilweise sogar seiner Mutter. Verwandtschaftsgrad und Ähnlichkeit lassen vermuten, dass
hinter der Wahl Griegs eine nicht überwundene Fixierung an die Mutter stand, wodurch die
Angst des depressiv Hysterischen, sich von der Mutter zu lösen, eine Bestätigung erfahren
würde. Die Eheleute hinterließen keine Nachkommen, beider Töchterchen Alexandra, 1868
geboren, verstarb nach mehr als einem Jahr, so dass der seit Generationen hin nachweisbare
Kinderreichtum der Familie Grieg in der Ehe Edvards versiegte und dem Komponisten damit
Ähnliches widerfuhr wie anderen Hochbegabten auch.
(Abb. oben: Griegs Ehefrau Nina geb. Hagerup, D. M. Johansen „Edvard Grieg“.)
Allem Anschein nach gestaltete sich Griegs Verhältnis zu Nina keinesfalls problemlos, sonst
hätte sich der Komponist nicht zwölf Jahre nach der Eheschließung enttäuscht über die
Frauen geäußert. Er meinte, dass eine Frau „das Große, Wilde, Unbegrenzte in der Liebe
eines Mannes - eines Künstlers - nie erfassen“ würde und dass sich deshalb „ein Künstler nie
verheiraten sollte“.23 Wie immer, so suchte Grieg auch in diesem Falle die Fehler nicht bei
sich, sondern auf der Gegenseite. Als Kompensation aber zu den Enttäuschungen in seiner
Ehe entstand vermutlich manch liebenswertes Werk des Norwegers, psychologisch gesehen
ein Ausweg, der häufig beobachtbar ist.
Sein Leben lang kränkelte der Komponist. Besonders häufig klagte er über fieberhafte
Katarrhe der oberen Luftwege, die ihn mitunter wochenlang bettlägerig machten. In ständiger
Angst vor Erkältungskrankheiten trank er zur Vorbeugung Kognak mit Glyzerin. Außer
Bronchitis quälte ihn ein Asthmaleiden. Eine Lungenerkrankung heilte nie vollständig aus
und verursachte seinen Tod, so dass eine konstitutionelle Schwäche der Atmungsorgane
angenommen werden muss. Einem Brief aus Karlsbad zufolge gesellten sich zu einem
chronischen Magenkatarrh noch ein Darmleiden und eine Lebervergrößerung. Im feuchten
Klima von Troldhaugen plagten ihn rheumatische Beschwerden, die sich ständig
wiederholten. Da er häufig anstrengende Konzertreisen ins Ausland und bis ins Alter jährlich
Gebirgstouren unternahm, beurteilte der Arzt trotz allem den Gesundheitszustand nicht
ungünstig. Es war mehr ein seelischer Druck, der Griegs Befinden beeinträchtigte, der ihn,
den schwächlichen Mann, zeitweise in Unruhe versetzte und auf Reisen gehen ließ. Vielleicht
fühlte er sich verfolgt wie in der Kindheit, als die Klassenkameraden ihn als Außenseiter
durch die Straßen Bergens hetzten.
23
Zitiert nach Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 160.
8
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Die festgestellten habituellen Merkmale weisen insgesamt darauf hin, dass bei Grieg der
Wahrscheinlichkeitsgrad, in ein psychisches Fehlverhalten mit Fehldeutungen der
Umweltvorgänge zu geraten, sehr hoch war.
2. Introversion als dominierendes Persönlichkeitsmerkmal
In der autobiografischen Skizze „Mein erster Erfolg“ kennzeichnet sich Grieg selbst als nach
innen gekehrt, als introvertierten Menschen und deutet damit jene psychische Einstellung an,
die zu den wesentlichsten Merkmalen seiner Persönlichkeit gehörte. Einerseits förderte die
Introversion als habituelle Besonderheit sein Schöpfertum, bestärkte ihn in seiner Eigenweise,
bestimmte die Art seines Denkens, Fühlens und Empfindens, ja sogar seines Arbeitsstils
sowie den Grad des zwischenmenschlichen Kontaktes. Andererseits aber erhöhte sich die
Konfliktbereitschaft und mit ihr die Wahrscheinlichkeit einer Fehlentwicklung.
Ungewöhnlich früh trat bei Grieg die Introversion in Erscheinung. Bereits vor der Pubertät
wandte sich sein Denken, Fühlen und Handeln von äußeren Objekten, vom objektiv
Gegebenen ab, orientierte sich am subjektiven Faktor, an den eigenen subjektiven Ansichten
und betonte das innere Erleben.
Weil Kinder immer beobachten wollen, was in der Umwelt vorgeht, haben sie im allgemeinen
eine Einstellung, die nach außen gewandt ist. Sie sind extrovertiert. Edvard war introvertiert
und gehörte dadurch bereits während der Kindheit zu einer Minderheit, aus der ihm,
entsprechend einer solchen Stellung, Nachteile und Gefahren erwuchsen. Wenn die Eltern
Edvard als kleinem Jungen erlaubten, an einem Begräbnis oder einer Auktion teilzunehmen,
berichtete er nachfolgend nicht sachlich über das Erlebte, sondern gab den Eindruck wieder,
den er gewonnen hatte, da alles, was sein Gedächtnis aufnahm, sich bei ihm schon sehr früh
mit subjektiven Erlebnisinhalten verband. Allein das ruhige Leben draußen in Landaas, dem
Familiensitz abseits von Bergen, kam seiner Wesensart entgegen. Im Garten befand sich eine
Laube, die bald Edvards liebster Aufenthaltsort wurde. Dort verbrachte er viele Stunden. Fern
aller Betriebsamkeit sann er den Träumen nach. „Was er als Knabe hier ahnend erlebte, reifte
in den späteren Jahren.“24 Saß er dann vor dem Klavier, träumte er wieder vor sich hin, anstatt
zu üben. Der Schritt vom Traum zur Handlung bereitete ihm ständig Schwierigkeiten und
glückte nur, weil er, nach seinen eigenen Worten, der Mutter „unzähmbare Energie“ sowie
deren musikalische Fähigkeit geerbt hatte. 25Noch gab sich Edvard zu dieser Zeit vollkommen
passiv dem Wirken der Einbildungskräfte hin. Doch sollte sich das ändern. Aus dem passiven
Walten des Vorstellungsvermögens erwuchs bald die aktive Phantasie, die höchste
Geistestätigkeit des späteren Komponisten Grieg. Sogar ein Foto zeigt den Fünfzehnjährigen
in jener nachdenklichen Pose, die gewollt oder ungewollt den für ihn typischen Wesenszug
ausdrückt.26 Aber nichts deutet darauf hin, dass dem Heranwachsenden durch Erziehung im
Elternhaus die introvertierte Einstellung aufgedrängt worden wäre. Die Tatsachen sprechen
vielmehr dafür, dass der ausschlaggebende Faktor - vielleicht ein Erbteil der Mutter - in der
Veranlagung gesucht werden muss. Selbst Grieg ahnte das und brachte seine Ansicht darüber
in folgenden Worten zum Ausdruck: „Wenn man mir untersagt hätte, diesen kindlichen
Instinkten nachzugehen (gemeint ist die subjektive Betrachtungsweise, der Verfasser), wer
weiß, ob meine Phantasie in den jungen Jahren nicht unterdrückt oder eine andere Richtung
eingeschlagen hätte, die ihrer Natur fremd war.“27
24
Zitiert nach Fellerer, Karl Gustav, Edvard Grieg, 1942, S. 20.
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 20.
26
Siehe Foto: Der fünfzehnjährige Grieg.
27
Zitiert nach Brock, Hella, a. a. O., S. 18.
25
9
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Durch die besonders extrem ausgeprägte Introversion hätte dem jungen Grieg eines Tages der
Realitätsbezug völlig verloren gehen können, wenn er nicht im rechten Augenblick zum
Studium nach Leipzig geschickt worden wäre, wo man ihn zwang, die ungeordneten
Vorstellungen in geordnete Bahnen zu lenken, auch wenn ihm das nicht gefiel.
Da Grieg sich schon als Kind introvertiert verhielt, besaß er als Erwachsener dieses Merkmal
in besonders hohem Maße. Sein Leben, im Längsschnitt untersucht, war deshalb arm an
äußeren Ereignissen, dafür aber reich an innerem Geschehen. Zur depressiven Seite seiner
Persönlichkeit stand die Introversion in wechselseitiger, sich ergänzender Beziehung, zu den
hysterischen Strukturanteilen jedoch, wie dem unbändigen Geltungsdrang oder der durch die
Angst vor dem Festgelegtwerden hervorgerufenen Unruhe, bildete das Insichgekehrtsein
einen schwer überbrückbaren Gegensatz, der starke innere Spannungen hervorrief. Da aber
Spannungen auf Entspannung drängen, kamen die inneren Erregungen der Produktivität
zugute und konnten im Schöpferischen eliminiert werden, wie überhaupt innere und nicht
äußere Vorgänge den Schaffensprozess anregten. Oftmals verzögerten sie ihn sogar, weil der
Komponierende zu stark die Aufmerksamkeit auf das Innere gerichtet hielt.
