296 Wohin führen die Ereignisse des »Arabischen Frühlings«? Die

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296 Wohin führen die Ereignisse des »Arabischen Frühlings«? Die
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Wohin führen die Ereignisse des »Arabischen Frühlings«? Die Umbrüche des Jahres 2011 nahmen ihren Ursprung in Nordafrika. Diese Re­
gion, die im Süden Europas, im Westen des arabischen Kulturraums und
nicht zuletzt im Norden Afrikas liegt, bietet einen einzigartigen Schnittpunkt zwischen Kontinenten, Religionen und Kulturen. Um tragfähige
Aussagen über die politische Entwicklung dieser Region treffen zu können, müssen die Ereignisse in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens mit in die Analyse einbezogen werden. Es scheint, als wären hier
wie dort die autoritären, aber säkularen Regime im Niedergang begriffen.
Gleichzeitig konnte sich der konkurrierende islamistische Gesellschaftsentwurf bislang nicht durchsetzen.
Die arabischen Mittelschichten scheinen sich durch ihr Engagement
sowohl von den alten Regimen als auch den Heilskündern des Islam
abgewandt zu haben und streben nach politischer wie sozialer Teilhabe
in einem Staatswesen, das individuelle Freiheiten und Wohlstand garantiert. Das Erreichen dieser Ziele hängt nicht zuletzt davon ab, ob die wirtschaftlichen und politischen Strukturschwierigkeiten überwunden werden. Ohne die Hilfe Europas, werden diese kaum zu meistern sein. Ein
ehrlicher Diskurs und ein gemeinschaftliches Miteinander bilden die
Grundlage für eine Zukunft, die den Menschen rund um das Mittelmeer
Frieden und Wohlstand und gegenseitigen Respekt versprechen.
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Bemühungen um eine islamische
Demokratie?
Die Welle von Protesten, die breite Teile der arabischen Welt erfasst hat, überraschte sowohl politische Beobachter als auch Experten. Der »Arabische Frühling« löste große Diskussionen in
Politik und Medien aus. Dabei dominieren drei Fragenkomplexe:
Erstens: Wie sind diese Revolten zu erklären bzw. welche
sind die kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen
Faktoren, die zu diesen Entwicklungen führten? Zweitens: Sind
diese Entwicklungen Zeichen für eine Demokratisierung der
arabischen Welt und ist Demokratie in der arabischen Welt überhaupt möglich? Drittens: Welche Rolle werden die islamistischen
Parteien und Bewegungen in den künftigen Regierungskonstellationen spielen?
In diesem abschließenden Beitrag werden die Gründe der
Aufstände thesenartig analysiert und in den historischen Rahmen der großen Transformationen der Gesellschaften des Nahen
und Mittleren Ostens und Nordafrikas eingeordnet. Dieser Ansatz macht es notwendig, den bisherigen Blick über die Region
Nordafrika hinaus auszudehnen und Staaten, die aufgrund ihrer
geografischen Lage in diesem Band bislang nicht behandelt wurden, zu berücksichtigen. In einem Ausblick werden schließlich
die Chancen einer Demokratisierung der Region diskutiert.
Drei Thesen zum »Arabischen Frühling«
These 1: Beim »Arabischen Frühling« handelt es sich um eine Revolte der in ihrem Aufstieg blockierten und politisch frustrierten
Mittelschichten.
