ableau - Blauer Salon • Portal
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a b l e a u die zeitschrift des literaturforums blauer salon S ä u m e r Gastbeiträge: • Mira Berkenblit • Eva Bourke • Hiromi Itō / I. Hijiya - Kirschnereit • P.J. Blumenthal • Masayo Odahashi 2. Ausgabe / April 2011 D e r I n h a lt Th e m e n b l ä t t e r Peter Felber > Irgendeines sagt • 4 Matthias Löwe > Von Innen und Außen • 5 Annett Friebel > monokeros • 7 Leonie > im schnee ; Matthias Löwe > Dieses Irdene • 8 Annett Friebel > Somnambul • 9 Annette Kolbe > Lange schon ; Gabriella > [o.T.] • 11 Patrick Braun > klitzekleen ; Gabriella > [o.T.] ; Victoria Faraj Mummelthei > [o.T.] • 12 Anna Rinn-Schad > Computertomographie • 14 Carl Reiner Holdt > zwieschatten ; Marlies Blauth > [o.T.] ; Matthias Löwe > [o.T.] • 15 Arne > Erinnerung ; Jair Meschullam > Sepia nenne ich sie • 16 Isabella Vogel > Eine neue Stunde • 18 Andreas Ferdinand Fecke > Der Eremit von Sede • 19 Flora Winter > die versäumte - bis in den stein • 20 Estragon > Die Villa am Rande der Zeit • 22 Elsa Rieger > als du dann • 23 Franz Hofner > Getönt ; Estragon > herzschlag • 32 Xanthippe > [o.T.] ; Jürgen Riering > Ansichten • 39 Renée Lomris > Immer das Sanfte ; Lisa Glauche > bäume erklimmen, bis dort, wo sie wehen • 40 Last > Haut • 40 Merlin Carl > Die Entfernung der Sonne • 42 Jutta Over > fellstudie • 57 Annett Friebel > das lied vom sichnichterinnernkönnen • 58 Carl Reiner Holdt > Vom Säumen • 59 Andreas Ferdinand Fecke > [o.T.] • 61 A m Te l l e r h o r i z o n t I Masayo Odahashi > artist statement • 10 > stillness • 13 > filled deeply III • 17 > white rope • 21 > if it‘s compared • 25 > Ausstellung Galerie B • 28 > face to face IV • 33 > at twilight • 63 2 < < Vo l l b i l d m o d u s an / au s Rubriken Buchvorstellung: Ann Catrin Apstein-Müller > „Jeder fliegt, wie er kann“ • 24 Dialoge: Elfchen Gabriella ; Hans-Detlef Fröhlich ; Jair Meschullam ; Eva ; Aram Peter Tunkel; Lisa Glauche • 30 Marlies Blauth ; Eva ; Elsa Rieger ; Hans-Detlef Fröhlich ; Nikolaus Josef Kahlen ; Xanthippe • 31 Projekte: Thomas Milser und Henkki Zakkinen • 34 Cartoon: Andreas Ferdinand Fecke > Stones • 36 Tiertexte: Anna Rinn-Schad > Die See ist eine blaue Kathedrale • 41 Video: Lisa Glauche > Der Säumer • 53 Kommentar: noel > takt-los • 54 – Kommentar von Peter Felber • 55 Polyphon: Marlies Blauth > Steine / 2008 - Landschaft - Steine II • 56 Lesungen: Eine neue Stunde – gelesen von Isabella Vogel • 18 als du dann – gelesen von Elsa Rieger • 23 Henkki Zakkinen liest Texte von Thomas Milser • 35 fellstudie – gelesen von Jutta Over • 57 Das Märchen von der verschleierten Frau – Hugo von Hofmannsthal – gelesen von Gabriella • 61 Netzlos: Blauer Salon [unplugged] / Lesungen des Blauen Salons • 62 A m Te l l e r h o r i z o n t I I Übersetzungen: Eva Bourke > Snow Story • 26 Eva Bourke > Schnee-Erzählung • 27 Hiromi Itō / I. Hijiya-Kirschnereit > Schnee • 29 Glosse: P.J. Blumenthal > Ich träumte, dass mir träumte • 37 Siegertext Blaues Blatt 2010: Mira Berkenblit > Besuchsregeln – Du erzählst mir Kirschen bis in den Stein • 38 3 < < Sp r u n g z u m In hal ts ve r ze i c hn i s Peter Felber Irgendeines sagt, du seist aus Gegenden, wo die Worte schweben, die Äste die Himmel öffnen, und das Umschreibende weitet. Irgendeines sagt, dass ich aus Gebirgen komme zur anderen Seite. Moränen, Gletscherzungen, Höhlen in die Tiefe seien mein Zuhaus. Trotzdem kenne ich dich. Von dir: eine kleine Geste verrücken sich in mir Steine. Irgendeines sagt, dass es das Leichte gibt, unter dem Staub, unter den Steinen wären Papiere, die einstmals von Händen geschöpft der Ursprung auch meiner Täler waren. Irgendeines sagt: Die Nacht begann aus Blumen; es wären Strände ihrer viele gewesen; und dass, bevor sich jedes verschob und faltete und nochmal faltete, ein Meer auf unseren Gründen lag. Das eine verspricht, dass noch Seen seien auf deiner Seite. Wir wären ein Buch, das nur der verrückte Wind, aus Eis, zu meiner Seite auffror. 4 Matthias Löwe Von Innen und Außen Sein Vater hatte ihn immer zur Bescheidenheit gemahnt, die Mutter stets gesagt: Aus nichts wird nichts. So dachte er denn einen Punkt zu machen. Ein Punkt ist nicht nichts und doch nicht unbescheiden. Ein Punkt ist ein Punkt. Ist ein Punkt. Punkt. Punkt Vielleicht bin ich nur die Frucht zweier Linien die sich kreuzen Aber ich bin nicht nichts Man sagt ja auch: Einen Punkt machen Zum Punkt kommen Nur ich weiß davon nichts Wer würde mich löschen Gefragt, wann er zum ersten Mal von der Mathematik überrascht wurde, müsste er von einem Irrtum berichten. Sein Großvater hatte ihm erklärt wie man ein Halb mit einem Drittel multipliziert und er hatte das Ergebnis nicht glauben wollen. Erstmals war etwas kleiner geworden, wenn man es malnahm. Dann die Faszination der großen Zahlen. Unendlich die größte von ihnen. Was wohl geschah, wenn man unendlich zu unendlich addierte. Oder unendlich mit unendlich multiplizierte und das unendlich oft. Konnte unendlich größer werden? Die Mathematik würde die Antwort wissen – und auch das ein Irrtum. Beweis Auf unbekannten Pfaden gehst du zum Ziel Ein Ahnen ein Hoffen ein winziges Bild weisen dir den Weg 5 Das war neu. Es genügte nicht zu wissen, man musste die anderen überzeugen, dass man weiß. Ein Gebäude, das nur steht, wenn jeder daran glaubt. Gewohnt hingegen: der Irrtum. Auf eine richtige Idee kommen hundert falsche. Mühsam die Nuggets aus Kies zu sieben (oder das, was er für Nuggets hielt). Der Lohn dafür: ein wenig Licht, vielleicht ein Fortschritt. Gerade Du glaubst du gebierst dich aus dir selbst in jedem deiner Punkte Auch auf die Gefahr zu vergessen was man dir antat (vermutlich im selben Punkt) Du weißt nicht dass du alles, was du querst auch zerteilst So läufst du weiter Ohne je zu lernen Ohne je zu geben Und wieder zurück. Euklides: Stoicheia Buch I Erklärungen 1. 2. 3. 4. Ein Punkt hat keine Teile. Eine Linie hat eine Länge aber keine Breite. Eine Strecke auf einer Linie reicht von einem Punkt zu einem anderen Punkt. Eine Gerade ist eine Linie, auf der die Punkte in gleicher Lage liegen Etc. Hinschauen ist verstehen. Hilberts Axiomensystem der Euklidischen Geometrie Axiome der Inzidenz Mit diesen Axiomen wird der Begriff liegen definiert. 1. Zwei voneinander verschiedene Punkte P und Q bestimmen stets eine Gerade g. 2. Irgend zwei voneinander verschiedene Punkte einer Geraden bestimmen diese Gerade. 3. Auf einer Geraden gibt es stets wenigstens zwei Punkte, in einer Ebene gibt es stets wenigstens drei nicht auf einer Geraden gelegene Punkte. Etc. 6 Und er denkt an das Goldene Kalb. Wie leicht es ist den Nutzen zu opfern, wenn man an die Schönheit glaubt. Und doch bleibt ein Geheimnis. Der Grund der Anwendbarkeit der Mathematik auf reale Verhältnisse stelle ein äußerst tief liegendes Problem dar, dessen Schwierigkeiten auf allgemein erkenntnistheoretischem Boden liegen. Felix Klein. Kreis Du bist ein Bruder Ich verstehe dich Mach mich gleich Umschließe mich Wir könnten einander wärmen zusammen leben gemeinsam unsere Mitte suchen So dachte er denn einen Punkt zu machen. Gleichsam einen Mittelpunkt. Um den wollte er sich drehen. Annett Friebel monokeros es löst sich aus mir nebelfahl ein tier das es nicht gibt wenn ich`s entdecke jedes mal schnaubt`s leise und entflieht zurück in meine dämmerung 7 Leonie im schnee gestern sollt ich dir liebesworte sagen als du dich nach blühen und welken zurückzogst ins dunkle schale um schale dich umhüllte stillsanfter schutz vor dem frost mein säumiges wort ich flüstere es unter die eishaut wartend auf dein echo im schnee Matthias Löwe Dieses Irdene das Versprechen Es wächst, wenn du nur säst Der verlässliche Bruder des leuchtenden Worts Wohin hätte der Wind uns getragen das Licht uns verführt ohne sein Gewicht ohne seine Schwere 8 Annett Friebel Somnambul Nur hinter den Lidern wird die Erinnerung kühl. Glatt und klar. Du kannst sie dort berühren. Sie fühlt sich an wie ein Kiesel. Eine Münze. Bricht das Licht wie eine Scherbe Seeglas. Seggen wispern. Wenn du die Wiesenbuckel streichelst, wird aus den Gräsern Gold. Der König hat nicht zu viel versprochen. Er muss uns nicht suchen lassen, weil er die Namen kennt. Schleichen gleiten in sandige Verstecke. Lautlos. Dann erst siehst du die Frau von den Hügeln steigen, gehüllt in einen wollenen Umhang. Mit weißen Händen treibt sie den Duft von Heckenrosen vor sich her. Wie ein Hirte sein Vieh. Bis in die Schonungen zwingt sie den Geruch des Sommers. Sie weiß ihn dort sicher, für wenige Stunden. Zwischen flüsternden Kiefern. Auf violetten Sandbänken. Die Spinnen knüpfen ihn in ihre Netze. Und manchmal trägt ihn ein Wind zu den Schlafenden, damit ihre Träume Labsal sind, nach der Hitze des Tages. Motorenlärm lichtert. Stimmgewirr funkelt. Lautes Lachen kräuselt die Wasser. Es dämmert rostig. Als die Blüten sich wieder öffnen und der Sonne zuwenden, gibt die Hüterin ihnen den Atem zurück. Sie geht heim auf die Hügel. Wartet geduldig. Auf das Seggenwispern. Die Kühle, hinter den Lidern. 9 Masayo Odahashi Artist statement – Communication with Myself – I often find many matter of interest in daily life and collect them in my mind. They are various, for example colors, forms, something old and experiences or memories that we all share but don’t show up so clearly, and give me a beginning to express my worldview. I pick some of them up and compose, and finally create a form. To create works means selfunderstanding for me. I also see my creations as a way to share my worldview and they are a way to communicate without and beyond the words. I hope my works talk to you ... Mehr Informationen zu Masayo Odahashi auf ihrer Seite Link zur Galerie B Herzlichen Dank an Frau Koppelstätter für die Zurverfügungstellung der Fotografien! 