Immer, wenn Grieg arbeiten wollte, zog er sich zurück; die Wendung nach innen tat sich nach
außen hin kund. Bereits während der Jugend hatte ihm die Mutter in Landaas eine Stabur, ein
Vorratshaus auf Säulen, als Komponierhäuschen eingerichtet, damit dem genialen Sohn ein
völlig ruhiger Raum zur Verfügung stand, in dem er ungestört arbeiten konnte. Da die Griegs
später Landaas verkaufen mussten, mieteten sie eigens für Edvard in Sandviken, am Rande
von Bergen, einen Pavillon, wo das Opernfragment „Olav Trygvason“ und das meiste der
Musik zu „Per Gynt“ entstand.
Als Grieg die Ausbildung in Leipzig beendet hatte, ging er für längere Zeit nach Kopenhagen,
und auch dort, draußen in Rungstedt, stellte ihm Benjamin Feddersen, enthusiastischer
Förderer junger Künstler, zwanzig Jahre älter als Grieg, ein kleines Arbeitshaus zur
Verfügung, in dessen Abgeschiedenheit er während der Sommermonate 1865 seine einzige
Klaviersonate op. 7 und die erste Violinensonate op 8 schuf. Drei Jahre später komponierte er
das a-Moll-Konzert op. 16, und wiederum überließen ihm Freunde ein Gartenhaus, diesmal in
Sölleröd, eine Wegstunde von Kopenhagen entfernt, wo er in Ruhe schaffen konnte.
In den siebziger Jahren, als die Regierung dem Komponisten ein Stipendium zahlte,
verbrachte Grieg mehrere Sommer und den Winter 1877/78 in Lofthus, einem kleinen Ort am
Hardanger Fjord, deren dort ansässige Bauern im Vergleich zu anderen norwegischen
Landschaften eine reichhaltige und vielgestaltige Volkskunst hervorgebracht hatten. Unter
ihnen fühlte sich Grieg immer besonders wohl. Weit draußen am Rande des Fjords stand
einsam auf einer schmalen, ansteigenden Halbinsel seine Arbeitshütte, nur umgeben von
Wasser, Feldern und Felshängen. Keiner konnte ihn dort stören. Im einzigen Raum brachte
Grieg seinen Erard-Flügel und den Schreibtisch unter. Nicht einem einzigen Komponisten
von europäischem Rang wäre es in jener Zeit eingefallen, „sich in einer kleinen Hütte am
Hardanger Fjord zu begraben“.28 Aber für den Norweger war die Zurückgezogenheit
fruchtbringend und deshalb notwendig. Hier in der Stille entstanden unter anderem das
Streichquartett op. 27, die Männerchöre op. 30 und „Den Bergtekne“, der Bergentrückte (Der
Einsame) op. 32, ein Werk für Baritonsolo, Streichorchester und zwei Hörner auf Texte
altnorwegischer Volkspoesie. In letzterem verbarg der Komponist - der Titel verrät es bereits
- ein Stück Selbstbiografie. Einem Freund gegenüber gestand er, er habe diese Musik mit
seinem Herzblut geschrieben, zu einer Zeit, als er Ruhe, Klarheit und Selbstvertiefung suchte.
28
Vgl. dazu Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 52 und Stein, Richard H., Grieg, 1921, S. 71.
10
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Der Gesang erzählt von einem jungen Mann, welcher sich im Wald verlief, von der Tochter
des Bergtrolls verhext wird und schließlich nicht mehr in sein gewohntes Leben zurückfindet.
Grieg hatte eine übermäßige Scheu, während der Arbeit beobachtet zu werden, gleich, ob es
sich dabei um kompositorische Tätigkeiten oder pianistische Übungen handelte. Wilhelm
Peters, ein Maler, der sich ebenfalls in Lofthus niedergelassen hatte und mit Grieg
freundschaftlichen Umgang pflegte, berichtete, dass der Komponist während der Arbeit
niemanden in seiner Nähe duldete, nicht einmal seine Frau, und sofort das Klavier schloss und
zu arbeiten aufhörte, wenn er einen Zuhörer entdeckte. „Allein schon der Gedanke an einen
kritischen Lauscher brachte ihn völlig aus dem Konzept“.29 Die Vermutung liegt nahe, dass
während des Schaffensprozesses hochgradige Spannungen zusammen mit der bereits
nachgewiesenen Konzentrationsschwäche den Komponisten in einen Zustand versetzten, in
dem er Störungen besonders stark empfand. Das Warten darauf, ob etwas Störendes eintreten
könnte oder nicht, ließ die innere Erregung zusätzlich ansteigen. Als Folge davon entstand
eine Erwartungsneurose, die das schöpferische Wirken belastete. Aber das war es nicht allein,
was die übermäßige Scheu hervorbrachte. Minderwertigkeitsgefühle kamen hinzu. Sie ließen
Grieg befürchten, dass weniger gelungene Versuche, die dem fertigen Werk oder dem
perfekten Klaviervortrag vorausgingen, ihm vor den Lauschern als Künstler herabsetzen
würden.
Mit der gleichen Liebe, mit der Grieg an seiner Vaterstadt hing, war er auch der Landschaft
zugetan, die sie umgab, und er fasste den Entschluss, dort ein eigenes Haus zu bauen. So
entstand die Villa „Troldhaugen“, reizend gelegen auf einem Hügel zwischen zwei Buchten
an der stillen Nordaassee. Allein die ruhige Lage des Hauses genügte dem Komponisten
jedoch nicht. Er richtete sich unten am Fjord, wie schon andernorts auch, eine Arbeitshütte
ein, wo er neben seinen Arbeitsmaterialien die von ihm hoch geschätzten Partituren Wagners
griffbereit aufbewahrte.
Bis zu seinem Lebensende hielt Grieg an den geschilderten Schaffenseigentümlichkeiten fest.
Nur im Verlaufe einer einzigen Lebensphase, während der Leipziger Studienzeit, war er
gezwungen, darauf keinerlei Rücksicht zu nehmen. Der Unterricht vollzog sich dort im
Beisein anderer, und selbst im Quartier, bestehend aus einem einfachen Studentenzimmer,
musste er am Klavier weiterarbeiten, auch wenn die Nachbarn ihm zuhörten. Dieser Umstand
mag dem jungen Norweger oft zuwider gewesen sein. Da die Lebensweise in Leipzig dem
psychologischen Typus nicht entsprach, wurde vermutlich auch das physiologische
Wohlbefinden des Organismus schwer beeinträchtigt. Infolge starker Erschöpfungen
erkrankte Griegs Lunge; deshalb konnte sich auch sein künstlerisches Talent nicht voll
entfalten, ein Grund mehr, warum der Komponist das Studium später abwertete.
Grieg führte eine umfangreiche Korrespondenz, und auch hier, in zahlreichen Briefen lässt
sich die introvertierte Einstellung entdecken. Der Brief als eine Form der Konversation gab
ihm Gelegenheit, mit anderen Kontakt aufzunehmen und dabei trotzdem ungestört über das
nachzudenken, was er mitteilen wollte, da niemand die Gedanken durchkreuzte.
Grieg schrieb nicht nur über Kunst und Musik, sondern beobachtete auch aufmerksam das
Zeitgeschehen, interessierte sich lebhaft für soziale Fragen und legte seine Ansichten darüber
dar. Viele Briefe, die die Distanz zur herrschenden Meinung erkennen lassen - was typisch für
Introvertierte ist - enthalten Auffassungen mit weit in die Zukunft weisenden Vorstellungen.
Aus ihnen geht hervor, dass sich die introvertierte Einstellung im Falle Griegs nicht nur auf
den Schaffensprozess beschränkte, sondern alle Bereiche des Lebens umfasste. Da der
29
Zitiert nach Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 77.
11
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Komponist introvertiert war, setzte er sich auch problemhaft mit den Gegenwartsereignissen
auseinander.
Introversion führt sehr oft in die Isolierung, muss aber keinesfalls mit Kontaktschwäche
verbunden sein. Die Frage, wie weit Griegs zwischenmenschliche Beziehungen davon
beeinflusst wurden, ob er sich kontaktbereit oder kontaktarm verhielt, wird in den folgenden
Untersuchungen für jede Lebensstufe neu gestellt.
Als Schüler war Grieg schüchtern und zeigte wenig Interesse am Umgang mit den
Altersgenossen. Am liebsten beschäftigte er sich allein. Aber nicht nur die Introversion,
sondern auch seine musikalische Bildung behinderte die Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen
und ließ ihn zum Außenseiter werden.
Als im Deutschunterricht das Wort Requiem erklärt werden sollte und der Lehrer fragte,
welcher Komponist ein Werk mit diesem Titel geschrieben habe, war Edvard der einzige, der
den Namen „Mozart“ nannte. Alle in der Klasse starrten ihn an, und es ärgerte sie, einen
besonders Hervorragenden in ihrer Mitte zu haben. Noch lange Zeit danach spotteten die
Kameraden und riefen: „Da geht Mozak“. Flüchtete Edvard in eine Seitenstraße, schrien sie
hinter ihm her: „Mozak, Mozak“. Grieg litt sehr darunter und „war nahe daran“, die
„Mitschüler zu hassen“. Von nun an mied er die meisten von ihnen und fühlte sich verfolgt.30
Der Punkt war erreicht, wo Äußeres und Inneres aufeinanderprallten, Konflikte unvermeidbar
wurden und den jungen Grieg dermaßen erschütterten, dass diese Ereignisse zu den Ursachen
künftiger Fehlhaltungen zählen sollten. Trotzdem besaß der Heranwachsende die Fähigkeit,
mit anderen in Kontakt zu treten. Deshalb suchte er von sich aus Anschluss und fand ihn
auch; doch zu Gleichaltrigen hin wagte er sich nicht mehr.