Bei den Protestbewegungen in Nordafrika, welche die Souveränität der jeweiligen autokratischen Staatsregime vehement
in Frage stellen, wird von einem komplexen Bündel struktureller
Ursachen und Auslösern ausgegangen. Diese Protestbewegun­
gen sind aber kein Novum in der jüngeren Geschichte der
­Region. Betrachtet man diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts, so
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zeichnet sich eine Art zyklische Entwicklung solcher Protestbewegungen ab. Die aufsteigenden Mittelschichten waren und sind
dabei die Hauptträger der Revolten. Der Aufstieg, Niedergang
und die Stagnation dieser Mittelschichten sowie deren Artikulationsformen sind maßgeblich für die Erklärung von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Prozessen im Nahen und
Mittleren Osten. Diese Dynamiken der Mittelschichten wurden
und werden wiederum von politischem und ökonomischem
Strukturwandel beeinflusst. So führten die ab Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführten Tanzimat-Reformen im Osmanischen
Reich zum Aufstieg einer neuen städtischen Mittelschicht, die im
nahöstlichen Kontext mit dem Begriff »Effendiya« bezeichnet
wurde. Der Begriff kommt aus dem Osmanischen, stammt vom
Wort »Effendi« ab und bedeutet »Herr«, also ähnlich wie die Bezeichnung »gentleman« oder »gentil homme« in der europäi­
schen Geschichte. Diese Effendiya ist Ergebnis der Eingliederung
der osmanischen Region in das europäische Wirtschaftsystem
sowie der Einführung des europäischen Bildungssystems. Die
Umstrukturierung der Agrarwirtschaft in eine Exportagrarwirtschaft Ende des 19. Jahrhunderts führte zu einer massiven Urbanisierung der aufstrebenden ländlichen Familien. Diese Effendiya artikulierte sich in der Idee und Bewegung der Nahda und
später als Anti-Osmanische Bewegung. Die Intensivierung der
Modernisierung der Region unter der kolonialen Herrschaft europäischer Mächte führte zur Diskreditierung der agrarischen
Mittelschichten, also der Effendiya, und zur Entstehung neuer
Mittelschichten, die in der Literatur als »New Effendiya« bezeichnet werden. Diese neuen Mittelschichten entstanden nach
dem Ersten Weltkrieg. Sie wurden zu Hauptträgern des arabi­
schen Nationalismus.
Beide Transformationen, die zur Entstehung von Mittelschichten führten, sind Ergebnis der großen ökonomischen Umwälzungen und der Anbindung der Region an das kapitalistische
Weltsystem sowie ihrer Eingliederung als Peripherie dieses Weltsystems.
Mit dem Ende des Kolonialismus übernahmen in den gerade
unabhängig gewordenen Staaten der Region diese Mittelschichten die Macht. Mit Hilfe der Öleinnahmen etablierten sich
Rentierökonomien. Rentierökonomien herrschen in den Staaten
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Bemühungen um eine islamische Demokratie?
vor, deren Einnahmen v.a. vom Export von Primärprodukten,
(z.B. unverarbeitete Rohstoffe wie Erdöl), abhängig sind. Renten
sind Einkommen ohne eine nennenswert erbrachte produktive
Eigenleistung. Sie entstehen infolge eines beschränkten Wettbewerbs, entweder aufgrund von herrschenden Monopolen oder
aufgrund politisch geschaffener Marktbeschränkungen. Renten
beeinflussen die politischen Strukturen und wirken damit über
die Interessenvermittlung auch auf die Strategien von Akteuren.
Die Einbindung in das ökonomisierte Weltsystem, wie sie in den
letzten 20 Jahren der Fall war, verstärkt diese Struktur. Die Einnahmen aus den Renten müssen dabei nicht ökonomisch rational eingesetzt werden, sondern stehen der herrschenden Elite
frei zur Verfügung und werden in der Regel für politische
­Zwe­cke verwendet, um Loyalitäten zu erkaufen. Der bevorzugte
Einsatzbereich dieser Geldmittel ist der Sozialbereich. Damit
entsteht ein politischer Pakt zwischen Herrschenden und Beherrschten, basierend auf der strategischen Verteilung dieser
Staatseinnahmen. Die sozial-gesellschaftlichen Effekte dieser
­Poli­tik sind unter anderem: Bildungs- und Gesundheitsangebot
für breite gesellschaftliche Schichten sowie Jobmöglichkeiten im
überzogenen öffentlichen Sektor. Mit Hilfe der Ölwirtschaft erzielten diese Länder zum Beispiel zwischen 1973 und 1983
Wachstumsraten von bis zu elf Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die Arbeitslosigkeitsrate lag bis in die 1980er-Jahre bei
etwa fünf Prozent in Ägypten und unter zwei Prozent in Jordanien.