10 Annette Kolbe Lange schon Nachbarn hören nachts dieselben Äste ihre Rücken aneinander reiben unter einem Dach Dasselbe kleine Tier, das an beider Gleichmut nagt sehnt sie einander zu Er legt sein Ohr an ihre Wand und im Vorübergehn im Flur entwischt etwas von ihr durchs Schlüsselloch zu ihm Denkt sie an ihn, fühlt sie sich Küste so sehr, dass man das Meer riecht und wenn sie reden, schleichen sich die Worte hin wo der Winter übersommert Zeit, unter den Stein zu sehen Gabriella schwingungen kehren sich aus in leere resonanzkörper bleibt nur das zittern ohne dein echo 11 Patrick Braun klitzekleen hab still jesessen `s selbst vajessen ne klitzekleene ewichkeit Victoria Faraj Mummelthei Was man sich dächte als wär es Regen, der hinab perlt vom Gezweig ein Märchen etwas Zerstreubares und dann ist es wieder verloren Gabriella taucht der tag hinab gehe ich auf in meinen händen 12 Masayo Odahashi 13 stillness Anna Rinn-Schad Computertomographie "So schwammen sie vor den Schiffen her und sangen so wundersam, wie schön es auf dem Meeresgrunde sei …" H.C.Andersen, Die kleine Seejungfrau Erste Messung, zehn Sekunden. In der Röhre. Sie hat die Augen geschlossen, weil gleich über den Augen eine weiße Wand hängt. Rundum weiße Wand. Unter den Kniekehlen klemmt ein Kissen, die Lendenwirbelsäule liegt platt auf dem harten Bett. Die Lider zucken. Hohles Dröhnen bum bum bum bum. Nur die Augen nicht öffnen. Nicht bewegen. Der Nacken ist locker, die Stirn entspannt, die Lippen liegen weich aufeinander, die Zunge rutscht zurück gegen den Gaumen. Tief atmen. Tief in den Bauch. Ein unsichtbares Strahlenfeuerwerk schneidet die Wirbelsäule in Scheiben. Zweite Messung, dreißig Sekunden. Bulum bulum bulum bulum bulum. Tief im Rücken vibriert ein ungehorsamer Nervenstrang. Etwas in ihr sperrt sich gegen dieses Tasten von indiskreten Strahlenfingern. Da, wo die Wirbelsäule einen letzten Knick nach außen macht, vom Bauch weg, und in den verkümmerten, wieder nach vorne weisenden Schwanz übergeht. Dort vibriert es in ihrem Innern wie eine straff gespannte Saite. Dritte Messung: acht Minuten. Dröhnen und Hämmern. Nicht die Augen öffnen. Die Luft wird drückend in dem engen weißen Rohr. In den Bauch atmen. An etwas Schönes denken. Weiße Strände. Das Schwappen kleiner grüner Wellen. Perlmuttblaue und rosafarbene Schneckenhäuser, die unter den nackten Füßen knistern. Die Zehen graben sich in die feinen Muschelsplitter. Manchmal fährt ein stechender Schmerz in die Beine - von oben her, vom Becken her. Stehen bleiben, die Beine reiben, was ist denn auf einmal los, warum tut das so weh. Im linken großen Zeh steckt eine halbe Muschelschale; beim Herausziehen fließt Blut. Doch der Schmerz in der Leiste ist schlimmer, es sticht bei jedem Schritt. Seit Monaten geht das schon so. Die Ärzte haben Lauftraining empfohlen. Dadurch ist es noch schlimmer geworden. Jetzt runzeln die Ärzte ihre Stirnen, mannhaft und sorgenvoll. Die neue Diagnose kommt behutsamer: Spinalkanalverengung. Bald werden die Beine lahm sein. Vierte Messung, eine Minute. Dröhnen. Wum bum wum bum wum bum. Im Wasser ist sie schwerelos. Die Beine strudeln ganz natürlich durch die Wellen, der Schmerz ist vergessen, die straff gespannte Saite nahe des Steißbeins beruhigt sich und schwingt im gleichen Rhythmus wie die Füße, die das Wasser treten. Noch brennt die Wunde, die die Muschelschale geschnitten hat, aber bald wird das vorbei sein. Nur ganz ruhig atmen, in den Bauch atmen, mit dem Kopf unter Wasser, die Augen mit Grün gefüllt. Die Messung ist zu Ende. Sie wird aus dem engen weißen Rohr gezogen, blinzelt ins Licht. Setzt sich auf. Der Rücken rollt über das kleine harte Schwanzende in ihrem Innern. Sie schiebt die Füße in die Plüschpantoffeln. Warm und weich. Im Aufstehen fährt ein Stich durch die Oberschenkel; sie veratmet den Schmerz, kippt die Füße zum Außenrist hin. Ein feiner Blutfleck färbt den weißen Plüsch. Bald wird auch das vorbei sein, wenn sich das Meer in ihr beruhigt hat. 14 Marlies Blauth Engelvogel überm Schnee bringt Seidengedanken ins Honigweiß schreibt Federspuren aufs Wintervlies und verfliegt Carl Reiner Holdt zwieschatten von unsern schatten warf das licht einen nach osten – als jets umsonst ihren kurs bestimmten auf blauem löschblatt abend – umsonst. denn von dort wuchs im roten spiegel der andere. da hatten wir zwei den ganzen grat entlang zwischen abend und morgen. Matthias Löwe Verquast ein Gedanke das ganze Universum Struktur kommt von innen selbstbestimmt 15 Jair Meschullam Sepia nenne ich sie (me rio de Janeiro) beklebe den Strohhut mit Herbst (weil wir im Sommer nur fidelten) Rooibos ohne Zucker bitte und ausleben die Vorortgedanken will auch kein Heimgesuch mehr (vielleicht ein Gartentor / verrostet) für dieses Ja-Jahr Kühles an die Schläfen pressen das ist Winter in den Jahreszeiten (ich wünschte er hätte braune Augen) Ach Liebste ziehe mir die letzen Worte aus dass ich endlich erfriere und wir uns neu erfinden in the spring Arne Erinnerung Stark sah ich Dich Zweimal durch Alle Wälder Die Perspektiven mit Mustern - links und rechts gemalt Hingen Dunkel funkelnd Dazwischen für jede Tageszeit bereit. 16 Masayo Odahashi 17 filled deeply III Isabella Vogel Eine neue Stunde Nur Dich, nur Dich fassten meine Hände heute nicht. Aber: Gestern Nacht schlief ich mich heimlich hin zu Dir und hob Sandperlen auf vom roten Abendstrand. Unter unseren Berührungen verschwand der geschwungene und wilde Lebensgang. Plötzlich war ich unter Wasser meine Füße glitten leicht über zitternde und lichte Armreifen über breite Sonnenmalerei`n - Eine neue Stunde gelesen von Isabella Vogel über mir die nackten Beine schöner, schwereloser Frau´n. Nur Dich, nur Dich fand ich unter Wasser nicht. Seit Du nicht mehr bei mir bist zähle ich die Monate an meinen Fingerknöcheln ab und bald wechsle ich zur nächsten, freien Hand Meine hoffnungsvollen Atemzüge werden knapp in diesem schalen Qualm aus alter, fahler Angst Dich nie mehr zu sehen aber jede Nacht schlafe ich mich hin zu Dir wir treffen uns an einem steilen Bergeshang dort pflücke ich das allerletzte Licht für Dich und küsse alle Ängste fort von Deinem Mund. Siehst Du, eine neue Stunde schleicht an uns heran und tippt ganz still und heimlich Deine Schulter an! 18 Andreas Ferdinand Fecke Der Eremit von Sede In des Reiches größter und wichtigster Stadt, Die mehr Bürger als der Himmel Sterne hat, Inmitten gewaltiger Menschenmassen, Die sich auf Plätzen, in Straßen und Gassen Drängeln, dass man den Boden nicht sieht, Lebt seit Jahrzehnten ein Eremit. Ich kenn ihn seit langem, sein graues Gewand, Seinen grauen Bart, in der nervigen Hand Den knorrigen Stab, so schritt er schon oft Grußlos vorbei, wenn wir unverhofft Auf der Straße uns trafen. Heute nun wage Ich endlich, ihn anzureden und frage: Ist’s nicht Sinn Eures Lebens, einsam zu sein, Der Menschen Gesellschaft zu meiden? Allein: Ihr weicht nicht zurück vor der riesigen Menge Und schreitet arglos durch‘s größte Gedränge! Er schweigt und wedelt mit seinen Fingern Seltsam Zeichen: Meine Sinne schlingern, Dann kann ich plötzlich – wie ist mir geschehen? Die Stadt mit des anderen Augen sehen, Und sehe sie leer! Wo Kinder liefen, Wo Händler laut ihre Preise ausriefen, Edle Frauen gemächlich wandelten Und Mägde lautstark feilschten und handelten, Bemerke ich nichts als einen Fliegenschwarm Und höre nichts als ein Summen. Der Arm Ruft neue Gesten, und wunderlich Kreiselt erneut die Welt um mich: Ich bin wieder ich, meine Augen sehen Vor mir den Eremiten stehen; Noch einmal wedelt er die Insekten fort, Dreht sich und geht ohne ein Wort. 19 Flora Winter die versäumte – bis in den stein der winter hauste so lange im schnee wie seit kindertagen nicht mehr diese weiße weite wie schauten wir ihr nach bis du sagtest: ich kann sie nicht mehr sehen nun erscheint sie im kleinen, im zitternden blatt der kirschbaum – dahinter mildert sich der wald und wenn wir dort wären, im schwingen der kronen (knospenahnung) wie lauschten wir uns schwindlig am gesang wir sind verwöhnte der jahreszeiten und lieben ja, das wäre ein grund querfeldein zu stehen ein lasso zu werfen die zeit zu zähmen (ihr in die dunklen augen zu sehen das leben darin) im nüsternatem mit ihr den saumpfad zu gehen so schmiege ich mich ins wandelnde weiß und du erzählst mir kirschen – bis in den stein 20 Masayo Odahashi 21 white rope Estragon Die Villa am Rande der Zeit ein Gedicht über einen Roman von Goran Petrović wenn ich schreibe lese ich das was ich noch nicht geschrieben habe es steht schon unmittelbar vor dem eigenen text in einem absatz den man später wieder löschen wird mit viel geduld wird er gelöscht und gegen einen anderen moment ausgetauscht während das geschieht erkennt man man sieht in die falsche richtung der nächste moment ist das vergangene spuren verschwinden indem sie auftauchen du siehst in ein buch und fällst hinein du bist wie die anderen leser schwer erkennen können mit halbem auge wach mit dem anderen auge lehnst du es ab der wirklichkeit zu trauen während du und die anderen leser teil der handlung werden versinkt irgendwo am rand die welt zittert schweigt neigt sich zu sich selbst pflanzt sich weiter fort wort für wort das ergebnis ist ein traum da beginnt der morgen schnee oder ähnliches verschwindet während ich das schreibe könnte es schon wieder sommer sein und unter den linden irgendwo in einer straße in einem park sitzen zwei menschen; lesen dasselbe buch gibt es stunden tage wochen 22 gibt es augen die diese stunden diese tage und wochen sehen und verstehen können gibt es den traum noch den alten den immer wieder neu entdeckten man trägt die worte fort wort für wort die entfernungstaste schweigt der morgen der die reste nicht mehr erkennt dreht sich um irgendwo in belgrad sitzen zwei; begegnen sich außerhalb des romanes indem sie denselben roman zur selben stunde lesen sie schreiben ihn damit neu wenn man genau hinsieht erkennt man es doch es sind die alten sätze die man verschwiegen und neu entdeckt hat es sind die worte eines schriftstellers es klingt wie die nacht die keinen morgen erkennt und einzig das letzte wort das man auch übersehen darf aber nicht kann fällt in das schweigen; löst die augen von diesem traum der erwacht und in das bücherregal gestellt wird von dem aus er die welt betrachten kann ohne ein wort zu verlieren Goran Petrović, Die Villa am Rande der Zeit, dtv, ISBN: 978-3-423-24824-2 Elsa Rieger als du dann gelesen von Elsa Rieger als du dann silbrig umschimmert über die dunkelwiese auf mich zuliefst (auch dein lachen glänzte) glaubte ich wieder und schlief ruhig bis die weißen tauben gurrten 23 Ann Catrin Apstein-Müller "Jeder fliegt, wie er kann" Wer es wagt, sich längere Zeit in der natürlichen Ordnung der Dinge zu verlieren, ist verwirrt, wenn er den Ausgang findet (wenn er ihn überhaupt findet …). Der Duft von Kastanienbäumen, der Geruch von Schafen und Ziegen, der Chrysanthemen- und Dahlienduft der Diabetes, die Stimmen der Toten und das alles zerstörenden Brüllen der Züge sind durchsetzt von Krieg, Revolution, Verrat, Folter, Armut und Krankheit ebenso wie von Schönheit, Wohlstand und Träumen – die ganze Palette, die Portugal, die Heimat von Antonio Lobo Antunes, im Laufe seiner Geschichte aufgefahren hat – ein intensiver, lebendiger Alptraum. Die natürliche Ordnung der Dinge ist jene des Unbewussten, das Erinnerungen verarbeitet und diese traumartig wiedergibt. Die Menschen, deren Erinnerungssplitter sich hier zu einem Gesamtbild fügen – der ältere Mann, der bei seiner minderjährigen Angebeteten leben darf, weil er deren Familie das Leben finanziert; deren Vater, der in Gedanken noch immer in den Bergwerksstollen Südafrikas fliegt (und in seinem Wahn mit der Spitzhacke die Kanalisation Lissabons aufhackt und sein Stadtviertel mit Scheiße überschwemmt); ihre Tante mit den rekordverdächtigen Nierensteinen, ein ehemaliger Geheimpolizist und jetziger Fernlehrer für Hypnose, der den Verehrer des Mädchens im Auftrag eines Schriftstellers ausspionieren soll; ein verratener Revolutionär und ein Totalversager, die Onkel des alternden Liebhabers – insgesamt zehn Personen, die alle auf irgendeine Art miteinander in Verbindung stehen, erzählen jeweils paarweise ihre Version der – vergangenen – Wirklichkeit. Keiner von ihnen handelt, sie reden nur, traumartig assoziativ, mehr mit sich selbst als mit anderen, ohne jegliche Chronologie oder Alltagslogik, in einer hypnotischpoetischen Sprache – die deutsche Übersetzung transportiert übrigens ganz wunderbar das weiche Raunen des Originals – in lebendigen, sehr sinnlichen Bildern. Das Erzählen ist für sie eine letzte Möglichkeit der Selbstvergewisserung, sie alle haben Verlust erlitten, sind selbst