Gegenüber der Schule wohnte ein junger Leutnant, „leidenschaftlicher Musikliebhaber“ und
„tüchtiger Klavierspieler“. Ihm vertraute sich der Knabe an und brachte dem
Kunstbegeisterten die ersten Kompositionsversuche. Sie interessierten den Leutnant sehr. Er
bat um Abschriften. Für Edvard war das der erste Erfolg, den er nie vergaß. Noch als
bedeutender Komponist dachte er mit Dankbarkeit an diesen seinen Freund, den Leutnant.31
Über Griegs zwischenmenschliche Beziehungen im Verlaufe der Studienzeit geben die
vorhandenen Quellen spärlich Auskunft, vielleicht deshalb, weil sich tatsächlich wenig
berichten lässt. In der Autobiografie erwähnt Grieg zwar namentlich einige Kommilitonen,
doch nennt er keinen davon Freund. Mit manchen von ihnen kam er während des Studiums
nur selten in Berührung. Selbst Nina Grieg, gegenüber der Öffentlichkeit immer darauf
bedacht, nur die vorteilhaften Seiten ihres Gatten herauszustellen, betitelt in den Angaben zur
Biographie, vom Verlag Peters dazu aufgefordert, den dänischen Komponisten Emil
Horneman (1840 bis 1906) lediglich als „Studienkameraden aus Leipzig“ und nicht als
Studienfreund.32
Offensichtlich kam es während dieser Zeit zu keiner tiefer gehenden menschlichen
Begegnung. Die Tatsachen sprechen deshalb dafür, dass die Erlebnisse der Bergener
Schulzeit, inzwischen verinnerlicht, als Störfaktoren nachwirkten und ein herzliches
Einvernehmen vereitelten. Introvertiertes Verhalten, das wahrscheinlich zu Beginn der
Reifezeit in typischer Weise übermäßig hervortrat, mag ein Sichnäherkommen während des
30
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 22.
Ebenda, S.25.
32
Vgl. dazu Grieg, Nina, a. a. O..
31
12
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Studiums zusätzlich beeinträchtigt haben, und da die Kommilitonen - speziell einige junge
Engländer, wie der Komponist Arthur Sullivan (1842 bis 1900) sowie die Pianisten Franklin
Taylor (1843 bis 1919) und Walter Bache (1842 bis 1888), aber auch der 1844 in Straßburg
geborene und nach dem Studium in London wirkende Edwin Dannreuther - auf Grund ihrer
umfangreicheren Vorkenntnisse, ihrer besseren Auffassungsgabe sowie ihres unermüdlichen
Arbeitsvermögens zu Ergebnissen kamen, denen gegenüber Grieg „die eigene Unfähigkeit in
niederdrückender Weise empfand“, belasteten außerdem Minderwertigkeitsgefühle das
Verhältnis zu ihnen.33
Trotzdem zog sich Grieg auch in Leipzig nicht völlig zurück. Die Fähigkeit zur
Kontaktaufnahme verhinderte, dass er als Fremder in totale Beziehungslosigkeit abglitt.
„Welch eine Eroberung“ war es daher für ihn, als er unter den Kameraden „das erste
Künstlerherz“ gewann.34 Leider blieb unbekannt, wer von den Kommilitonen gemeint war.
Von Leipzig ging der junge Absolvent zurück nach Bergen, wo er ein Konzert gab, sich aber entgegen aller Vermutung - völlig entwurzelt fühlte und „weder ein noch aus wußte“.35 Ein
unbändiges Streben nach Freiheit, hervorbrechend aus der Angst des Hysterikers vor aller
Einengung, ergriff den Insichgekehrten und zwang ihn, 1863 nach Kopenhagen zu reisen.
Dort fand er einen Kreis Gleichgesinnter, zu dem der zwei Jahre ältere Emil Hornemann, der
junge Komponist August Winding (1835 bis 1899), der Orgelvirtuose Godfred MatthisonHansen (1832 bis 1909) und der Sänger vom Königlichen Theater Julius Sternberg (1830 bis
1911) gehörten. Mit ihnen war Grieg täglich zusammen. Sogar den berühmten Dichter
Andersen (1805 bis 1875) lernte er kennen. Hier, unter den Kunstenthusiasten, steigerte sich
Griegs Erregung dermaßen, dass er völlig aufgewühlt „endlich jenes Joch abschüttelte und
alles von sich warf“, womit ihn „eine armselige Erziehung zu Hause und im Ausland
beklemmt und gehemmt hatte“. Mit befreiter Phantasie komponierte er ein Werk nach dem
anderen. Doch war seine Musik seltsam gekünstelt.36 Demnach fand er also auch in
Kopenhagen nicht das, was er suchte. Die Unruhe aber blieb bestehen. Wieder begab er sich
in die Heimat, kam nach kurzer Zeit voll neuer Erwartungen zurück und begegnete 1864
endlich dem Menschen, der für ihn Schicksal bestimmend werden sollte.
Es war an einem Abend im Tivoli, dem Kopenhagener Vergnügungspark, als ihm die
Schriftstellerin Magdalene Thoresen (1819 bis 1903) den jungen Komponisten Rikard
Nordraak (1842 bis 1866) vorstellte, der sich sofort mit den Worten einführte: „Da lernen wir
zwei großen Männer uns also wirklich kennen!“ Das machte Eindruck, und Nordraak, der
auftrat, als wäre er „Björnson und Ole Bull“ in einer Person, eroberte den schüchternen Grieg
„im Sturm“. Eine herzliche Freundschaft begann.37
Als Naturtalent, als ein Stürmer, ein Dränger, verachtete Nordraak jegliche
Kompositionstechnik, liebte aber Norwegen und seine Kunst über alles. Durch ihn hasste
auch Grieg „rücksichtslos alles Bestehende“ und „träumte sich in eine norwegische Zukunft
hinein“.38 Zwar war in Grieg die nationale Begeisterung schon wach, ehe er den Freund traf,
doch zeigte das Eingenommensein für die Heimat in der Zeit vor der Begegnung „keine
Früchte“.39 Erst durch den täglichen Umgang mit Nordraak, dem Fantasten, und aufgeputscht
33
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 42.
Ebenda, S. 28.
35
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 25; S. 27; S. 29 und S. 39.
36
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 47 f.; vgl. auch Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 38.
37
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 38 und Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S.
32 f. .
38
Zitiert nach Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 37.
39
Ebenda, S. 38.
34
13
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
durch dessen Großmannssucht fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Schlagartig erkannte
er, dass die Entwicklung im Mutterland eine Aufgabe bereithielt, die seinem innersten Streben
entgegenkam. Er, der sich seit seiner Schulzeit den Gedanken, ein „Prophet“, ein „Verkünder“
zu sein, nicht mehr eingestehen wollte, fühlte sich plötzlich berufen, aus der Fülle
norwegischer Volksmusik die eigenständige nationale Tonkunst zu schaffen. Eine
Kompositionstechnik, welche ihm sein Vorhaben erleichtert hätte, erlangte Grieg durch die
Begegnung mit dem rothaarigen Landsmann allerdings nicht, da Nordraak das, was er
ersehnte, selbst nur sehr unvollkommen in Töne fassen konnte. Indem der Enthusiast aber des
Schüchternen Persönlichkeit wandeln half, half er jenem Entwicklungsgeschehen in ihm zum
Durchbruch, aus dem heraus der Insichgekehrte zum Nationalkomponisten Norwegens
emporsteigen konnte.
Die Freundschaft endete zutiefst tragisch. Nordraak, schwer an Lungentuberkulose leidend,
brach zusammen, als er sich in Berlin aufhielt. Er lag, dem Tode nahe, in einer Pension und
beschwor den Freund, an sein Krankenbett zu kommen. Doch Edvard kam nicht. Rikard starb
allein.
Noch heute erschüttert der unbeachtet gebliebene Brief Nordraaks mit den inständigen Bitten
und lässt es nicht begreifen, warum sich Grieg als Freund so verhielt. Johansen entschuldigt
gleichsam das Fernbleiben und meint, Grieg habe die Infektionsgefahr gefürchtet.40
Überzeugen kann diese Annahme kaum, zumal Grieg an der gleichen Krankheit litt. Schaut
man sich dagegen die letzten Seiten der Autobiografie an, auf denen der Tonkünstler seinen
Entwicklungsweg nach dem Studium in Form eines Ausblickes skizziert, so finden sich nur
Hinweise auf die eigene Kraft, aber keine Anmerkungen über den Freund und seinen Einfluss.
Auf Grund dieser Tatsache liegt die Vermutung nahe, dass sich Grieg, nunmehr im Besitz des
neu entstandenen Selbstbewusstseins, gedemütigt fühlte, als er merkte, Richtung und Ziel
verdanke seine Kunst nicht ihm, sondern einer Idee Nordraaks. Feindliche Gefühle, auf diese
Weise entstanden, könnten daraufhin den Besuch vereitelt haben. Vollständig klären lässt sich
aber das Problem nicht. Wohl immer wird die Forschung hierbei auf Mutmaßungen
angewiesen bleiben.