Die Folgen waren eine rasante Verstädterung (Ägypten von
30 % im Jahre 1950 auf 47 % im Jahre 1990; Syrien von 32 % auf
51 %; Jordanien von 38 % auf 78 %; Saudi-Arabien von 12 % auf
86 %) und Vernachlässigung der Modernisierung der Agrarwirtschaft. Hieraus resultierte eine Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten, aber auch eine Bevölkerungsexplosion (Ägypten
von 21 Mio. Menschen im Jahre 1950 auf 55,5 Mio. im Jahre 1990;
Algerien und Marokko von 9,5 Mio. auf 30 Mio., Syrien von 3,5
Mio. auf 16 Mio. Menschen im gleichen Zeitraum). Als Folge ist
auch eine Verjüngung der Bevölkerung zu verzeichnen, was gerade für die arbeitsfähige Bevölkerung (zwischen 15 und 64 Jahren) gilt, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung sich in allen
Ländern des Nahen und Mittleren Ostens auf mehr als 60 Pro299
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zent beläuft. Gleichzeitig ist aber ein Rückgang der Bevölkerung
der Altersgruppe unter 15 Jahren zu verzeichnen.
Diese eben beschriebene Politik führte ab Mitte der 1970erJahre zum Aufstieg einer neuen Mittelschicht. Neben der komfortablen ökonomischen Situation, welche die Klientelisierung
der Gesellschaft ermöglichte, entwickelten die Machthaber ein
geistiges Gerüst zur ideologischen Anbindung der arabischen
Bevölkerung an ihre Regime, nämlich den arabischen Nationalismus, der auf einem antiimperialistischen und antiisraelischen
Diskurs basiert. Gleichzeitig entwickelten sich einige Regime zunehmend zu Gewaltherrschaften mit einem gewaltigen Sicherheitsapparat zur Überwachung der eigenen Gesellschaft. Zum
Machtapparat gehörten auch Partei, Gewerkschaften und diver­
se Organisationen.
Spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre erlitt diese Politik einen
schweren Rückschlag. Der dritte Ölschock von 1985/86 führte
zum Niedergang nicht nur des Wirtschaftssystems, vor allem in
den Rentierstaaten, die vom Erdöl abhängig waren, sondern des
gesamten Herrschaftssystems. Die meisten Staaten der Region
waren zudem gezwungen, die Strukturanpassungsprogramme
und Bedingungen des Internationalen Währungsfonds (IWF)
umzusetzen. Dies führte zum Rückzug des Staates aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung und zum Abbau des staatlichen
Wohlfahrtsangebots. Dieses stand nun nicht mehr den breiten
Schichten zur Verfügung, sondern beschränkte sich auf wenige
staatstragende Kreise, die nach wie vor in den Klientelstrukturen
eingebunden blieben. Die Krise des Rentierstaates hatte das Ende
der loyalitätssichernden Verteilungsstrategien zur Folge. Der An­
teil der gesellschaftlich marginalisierten Jugend wurde immer
größer und die Forderungen der Mittelschichten nach größeren
ökonomischen Freiräumen immer deutlicher. Der »Sozialpakt«
zwischen Staat und Gesellschaft und damit auch die »Pax Politica« waren zerbrochen. Auch in Staaten, in denen die Staatsräson
stärker an die Religion gebunden war, ging die Allianz zwischen
Staat und Religion zu Ende. Die islamische Religion entwickelte
sich zu einem neuen Artikulationskanal, was ihr zunächst einen
gesellschaftspolitischen Aufstieg ermöglichte, doch längerfristig
in einem Niedergang zu münden scheint.
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Abd al-Aziz Bouteflika übt seit 1999 das Amt des Präsidenten der Republik
Algerien aus. Er trieb die Aussöhnung zwischen säkularem Nationalstaat und den
Anhängern des politischen Islam voran.