Verlust, ihre Welt entgleitet ihnen und sie sind schon im Verschwinden begriffen. Die innere Ordnung kontrastiert die äußere, die althergebrachte militärische, patriarchalische, von der die Protagonisten allesamt tief geprägt sind, und gerade diese ist es, die sie alle in ihre jeweils eigenen Formen des Wahns treibt. Dennoch verwirrt diese Erzählweise nicht, im Gegenteil, sie macht das Erzählte umso klarer und begreifbarer, als es, in realistischer Abfolge erzählt, vermutlich wäre. Und der Fuchs bricht aus dem Vogelkäfig aus und streift als roter Faden durch das Monumentalgemälde … Alle Romane von Antonio Lobo Antunes beschäftigen sich auf die eine oder andere Weise mit der wechselvollen und nicht immer ruhmreichen Geschichte dieses Landes; sie bilden zusammen ein großes Mosaik, und zugleich hat jeder von ihnen sein ganz eigenes Gesicht, ist jeder von ihnen eigenwillig und dabei unwiderstehlich. Und wer nach der Lektüre nach Portugal reist, kann nicht umhin festzustellen, dass es genau das ist, was er gelesen hat. António Lobo Antunes, Die natürliche Ordnung der Dinge, btb 2006, ISBN 978-3-442-73389-7 24 Masayo Odahashi 25 if it‘s compared Eva Bourke Snow Story If I had one wish it would be to have been born two or three hundred years earlier in Japan. I’d adopt a new name: Banana Tree or Blue Ink Pot, or even Cup of Tea and talk to crickets and swallows knowing that the Milky Way was reflected in their eyes, too. I might take to the road, the one to the Deep North or live in seclusion complaining of too many visitors. I would study how a tree stands for itself and nothing else and try to learn from it. I’d teach important things like ideograms, meaning “polite frog” or “snail climbing Mount Fuji” and on my wanderings fix my broken sandal thongs or tears in my knapsack, listening to the small songs of the insects. At the end of my life I might find myself alone living in a grain store with snow falling through holes in the roof. 26 Eva Bourke Schnee-Erzählung Wenn ich einen Wunsch frei hätte möchte ich vor zwei- oder dreihundert Jahren in Japan geboren sein. Ich nähme einen neuen Namen an: Bananenbaum oder Blaues Tintenfass oder gar Tasse Tee und spräche mit Grillen und Schwalben denn ich wüßte dass die Milchstraße sich auch in ihren Augen widerspiegelt. Ich ginge vielleicht auf Wanderschaft auf der Straße in den tiefen Norden oder lebte einsam und beklagte mich über zu viele Besucher. Ich würde studieren wie ein Baum für sich steht und nichts sonst und versuchen von ihm zu lernen. Ich lehrte wichtige Dinge wie Ideogramme für "höflicher Frosch" oder "auf den Fujiyama kletternde Schnecke" und auf meinen Wanderungen würde ich gerissene Sandalenriemen oder Löcher im Rucksack reparieren während ich den kleinen Gesängen der Insekten lausche. Am Ende meines Lebens fände ich mich vielleicht allein in einem Getreidespeicher wieder wo Schnee durch die Löcher im Dach fällt. 27 Masayo Odahashi Ausstellung Galerie B Hiromi Itō (* 1955 in Japan) feierte ihr fulminantes literarisches Debüt Ende der siebziger Jahre in japanischen Lyrikkreisen. Seither veröffentlichte sie Gedichtbände sowie Prosa, Übersetzungen und Essays. Sie arbeitete als Illustratorin, Lehrerin und als Herausgeberin für verschiedene Lyrikzeitschriften. Hiromi Itō erhielt zahlreiche Preise und gilt heute als eine der herausragenden und wegbereitenden Autorinnen der japanischen Gegenwartslyrik. Seit 1997 lebt sie mit ihrer Familie in Kalifornien. Link zur Seite von Hiromi Itō und ihrer Lesung bei Lyrikline Link zur Seite von Eva Bourke und ihrer Lesung bei Lyrikline 28 Hiromi Itō (eine Übersetzung von I. Hijiya-Kirschnereit) Schnee Als ich den Fußspuren mit den Augen in die Ferne folgte begriff ich, es hatte einen Hasen erwischt Die schnurgerade Spur war der Fuchs, sagte man hoppelpop, hoppelpop, die Spur der Hase Schnurgerad und Hoppelpop vermischten sich und gingen in ein Schnurgerad über Blut fand sich keins Hoppelpop wehrte sich nicht einmal Ich bin barfuß Schuhe und Strümpfe zog ich aus bin dort ganz entblößt Du siehst es Als ich Schuhe und Strümpfe auszog kamen auf meinen Zehen Haare zum Vorschein Blut trat zwischen den Zehen hervor Du siehst auch das Ich schreibe Du siehst auch das Ich will es zeigen denke ich Auch du schreibst Ich sehe es Wie wunderschön dieser Mann schreibt Wie wunderschön der Mann, die Männer, die Frauen Du hörst zu schreiben auf und steckst es ein Mir willst du es wohl nicht zeigen Du ziehst deine Schuhe an und gehst hinaus über das schneebedeckte Feld Ich bleibe hier zurück Wenn Hoppelpop über das Schneefeld geht ereilt es das Schicksal Schnurgerad das geschieht gewiß, wenn die Dämmerung einsetzt am Morgen 29 Jair Meschullam Angstspiel Dunkles Mobile Schatten werden langgezogen Verstecken sich ungreifbar hoch Innenseitig Gabriella Rückfall ins Zündeln auffachen die Glut bis nichts mehr bleibt wider sprüche: wenn du mich liebst werden schatten für immer kürzer Eva Ascheblätter wehen davon zerfallend im Herbstwind Ich bin der Baum bleibend Aram Peter Tunkel q Hans-Detlef Fröhlich bissgerändert lege ich mich schlafen, gefärbt mit tintenfischtinte, träumer einfacher welten einfacher träume tintenfischtinte mit schlaf gefärbt ichgerändert Lisa Glauche 30 Marlies Blauth Geheimes schlingert dumpf durch meine Stunde ich gebe es an dich nicht näher nicht weiter da friedet sich mir doch erinnerung Nikolaus Josef Kahlen herbstzeitlos die stunden klammern den sommer der nicht haltbar ist Eva kahlwärts Elsa Rieger hungrig (natürlich warten) auf den scheißfrühling vermisse das knospende aufplatzen regenguss durchsickert langsam den schützenden mantel vom äußersten ins innerste nachfrösteln Hans-Detlef Fröhlich 31 der berg am hang vertrieben die wolken die zeit geröll Xanthippe Franz Hofner Getönt Ob da ein Rand ist, ein Unterschied So wie zwischen Eisengabel Und hölzernem Jonglierbesteck Ob, meine ich, wenn das Sichtfeld Ins Unscharfe ausläuft Oder die chinesische Mauer Als nasengetragener Horizont Womöglich sind sowas Scheuklappen, Zarte Beschränkungen, Zäpfchenschützer und Stützen Estragon Der aufrechten Stäbchen. Ich meine, das fließt ins Langnasenbild und ob, z.B. Alle Begriffe gelb sind oder blau. herzschlag manchmal betrachte ich die welt als könnte nur ich sie sehen und will gar nicht und schaue weg schaue lieber einer notiz hinterher die ich nicht lesen kann die mich aber höher schlagen lässt so hoch dass es keine wörter mehr gibt nur noch brände und lichter und höhen und tiefen und gesten die man mag und bewegungen die etwas zu tun haben damit dass es niemals ausgeht das verlassen das heimkommen diesen einen satz aus sich selbst hinaustragen münder beschlagene scheiben lichtfetzen in den jacken in den taschen geduld die beine verlassen den boden und fallen in die tiefe 32 Masayo Odahashi 33 face to face IV Thomas Milser rausgehn sanddorntage. der grund zu karg, als dass die süße bliebe am ende bittre kerne, gespien in sonnensand von trocknen lippen die nicht mehr flüstern kocham cię muss rausgehn in den regen Es war ein gute Idee, die Flagge von Juist hier zu hissen. Wenn du die Augen schließt und dem Wind zuhörst, ist es wie am Meer. Man kann überall am Meer sein. --- Immer wenn ich diese Sanddorn-Marmelade esse, kann ich wieder die wettergegerbten Holzplanken unter unseren nackten Füßen spüren. Den letzten Rest lasse ich im Glas, als Andenken, und stelle ihn in den Kühlschrank zurück. Zum Verschimmeln. --- Nachtschweiß mindert das Wohlbehagen nicht. Erst, wenn er kalt geworden ist. Und uns der Mutterleib wieder ausspuckt, in die fröstelnde Dämmerung. --- Zeit, den Schmerz ins Haus zu bitten. Er hockt schon so lange reglos unter dem Rhododendron. --- Ich würde so gerne noch einmal unter deiner Brust sterben. 34 --Ich habe mir eine Bürste mit einem langen Stiel gekauft, für den Rücken. Damit ich deine Hände nicht mehr vermisse. --- Weißt du noch, wie ich nachts mitten im See aus dem Schlauchboot steigen musste und dich zur Insel schieben, weil wir ein Leck hatten? Als das Gewitter kam, haben wir uns unter die Malerfolie gelegt, und dein Unterleib hat uns beide gewärmt. Wie heiß es in dir war. --- Diese Wohnung ist ein Museum. Spürst du auch, wie es kühler wird? --- Die Tage fühlen sich jetzt an, als vertrockneten sie unter mir. --- Ich habe diese Türe schon so lange nicht mehr geöffnet. treibholz Lesung von Henkki Zakkinen in den salzwellen sind wir nackt werden gezogen richtung kalfamer im unterstrom Der Audiobeitrag ist im Rahmen eines gemeinsamen Lesungs-Projektes von Thomas Milser (Texte, Geräusche, Abmischung) und Henkki Zakkinen (Lesung) entstanden. und beginnen die quallen zu lieben an den waden weil sie das meer atmen können und wir nicht Eine CD-Produktion unter dem Titel 'endlich kalt' mit diesen und weiteren szenarischen Lesungen befindet sich in Arbeit. im untertauchen werden wir strömung 35 zoom in Andreas Ferdinand Fecke Stones zoom out P.J. Blumenthal www.sprachbloggeur.de Ich träumte, dass mir träumte Leider habe ich alles schon vergessen. Ich hatte in der Nacht den Inhalt einer neuen Glosse geträumt, aber dann summte der Wecker, und zack! wurde ich mit leerem Kopf jäh aus dem Schlaf gerissen. So was kennen Sie bestimmt auch. sönliche" Verben – und ihre Bedeutung hängt mit der geistigen Wahrnehmung zusammen. Doch nun wird es kompliziert: Warum hat man früher das Denken und das Träumen durch unpersönliche Verben ausdrücken wollen? Doch nun begann ich über das Wort "Traum" nachzudenken, was allerdings nicht das Thema meiner Traumglosse war. Ich erinnerte mich plötzlich, dass ich wegen dieser Vokabel einst fest damit gerechnet hatte, dass ich die deutsche Sprache nie würde lernen können. Nein, ich formuliere es ganz anders: Dank dieser altertümlichen Vokabeln bekommen wir Einblick in die letzten Reste einer längst untergegangenen Weise die Welt zu verstehen. Wer früher (und ich denke hier in Jahrtausenden) "mir träumte" sagte, meinte dies wortwörtlich. Er wollte damit sagen: Nicht ich habe geträumt, sondern es hat in mir geträumt. Wer war dieses "es"? Wer sonst? Die Bewohner einer anderen Wirklichkeit, die die Menschen in ihren Träumen heimsuchten bzw. besuchten! Noch heute glauben die Ureinwohner Australiens an eine "Traumzeit", so heißt die Welt, die parallel zu der uns bekannten existiert. Nicht das Hauptwort "Traum", sondern das Verb "träumen" bereitete mir damals große Schwierigkeiten. Ein Scherzkeks aus meinem Bekanntschaftskreis hatte mir erklärt, dass man das Verb "träumen" folgendermaßen konjugiere: "Mir träumte, dir träumte, ihm/ ihr träumte. Nein, warte", überlegte er, "du träumtest, müsste das heißen." "Wie kann das so kompliziert sein?" fragte ich. Mit den Gedankengängen war es nicht anders. Man nahm auch sie ähnlich unpersönlich wahr. Gedanken schwärmten einem durch den Kopf, als führten sie ein eigenes Leben. Und manchmal scheint es auch uns – noch heute – so zu sein. Noch immer behaupten Leute, "Ich hab’s nicht getan. Etwas in mir hat mich dazu getrieben." Das klingt, als würden im Kopf verschiedene "Ichs" das Wort ergreifen, ohne dass man selbst beteiligt wäre. "Tja, willkommen in der deutschen Sprache." "Kann man nicht einfach 'ich träumte, du träumtest, er / sie träumte’ sagen?" fragte ich sehr verunsichert. "Ja, so reden