Während der „musikalisch leeren Kristianiajahre von 1868 bis 1872“, einer vermutlich
depressiven Phase, fühlte sich der Komponist erneut von einer starken Persönlichkeit
angezogen, von Bjönstjerne Björnson (1832 bis 1910), dem Dichter. Er, ein Vetter Nordraaks,
elf Jahre älter als Grieg, äußerlich ein Hüne mit machtvoll dröhnender Stimme, von aller Welt
als Kampf- und Kraftnatur gefürchtet, verstand zwar nichts von Musik, glaubte aber an das,
was Grieg wollte, und machte ihm Mut. Björnson befreite den Freund von seinen
Hemmungen und stützte ihn, wenn Depressionen die Verwirklichung schöpferischer Ideen
vereiteln wollten. 41
Derselbe Faktor, der in der Freundschaft zu Nordraak wirkte, wirkte auch hier. Mit seinem
feurigen Temperament, dem rücksichtslosen Durchsetzungsvermögen und seiner
Unzähmbarkeit verfügte Björnson genauso wie Nordraak über Persönlichkeitsmerkmale, die
Grieg nicht besaß. Darum fühlte sich auch der Tonkünstler, eingedenk der eigenen
Schwachheit, gerade zu solchen Kraftnaturen mit unwiderstehlicher Gewalt hingezogen.
Durch sie erstarkte er ebenfalls. Auch in den späteren Lebensjahren wurde immer derjenige
Griegs Vertrauter, der es verstand, ihn aus Verstimmungen und Ängsten zu reißen. Zu
Begegnungen, die den Komponisten als Persönlichkeit in ähnlicher Weise vorangebracht
40
41
Ebenda, S. 38 ff., S.53ff. .
Ebenda, S. 85 und Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 38.
14
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
hätten wie die Freundschaften in Kopenhagen oder Kristiania, war es in Leipzig nicht
gekommen.
Trotz mancher geselligen Anlage und einer gewissen Kontaktbereitschaft blieb Grieg
zeitlebens ein einsamer, etwas schüchtern wirkender Mensch, der, ähnlich seiner schizoiden
Mutter, nur einen bestimmten Kreis von Eingeweihten um sich ertrug. Ihm vertraute er sich
an. Am liebsten aber war er allein. Zu jenen Starken, die, hingerissen von einer Idee, den
Entschluss fassen, zurückgezogen zu leben, damit sie ihr Werk ungestört vollenden können,
gehörte Grieg nicht. Er zog sich zurück, weil ihn sein introvertiertes Wesen sowie die damit
im Zusammenhang stehende dialektische Relation von emotionaler Sensibilität und
Unansprechbarkeit dazu trieben. Treffend stellte Grieg diese Seite seiner Persönlichkeit in
einem Selbstzeugnis dar. „Literatur und Musik daheim zu studieren, das ist für mich das
Höchste - dann hin und wieder ein Konzert oder eine dramatische Aufführung. Nach
großdenkenden Menschen, im Verkehr mit denen ich etwas lernen kann, verlangt es mich
sehr. Aber - wo findet man sie eigentlich?“42
3. Besonderheiten der musikalischen Begabung
Wie bei anderen Komponisten machte sich auch bei Grieg die musikalische Veranlagung sehr
früh bemerkbar. Mit fünf Jahren zog es ihn zum Klavier. Wenn er dort einen Akkord zustande
brachte, erschien ihm das wunderbar, er erlebte eine geheimnisvolle Befriedigung, und seine
Glückseligkeit fand keine Grenzen. Auf diese Weise entdeckte Grieg als Kind, dass es eine
Harmonie gibt.
Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass Fünfjährige zwar Klänge hören, auch mehr oder
weniger sicher Tonhöhen und Rhythmen zu unterscheiden vermögen, aber keine Harmonien
erfassen können.
Bei Edvard war das anders. Er trieb die Experimente am Klavier sogar noch weiter und drang,
vom Dreiklang ausgehend, über den Septakkord bis zur Dissonanz des Nonenakkordes vor.
Wie Grieg dazu schrieb, war das „in der Tat ein Erfolg“, und „kein späterer Erfolg“ sollte ihn
jemals wieder so erregen „wie dieser“.43 Von den Sinnesorganen half ihm das Ohr, die Welt
zu erobern. Aber selbst noch als Erwachsener blieb ihm das eigene Harmoniegefühl ein
Geheimnis. Das für ihn Unverständliche zu entschlüsseln, soll im Folgenden versucht werden.
Da zwischen Anlage und Fähigkeit immer ein Entwicklungsweg liegt, sich die Fähigkeit aber
im Prozess der Tätigkeit bildet, entstanden auch Griegs musikalische Fähigkeiten und
Fertigkeiten nicht gleichzeitig, sondern stellten sich einzeln ein, je nachdem, welchen
Einflüssen seine junge Persönlichkeit gerade ausgesetzt war. Dass die Musikalität bei ihm
zuerst als Harmoniehören auf den Plan trat - eine Erscheinung, die nachweisbar zu den großen
Seltenheiten gehört - und nicht in anderer Gestalt, lag vermutlich an einem ausgeprägt feinen
Gehör, das als Veranlagung zunächst völlig unspezifisch war und mit Musikempfinden an
sich noch nichts zu tun hatte. Erst die Tatsache, dass Grieg von Geburt an auf eine Umwelt
traf, in der er ständig musikalischen Einflüssen ausgesetzt war und in der er angeregt wurde,
sich selbst mit Tönen zu beschäftigen, ließ die Leistungsausstattung zur überragenden
Fähigkeit werden. Allein durch diese spezialisierten sich die naturgegebenen Möglichkeiten,
indem manches von ihnen verwirklicht wurde, anderes aber unentwickelt liegen blieb, so dass
durch die Auseinandersetzung mit der musikalischen Umwelt auf der Grundlage angeborener
Funktionsweisen Griegs treffliches Harmoniegefühl entstehen konnte.
42
43
Zitiert nach Johansen, David Monrad. a. a. O., S.262.
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 18.
15
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Nicht so spontan wie das Gehör, sondern unter der zielgerichteten und strengen Anleitung der
Mutter, die ihm vom sechsten Lebensjahr an Klavierunterricht gab, entwickelte sich Edvards
instrumentale Begabung. Im Gegensatz zum Umgang mit den Akkorden wurde ihm am
Klavier bald klar, dass er zu üben hatte. Aber gerade das gefiel Edvard am wenigsten. Da er
die Übereinstimmung von künstlerischer Absicht und ihrer Verwirklichung, wozu ihm die
Spieltechnik hätte verhelfen sollen, noch nicht begriff, versuchte er, bei jeder Gelegenheit
dem „technischen Teufelswerk“ aus dem Wege zu gehen. Dass aus ihm dennoch ein
brauchbarer Pianist wurde, verdankte er allein der Strenge seiner Mutter. Zu einem Virtuosen
fehlte ihm allerdings manches, was zu den notwendigen Voraussetzungen einer derartigen
Interpretationspersönlichkeit gehört, wie hohe Konzentrationsfähigkeit, Willensstärke und
unermüdliche Ausdauer sowie die Bereitschaft, alle Kräfte zu mobilisieren, wenn es galt,
schwierige Instrumentalaufgaben zu bewältigen. Auf dem Podium schätzte man daher später
mehr den trefflichen Kammermusikspieler und weniger den mittelmäßigen Konzertpianisten,
der, da es seinem Vortrag an virtuosem Schwung und breitem Pathos mangelte, nie die
beabsichtigte Wirkung erreichte. Grieg wusste das selbst und meinte, er besitze eben nicht die
nötige Körperkraft. Alle Kritiker lobten aber die Poesie seines Spiels mit dem überaus
sensiblen Pianissimo.
Der eigenständige Umgang mit Tönen jedoch, entstanden auf der Suche nach reizvollen
Klangverbindungen, kam den spezifischen Elementen seiner Begabung weit mehr entgegen
als das Klavierspiel und erweckte in Edvard den Drang zum Komponieren. Grieg war neun
Jahre alt, als er mit dem Tonsetzen begann. Bach, Händel, Beethoven, Schubert, Mendelssohn
und Brahms schrieben ihre ersten Werke zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr.
Aber erst die „Variationen über eine deutsche Melodie für Klavier“ bezeichnete Edvard,
inzwischen zwölfjährig, mit Opus I. Ihnen waren bereits andere Klavierstücke ohne OpusAngaben vorausgegangen. Fast alles, was in der Knabenzeit entstand, vernichtete Grieg
später. Er gehörte nicht zu den Genialen, die schon als Kind Bleibendes schufen.
Komponieren galt ihm als Spiel. Das sollte sich auch in den darauf folgenden
Lebensabschnitten nicht ändern.
Da es Grieg vornehmlich im Jugendalter durch die Wendung nach innen schwerfiel,
ausreichende Beziehungen zur Realität herzustellen, versuchte er, wie bereits festgestellt, auf
infantiler Stufe zu verharren, um die Widerwärtigkeiten und Benachteiligungen, die das
Leben einem Erwachsenen auferlegt, als für ihn nicht vorhanden anzusehen. Die Einstellung,
ein Kind zu sein, ein Kind zu bleiben, lebte als mächtigster Wunsch in ihm und steigerte sein
Spielverlangen. Zwar musste auch er den Forderungen der Welt nachkommen und wurde
erwachsen, doch der Drang nach dem Spiel, nach dem Spiel mit den Klängen, blieb zeitlebens
in ihm erhalten. Im Vergleich zu anderen Künstlern bildete Grieg hierbei keine Ausnahme.