Die politisch blockierte, aber wirtschaftlich aufsteigende Mittelschicht wurde zum Hauptklienten der islamistischen Bewegungen. Die islamistischen Bewegungen konnten deswegen den
politisch heimatlosen Mittelschichten eine Zuflucht bieten, weil
sie in ihren Programmen zwar Marktöffnung und staatsinterventionistische Vergeudung von Ressourcen kritisierten, dem
Staat aber weiterhin eine wichtige Rolle, insbesondere in den
Außenwirtschaftsbeziehungen, zuwiesen. Die Texte dieser Bewegungen entwickelten sich von einer Beschreibung einer an
moralischen Prinzipien orientierten Wirtschaft (»moral economy«) zu einer pragmatischen Darstellung von Politik. Danach
sollten unter den Bedingungen der Globalisierung die nationale
Wirtschaft vor Importkonkurrenz geschützt und eigene Exportmöglichkeiten gefördert werden. Einhergehen sollte dies mit
einer Zunahme der Beschäftigung und der technischen Entwicklung des Landes. Zurecht weist Gilles Kepel darauf hin, dass der
Erfolg der Islamisten nicht primär in der Mobilisierung und Einbindung der Unterschichten liege, sondern mehr in der Fähig301
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keit, eine Synthese zwischen den Unterschichten und den am
Aufstieg gehinderten Mittelschichten herzustellen. Denn die Islamisten pflegen einen radikalen Diskurs, der die frustrierten
Unterschichten mobilisiert, und propagieren gleichzeitig mittelschichtenorientierte wirtschaftliche Programme, die deren sozia­
len und wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichen sollen.
Aufgrund ihrer partiellen Einbindung in die politischen Systeme transformierten sich die islamistischen Bewegungen jedoch
zu politischen Parteien mit modernen Strukturen (z.B. Mouvement de la société pour la paix, MSP, in Algerien, Parti de la justice et du développement, PJD, in Marokko). Sie stellen inzwischen
bedeutende Fraktionen in den Nationalparlamenten, sitzen in
wichtigen Ausschüssen und sind sogar – wie die MSP in Algerien – bedeutende Koalitionspartner in den Regierungen. Diese
Partizipation führt zu einer Art politischen Verblassung, was ich
als Partizipationsdilemma bezeichne. Durch ihren Wandel von
politischen Massenbewegungen zu politischen Parteien verlieren die islamistischen Parteien an Glaubwürdigkeit, Ansehen
und Durchsetzungsmacht. Denn nach dem Einzug in die nationalen Parlamente entfalteten sich sowohl parteiintern als auch
bei Anhängern und Wählern neue Dynamiken, die nicht mehr
durch einfache populistische Diskurse und dogmatische Reden
zu steuern sind. Konfrontiert mit den Alltagsproblemen der Bürger und dem Lernprozess der parlamentarischen Arbeit, scheinen islamistische Parteien längst von der Realpolitik eingeholt
worden zu sein. Inzwischen wissen auch die Kader dieser Parteien, dass es keine Allheilmittel für die Lösung sozialer und öko­
nomischer Probleme nach dem Motto »al-Islam huwa al-Hall«
(»der Islam ist die Lösung«) gibt. Rhetorische oder religiöse Qualitäten alleine sind bei Wahlen nicht mehr ausreichend für eine
gute Platzierung auf der Kandidatenliste. Somit sind die Islamis­
ten nicht nur gezwungen, Wahlprogramme vorzulegen, sondern
diese auch in öffentlichen Diskussionen zu verteidigen, wie der
Fall Ägypten zeigt. Und selbst die Stammwähler und Anhänger
dieser Parteien sind kritischer geworden. Die Folge ist eine Art
»De-Sakralisierung« der islamistischen Bewegungen sowie der
ihnen nahestehenden Organisationen und damit auch der Religion als politisches Mittel.
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Mit der Praxis der Kooptation, also der Wahl neuer Mitglie­
der durch bereits der Partei angehörende Mitglieder, nehmen es
diese Parteien in Kauf, sich von den Randgruppen der Gesellschaft und damit von einem wichtigen Teil ihrer Anhängerschaft
zu entfernen und insgesamt an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Islamistische Parteien in Marokko, Algerien, Jordanien und dem
Jemen wurden so in den vergangenen Jahren eher schwächer als
stärker. Je länger diese Parteien am politischen Wettbewerb teilnehmen, desto geringer werden ihre Erfolge bei Wahlen – auch
unter dem Vorbehalt teilweise massiver Manipulationen seitens
der herrschenden Regime. Darüber hinaus ergeben sich für die
Mittelschichten mit neuen Marktmöglichkeiten, kombiniert mit
der bereitwilligen Nutzung der neuen Medien, bisher unbekannte Entfaltungsmöglichkeiten außerhalb der traditionellen religiösen Vereine, Parteien und Bewegungen. Eine Radikalisierung
von Teilen dieser Bewegungen, wie im Bürgerkrieg in Algerien
oder mit den Ereignissen des 11. Septembers versinnbildlicht,
sowie die Existenz von Organisationen wie al-Qaida tragen zur
Eindämmung dieser Bewegungen bei. Der Mythos der unendlichen Mobilisierungskraft islamistischer Akteure scheint zu
Ende zu sein. Inzwischen sind sie durch die herrschenden gesellschaftlichen Gruppen »gezähmt« worden, selbst in Korruptionsaffären verwickelt und verlieren so zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die Mittelschichten wenden sich von den Diskursen der
Islamisten ab.