viele", antwortete er, "Wenn du mich fragst, ist das aber bestenfalls eine Verlegenheitslösung. Die meisten Menschen kennen sich in der eigenen Sprache nicht mehr aus." Naja, ich möchte niemandem mit diesen arkanen Gedanken den Kopf verdrehen. Ich versuche lediglich zu erklären, warum man früher "mir träumte" und "mich dünkt" sagte. Ich jedenfalls war nach dieser Unterredung schlichtweg überfordert. Heute hingegen habe ich mit diesen Wortformen keine Probleme mehr. Denn ich habe längst verstanden, dass diese grammatische Konstruktion auch im Englischen nicht unbekannt ist. Als Shakespeare lebte, sagten alle "methinks", was natürlich mit dem deutschen "mich dünkt“ verwandt ist. Nächste Frage: Warum sagen wir heute lieber, "ich denke" und "ich träumte" anstelle der alten unpersönlichen Formen? Auch das hat etwas zu bedeuten. Und zwar: Endlich haben wir die Verantwortung für die eigenen Träume und Gedanken übernommen. Meinen Sie auch? Worauf will ich hinaus? "Mich dünkt", "methinks", "mir träumte": Das sind allesamt sogenannte "unper37 Mira Berkenblit Besuchsregeln – Du erzählst mir Kirschen bis in den Stein Kirschen Sprichwörter über das Wetter zu erfinden, da dir keine echten mehr einfallen, dann brauchen wir nachher auch keine Zeit zu verlieren, über die Aufzugsdemütigungen zu sprechen, die immer nur du spürst, dann können wir dein Erschrecktsein über ihre Nachlässigkeit, darüber, dass sie ihre Etage drücken, als würden sie dort nicht wohnen, und ihre Angewohnheit immer mal kurz mit den Halswirbeln knackend einen Blick nach oben, zu den in der Lampensonne verbrannten Fliegen und dann zu dir zu werfen, überspringen, dann könnten wir, dann könnte ich, dir danken. Ich erzähle dir mal, wie du dann morgen zu mir kommst. Da gibt es drei Wege. Nachdem du reingegangen bist, die Treppe nach oben, nach unten und den Aufzug. Aber die Treppen nimmt nie einer und wenn du glaubst, nicht mit den anderen fahren zu können, dann nimm die Treppe nach unten. Und wenn du nach einer Etage, die du gelaufen bist, nicht mehr kannst, vielleicht fallen dir ja gerade die Flaschen aus der Hand, dann fahr von dort nach oben. Warte nur, bis die, mit denen du zusammen reingegangen bist, irgendwo oben bei sich die Tür aufschließen. Du denkst, das Geräusch sei zu leise, aber du brauchst dich nicht anzustrengen, meist fallen denen die Schlüssel herunter, bevor sie es schaffen reinzugehen und der Boden ist feuerfest und klirrend, dass du es hören kannst. Es gibt eine goldene Regel, dass man von unten nicht fahren sollte, denn man würde sowieso im Erdgeschoss halten, und die Leute erschrecken sich über einen. Es ginge, hättest du ein Möbelstück in den Händen, am besten aber irgendein Kunstwerk, wie dein Abschlussprojekt, das ich immer noch nicht gesehen habe. Dann würden sie sich um dich stellen und dich anschauen, und du müsstest aufpassen, dass du aus diesem Kreis wieder raus kommst. Die Leute wissen nur von dir, was du ihnen im Aufzug zeigst. Je höher man wohnt, desto mehr wissen sie. Mir Die zu weit- weg - zum-Reinschauen Fenster sind ja jetzt meine. Ich kann solange hinausgucken, bis mir schummerig wird und bis genug Vögel vorbeigeflogen sind, um mich wachzurütteln. Und wenn es dunkel wird, kann ich ins nachtige Fenster winken, aber keine Sorge, um mein Spiegelbild nicht zu verwischen, höre ich bald wieder auf. Kirschen Weißt du, wenn ich doch nicht fürchten müsste, dass du diesen zum Brechen der goldenen Regel goldenen Moment verpassen könntest. Denn, was wenn du dich festlauschst, das Klirren hörst, aber noch wartest, ob es nicht noch einmal stärker kommt, ob es das richtige war. Dann würdest du mit allen anderen nach oben fahren müssen. Stein Aber wenn du auf das Klirren wartest, und dann sofort auf den Knopf drückst, hast du gute Chancen mit der Selbstdarstellung zu warten, bis du bei mir bist, dann brauchst du auch keine Blaues Blatt 2010 Stein Komm morgen nicht. Könnte dir, glaub ich, nicht mehr den Weg nach unten erklären. 38 Xanthippe Du musst die Träume von den Bäumen pflücken, sagte ihr Vater. Aber du darfst sie nicht anschauen. Lege sie in einen gläsernen Sarg und begrabe sie unter dem Laub des Lebens. Dann musst du warten, sagte er. Ein ganzes Leben lang haben wir dir beigebracht, wie Warten geht. Das Warten ist der einzige Weg, den jeder betreten kann. Deine Mutter, sagte ihr Vater, die glaubt an Flügel, an Engel, an den Wind. Aber das sind nur andere Namen für das Warten, glaub mir. Es ist wichtig, dass eine glaubt, wenn sie wartet. Dann verlieren die Träume die Farbe und ergeben ein Bild. Jürgen Riering Ansichten Während Du den mächtigen Baum betrachtest, seine majestätische Krone bewunderst, dich aufrichtest, beuge ich mich und streiche über das Moos, lasse meine Hände atmen. Was kriechst Du auf der Erde, höre ich dich fragen. Ich lächle. 39 Renée Lomris Immer das Sanfte Es ist verloren, in Dir. Ich komme nicht daher, Wie hohe Frauen der Minne. Mein Stamm lehrte mich enthäuten, Beute zerlegen, Mageninhalte lesen. Mäuler zerreißen sich über mich. Das Sanfte Immer, kam es von dir. Last Haut Spreche ich nur noch von Regeln, doch breche sie heimlich mit meinen Krallen. Schert mein Fell nicht zu Wolle und schnürt es nicht ein, schaut nicht darunter und geht nicht fort, ich versuche es mit eurer Haut. Lisa Glauche bäume erklimmen, bis dort, wo sie wehen pelz. schnauze. pfote, die über ohren reibt. im dickicht schnecken entdecken, auf steinen wärme spüren, bäume erklimmen, bis dort, wo sie wehen. An rispen nagen. auf pfaden keinen vermissen. den morgen erkennen, die nacht nicht fürchten. mir kam die empfindung, menschen seien kleine tiere, als ich die meinen vor die gebisse der füchse stieß; auch kleine tiere, bekanntlich. 40 Anna Rinn-Schad Die See ist eine blaue Kathedrale Die See ist eine große blaue Kathedrale. In der Krypta wohnt die Tiefseefischin. Hier ist das Wasser nicht durchsichtig und strahlend wie der nächtliche Himmel, sondern dick und körperhaft, eine nachgiebige Wand aus Schwärze. Die Tiefseefischin hat lange, gekrümmte Zähne wie ein urweltlicher Tiger, der in die ewige Dunkelheit hinabgestiegen ist. Um ihren Weg zu finden, trägt sie ein Licht mit sich herum. An einem feinen, fühlerartigen Auswuchs aus ihrer Stirn hängt ein winziger Leuchtkörper und erhellt den Raum vor ihr wie ein Stablämpchen. Viel sieht sie nicht damit. Nur ein kurzes Stück weit. Manchmal taucht in ihrem Lichtkreis ein Beutefisch auf, taumelt geblendet von der plötzlichen Helligkeit, und sie verschlingt ihn mit einem Haps. Manchmal streift ein zweiter Lichtkreis den ihren, und ein anderer Tiefseefisch schwimmt heran und beglotzt die Fischin mit einem misstrauischen Auge. Doch er ist nicht von ihrer Art und zieht gelangweilt vorbei. Die beiden Lichtkreise berühren einander wie Luftballons, die mit hohlem Blubb zusammenstoßen und sofort wieder auseinander streben. Die Tiefseefischin durchschwimmt steinige Höhlen, liest die Runenschrift an den Felswänden und leuchtet mit ihrem Lämpchen in schwarze Löcher, die sich dazwischen auftun. Manchmal öffnen sich Schlünde, die so tief sind, dass selbst sie sich nicht hineintraut. Doch instinktiv weiß sie, dass dort nichts lebt außer Bakterien und Würmern. Die zählen nicht. Vielleicht gibt es jemanden von ihrer Art irgendwo in der schwarzen Wand. Doch wie soll sie ihn finden, wo sie nur ein kurzes Stück weit sehen kann? Alle paar Wochen wagt sie kurzzeitig den Weg hinauf. Sie wartet den Neumond ab. Trotz des Nachtdunkels fühlt sich das Wasser auf dem Weg nach oben zunehmend heller und luftiger an. Die Tiefseefischin fürchtet sich und strebt in die Tiefe zurück, doch ehe sie sich wieder auf dem Heimweg macht, schlingt und schluckt sie hastig noch mancherlei in sich hinein, denn hier oben ist die Beute dicht gesät. Aber nie sieht sie einen Fisch ihrer Art. Eines Nachts versäumt sie die Zeit und sieht zum ersten Mal das Anbrechen des Morgens durch die Wasseroberfläche. Über ihr strahlt alles wie Kristall und vor der leuchtenden Bläue verblasst ihr eigenes Laternchen. Die Tiefseefischin möchte aufsteigen, traut sich aber nicht; ein dumpfer Druck in ihren Eingeweiden warnt sie, sich diesem fernen Strahlen anzuvertrauen. Doch über sich sieht sie das silbrige Funkeln und Zappeln von Hunderten fremdartiger Fische. Ein einzelner schlanker Fisch zickzackt über ihr umher. Die Tiefseefischin sieht ihn gerade deutlich genug, um zu erkennen, dass er weder zum Fressen ist noch ein Fisch wie sie. Zur Freude geboren scheint er und schlägt übermütige, funkelnde Schleifen. Sekunden später verschwindet er nach oben, wo sich das Gleißen des Morgens immer greller entfaltet. Die Tiefseefischin schwimmt ihm nach. Doch der schmerzhafte Druck in ihr nimmt zu. Ein fremdes Etwas in ihrem Inneren bläst sich auf und droht sie zu sprengen. Sie jammert lautlos. Endlich kehrt sie um. In zweitausend Metern Tiefe ruht sie am Boden aus. Ihr Lämpchen entzündet sich wieder und bildet eine kleine Insel in der Dunkelheit. 41 Merlin Carl Die Entfernung der Sonne überrascht, mit der man allgemein darauf beharrte, dieses Wetter, das einem in die entlegensten Winkel unentrinnbar nachkroch und dort selbst einfachste Verrichtungen zu großen Anstrengungen machte, ja hie und da selbst jemanden zu Boden gehen ließ, schön zu nennen: Martin wollte es nicht gelingen, es als angenehmer zu empfinden als die Launischkeit des vergangenen Sommers, der bei weit niedrigeren Temperaturen mal mit Wolkenlosigkeit, öfter aber mit Winden aus wechselnden Richtungen, Regen und selbst Gewittern von beängstigender Stärke aufgewartet hatte. Die Straßen waren mit einer dicken Schicht von weißem Sand bedeckt, der sich wie gewöhnlich schon stark genug erwärmt hatte, nahezu jedem Spaziergänger trotz des bizarren Bildes, den dies bot, abzunötigen, seine Füße durch gefütterte Schuhe mit dicken Sohlen zu schützen; es damit anders zu halten, war nicht gerne gesehen, war aber ohnedies nur erträglich, wenn man sich über kurze Distanzen einer Art humpelnden Hüpfens befleißigte. Martin fand nichts davon bemerkenswert – er pflegte zu diesen Umständen die gleiche distanzierte Betrachtungsweise wie zu all den anderen Dingen, die sich angeblich selbst verstanden. Die meisten Leute verbrachten ihre Zeit damit, auf Handtücher und Liegestühle gefläzt, regungslos bis auf ein gelegentliches Blinzeln, aber stets lächelnd, auszuharren, und verwandelten in ihrer Masse die breite, schnurgerade und unabsehbar lange Straße (tatsächlich hatte Martin ihr Ende nie gesehen, wenn er auch glaubte, auf einem längeren Marsch ihrem Anfang zumindest nahe gekommen zu sein) in einen bis zum Fluchtpunkt ausgedehnten bunten Flickenteppich. Ab und an sah Martin zurück und versuchte das Haus auszumachen, aus dem er gekommen war, was eine durchaus schwere Aufgabe war, denn eines war hier vom anderen nicht zu unterscheiden; er war sich nicht einmal sicher, ob er jemals zum zweiten Mal im selben Haus gewesen war, obschon es ganz gewiß immer das gleiche war. Ein Hund und eine Katze kreuzten seinen Weg, die sich in formaler Pflichterfüllung ihren Instinkten gegen- Als eindringliche Sonnenstrahlen Martin aus einem langen, tiefen Schlummer weckten, war ihm die Zimmerdecke alles andere als selbstverständlich. Nicht, daß etwas sagbar Ungewöhnliches