Aus den Tagen der Kindheit aber stammten nicht nur die Antriebe zum Schöpferischen in
Gestalt des Spielverlangens, sondern auch die ersten Berührungen mit der Volksmusik, zu
deren Einflussnahme einiges vorausgeschickt werden muss.
Grieg, dessen Lebenswerk aus dem Geiste norwegischer Lieder und Tänze zu internationalem
Rang emporwuchs, wusste selbst nicht, wann er zum ersten Mal mit der Volksmusik in
Berührung gekommen war. Noch 1865, nach dem der Norweger die „Humoresken für
Klavier“ op. 6 komponiert hatte, behauptete er, er kenne so gut wie nichts von den
heimatlichen Weisen. Das war übertrieben, war eine jener Bemerkungen Griegs, die, völlig
unreflektiert geäußert, in keiner Weise mit den Tatsachen übereinstimmte; denn entgegen
seiner Behauptung tauchten in den „Humoresken“ nationale Elemente wiederholt auf. Aber
16
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
nicht erst dort, sondern bereits vor ihnen, in den vier Klavierstücken op.1 und in den Liedern
für Altstimme op. 2, kam das Nationale zum Vorschein. Beide Werke entstanden in der
Fremde, während des Studiums in Leipzig, also zu einer Zeit, in der die norwegische
Volksmusik auf das Entstehende keinen unmittelbaren Einfluss nehmen konnte, sodass der
Komponierende schon vorher, im Verlaufe der Kindheit, durch nachträglich unüberschaubare
Ereignisse mit den Liedern und Tänzen seiner Heimat in Kontakt geraten sein musste.
Während der Arbeit an den Stücken mit den ersten Opuszahlen reproduzierte er dann aus den
frühen Klangimpressionen einzelne Gestaltungsmomente und formte daraus neue Motive,
ohne dass ihm bewusst wurde, welche Beziehungen das Hervorgebrachte zu den Klängen der
Heimat hatte. Es waren unbewusste, aus der Kindheit stammende Reminiszenzen, die den
Schaffensprozess beeinflussten und selbstredend Griegs Behauptung vom Jahre 1865
widerlegten.
Widerlegen lässt sich seine fehlerhafte Selbsteinschätzung auch aus
entwicklungspsychologischer Sicht: Da Kinder schon frühzeitig, besonders aber im Alter von
fünf bis sechs Jahren, äußerst eindrucksempfindlich auf akustische Erscheinungen reagieren,
kann mit Sicherheit angenommen werden, dass Edvard mit seinem feinen Gehör die
Akkordmelodik und die eigenartige Begleitharmonik in der Volksmusik seiner näheren
Umgebung aktiver als andere wahrnahm, bis er dann, vom zehnten Lebensjahr ab, draußen in
Landaas bewusster den Liedern und Tänzen der Bauern lauschte. Mit ihrer „dunklen
Tiefsinnigkeit“ und den „ungeahnten harmonischen Möglichkeiten“ spiegelten sie, entstanden
im jahrhundertelangen Prozess, treffend und unverwechselbar das wider, was Norwegen
genannt wird.44 Von da an gehörten jene Strukturen der Heimatklänge, die dem Knaben
besonders gut gefielen, als wesentliche Bestandteile zum geopsychisch bedingten
Ausstattungsarsenal seiner sich entwickelnden Komponistenpersönlichkeit. Doch lief dieser
prägende Vorgang keinesfalls störungsfrei ab. Im Elternhaus hörte Edvard die Werke
namhafter Komponisten in Fülle, aber keine Volksmusik. Da die Gebildeten nicht nur auf
ökonomischem, sondern sogar auf musikalischem Gebiet „von der Einfuhr aus dem Ausland“
lebten und Eigenes missachteten, gelangten die Lieder und Tänze des Volkes auch nicht über
die Schwelle des mütterlichen Musiksalons.45 So kam es, dass der Knabe die
Volksmusikklänge als unerwünscht wieder verdrängte. Für ihn als schüchternen, ängstlichen
Menschen sollten sie in typischer Weise übermäßig lange Zeit unbewusst bleiben. Auch in
Leipzig konnten sie nicht ins Bewusstsein dringen, andere Klänge überdeckten hier
unaufhörlich die Stimme Norwegens und verhinderten - abgesehen von andere Ursachen -,
dass sich Griegs Schöpferkraft hätte voll entfalten können. Die Heimatklänge aus dem
Gedächtnis zu löschen, brachte aber auch das Studium nicht fertig, im Gegenteil, ein
Konzerterlebnis bereitete hier sogar deren Bewusstwerdung vor: In Leipzig hörte Grieg einige
Werke Gades (1817 bis 1890), der als erster dänischer Komponist nationale Intonationen
nutzbar zu machen suchte. Es ist denkbar, dass dessen Musik die Heimatklänge im Studenten
anrührte und sie seinem Bewusstsein wieder näher brachte.
Das, was sich in Grieg verwirklichen wollte, blieb zur Zeit des Studiums unbewusst, und was
er erstrebte, vermochte er nicht zu sagen, die Frühreife anderer Komponisten, die bereits vor
dem achtzehnten Lebensjahr klare Zielstellungen hatten, besaß der Norweger nicht, er wollte
komponieren, aber woher er die Inspiration zu nehmen gedachte, blieb für ihn ungeklärt.
Völlig ungerechtfertigt waren daher die Vorwürfe Griegs, dass ihm die
Konservatoriumslehrer die Wege für den Umgang mit dem heimatlichen Tonmaterial nicht
geebnet hätten; denn: Indem ihm die Lehrer größere Freiheiten in der Wahl musikalischer
Mittel ließen, förderten sie sein Schöpfertum und taten somit alles, was ihnen zu der Zeit, als
44
45
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 274.
Ebenda, S. 12.
17
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
sich in den Vorstellungen des Studenten Grieg die Richtung seines Schaffens noch nicht
abzeichnete und sich Norwegen gerade erst anschickte, die eigenen Kulturwerte zu entdecken,
einzig zu tun möglich war.
Als Grieg nach dem Studium in der Heimat weilte, kam er von neuem mit der Volksmusik in
Berührung, ohne jedoch zu erkennen, welche Bedeutung sie für sein Schaffen haben könnte.
Zu jener Zeit fühlte er sich sowohl von der deutschen Musik, wie er sie in Leipzig
kennengelernt hatte, als auch von der nordischen Geisteshaltung Gades angezogen. So stand
er vor der Frage: Was nun? In dieser Stimmung reiste der junge Norweger - wie erwähnt 1863 nach Kopenhagen. Um sich Klarheit zu verschaffen, besuchte er hier den großen Dänen
persönlich. Die Begegnung half ihm jedoch nicht weiter. Grieg konnte sich nicht entscheiden
und brachte die schwankende Gesinnung in den poetischen Tonbildern op. 3, auch zum
Ausdruck. Geistig und technisch den Charakterstücken deutscher Schule nahestehend,
durchzieht sie ein starker nordischer Ton. Aber erst das Nordraak-Erlebnis gab den Ausschlag
und ließ das, was Grieg im Verlaufe der Kindheit verdrängt hatte, zusammen mit dem, was er
und Ole Bull (1810 bis 1880) 1864 in Norwegen während eines Sommeraufenthaltes an
Heimatklängen wieder zu Gehör bekamen, in den „Humoresken“ musikalische Gestalt
annehmen. Da sich jedoch der gesamte Vorgang dem Bewusstsein des Schaffenden weiterhin
entzog, konnte Grieg behaupten: „Ich kannte so gut wie nichts von unseren Volksweisen.“
Nordraak, dem Grieg die „Humoresken“ gewidmet hatte, nahm mit höchster Begeisterung das
Werk auf und schätzte es als stärksten Ausdruck seiner Forderung nach einer eigenständigen
norwegischen Tonsprache. Durch ihn, dem Stürmer und Dränger, vollzog sich dann der
Aufstieg des Verdrängten ins Bewusstsein rasch und heftig. Alle Schranken niederreißend,
erkannte Grieg mit einem Schlage die Bedeutung jener Klänge, welche bereits während der
Kindheit in ihm freudige Zustimmung hervorgerufen hatten und die sich seit langem als
Bestandteile seiner künstlerischen Ausstattung verwirklichen wollten. Indem er sie zum
Ausgangspunkt seines Schaffens erhob, wurden ihm die Klangeindrücke der Heimat als
Grundlage für seine Kunst vollends bewusst.
Grieg fand also die Richtung, die ihn zum Repräsentanten der norwegischen Musik machen
sollte, verhältnismäßig spät. Verglichen mit der Entwicklung anderer Tonsetzer verzögerte
sich aber die Entfaltung seiner vollen Schöpferkraft keineswegs. Wie bei ihnen, erfolgte sie
auch bei Grieg zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr.