Zweite These: Diese neue Generation von Mittelschichten hat
Erscheinungen von Ideologiemüdigkeit. Sie ist nicht mehr durch
vertikal und hierarchisch gesteuerte Mobilisierungsmechanismen zu beeinflussen. Es ist eine Generation, die ihr Schicksal
selbst in die Hand nehmen will.
Die heutige arabische Welt ist durch eine Ideologiemüdigkeit
breiter Teile der Bevölkerung gekennzeichnet. Die gut ausgebildeten und weltvernetzten jungen Menschen glauben nicht mehr
an die herrschenden, ideologisch besetzten Erklärungsmodelle,
wie den arabischen Nationalismus und politischen Islam, und
damit auch nicht mehr an von oben organisierte Massenbewegungen. Diese Generation fühlt sich gedemütigt von der Überwachung durch den Staat, von der Bevormundung durch »Religionsunternehmer« und beraubt durch eine konsolidierte
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militärisch-wirtschaftliche Allianz. Deswegen sind weitreichen­
de politische Reformen und Beschäftigungsperspektiven nötig.
Die arabischen Mittelschichten wollen ihr Leben selbst in die
Hand nehmen, an der Globalisierung teilhaben und damit auch
an einer globalen Arbeitsteilung.
Trotz des Scheiterns der bislang verfolgten Entwicklungsmodelle sind einige positive Erfolge zu verzeichnen, nämlich der
Anstieg der Alphabetisierungsrate, gerade bei den Frauen, sowie
die Urbanisierung. Dies führte auch zu einem deutlichen Rückgang der Geburtenrate in fast allen Staaten der Region. Sie erreicht in einigen Ländern, wie im Libanon oder in Tunesien mit
etwa 1,7 Kindern pro Frau, seit Mitte der 1980er-Jahre europäi­
sche Verhältnisse. Die Krise des Rentiersystems führte in vielen
arabischen Staaten zu einer neuen demografischen Politik und
zu einer demografischen Wende ab Mitte der 1980er-Jahre. Hinzu
kommen Strukturanpassungsprogramme und der Rückgang des
Familieneinkommens. Diese Faktoren – einschließlich der Nutzung der neuen Medien – haben zu einer Umstrukturierung der
Gesellschaften der Region geführt (eine Ausnahme bilden immer
noch die Golfstaaten). Kleine Familien mit einem teueren Unterhalt und teuerer Bildung für Kinder sowie Karrieremöglichkeiten für Frauen führen zur Destabilisierung des patriarchali­
schen Systems, aber auch zu gewandelten Beziehungen zwischen
den Geschwistern sowie zwischen Eltern und Kindern. Auch das
Verhältnis zum Staat und zur Obrigkeit wird in Frage gestellt
und neu verhandelt. Diese Entwicklung bezeichnet der französische Bevölkerungswissenschaftler Emmanuel Todd als »stille
und unaufhaltsame Revolution«. Die neue Generation ist interessenorientiert, will mehr Respekt und Teilnabe. Sie ist auch
nicht mehr durch die alten, überkommenen Mechanismen zu
zähmen und verlangt einen neuen »Gesellschaftsvertrag«.
Dritte These: Die Demokratisierung der arabischen Welt ist
möglich, aber schwierig. Die Schwierigkeiten liegen vor allem in
den internen und externen strukturellen Voraussetzungen begründet.
Durch den erfolgreichen Ausgang der Revolten in Ägypten
und Tunesien ist ein erster Schritt in Richtung Demokratie getan.
Nun geht es darum, die Früchte der beiden Revolutionen in
Form von Verfassungstexten zu festigen, ein Rechtssystem zu
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etablieren und den Forderungen der jungen Generation gerecht
zu werden. Große Risiken und Hindernisse stehen noch bevor.