daran gewesen wäre, ein seltenes Muster etwa, oder ein zuvor nicht wahrgenommener Riß, das es ihm, wenn jemand zugegen gewesen wäre, erlaubt hätte, diesem seine Irritation mitzuteilen; er fand sich in jener eigentümlichen Schwebe zwischen Ferne und Nähe zur Welt, die den Einbruch des Faktischen ins Erdachte begleitet. Daß er keinerlei Anstalten machte, sich auf eine der beiden Seiten festzulegen, sondern noch eine ganze Weile reglos dalag und mit offenem Mund zweifelnd nach oben starrte, machte einen Teil seiner Eigentümlichkeit aus, den er, weil er unablöslich an ihm klebte und gemeinhin als Verfinsterung betrachtet wurde, bisweilen augenzwinkernd als sein „Pech“ bezeichnete, welches nämlich eben darin bestand, jene Entscheidung, der er sich gerade so standhaft widersetzte, so ganz niemals treffen zu wollen, mithin zuweilen unter gänzlicher Mißachtung besorgt kopfschüttelnder Umstehender die alltäglichsten Dinge mit einer Hingabe betrachtete, als gelte es, ihnen die tiefsten Geheimnisse des Universums zu entlocken. Tatsächlich kam das seiner Ansicht ziemlich nahe, und auch wenn er hierfür weder Grund noch Ursprung anzugeben wußte – hätte plötzlich jemand die Welt wie einen Vorhang vor seinen Augen weggezogen und ihm erklärt, bis dato habe er einem Meisterwerk surrealistischer Theaterkunst beigewohnt, hätte ihn das wohl auch nicht deutlich mehr befremdet, als es gerade nun die Zimmerdecke tat. Nachdem er sich zu der Erkenntnis durchgerungen hatte, daß, welche Mysterien auch immer dort verdeckt sein mochten, sie sich jedenfalls so rasch nicht lüften würden, ein wenig Lüftung ihm aber nicht schaden würde, erhob er sich mit einem Ruck, zog sich an und trat wenig später aus dem Haus. Draußen war es für einen Tag im nominellen Herbst frappierend warm, und schon nach wenigen Schritten standen ihm die ersten Schweißtropfen auf der Stirn. Obwohl mit diesem Phänomen längst wohlvertraut, war Martin aufs immer Neue von der Standhaftigkeit 42 länger ertrug, in den Schatten floh und mich in die Stürme früherer Tage wünschte. Damals konnte ich nahezu jedes Wetter schätzen – auch die Sonne, gerade sie, ja sehnte sie, wo Dunkel war, sogar herbei. Doch seit sie nicht mehr untergehen will, ekelt sie mich wie eine Süßigkeit im Überfluß.“ Wie auf ein Zeichen hin hoben die Umstehenden, die für die Dauer seiner Rede kurz innegehalten hatten und verstummt waren, wieder zu johlen an und drängten zum Aufbruch. „Du siehst – ich muß nun weiter“, seufzte er da. „Doch soll das einer Unterredung nicht im Weg stehen. Folge mir nur – oder halte Schritt.“ Martin entschied sich für letzteres und ging, anfangs noch in der Hoffnung, die noch immer etwas rätselhaften Umstände sich begreiflicher machen zu können, neben dem Verhüllten her. Anfangs sagte er ab und an noch etwas zu ihm, als aber der Lärm des Schwarms, welcher sich eines beständigen Zulaufs von der Straße erfreuen konnte, so groß wurde, daß er alles Reden schluckte, wurde er still. Sie passierten den Steinengel, ein Denkmal, dessen Pflege inzwischen derart nachlässig versehen wurde, daß es durch Sand und Sonne so stark erodiert war, daß ihm schon der Schwertarm und ein Flügel fehlten, und erreichten eine Kreuzung, an der eine letzte Querstraße die Grenze des Waldes markierte. Zu Martins Erstaunen bogen sie hier jedoch nicht ab, sondern überquerten sie stattdessen, gingen ein Stück durch den Wald, bis sich dieser überraschend lichtete und den Blick auf ein recht eigenartiges Gebäude freigab. Der Waldpfad, den sie gekommen waren, ging hier in eine gepflasterte, von weißen Marmorsäulen gesäumte Allee über, an deren Ende ein gewaltiges Tor den Zugang zu etwas hinderte, dessen Erbauer sich allem Anschein nach nicht hatte entscheiden können, ob er eine Schule, einen Tempel oder eine Trutzburg hatte bauen wollen: Über einem wohl granitenen Fundament erhob sich ein Dschungel von Erkern, Kuppeln, verschieden hohen Türmen und Plattformen, die durch ein sogar aus dieser Entfernung unübersichtliches Geflecht aus Treppen, Gängen, ja selbst für einen solch massiven Bau ganz unpassenden Hängebrücken, Strickleitern und einzelnen Seilen verbunden waren. Dahinter war undeutlich noch etwas anderes sichtbar, das für sich genommen eine bedeutende Größe haben über eine lustlose Verfolgung lieferten. Sie trotteten ein paar Minuten lang hintereinander her, dann legten sie sich hin, rollten sich zusammen und schliefen ein. Die Hitze schien ihre Einwohner in Lethargie und damit die Stadt selbst in einen Zustand derart gleichförmiger Ereignislosigkeit zu stürzen, daß Martin sich schon fragte, ob er sich durch sein Schlendern nicht bereits den Unmut der Herumliegenden zuzog, als er um eine Ecke bog und sich unversehens einer ganzen Schar Menschen gegenübersah, die in seine Richtung zogen. Über der Menge lag ein Lachen, Johlen und Grölen von einer Gewalt, daß selbst Martin sich wunderte, wie dieser Lärm ihm zuvor hatte entgehen können. Als er näher heran war, erkannte er den Grund des Aufruhrs: Inmitten der Traube stolperte ein Mann vorwärts, der war von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Tuch gehüllt, taumelte von einem Häuserschatten in den nächsten, und wo sich keiner bot, da duckte er sich unter dem Licht wie unter einer Peitsche. Da Martin sich keinen rechten Reim auf das Geschehen machen konnte, trat er mit einigen raschen, entschlossenen Schritten durch die Menge, die sich bereitwillig teilte und rasch wieder schloß, auf den Eingehüllten zu und fragte ihn, was mit ihm sei. „Ja sieht man es denn nicht? Es ist die Sonne – ich kann sie nicht mehr ertragen.“ Und als sei damit alles zureichend erklärt, wandte er sich zum Gehen um, als Martin ihn am Arm faßte und zurückhielt. „Die Sonne?“ fragte Martin verwundert. „Aber wie haben Sie dann bisher gelebt – und wohin gehen Sie jetzt?“ „Ich habe mein Heim verdunkelt und bin darin geblieben“, sagte er, „allein – kostet es mehr Kraft, einen Nachbarn wie mich längere Zeit zu erdulden, als ich diesen braven Menschen abverlangen möchte. Nun bleibt mir nur das Irrenhaus. Kein schöner Ort – aber was soll ich tun, ich kann sowenig aus diesen Kleidern wie aus meiner Haut, habe es durchaus versucht, sie abgelegt und bin mit meinem bloßen Leib vor die Sonne getreten, hoffend, der Segnungen würdig zu sein, die sie so reich unter den Glücklichen verteilt, wie jenen, die mich jetzt umgeben. Doch schon nach wenigen Minuten packte mich solche Übelkeit, daß ich Brechen mochte, so sehr ging mir ihr Scheinen wider das Gemüt, daß ich es trotz großer Mühe nicht 43 Blick auf die Bilder zu erhaschen; weil dies aber einigen, sonderlich aus der Mitte, nicht gut gelingen wollte, reckten manche die Hälse und setzten sich auf, was wiederum die hinter ihnen Sitzenden nötigte, in kniende oder hockende Positionen zu wechseln – worauf die Vordersten, die bisher sitzengeblieben waren, ihnen an zur Schau getragenem Interesse nicht nachstehen wollten und sich erhoben, worin ihnen nun freilich alle anderen folgen mußten, und so begann ein wüstes Gedränge und ein großer Lärm wie von einer Wolke Fliegen, weil jeder wünschte, das Gesicht des Mannes auf dem Turm zu sehen. Dieser seinerseits schien sich nicht weiter um sein Publikum zu scheren; weder warf er auch nur einen flüchtigen Blick in Richtung der Umstehenden, noch wartete er ab, bis die Gespräche verebbten, um seiner Rede vermehrte Wirkung zu verschaffen. Mit einem schnellen Schritt trat er an die Mauer, und obwohl Martin nach den Leinwänden damit gerechnet hatte, seine Rede durch eine Verstärkeranlage vervielfacht zu hören, schrak er doch selbst aus seinem Zustand wachsamer Aufmerksamkeit noch weiter auf, als die Stimme des Mannes über die Lichtung donnerte wie eine Welle aus stürmischer See. Dabei war die Stimme selbst eine leise, ein Raunen, Wispern, Murmeln, ein brisenzarter Zuspruch, der mit der Übertreibung der Lautstärke, mit der er jetzt verbreitet wurde, nicht wohl zusammenging, weshalb es Martin ein wenig Anstrengung kostete, dem so beständig dem Spott seiner Form preisgegebenen Inhalt der Ansprache zu folgen. „Wenn ihr von einem hohen Berg aus um euch schaut und euch an Tal und Wald nicht sattzusehen wißt, und niemand eure Betrachtung stört, merkt ihr mit Recht, daß an euch etwas Seltsames geschieht: Sind denn nicht beide euch schon wohlbekannt, habt ihr sie nicht schon dutzendmal durchquert? Nun aber, in der entrückten Aussicht, begegnet Altbekanntes mit einer gemütserschütternden Erhabenheit, heißt euch auf schmalem Grat zwischen Versunkenheit und schöpferischem Übermut bald nach dieser, bald nach jener Richtung neigen, und wer, was er da fühlt, zu deuten weiß, wird merken, daß er sehnt. Steht der Berg noch nah bei einer Stadt und wird des öfteren begangen, dürft ihr mit gutem Grund erwarten, daß ihr dort ein Instrument vorfindet, das ein geschäftstüchtiger Krämer dort aufgestellt hat mußte, von dieser Seite der Lichtung aber durch die atonale architektonische Symphonie davor beinahe verdeckt wurde. „Nun sind wir also da – gerade zur Mittagszeit, meine ich, wenn ich auch nicht sagen kann, warum. Früher war ich häufig hier um diese Zeit, es ist die Stunde des Alten, mit meinen Freunden machte ich mir oft den Spaß, ihm zuzuhören, wie so mancher – sieh nur, wieviele schon gekommen sind; doch heute ist mein Weg ein anderer.“ Martin ließ seinen Blick der Geste folgen und bemerkte jetzt erst, daß sich nur wenige hundert Meter von ihm entfernt eine große Gruppe von Menschen versammelt hatte, die erwartungsvoll nach oben, und, wie es ihm schien, zur Spitze eines weißen Turmes schauten, der so hoch war, daß sein Schatten die Wartenden fast berührte. Einen Moment lang stellte er sich die Frage, was dort wohl zu sehen sein würde, doch als er sich umdrehte, um sie einem Kundigeren zu stellen, hatten sich die Schwärme schon zu einem vereinigt und der Verhüllte war nur noch eine dunkle Silhouette auf halbem Weg zum Tor. Nicht lange, dann hatte er es erreicht, es öffnete sich langsam, ein kurzes Zögern, er tat – man konnte es auf die Entfernung nicht gut sehen – vielleicht sogar noch einige Schritte rückwärts, dann trat er mit wenigen raschen Schritten ein und verschwand unter wenig freundlich klingenden Beifallsrufen der Menge hinter den sich schließenden Flügeln. Da Martin sich für keine dieser Richtungen erwärmen konnte, setzte er sich in den Schatten auf das angenehm kühle Pflaster und blickte nach dem Turm hin, der allerdings aus dieser Position das Sonnenlicht so stark auf ihn zurückwarf, daß er geblendet die Arme vor das Gesicht hob. Er erwog, sich zu den anderen zu stellen, die allem Anschein nach ohne Schwierigkeiten hinaufsehen konnten, fand aber, daß er sich nach ihrem Benehmen von zuvor ihrer Gesellschaft schämen müsse und versuchte lieber, das Geschehen vorsichtig zu erblinzeln. In diesem Moment entrollten sich ein gutes Dutzend Leinwände an der Außenmauer, auf welche – woher, wußte Martin nicht auszumachen – ein Gesicht projiziert wurde, das, soweit die Entfernung ein Urteil hierüber erlaubte, das eines bärtigen alten Mannes war. Da ging ein Ruck durch die Wartenden, mit raschen Bewegungen wandten sie sich um und suchten, einen 44 errafft er immer Neues, und wenn er ausreichend geschickt ist und nicht müde wird, verfliegt sein Leben in der Hoffnung, das immer Nächste werde ihn erlösen. So lauft ihr unentwegt dem Scheinen nach, welches dem Mond auf Reisen gleich so rasch entweichen muß, als ihr euch nahen wollt. Wie ihr auch nun, da ihr mir zuzuhören glaubt, weiter nichts als diese Flimmerflächen angafft, weil sie euch etwas Fernes nahe scheinen lassen – und fern bin ich euch in der Tat, wovon die Höhe meines Turms nur einen schwachen Eindruck gibt. Törichtes Volk – wolltet ihr mit den Augen hören? Euer Gesicht ist blind für meine Worte – oder ist einer unter euch, der weise genug war und seine Augen schloß, weil er mich hören wollte?