Grieg konnte nur schaffen, wenn er alleine war und sich im Zustand einer heiteren,
unbeschwerten Gemütsruhe befand. Dann wandte er die Aufmerksamkeit von der Außenwelt
ab und richtete sie nach innen, um unaufhörlich zu suchen, bis „das winzige Fleckchen eines
neuen Landes“ entdeckt war. Innerlich auf der Suche sein, bedeutete ihm als Künstler größtes
Glück und „höchste Freude“.46 Hervorgegangen aus dem Hang zum Träumen, begünstigten
derartige Versenkungszustände das Auffinden neuer Gedanken, das Lösen musikalischer
Probleme und nützten so dem Entstehenden.
Wenn Grieg komponieren wollte, setzte er sich ans Klavier, ließ seinen poetischen Gefühlen
freien Lauf und setzte sie in Musik um. Aus den Ideen und Vorstellungen, die dabei
entstanden, gingen seine Tonstücke hervor, unreflektiert und wenig vorbereitet. Gleich
Schumann schrieb Grieg nur das auf, was er am Klavier festgestellt und überprüft hatte. Kam
es dagegen einmal vor, dass er das Instrument nicht benutzte, dann entschuldigte er sich
46
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 15.
18
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
unverzüglich für „die Haar reißenden harmonischen Kombinationen,“ die ohne Instrument
entstanden waren.47
Als hysterisch strukturierte Persönlichkeit beachtete Grieg keine Theorien, keine Grundsätze,
sondern folgte einzig und allein dem künstlerischen Empfinden. Er rang nicht wie Beethoven
mit der Form oder der Logik in der Themenentwicklung, ließ nicht wie der Klassiker den
musikalischen Einfall zum Grundlagenmaterial einer Komposition werden, sondern erhob ihn
zur Hauptsache, dem sich alles andere unterzuordnen hatte. Sein Schaffensstil entsprach der
zeitgenössischen Musik, und durch ihn unterschied er sich von der Wiener Klassik. Allein
schon im Umgang mit dem Notenpapier kam Griegs Komponierweise zum Ausdruck.
Oftmals brauchte er nur einen Bogen. Er schrieb mit Bleistift, korrigierte, radierte aus, bis der
Notentext seinen Vorstellungen entsprach. Dann zog er das Geschriebene mit Tinte nach und
schickte das Blatt, auf dem er begonnen hatte, zum Verleger.48
Grieg war kein Dramatiker, er war vor allem Lyriker. Zwar setzte er in einigen Werken starke
dramatische Akzente, die aufhorchen ließen und zu der Hoffnung Anlass gaben, als
Höhepunkt seines Schaffens werde er die skandinavische Nationaloper hervorbringen, das
„norwegische Musikdrama“, wie es ihm selbst vorschwebte, „tief und groß“, „mit
norwegischer Musik“, dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk ähnlich, doch aus all den
Opernplänen wurde nichts.49 Er hinterließ nur Fragmente, die vermuten lassen, dass seine
Fähigkeiten doch nicht ausreichten, ein derartiges Projekt zu verwirklichen. Hinzu kamen
gewisse phlegmatische Verhaltensweisen, welche manchen Plan genauso vereitelt haben
mögen, wie die auf das Schwanken der Gemütsverfassung zurückzuführenden unproduktiven
Phasen.
Grieg selbst beschuldigte sich immer wieder, dass er „entsetzlich faul“ sei, ihm bereits die
Faulheit während des ersten Klavierunterrichtes bei der Mutter, dann in der Schule und später
auch auf dem Konservatorium zu schaffen gemacht habe.50 Hinter dem ständigen
Lamentieren über die Studienmängel stand oftmals dasselbe Problem: Nach den Berichten
David Monrad Johansens tat Grieg nichts, um das, was er an Kenntnissen so schwer
vermisste, sich selbst zu erarbeiten. Wurde die Stimme des Gewissens zu heftig, zu
unerbittlich, wälzte er alle Schuld auf das Leipziger Konservatorium ab. Es lässt sich deshalb
auch nicht ausschließen, dass die einfachen Reihungsformen (Kennzeichen vieler
Kompositionen Griegs) nicht allein auf folkloristische Einflüsse zurückzuführen sind, sondern
sogar auf jene phlegmatischen Eigentümlichkeiten, die der Komponist, wie oben erwähnt,
selbst an sich so oft beklagte. Die Tatsache, dass im kompositorischen Schaffen Griegs eben
jene einfachen Reihungsformen zur Schablone erstarrten, könnte dafür ein Beweis sein.
Ohne tiefer gehende Beziehungen fügte der Komponist in fast all seinen Klavierstücken drei
Sätze aneinander, wobei er den ersten Satz als letzten Teil wiederholte. (Reprisenform: a b a).
Gefiel ihm ein Einfall besonders gut, erweiterte er das Grundschema und gab ihm die Form a
b a b a. Auch für die Gestaltung seiner Lieder bevorzugte er die Dreiteiligkeit. Dadurch, dass
Grieg lediglich Einfall an Einfall reihte und die Weiterentwicklung des thematischen
Materials umging, verringerte sich für ihn die Anstrengung. In ähnlicher Weise erleichterte er
sich auch die Arbeit während der Komposition seiner Kammermusikwerke, worauf Bücken
als erster hinwies, indem er feststellte: „Nicht etwa schon im Einfall liegt der Grundfehler des
47
Vgl. dazu Röntgen, Julius, Grieg, 1931, S. 56.
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 145.
49
Zitiert nach Goldschmidt, Harry, Edvard Grieg, in: Musik und Gesellschaft, Heft 9, 1957, S. 174.
50
Vgl. dazu Brock, Hella, a. a. O., S. 20 und S. 30.
48
19
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
architektonischen Aufbaus der großen Formen bei Grieg, sondern, wie seine Durchführungen
beweisen, in dem Fehlen des Willens zur gestrafften Verarbeitung.“51
Dass Grieg sehr wohl die großen Formen beherrschte und mit der Technik der thematischen
Arbeit umzugehen verstand, gibt sein Klavierkonzert op. 16, zu erkennen. Die Fertigkeiten
dazu hatte ihm das Leipziger Konservatorium vermittelt. Folglich wurde dem Tonsetzer durch
das Studium die Möglichkeit eröffnet, eigene Unzulänglichkeiten zu überwinden, sodass seine
Anschuldigungen gegenüber dem Institut auch von dieser Seite her entkräftet werden können.
Lüthje sieht die Ursachen für die Vorliebe Griegs, fast ausschließlich kleine Formen zu
benutzen, in Minderwertigkeitsempfindungen und meint: „Versuchte er sich einmal in der
großen Form, leistete er Überdurchschnittliches (Klavierkonzert a-Moll), fühlte sich aber
allzu sehr im Schatten der Titanen und kehrte wieder zur kleinen Form zurück.“ 52
Werkfördernde Antriebe vielfältigster Art erwuchsen dem Norweger aus der natürlichen
Umwelt. Im Sinne der Programmmusik entstanden musikalische Malereien, angeregt durch
Landschaft und Natur. Stimmungen wurden eingefangen und zu Tönen umgeformt. Manches
von dem, was der bereits aufkommende Impressionismus in Frankreich zur Vollendung
führen sollte, nahmen Griegs reizvolle Klangspielereien mit ihren hingetupften Tönen voraus.
Unmittelbar auf Griegs Leistungsfähigkeit wirkten sich die gegensätzlichen
Witterungsverhältnisse der verschiedenen Jahreszeiten aus. Äußerst günstig waren für ihn
sonniges Wetter sowie klare Luft, während Regen und Nebel die künstlerische Produktion
größtenteils lähmten. Die meisten Werke, auch die bedeutendsten, entstanden regelmäßig im
Frühjahr und Sommer, ja sogar dann, wenn er über Störungen durch Sommergäste zu klagen
hatte. Kam der Herbst, versiegten die schöpferischen Kräfte; Grieg ging auf Reisen und gab
Konzerte. Fast alle europäischen Länder besuchte er. Während der Fahrt mit der Eisenbahn
suchte er als introvertierte Persönlichkeit keinen Kontakt zu anderen, sondern übte auf einer
stummen Klaviatur. Die Motorik des Dampfzuges ging dabei vermutlich auf die eigene
Motorik über, wodurch Grieg, der überaus gern träumte, gezwungen wurde, sich dieser
Neigung nicht hinzugeben. Der Winter war die unproduktivste Zeit. Sausten an solchen Tagen
Stürme um das Haus, rüttelten sie an Türen und Fenstern, saß Grieg mit sich und der Natur
allein in einem Winkel, wie in der Kindheit, und lauschte. Zum Komponieren veranlasste ihn
das kaum.
Eine „werkfördernde Antriebsquelle“ anderer Art stellte für den Norweger das Streben nach
sozialer Anerkennung dar. Die Erfolge flogen ihm nur so zu, mehr als manchem anderen.