Eine erfolgreiche und friedliche demokratische Entwicklung
benötigt gute wirtschaftliche und soziale Startbedingungen.
Zwar unterscheiden sich die Bedingungen von Land zu Land,
viele Länder haben jedoch mit großen strukturellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Neben der Bevölkerungsexplosion, der akuten Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit und der damit
zusammenhängenden Importabhängigkeit sind die begrenzten
Wasserressourcen als künftiger Konfliktstoff nicht zu unterschätzen.
Wir haben es in der arabischen Welt mit einer sehr jungen
Bevölkerung zu tun. Zwar sinkt das Bevölkerungswachstum seit
Mitte der 1980er-Jahre stetig, die Länder der Region werden aber
in den nächsten Jahren beachtliche Bevölkerungszahlen erreichen. Die Bevölkerung im Mittleren Osten und in Nordafrika ist
von 112 Mio. im Jahre 1950 auf etwa 400 Mio. heute gestiegen.
Bis zum Jahre 2030 wird sich deren Zahl vermutlich verdoppeln.
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 Prozent, in einigen
Staaten bei 40 Prozent. Die Frauenpartizipation am Arbeitsmarkt
ist bislang eher gering (Algerien 38 %; Ägypten 22 %; Jordanien
29 %; Tunesien 31 %; Libyen 27 %; Marokko 29 %; Daten für
2006). Bis zum Jahr 2025 müssen 100 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Bevölkerung der Region (7 % der gesamten
Weltbevölkerung) verfügt nur über etwas mehr als ein Prozent
der gesamten Weltwasserreserven. Dabei werden etwa 85 Prozent dieser Reserven für die Landwirtschaft verbraucht. Der ProKopf-Verbrauch an Wasser liegt in vielen Ländern unter dem
Wert der Weltgesundheitsorganisation (1000 m³ pro Einwohner).
Die Staaten der Region sind von Nahrungsmittelimporten abhängig, deren Preise vom Weltmarkt bestimmt werden. Die
meisten Staaten importieren mehr als 50 Prozent der benötigten
Nahrungsmittel. So gehen 56 Prozent des weltweit exportierten
Weizens in die arabische Welt. In Ägypten können nur etwas
mehr als drei Prozent der gesamten Fläche landwirtschaftlich genutzt werden. Alleine der Brotpreis in Ägypten stieg zwischen
2003 und 2005 um 25 Prozent. Die Nahrungsmittelkrise von 2008
hat mehr als vier Millionen Menschen aus der Region in die absolute Armut getrieben.
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II. Strukturen und Lebenswelten
Der Präsident der Französischen Republik, Nicolas Sarkozy, wirbt im Oktober
2007 bei König Mohammed VI. von Marokko für den Aufbau einer Mittelmeer­
union.
Diese strukturellen Probleme zu beseitigen, ist die größte Herausforderung für die künftigen Regierungen in der gesamten
Region. Zugleich aber wird die Politik der westlichen Welt insgesamt und die der Europäischen Union (EU) im Besonderen gegenüber der Region entscheidend sein. Hier bietet sich der Barcelona-Prozess als Plattform für die strukturelle Unterstützung
des Demokratisierungsprozesses im Mittelmeerraum an. Die
Mittelmeerregion wurde seit dem Barcelona-Prozess als eine Zone
der Gefahren eingestuft, nun ist es an der Zeit – und die Gelegenheit ist vorhanden –, diesen Raum zur impulsgebenden Region
für die europäische Politik und zum Instrument eines radikalen
Wandels des europäischen außenpolitischen Denkens werden
zu lassen und dem Mittelmeerraum insgesamt zu einer zukunftsorientierten Entwicklung zu verhelfen.
Die Politik der EU gegenüber ihren südlichen Nachbarn
sollte auf gegenseitigen Interessen basieren. Langfristig gilt es,
die gesamte Region und Nordafrika im Besonderen in die euro306
Bemühungen um eine islamische Demokratie?
päische Wirtschaft einzubinden und die Interessen beider Seiten
ohne Tabus zu berücksichtigen. Dies wird nicht nur den Millionen auf den Arbeitsmarkt strömenden jungen Menschen eine
Perspektive bieten, sondern auch europäischen Wirtschaftsinteressen dienen.
Rachid Ouaissa
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