“ Danach brach er in ein abruptes Schweigen aus und war auch durch zahlreiche „Zugabe“- und „da capo“-Rufe aus dem Schwarm zu keinem Wort mehr zu bewegen; als dieser die Vergeblichkeit seines Bemühens einsah, applaudierte er demonstrativ laut und anhaltend und zog davon. Als sie verschwunden waren, wurden die Leinwände eingezogen. Dann, nachdem das erloschene Knistern verriet, daß auch die Verstärker abgeschaltet waren, wurde die Stimme des Alten erneut vernehmlich, leiser nun, unverstärkt, aber dabei kraftvoller und klarer. „Ja, geht nur alle – besser jetzt als gleich zurück in die Höhle, aus der ihr kamt“, trug ein leichter Wind seine Stimme herüber, dann aber, in einer Farbe, die nichts mehr von der Resignation des letzten Satzes hatte: „Wer bist du?“ Als Martin auffiel, daß hier außer ihm niemand war, der gemeint sein konnte, fürchtete er den Unmut des Alten erregt zu haben und wollte sich davonschleichen. „Bleib! Wer dort sich hinsetzt, begehrt Einlaß, er mag es wissen oder nicht. Nun, im ersten Fall will ich ihn dir nicht wehren – im zweiten jedoch geradezu gebieten. Komm herein!“ Auf dieses Wort hin öffneten sich die Tore. Die Stadt konnte warten – tatsächlich war es das, was sie in Staub und heißer Luft unentwegt zu tun schien, wenn auch auf ein unkenntliches Worauf – und was des Alten Rede an den Schwarm über das verhieß, was er geladenen Ohren mitzuteilen hatte, reichte Martin als Grund vollkommen aus. Ohne Zaudern schritt Martin den Säulengang ab und hielt erst direkt vor der und das euch gegen einen kleinen Obulus erlaubt, die Dinge, die ihr aus der Ferne anstaunt, so nah zu sehen, als stündet ihr davor. Möglicherweise seid ihr auch von sparsamerem Schlag und trugt etwas der Art mit euch hinauf? Da geht nun euer Blick hindurch, voll Hoffnung, daß sich euch Grund und Ursprung dessen, was euch die Ferne fühlen ließ, nun offenbaren – doch was seht ihr? Etwa den Ursprung eures Staunens, nur gründlicher, als es das Auge zeigen kann? Etwa das Erhabene, nur größer als zuvor? Etwa die Antwort auf die Frage nach dem Wovon eurer Sehnsucht? Nein – Bäume seht ihr, Häuser, Steine, Menschen wie gehabt und Straßen, deren Staub noch auf euch liegt, und alles, was vom Rausch der Ferne bleibt, ist jene leise Scham, mit der ihr euch allmählich als Voyeur entlarvt. Und was konntet ihr wohl sonst zu sehen hoffen – denn aus der Nähe sind dort nichts als Bäume, Häuser, Steine, Menschen und Straßen, deren Staub noch auf euch liegt. Was ihr bestauntet, was euch taumeln, grübeln, sehnen machte, war – die Ferne selbst. Das Unverfügbare, das eben und nur darum die Gelegenheit hat, euch als das Schöne zu erscheinen, weil es eurem Interesse Schranken setzt; das Unbesitzbare, das mitreißt, indem es sich entzieht. In der Betrachtung, die den Willen still hält und kein Interesse bei sich führt, offenbart ein Ding alleine Schönheit – sein zu lassen ist zuletzt ihr Grund. Solange ihr lebt, ist euer Schicksal, warm zu sein – die Ferne aber ist wie Eis. Ent - fernung – habt ihr die tiefe Prophetie, die dieses Wort birgt, je bedacht? Daß ihr das Ding aufhebt, indem ihr ihm die Ferne nehmt? Einer fängt an, einen anderen Menschen anzusehnen – und um sich von dieser Zumutung zu lösen, erstickt er jeden Glanz mit seiner Nähe. Kaum einer hat noch soviel Geist wie jene Ritter der alten Minne, die wußten, wann es innezuhalten galt. Einem anderen ist ein Tier das Ferne – dann zähmt er es und klagt in eins über das Feuer, das in ihm erloschen ist, und über den Rest von Glühen. Ein Dritter sucht das Heil in angenehmen Dingen – und wenn sie ihm auch alle fade werden, wie er sie erlangt, 45 Bisweilen treffe ich einen von jenen Unglücklichen – solche sehen dann ihr Lebtag nur noch gleißend bunte Lichter vor ihren Augen, ein trügerisches Schauspiel der Zerstörung und Vernebelung, doch von offenbar so atemberaubender Schönheit, daß sie zumeist nicht davon abzubringen sind, sie sähen da den tiefsten Grund der Welt vor ihren Augen. Also versuchen sie über das beliebige Blinken und Flackern etwas zu erkennen, bisweilen selbst die Blitze zu ergreifen, die sie doch so nahe vor sich sehen – ein fürchterliches Schauspiel. Sie torkeln wie rasend ziellos durch die vielen Gänge voller Stimmen, folgen, da sie des eigenen Sinnes beraubt sind, bald dieser, bald jener, verlieren sich in den Tiefen, oder, was nicht selten vorkommt, brechen sich an einer der steilen Stiegen den Hals oder stürzen eine Mauer herab; vor allem aber muß man darauf achten, daß solche Verwirrten nur ja nie mehr hinausgelangen, denn wo ihr verzückter Wahn der ungeübten Urteilskraft der Äußeren begegnet, bringt er leicht ein ganzes Volk dazu, den Täuschungen zu folgen, die er für Schicksalsboten hält, und führt sie in irgendeinen Abgrund. Kurz:“, setzte er hinzu, als er aus der Befangenheit seines Monologs aufsah und dem Gesicht seines Gegenübers entnahm, daß die erste Hälfte seiner Rede zu Martins Überzeugung vollständig genügt hätte „Lasse Vorsicht walten. Neugier ist ein tiefer Antrieb und ein guter, doch wie alles Tiefe und Gute ist er in diesen Mauern nicht ohne Gefahr. Sieh einstweilen lieber einmal durch das Fenster dort.“ Martin gehorchte. Er sah die Stadt, und aus dieser Sicht zeigte sie sich als durch eine solch erdrückende Übermacht von Wald eingeringt, daß sie kaum mehr als ein Farbfleck zu sein schien. Doch es blieb ihm wenig Zeit, bei dieser Entdeckung zu verharren, da schob sich ein dichter werdender Dunst vor die Scheibe und erschwerte die Sicht bis zur Unmöglichkeit. „Beeindruckend – doch leider wird es nebelig“, erklärte er dem Alten. „Nebel? Das Wort kennst du wohl nur aus alten Märchen. Dieser Magier schleiert nichts mehr ein, das Zeitalter gehört den Blendern – sieh durch jenes Fenster.“ Erneut folgte Martin der Weisung des Alten. Und wieder sah er den Wald, überdeckt von Rauch, denn er stand an unzähligen Stellen zugleich lichterloh in Flammen. Toröffnung inne. Hinter der Schwelle lag spärlich durchfackelte Düsternis, in der er eine Weile vergebens etwas Genaueres auszumachen sich bemühte. Einmal drehte er sogar noch kurz seinen Kopf, doch schon die kurze Zeit, da seine Augen in der Schwärze ruhten, hatte dazu geführt, daß er vom grellen Licht geblendet zurückzuckte und durch das Tor stolperte, welches, indem es sich umgehend wieder schloß, ihm jede weitere Entscheidung abnahm. Was eine Vielzahl von neuen erforderlich machte, denn der Bau war in seinem Inneren das perfekte Abbild dessen, was sein Äußeres ahnen ließ: Von der Vorhalle, in der er nun stand, zweigte eine kaum überschaubare Zahl von Gängen, Korridoren und Treppen ab. Da, wenn sonst nichts Genaues auszumachen war, sein Weg zwar sicherlich nach oben führen mußte, darüber hinaus alle Möglichkeiten gleich gut waren, eilte er der nächsten Treppe zu, vorbei an pechschwarzen, niedrigen Felslöchern, aus denen feine Stimmen mit geheimnisvollem Wispern lockend riefen. Jene war eine glückliche Wahl: nach kurzem, atemraubendem Aufstieg stand er in einem kreisrunden Raum, in dessen Wand einige Fenster eingelassen waren; eine Leiter führte zu einem rechteckigen Loch in der Decke, das von weißem Licht erfüllt war – und davor stand lächelnd der Alte. „Ein solcher Anblick lohnt manche verschenkte Rede“, sagte er, während er Martin mit Blicken musterte, denen ihre Freundlichkeit nichts von ihrer Schärfe nahm. „Da du nun den Weg bis hier herauf gefunden hast“, fuhr er fort, und es fiel Martin nur einen Moment lang auf, daß er ihn wie selbstverständlich duzte, „sollst du auch sehen, was ich sehe.“ Martin wandte sich der Leiter zu, die zur Plattform führen mußte, von der aus der Alte gesprochen hatte, doch dieser faßte ihn am Handgelenk. „Noch nicht! Wie die meisten hast du vermutlich schon am Tor bemerkt, wie deine Augen der ihnen viel gemäßeren Dämmerung in diesen Mauern den Vorzug geben wider diesen Sonnen-schein“ – dies sprach er so, als seien es getrennte Wörter – „dort draußen. Mancher hoffnungsvolle Neuling stürmte schon voll Ungestüm und Tatendrang heraus auf jene Turmspitze, von wo aus man in einem Sinn, den du nun kennen wirst, den Dingen ferner ist als je zuvor. 46 für jene, denen die Liebe zum Geheimnis tiefer Nacht nicht auszubrennen war. ´Geistig Umnachtete´ nennt man uns.“ „Aber – wie ist das möglich? Sie ist doch weit, ich weiß es, selbst das Licht braucht seine Zeit, von dort hierher zu finden. Wie konnte sie so nahe kommen, daß sie beinahe den Boden berührt?“ Der Alte winkte mit müder Geste ab. „Man hat dafür schon allerlei ursächlich gefunden. Die wahre Ursache aber kann kein Zeigen dir enthüllen – das ist ein Weg, den du selbst gehen mußt. Ich kann dir nur den Hinweis geben, dich drüben im Neubau umzusehen. Gehe nun – wenn du zu sehen gelernt hast, wirst du mich hier wiederfinden.“ Mit diesen Worten verschwand er behende über die Leiter auf die Plattform, wohin ihm Martin nicht folgen konnte. Also stieg er die Treppe wieder hinab, zurück in die Vorhalle, wo alle Wege ihren Anfang nahmen. Sein neues Vorhaben ließ sich erfreulich leichter als sein voriges an: Schon durch flüchtiges Umsehen machte er einen Wegweiser ausfindig, der einen breiten, geraden, gut beleuchteten Korridor als Richtung Neubau führend auswies. Selbiger war so zuvorkommend, seine Passierbarkeit beizubehalten, bis er vor einer Glastür endete, hinter der ein Mann in einem weißen Kittel hektisch umherwieselte. Martin blieb stehen und beobachtete, wie der Weißkittel an den Stellschrauben einer einfachen Apparatur justierte, die im wesentlichen aus einer Verstärkerbox und einem Mikrophon, welches auf jene gerichtet war, bestand. Dabei ging er zwar keiner aus der Sache unmittelbar erkennbaren Vorgabe gemäß, aber doch sehr gewissenhaft zu Werke, und erst nach einer guten halben Stunde zumindest beinahe unmerklicher Modifikationen schien er zufrieden, legte sein Werkzeug zur Seite und trat vor ein reglerreiches Steuerpult, an dem er wiederum einige Einstellungen vornahm und dann mit großer Vorsicht einen großen roten Schalter umlegte. Danach verfiel er in vollkommene Regungslosigkeit; nicht einmal die Hand nahm er vom Schalter, sondern schaute angespannt auf das Mikrophon, während selbst die Hebungen und Senkungen seines Brustkorbs seltener und flacher wurden, als unterdrücke er das Atmen. Die nun entstandene Stille war derart aufdringlich, daß Martin sich ihrer Hunderte gefräßiger Feuersbrünste wälzten sich durch das Grün, mal spaltete eine sich auf in Teile, die ihr Werk in verschiedene Richtungen fortsetzten, bisweilen trafen zweie aufeinander, vereinigten sich und fielen gestärkt über die umstehenden Bäume her. Andere schlossen sich zu Kreisen, die nach innen wuchsen und verloschen, als sie kein Futter mehr fanden. Was sie hinterließen, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem, was Martin aus Bildern von verbrannten Wäldern kannte – was hinter ihnen blieb, waren Hänge und Dünen weißer Asche. Als Martin den Blick ein wenig hob, erkannte er, daß der von hier aus sichtbare Teil des Waldes von einer weißen Fläche eingeschlossen war, die sich bis an den Horizont erstreckte. Er schauderte zurück. „Wie furchtbar! Warum kommt denn niemand, sie zu löschen?