Nach seinen Worten war er nicht imstande, einer „schönen Orchesteraufführung eigener
Werke“ und „einem sympathischen Publikum“ zu widerstehen. „Das ist es, glaube ich, was
mich betört“, sagte er.53 Er brauchte die Bewunderung und hoffte mit jedem Werk von neuem
auf sie, um sein Selbstvertrauen zu stärken, um dem Zweifel an sich und seiner Musik
entgegentreten zu können, um Depressionen und Leere abzuwenden, auch um den Preis, dass
einiges zu sehr nach dem Geschmack des Publikums geriet. Auf Orden aus der Hand adliger
Gönner legte Grieg - ein echter Republikaner - nur geringen Wert. Dagegen fühlte er sich
hoch geehrt, als er Mitglied der schwedischen Akademie, der Musikakademie zu Leyden, der
Berliner Akademie sowie der französischen Akademie wurde und ihm die Universität
Cambridge die Ehrendoktorwürde verlieh.
51
Zitiert nach Bücken, Ernst, Handbuch der Musikwissenschaft, 1929, S. 294.
Vgl. dazu Lüthje, Hans, Edvard Grieg, in: Die Christengemeinschaft, Nr. 1, 1967, S. 19 ff.
53
Zitiert nach Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, a. a. O., S. 72, auch S. 78.
52
20
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
4. Die Lungenerkrankung des Studenten Grieg
Im Mai 1860, während des zweiten Studienjahres, erkrankte Grieg an einer feuchten
Brustfellentzündung (Pleuritis exsudativa), die, wie sich durch den weiteren Krankheitsverlauf
herausstellen sollte, die Erstmanifestation einer gefährlichen Lungentuberkulose darstellte.
Gleich, nachdem die Eltern die Nachricht über sein Befinden erhalten hatten, reiste die Mutter
nach Leipzig und fand ihren Sohn in einem äußerst bedrohlichen Zustand. Sie nahm ihn mit nach
Bergen, wo er sich nur langsam wieder erholte. Aber bereits im Herbst verließ Grieg gegen den
Einwand des Arztes die Heimat und kehrte zum Studium nach Leipzig zurück. Mit Erfolg hatte
sich der Körper zur Wehr gesetzt, doch beschwerdefrei wurde der Norweger in seinem Leben nie
wieder.
Im Laufe der Zeit schrumpfte die linke Lunge, die befallen worden war, zusammen, so dass sie
nicht weiterwachsen konnte und für immer unbrauchbar blieb. Ihre Ruhigstellung aber brachte die
Tuberkulose zum Stillstand; denn alles, was zur Zirrhose hinneigt, erweist sich auf Grund
medizinischer Erkenntnis als gutartig, „da es die Narbe herbeiführen will“.54 Infolge der
Schrumpfungsprozesse verlor die betroffenen Brustseite ihre naturgegebene Wölbung, sie wurde
schmaler, die Rippen verliefen jetzt steiler und enger. Besonders ungünstig wirkten sich die
linksseitigen Veränderungen auf die rechte Lunge aus und schränkten ihr Arbeitsvermögen ein.55
Um die Atemnot, die von da an auftrat, wenigstens etwas zu lindern, vielleicht auch, um die
entstandene Deformation auszugleichen, hielt sich Grieg immer mit beiden Händen an den
Rockaufschlägen fest, eine Haltung, die für ihn charakteristisch werden sollte und in der er sich
auch oft fotografieren ließ. Sogar die musikalische Gestaltung vieler seiner Werke wurde von der
Kurzatmigkeit beeinflusst. Vorrangig in den Liedern deutete Grieg Steigerungseffekte einfach nur
an, anstatt sie zur vollen Entfaltung zu führen, und mehr als einmal musste er von Kritikern hören,
dass auch seine größeren Werke sehr „kurzatmig“ seien.56
Erst in den letzten drei Lebensjahren, als die Atemnot merklich zunahm, schwanden die Kräfte, da
das Herz in das Krankheitsgeschehen mit hineingezogen wurde. Wie die Obduktion ergab, war
der funktionsfähig gebliebene Teil der Lunge inzwischen ebenfalls tuberkulös erkrankt, hatte sich
emphysematisch vergrößert und zeigte an den Blutgefäßen jene altersbedingten Veränderungen,
die gewöhnlich am Herzen zuerst auftreten, dort jedoch erstaunlicherweise fehlten. Als Folge des
erschwerten Blutumlaufes in der Lunge litt auch die Ernährung des Herzens, und so setzte
schließlich Herzlähmung dem Komponistenleben ein Ende.
Die Krankheit, an der Grieg sterben musste, ging zurück auf einen multikausalen Prozess, auf das
Ineinanderwirken somatischer und psychischer Faktoren: Der junge Norweger erkrankte in einer
Jahreszeit, in der, bedingt durch den Wechsel vom Winter zum Frühling und durch den Mangel an
Vitaminen zu diesem Zeitpunkt, die Anfälligkeit der Atmungsorgane gegenüber Infektionen
zunimmt und die Zahl der Neuerkrankungen an Tuberkulose ganz allgemein steigt.
Bedeutungsvoll für den Krankheitsbeginn war außerdem das Lebensalter. Grieg durchlief gerade
jene kritische Umbruchsphase, die Pubertät, in der sich von jeher Frequenzsteigerungen der
Lungentuberkulose beobachten lassen.57 Aber nicht nur Lebensalter und Jahreszeit begünstigten
die Infektion, sondern auch konstitutionelle Faktoren. Es gilt als bewiesen, dass Astheniker der
Tuberkulose den geringsten Widerstand entgegensetzen und demzufolge häufiger erkranken.58
54
Vgl. dazu Deist, Helmut und Hermann Kraus, Die Tuberkulose, 1959 S. 224.
55
Vgl. dazu Johansen, David Monrad, a. a. O., S.23 und S. 307.
Vgl. dazu Stein, Richard H., a. a. O., S. 33 und Johansen, David Monrad, a. a. O., S. 213.
57
Vgl. dazu Handbuch der Tuberkulose in 5 Bänden, Hrsg. Hein, J., H., Kleinschmidt und e. Uehlinger, Bd. 1,
1958, S. 532.
58
Vgl. dazu Deist, Helmut und Hermann Kraus, a. a. O., S. 159.
56
21
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Inwieweit genetisch bedingte Prädispositionen bei der Krankheitsentstehung eine Rolle spielten,
bleibt unbekannt. Aus der Genealogie geht nicht hervor, dass Vorfahren oder lebende Verwandte
an irgendwelchen Formen von Lungenerkrankungen gelitten hätten. Auch die Frage, ob
mangelnde Ernährung den Ablauf der Tuberkuloseinfektion beeinflusst habe, muss unbeantwortet
bleiben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang jedoch an jene finanziellen Schwierigkeiten, in die
der Student geriet, als einmal während des Winters die Geldanweisung aus der Heimat verloren
ging, wodurch er gezwungen worden sein könnte, seine Mahlzeiten einzuschränken.
Zu den psychischen Faktoren, die Infektion und Manifestation der Lungentuberkulose
begünstigten, gehörten neben dem Verlust an familiärer Geborgenheit (bedingt durch den
Wohnortwechsel) vor allem die persönlichkeits- und lebensgeschichtlich motivierten Störungen
sowie die situationsbedingten Konfliktzustände. Als im Laufe der Konservatoriumszeit die
Leistungsanforderungen stiegen, die ursprüngliche Begeisterung für das Studium nachließ und der
Student sich in seiner Entfaltung stark eingeschränkt fühlte, als die Abneigung gegen die Lehrer
zunahm, gleichzeitig aber vermehrt Zweifel an den eigenen Fähigkeiten entstanden, prallten
Aggression und Minderwertigkeitsgefühle, Angst und Selbstüberschätzung dermaßen stark
aufeinander, dass die Studiensituation für Grieg unerträglich wurde und er gesundheitlich
zusammenbrach. In welcher Gemütsverfassung sich der junge Norweger befand, bevor er
erkrankte, gibt die um diese Zeit in seinen Kompositionsübungen gehäuft auftretende Chromatik
zu erkennen, eine klangliche „Färbung“, welche seit Jahrhunderten als Ausdrucksmittel für
Schmerz und Sehnsucht benutzt wird.
Die Auslösung der Erkrankung selbst lässt sich nur medizinisch erklären. Im allgemeinen werden
tuberkulosefördernde Wirkungen psychosomatischer Faktoren vom vegetativen Nervensystem auf
die Organsphäre übertragen. Ermüdet infolge von Überbelastung das Vegetativum, lässt auch die
Aktivität der von ihm gesteuerten Abwehrfunktionen gegenüber Infektionen nach. Welches Organ
dann erkrankt, hängt vorrangig, aber nicht allein, von der somatischen Bereitschaft ab. Da die
Atmungsorgane die Beziehungen zum Lebensraum unmittelbar herstellen, Griegs Verhalten zur
Umwelt aber grundsätzlich gestört war, wurde – so die Konstellation der Tatsachen – bei ihm die
Funktion der ohnehin schwachen Lunge gestört, und er erkrankte an Tuberkulose.
Mit Sicherheit kann angenommen werden, dass die Reaktionsart – die physiologische
Ansprechbarkeit des jungen Norwegers auf endogene und exogene Reize – für den weiteren
Krankheitsverlauf ausschlaggebend wurde. Sein blondes Haar, der Farbcharakter seiner Haut und
Augen, die Überempfindlichkeit der Schleimhäute (bewiesen durch die äußerst häufigen
Erkrankungen der oberen Luftwege) deuten auf eine reizbare Konstitution im physiologischen
Sinne. Diese macht seine Genesung erklärbar: Tuberkulöse, die reizbare Reaktionsweisen zeigen,
neigen zu Spontanheilungen. Ein derartiger Gesundungsprozess ist dann von therapeutischen
Maßnahmen unabhängig.59 Griegs Wollen aber, unbedingt ein bedeutender Komponist zu werden,
unterstütze die Heilung von der psychischen Seite her und verhinderte, dass er sich der Krankheit
ergab.
5. Griegs Ende
Grieg fürchtete den Tod nicht. Er sah dem Sterben mit Gelassenheit entgegen. „So eine Krankheit
ist eine gute Lehre über den Tod“, schrieb er bereits 1898 an Frants Beyer. „Sie vergrößert die
Lebensanschauung und stimmt milde.“60 Einen Funken Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem
Tode scheint sich Grieg trotz mancher Zweifel in den letzten Lebensjahren doch erhalten zu
haben, sonst hätte er nicht am 31. Dezember des Jahres 1906 an Freund Röntgen schreiben
können: „... solange man lebt, heißt es aber: das Haupt aufrecht halten und: vorwärts, immer
59
60
Vgl. dazu Deist, Helmut und Hermann Krause, a. a. O., S. 160.
Vgl. dazu Benestad/Schelderup-Ebbe, Edvard Grieg/Mensch und Künstler, 1993, S. 272.
22
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
weiter, dem Nichts – oder dem Etwas entgegen!“61 Die Hoffnung war für Grieg das schönste
Gefühl, das der Mensch besitzen würde. „Es lebe die Hoffnung“, begeisterte er sich bereits 1881
in einem Brief an Johan Andreas Christie.62
Im Sommer des Jahres 1907 verschlechterte sich Griegs Gesundheitszustand mehr und mehr.
Unter tiefen Depressionen vertraute er seinem Tagebuch an: „Wenn man nur ein Mittel hätte,
ruhig in den Schlaf zu fallen, wenn ich es nicht aushalten kann. Obwohl – mir würde wohl der
Mut fehlen. Ich betrachte Selbstmord nicht als Feigheit. Im Gegenteil. Ich bewundere zutiefst den
Mut, den ich, wie ich spüre, nicht besitze.“63 Nina hatte ihm mehrmals in tiefstem Ernst
versprechen müssen, dass sie sein Leiden verkürzen werde, wenn sich das Sterben qualvoll
hinauszögern sollte. „Gott sei Lob, dass mir diese Versuchung erspart geblieben ist“, bekannte
sie kurz nach der Beisetzung in einem Brief an Monastier-Schröder.64
Edvard Grieg starb am 4. September 1907 im Alter von 64 Jahren in der Stadt, in der er zur Welt
kam. Krankenschwester Clara Sofie Jensen erlebte seine letzte Stunde. Jahrzehnte später,
während eines Interviews im Jahre 1958, erzählte sie: „In diesem Augenblick geschah etwas
Eigenartiges. Grieg setzte sich im Bett auf, es sah fast feierlich aus, er machte eine tiefe
Verbeugung. Es war keine zufällige Bewegung, ich zweifle nicht daran, dass er sich verbeugte,
genau wie dies die Künstler vor dem Publikum tun. Dann sank er leise zurück und blieb
unbeweglich liegen“. 65
Der Vergleich, Grieg habe sich auf seinem Sterbebett wie ein Künstler vor dem Publikum
verbeugt, überzeugt nicht, die Äußerung erscheint angesichts des Todes sogar banal. Griegs
Verneigung war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Ehrfurchtsbezeugung,
nichts anderes. Wir wissen heute, dass der Komponist selbst bereits am 17. Mai 1905 in einem
Brief an Thomas Ball Barratt vorausschauend sein eigenes Sterben beschrieben hatte: „Der große
Geist des Weltalls, den wir Gott nennen, hat jedem Menschen den Drang eingehaucht, sich vor
diesem Geist zu beugen, und ich tue das auch in vollem Maße, indem ich mich in dessen Obhut
begebe, wenn ich dieses Leben verlasse. Das ist mehr und mehr zu unserer Religion geworden,
und ich empfinde, dass das nicht mehr erschüttert werden kann“.66
Schlussbetrachtung
Die Berücksichtigung psychopathologischer Aspekte bei der Beantwortung der Frage nach
den Hintergründen von Antrieb und Grenzen des kompositorischen Schaffens von Edvard
Grieg vermittelt, wie ersichtlich, ein weitaus komplexeres Bild von der Persönlichkeit und
den Schaffensprinzipien des Norwegers als jene Biografien, die eine tiefer gehende Deutung
seines Entwicklungsweges außer Acht lassen. All die Konflikte, Ängste und Fehlhaltungen,
die dabei aufgedeckt wurden, stehen jedoch in keinem Gegensatz zu der liebenswürdigen und
bewundernswerten Persönlichkeit des norwegischen Tonschöpfers oder zu seinen genialen
Leistungen, da die Auseinandersetzung mit der Lebensangst Grieg immer wieder zur
Schöpfung neuer Werke veranlasste und ihn zu dem werden ließ, als der er in die
Kulturgeschichte der Menschheit eingegangen ist.
61
Vgl. dazu Röntgen, Julius, a. a. O., S. 112).
Vgl. dazu Grieg, Edvard, Brev i utvalg, Band1, 1998, S. 139/4.
63
Vgl. dazu Benestad/Schjelderup-Ebbe a. a. O., S. 305.“
62
64
Vgl. dazu ebenda, S. 305 und S. 307.
65
Vgl. dazu ebenda, S. 308.
66
Vgl. Grieg, Edvard, Bd. 1, a. a. O., S. 24 f./3.
23
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Literatur
Geschichte
Andersen, Norges hoieres skolevaesen, 1914
Benedixen, B. E., Tanks real- og handelsskolle, 1900
Faye, Andreas, Geschichte Norwegens, 1851
Gerhard, Martin, Norwegische Geschichte, 1963
Midgaard, John, Eine kurze Geschichte Norwegens, 1963
Medizin
Ammeleounx, Bernhard, Tuberkulose und Seelenleben, 1946
Handbuch der Tuberkulose in fünf Bänden, hrsg. von Hein, J. H. Kleinschmidt und E. Uehlinger, 1958
Musik
Benestad, Finn og Dag Schjelderup-Ebbe, Edvard Grieg, 1980
Benestad, Finn und Dag Schjelderup-Ebbe, Edvard Grieg/Mensch und Künstler, 1993
Brock, Hella, Edvard Grieg als Musikschriftsteller, 1999
- Edvard Grieg, 1990
Bücken, Ernst, Handbuch der Musikwissenschaft, 1927
Debussy, Claude, Einsame Gespräche mit Monsieur Croche, 1975
Edvard Grieg, Brev i utvalg, Band 1 und 2, 1998
Edvard Grieg/Kunst und Identität, Troldhaugen, o.J.
Edvard Grieg, Samlede Verker, Gesamtausgabe, Complete Works, 1977 – 1995
Edvard Grieg, Thematisch-Bibliografisches Werkverzeichnis, vorgelegt von Dan Fog(†), Kirsti Grinde, und
Øvind Norheim. (Edition Peters Nr. 11095), 2008
Fellerer, Karl Gustav, Edvard Grieg, 1942
Finck, Henry T., Edvard Grieg, 1908
Goldschmidt, Harry, Edvard Grieg, in: Musik und Gesellschaft, Heft 9, 1957
Guttmann, Alfred, Ein neues Buch über Griegs Persönlichkeit, in: Schweizerische Musikzeitschrift, Heft 4, 1950
Johansen, David Monrad, Edvard Grieg, 1934
Lüthje, Hans, Edvard Grieg, in: Die Christengemeinschaft, Nr. 1, 1967
Röntgen, Julius, Grieg, 1931
Schjelderup, Gerhard und Walter Niemann, Edvard Grieg, 1908
Tschaikowski, Peter, Erinnerungen eines Musikers, 1974
24
Dr. phil. Joachim Reisaus: Edvard Grieg – Antrieb und Grenzen seines Schaffens
Zschinsky-Troxler, Elsa v., Edvard Grieg/Briefe an die Verleger der Edition Peters 1866 – 1907, 1932
Psychologie
Adler, Alfred, Studienausgabe, 2007 – 2010
Bahle, Julius, Der musikalische Schaffensprozess, 1947
Brandl, Gerhard, Im Mittelpunkt stehen wollen, 1976
Bühler, Charlotte, Kindheitsprobleme und der Lehrer, 1972
Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, 15 Bände, Planung des Gesamtwerkes Heinrich Bahner, Dieter Eicke,
Nina Kindler, Christoph Kraiker, Helmut Stolze, Gerhard Strube, Hans Zeier, 1976 - 1980
Gesell, Arnold, Jugend/Die Jahre von zehn bis sechzehn
Handbuch der Psychologie in 12 Bänden,Hrsg. von H. Gottschaldt, Ph. Lersch, F. Sander, H. Thomas, 1959 –
1983
Hellpach, Willy, Geopsyche, 1950
Jung, Carl Gustav, Typologie, 1972
Kleinen, Günter, Zur Psychologie musikalischen Verhaltens, 1975
Kretschmer, Ernst, Körperbau und Charakter, 1961
Lückert, Heinz-Rolf, Konfliktpsychologie, 1957
Riemann, Fritz, Grundformen der Angst, 1996
25

Documentos relacionados