“ „Löschen?“ Der Alte lachte traurig. „Löschen stoppt Vernichtung, nicht Verwüstung. Indes würde auch all meine Redekunst nicht ausreichen, um irgendwen, der solch eine Aktion befehlen könnte, davon zu überzeugen, daß es diese Brände überhaupt gibt. Und was würde das auch nützen? Es brechen ständig neue aus. Sieh durch das dritte Fenster, dann wirst du wissen, wie fruchtlos alle Brandwehrkunst hier wäre.“ Und abermals willfahrte Martin dem Alten und trat an das dritte Fenster, dessen Scheibe nicht klar und durchsichtig, sondern dunkel war wie das Glas einer Sonnenbrille. Wo blauer Himmel hätte sein sollen, tobte ein Flammenmeer. Von Horizont zu Horizont lag ein gelbes Feuer über dem Wald, so nahe, daß es die obersten Baumspitzen fast zu berühren schien. Darunter begann Baum um Baum zu brennen. „Was ist, kann dir hier oben keiner sagen – du müßtest jedes Wort, um ihm zu trauen, so eingehend prüfen, daß du es mit gleichem Aufwand selber hättest finden können. Soviel muß genügen: Was du siehst, ist die Folge der größten Ent-fernung, die der Mensch je in die Welt gebracht hat. Du siehst die Sonne.“ Und als Martin herumfuhr und ihn anstarrte wie ein Geisteskranker einen anderen, fügte er ruhig hinzu: „Darum herrscht andauernder Tag – sie blinzeln sich zu, das sei ihr Glück. Wer anders denkt, findet früher oder später hierher. Dies ist das Haus, das man für Menschen unseres Schlages errichtet hat – ein Haus 47 fragiles Gebilde, das sich, führt man Strom zu, in ein Sinnbild schwebenden Unheils verwandelt. Es bleibt in Ruhe, solange es um es herum nur still ist – die harmonische Unschuld eines Wesens, das von der Welt noch nichts kennt als sich selbst. Doch tritt auch nur der kleinste Ton hinzu, beginnt es zu schreien, wird mit seinem Schrei des Schmerzes gewärtig, den es ausdrückt, und schreit auch diesen lauter hinaus, als er hineinging, welche Verstärkung wiederum auf ihn zurückgelenkt wird – und es ist nur die Unvollkommenheit der Apparate, daß sie ihren Dienst nur eingeschränkt versehen wie gedacht, die ihn hindert, sich bis zur Unbegreiflichkeit hinauf zu steigern und den ganzen Weltenbau als Quellgrund seines Unglücks zu zerschlagen. Und wer wollte ihm diese Reaktion vergelten – handeln wir denn anders, wenn wir zum ersten Mal die Welt erblicken, als daß wir sie aus Leibeskräften und bis zur Erschöpfung fortzubrüllen suchen? Sich und die Welt zu sehen – das reicht zum Leiden. Aber zurück zu Ihnen – was hat Sie hierher geführt?“ Und Martin, dessen Zweifel, am rechten Platz zu sein, aus diesen Ausführungen gestärkt hervorgegangen waren, erklärte im entschuldigenden Ton eines Ortsunkundigen, er wünsche etwas über den Neubau zu erfahren. „Da sind Sie hier goldrichtig. Tatsächlich hat man von nirgends sonst eine so gute Sicht auf den Neubau, den zu untersuchen ich die Ehre habe. Sehen und staunen Sie: der Neubau in seiner ganzen Scheußlichkeit.“ Er zog einen Vorhang beiseite; und wo Martin eine Wand vermutet hatte, war eine Scheibe aus dickem Glas. Was dahinter lag, hätte Martin auch nach mehrmaligem Hinsehen noch als ein besonders abschreckendes Beispiel für die Launen der modernen Kunst gelten lassen. Die Grundsubstanz bildete ein offenbar uraltes eingefallenes Mauerwerk, das ein wenig an die Fundamente eines Turms erinnerte, welche Vorstellung aber durch die schiere Größe des Gebildes ad absurdum geführt wurde: Die Ruine bildete einen Kreis von sicher mehreren hundert Metern Radius, und obwohl die Mauerreste stellenweise frappierend weit aufragten, was schwindelerregende Rückschlüsse auf ihre frühere Gestalt nahelegte, konnten sie unmöglich je in eine entsprechende Höhe gereicht haben. Es hätte schon der Arbeit vieler Völker bedurft, so etwas aufzurichten, stummen Weisung nicht zu entziehen wußte, sich weder vor- noch rückwärts zu regen wagte und so die angespannte Starre des Kittelträgers unfreiwillig teilte. Als ihm nach einer weiteren halben Stunde das Warten zuviel wurde, zumal es noch immer nicht den kleinsten Hinweis auf etwas gab, worauf es sich zu warten lohnen mochte, entschied er sich, da er wenig Aussicht auf ein unbemerktes Entkommen hatte, die Flucht nach vorne anzutreten; er heftete seinen Blickauf das Gesicht des Mannes und räusperte sich leise. Die Apparatur begann in einem scheußlich hohen Ton zu kreischen; Martin versuchte, zugleich seine Ohren mit den Händen und sein Gesicht mit den Armen zu schützen, während eine Reihe gläsernen Chemikerzubehörs unter der hohen Frequenz barst und als Scherbenregen auf ihn niederging, wodurch der Lärm sich noch verstärkte. Er spürte ein Vibrieren in seinem Kopf und fragte sich mit bemerkenswerter Nüchternheit, ob diesem wohl ein ähnliches Schicksal bevorstehe, da drückte der Weißkittel erneut den Knopf und es wurde still. Wenigstens insofern man es nach einem solchen Laut für paradiesische Ruhe nimmt, nach Leibeskräften angebrüllt zu werden, wer man sei, wie und zu welchem Behuf man herkäme und was einem einfiele, die Frucht langer Bemühungen so achtlos zu zertrampeln. Martin, der wenig zu seiner Verteidigung vorzubringen wußte, was nicht so offensichtlich war, daß es zu erwähnen ihm vergebens schien, weil sein Gegenüber es bei seinem Ausbruch schon bedacht haben mußte, beschloß, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, und erkundigte sich in einem Moment, da der Mann in seinem Wüten innehielt, um Luft zu holen, was für ein Ding es denn sei, das er so in Aufregung versetzt habe. Tatsächlich zeitigte dieses Manöver, das Martin ob seiner Fadenscheinigkeit fast zu versuchen unterlassen hätte, rasche Wirkung. Der Weißkittel warf ihm noch einen bösen Blick zu, dann unterlag sein Zorn seinem Verlangen, sich mitzuteilen, und er erklärte: „Dies ´Ding´ dort stellt jene groteske Laune der Natur vor, Wesen entstehen zu lassen, die sich selbst erkennen. Was immer aus jenem Verstärker, und es ist ein gewaltiger Verstärker, klingt, erreicht auf geradem Weg das Mikrophon, eines der feinsten seiner Art. Ein 48 eine Briefmarke utopisch erschienen wäre, manch wackerer Forscher ruinierte sich durch längere Beobachtungen seine Augen – nun aber gewährt sie jedermann einen ganz mühelosen Durchblick, nur Narren könnten hier noch Grund zur Klage finden. Was sich durch sie nicht zeigt, ist schlicht nicht da – erhofft, erfunden und hinzugedichtet, und nicht mehr.“ Noch einmal setzte Martin an, zu erklären, daß er keineswegs die optische Lauterkeit der Scheibe in Zweifel ziehen wolle, die sicherlich ein mit großer Meisterschaft gefertigtes Ding sei, sie ihn aber eben die Gestalt des Gebäudes nicht erkennen lasse, doch als sein Gegenüber abermals begann, ihm die Vorzüge seines Fensters aufzuzählen, gar zur Veranschaulichung und Bestärkung seiner Rede die Konstruktionszeichungen heranzuziehen androhte und sich zu diesem Zweck in den Inhalt eines Regals vertiefte, das der Glastür zu nahe stand, um ein unbemerktes Entkommen zu ermöglichen – da öffnete Martin rasch die kleine, aus irgendeinem Grund mit „Silberbesteck“ beschriftete Tür neben ihm und schob sich hinein. Seinem Vorhaben hatte es entsprochen, von hier aus einen günstigen Zeitpunkt abzupassen und den Raum zu verlassen, doch statt einer Abstellkammer mit Regalwänden war hier ein kurzer Flur, an dessen Ende es bläulich leuchtete. Als Quelle des Lichtes entpuppte sich schließlich ein kreisrunder, fensterloser Raum, dessen Wände von Computerterminals gesäumt waren, vor denen Männer mit Kugelschreibern in den Taschen ihrer karierten Hemden eifrig umherliefen, dann und wann zu zweit oder dritt zu kurzen Unterredungen zusammenkamen, ansonsten Eingaben über eine der zahlreichen Tastaturen machten und mit gewichtigen Mienen auf einen der Bildschirme schauten, die es hier überall zu geben schien und die zugleich die einzige erkennbare Lichtquelle darstellten. Einer der Schirme war durch seine Größe und Position – er hing dem einzigen Zugang direkt gegenüber und höher als die anderen – deutlich ausgezeichnet. Er zeigte zwei in der solchen Darstellungen eigenen Weise auf ein netzartiges Skelett reduzierte Kugeln, eine blaue und eine gelbe, deren Oberflächen durch eine rote Linie verbunden waren. Dieses Bild schwamm in einer Pfütze von Ziffernkolonnen, die in raschem Wechsel umherwimmelten wie eine Horde geschäftiger Mikroorganismen. Eine der Zahlen schoß es Martin von irgendwoher in den Kopf, doch ehe er Ursprung oder Sinn dieses Gedankens auszumachen hätte beginnen können, war er hindurch und wieder hinaus; in und über diesen Resten vergangener Gigantomanie wucherte ein Gestrüpp von Stahlträgern, das den Eindruck machte, als habe eine Spinne von unvorstellbaren Ausmaßen es in einem Anfall titanischer Raserei hineingewebt. In dieses metallische Exoskelett war eine Anzahl verspiegelter Scheiben verbaut, die unter dem starken Sonneneinfall unaufhörlich gleißendes weißes Licht nach allen Seiten hin aussandten und es beinahe unmöglich machten, sich von Form und Gestalt des Bauwerks ein klares Bild zu machen. „Was ist das?“ fragte Martin, der nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. „Was das ist? Was soll es schon groß sein – es ist ein Gebäude wie jedes andere auch, irgendwann von irgendwem errichtet – die Einzelheiten sind nicht völlig klar, doch ein Menschenwerk, und Menschen lenken es. Derzeit und seit einer Weile sehr zu unser aller Schaden. Durch ihre Unvernunft erwärmen sie die Stadt in ungesunder Weise, möglicherweise stecken sie an schwerer einsehbaren Stellen selbst den Wald in Brand, was die Qualität der Luft sehr ungünstig beeinflußt. Ein Wunderwerk, geschaffen und gelenkt von Wunder - Kindern – man kann nur hoffen, daß sie rechtzeitig erwachsen werden, ehe durch ihre Tollheit alles zum Teufel geht. Einstweilen“, seufzte er „verhallen meine Warnungen noch ungehört.“ Martins Frage, ob es wohl möglich wäre, etwas mehr als diese Wirrnis von Blitzen zu sehen, quittierte der Gelehrte mit einer abfälligen Geste. „Mehr? Kaum ist er hier, wünscht er schon mehr zu sehen – als es gibt! Dieses Ding dort, in seinem Blitzen und Blinken, ist der Neubau, da ist kein Mangel und keine Täuschung bei, dafür haben wir gesorgt – sehen Sie sich nur die Scheibe an, unsere prächtige, klare Scheibe, kein Stäubchen trübt die Sicht, entspiegelt, daß nur ja der eigene Anblick sich nicht in die Betrachtung mischt, glatt geschliffen und poliert, kein Lichtstrahl geht auch nur im mindesten anders hinaus als hinein – richtiger kann kein Hinblick sein.“ „Aber ich sehe nichts“, erwiderte Martin. „Glatt poliert, entspiegelt, und inzwischen von enormer Größe – wir begannen mit einem Fenster, neben dem 49 dahinter verberge, antwortete er: „Dort? Nichts Besonderes – wie Sie sich leicht denken können, hat auch eine moderne Einrichtung wie die unsere Bedarf an den Segnungen einfacher Mechanik – Generatoren für unseren Strom, Heizung, Lüftung – nichts von Bedeutung, da bin ich mir so sicher, daß ich mir in all meiner Zeit hier nie die Mühe gemacht habe, hineinzusehen.“ Obwohl Martin keinen Grund sah, an diesen Worten zu zweifeln, stimmte ihn dieser letzte Zusatz doch immerhin so nachdenklich, daß er, um sich nicht später eine nachlässige Vorgehensweise vorwerfen lassen zu müssen, erbat, den Raum selbst begehen zu dürfen. Der Mann gestattete es ihm, ohne zu zögern. „Wenn Sie mit Ihrer Zeit nichts Sinnvolleres anzufangen wissen – bitte sehr. Nur seien Sie so vorsichtig, nichts anzufassen – ein fein durchdachter Mechanismus wird von unkundigen Händen eher beschädigt, als Sie glauben werden. Und falls Sie zu Selbstgesprächen neigen, achten Sie genau auf Ihre Worte – die Akustik dieser Räume ist nämlich, wie ich hörte, in der Tat bemerkenswert: Dort Gesagtes verfliegt nicht, wie man es sonst gewohnt ist, sondern hallt für Jahre, einige behaupten gar Jahrhunderte, von Wand zu Wand.“ „Man kann also alles hören, was dort unten je gesprochen wurde?“ „Vieles, doch nicht alles. Ein Ton etwa, welcher vom Ohr gefangen wird, setzt seinen Weg in den Gedanken fort, statt fortzuhallen. Es können nicht zwei Personen denselben Zuspruch empfangen, wenn Sie so wollen. Wer viele erreichen will, tut gut daran, sich ab und an zu wiederholen. Also, wenn Sie wollen ...“ Damit öffnete er ihm die Klappe und machte eine einladende Handbewegung. Martin neigte den Kopf zum Dank, trat hindurch und – prallte vor eine Mauer von Maschinenlärm mit einer Härte, die ihm beinahe die Sinne schwinden ließ; von allen Seiten her dröhnte, tuckerte, stampfte, hämmerte, polterte, pfiff, zischte, quietschte, brummte und rumorte es derartig intensiv, daß ihm erst, als er sich zur Flucht entschlossen und die Hände auf die Ohren gepreßt nach der Tür umsah, durch die er gekommen war, die zweite Zumutung des Raumes gegenwärtig wurde, die ihm kaum weniger unlieb als die erste war: Er war nämlich beinahe zur Gänze war rot und strebte tröpfchenweise gegen 0. „Ist es nicht herrlich? Bald ist es soweit.“ Einer der Männer hatte seine Arbeit niedergelegt und war auf ihn zugetreten. Offenbar schien er selbstverständlich davon auszugehen, daß Martin über die Vorgänge im Bilde war und nach Einzelheiten gierte, denn ohne ihm Zeit zur Erwiderung zu geben, fuhr er fort. „Dann ist Schluß mit beschwerlichen Wintern und trübsinnigen Regentagen. Das Energieproblem wird ein für allemal gelöst sein, und die Menschheit ihre Tage in Wärme und Licht verbringen. Und wem, was mir nebenbei gesagt ganz unverständlich ist, der helle Gast nicht stets willkommen ist, dem stehen Mittel noch und nöcher zu Gebote – ein Vorhang reicht hierfür vollkommen aus –, ihn aus seiner Stube zu verbannen, wie und wann es ihm beliebt. So hilft uns die moderne Technik, uralte Menschheitsträume wahrzumachen – ich neige nicht zur Schwärmerei, doch in diesem Fall möchte ich behaupten, daß unser Werk im Grunde alle weiteren Anstrengungen unserer Art überflüssig macht, ja diese Maschine gewissermaßen dem ganzen beschwerlichen Gang der Menschheitsgeschichte im Nachhinein seine Rechtfertigung verleiht. Vergangenen Zeiten gebührt Lob dafür, den Speer, die Dampfmaschine und das Flugzeug konstruiert zu haben – wir aber haben getan, was uns die Jahrhunderte zu tun übrigließen: Wir haben das Glück erfunden!“ An dieser Stelle fiel ein fehlgelenkter Lichtstrahl von einer der Deckenleuchten in seine Augen, so daß er genötigt war, sie kurz zu schließen; dann fuhr er fort, begann von den technischen Wundern in den Stockwerken über ihnen zu erzählen, eine bis ins letzte durchdachte Komposition von allerneuesten und erst seit kurzer Zeit überhaupt möglichen Errungenschaften, die das eine Wunder fertigbrachte, welches seine Epoche noch ungetan gefunden hatte: Die Sonne zur Erde zu ziehen. Er verströmte eine Begeisterung und Zuversicht angesichts der Segnungen des Kommenden, in die Martin, je länger er zuhörte, allmählich, fast unmerklich hineingezogen wurde, und bald war er ganz in die Ausführungen des Mannes verstrickt, fragte weiter und weiter, bis ihm, was er hier sah, vertraut erschien wie eine Heimat. Nur einen Ring am Boden, der offenbar beim Öffnen einer Falltür behilflich sein sollte, hatte er in seinen Ausführungen nicht erwähnt, und auf Martins Nachfrage, was sich 50 Er hatte erwartet, in eine finstere Bodenlosigkeit zu fallen, zeitlos, haltlos durch das Nichts zu stürzen mit dem Luftzug als einzigem Anzeichen seiner Bewegung. Um so mehr verblüffte es ihn, als er, da die Füße kaum den Rand verlassen hatten, hart aufschlug, und zwar infolge der dramatischen Pose, die er beim Absprung für angebracht gehalten hatte, der Länge nach und ungedämpft. Er drehte sich auf den Rücken; über ihm war nichts als Schwärze und der Takt der Maschinen, der nun wie von weit entfernt zu ihm hinunterhallte. Als der Schmerz nachließ, setzten die Stimmen wieder ein. „Selbst Schuld du Narr – du hättest ja die Treppe nehmen können“, hörte er, und tatsächlich begann eine steinerne Wendeltreppe nicht weit von ihm entfernt und wand sich nach oben in etwas, was wie ein in den Fels gehauener Tunnel aussah, außer Sicht. Ehe er sich recht darüber ärgern konnte, kamen weitere. „Dies ist ein Krug. Dies eine Tasse, ein Teller, ein Messer“, wisperte es, und kurz darauf tönte es wie von tausend Kehlen: „DIES IST EIN KRUG. DIES EINE TASSE, EIN TELLER, EIN MESSER. DIES IST EIN KRUG. DIES EINE TASSE, EIN TELLER, EIN MESSER. DIES ...“ Die Stimme gewann rasch an Lautstärke und an Geschwindigkeit und glich bald mehr dem rhythmischen Singsang aus einem archaischen Beschwörungsritual als einem menschlichen Sprechen. Martin stand auf und fand sich zwischen einer Mauer und einem Steinring, in dem ein imposantes Feuer brannte. Um ihn herum lag ein Haufen von uraltem Gerümpel, darunter viel tönerne Scherben, aber auch Gegenstände aus Metall. Auf der anderen Seite der Mauer stand eine hölzerne Bank, die lang genug war, um vielen Dutzend Menschen Platz zu bieten; und vor der Bank war eine glatte Felswand, auf der der Widerschein des Feuers seltsame Spiele trieb. Wie er der Bank näher kam, wurden die Stimmen lauter. „DIES IST EIN KRUG. DIES EINE TASSE, EIN MESSER, EIN TELLER. DIES ...“ exklamierten sie und schienen dessen nicht müde zu werden; und zugleich war da noch ein weiteres Geräusch, das klang wie das Klirren von Metall. Er tastete sich an der Bank entlang (diese wurde kaum vom Feuerschein erreicht), und wirklich fühlte er nach kurzer Zeit etwas, was eine metallische Kette gewesen sein mochte – beziehungsweise es, soweit ein Finger reichten, noch war, doch das war angesichts der Tatsache, daß alles in dieser Höhle dunkel, was insbesondere bedeutete, daß der Rückweg ihm nicht länger offen stand. Er tastete noch ein Weile verzagt an kalten, glatten Wänden nach Anzeichen einer Tür, was ihn freilich zwang, wenigstens ein Ohr schutzlos dem Getöse auszusetzen, sah aber seine anfängliche Hoffnungslosigkeit schon bald bestätigt und beschloß, einen anderen Ausweg zu suchen. Immerhin gewöhnten seine Augen sich allmählich an die Dunkelheit – oder lernte er dem wenigen diffusen Licht, das es selbst hier noch irgendwoher gab, das letzte an Erkenntnis abzuringen? – und als er sich der steten Zusetzung des Lärms bis zu jenem Maß entwunden hatte, da ihn nicht jeder neue Schlag zusammenfahren ließ, begann er, die Stimmen zu hören. Anfänglich waren sie mit Gewißheit nicht von nichts zu scheiden, und als einziger Zeuge ihrer Gegenwart trat eine schüchterne Spur im Gedächtnis auf, die gerade laut genug verlosch, um Martin innehalten zu lassen und einen Zweifel zu wecken, der sich, in Ermangelung eines anderen sichtbaren Kontrahenten, über den Verstand hermachte und Martin eine Weile befürchten machte, er werde über seiner Lage wahnsinnig. Doch als sie allmählich zwar nicht lauter, aber vernehmlicher, deutlicher, klarer wurden, ja bald den einzig erträglichen und verständlichen äußeren Reiz ausmachten, den Martin empfing, hieß er den Zweifel sich schlafen zu legen und begann zu lauschen. „Nicht dorthin. Kehre um!“ Unergründlich dünn und fein, und Martin schien jedes Wort, das er vernahm, kaum weniger als ein Wunder zu sein. „Spring! Kein Schreiten führt dich weiter! Spring!“ „Vorwärts! Abwärts!“ „Hinab jetzt – in die Höhe!“ kam es flüsternd aus dem Dunkel, viele feine Stimmchen schwirrten um ihn wie ein Insektenschwarm, zärtlich, lockend, lauernd sprachen sie wie zu ihm, treue Gefährten des Einsamen in der Finsternis, deren Trost und Zuspruch nur für einen Preis zu haben war, an dessen Höhe sie keinen Zweifel ließen, sie wurden bittend, fordernd, dünner und leiser auch, als wollten sie vergehen und ihn in ewiger Stille allein zurücklassen, was Martin derart erschreckte, daß er sich schließlich wider jede Vernunft an den Rand stellte, wo er, noch immer den Stimmen lauschend, eine Weile zögernd verharrte, und dann mit ausgebreiteten Armen vornüber kippte. Die Stimmen verstummten. 51 Schattentanz ist alles, was du siehst.“ „Eine Stimme gegen alle – und ausgerechnet dieser soll ich folgen?“ Dann ein Lachen, doch es war nicht so voll und stark, wie man es ob solcher Anmaßung sonst zugemessen hätte. „Ich bin nicht gekommen, um zu streiten, sondern um dich sehen zu lassen.“ Ein Stimmengewirr, ein Klopfen wie von Stein auf Metall, etwas barst. „Packt ihn. Schleppt ihn zum Feuer.“ Schreie. „Siehst du nun, wie es zugeht, Tor?“ „Nichts sehe ich. Es blendet. Es brennt. Laßt mich!“ Geräusche wie von einem Kampf. Dann, lauter, zugleich auf seltsame Art zerhackt, ein Patchwork von Rufen, und es waren nicht mehr nur zwei, die man hörte, es mischten sich weitere hinein, Dutzende, Hunderte riefen durcheinander: Beschwörend: „Nicht wirklich.“ Weinerlich: „Nein, laßt mich!“ „Es ist zu hell! Zu hell!“ Ohnmächtig wütend: „Zeigt mir das Höllenfeuer und nennt es Wahrheit!“ Im Chor: „Stellt sie an! Stellt sie an!“ „Sie kommt!“ Väterlich: „Nur Schatten. Du wirst sehen.“ Trotzig, unsicher: „Ich sehe nichts mehr. Du machst mich blind.“ Unerbittlich, hart: „Empor, empor“. Dann ein Schrei, laut wie keiner vorher: „Zeigt sie uns! Holt sie doch her!“ Das war die Spitze des Crescendos. Die Rufe verebbten und es wurde still. Martin hatte verstanden. Er sah die Kette, die er noch immer in seinen Händen hielt, mit einer Mischung aus Furcht und Ekel an; dann legte er sie ab, las einen scharfkantigen Stein vom Boden auf und prügelte damit wie ein Wahnsinniger auf das kalte Metall ein, bis es barst. Etwas klirrte, und augenblicklich war der Schmerz an seinem Fuß wie weggeblasen. Da ließ er den Stein zu Boden gleiten und begann, die Treppe zu ersteigen. Diesmal fand er seinen Weg mit der Sicherheit nicht eines Traumwandlers, sondern eines aus langem Traum Erwachten, nahm bald diesen, bald jenen Abzweig, und wunderte sich nicht im mindesten darüber, wo er nach nicht allzu langer Zeit wieder anlangte, denn nichts anderes hatte er erwartet: nämlich wieder dort, von wo ihn der Alte losgeschickt hatte. Dort war die Leiter, und darüber ein kreisförmiger Ausschnitt voller Licht. Das Licht war grell und häßlich, doch nicht mehr unerträglich, denn es mischte sich noch etwas anderes hinein, ein sanftes, aber doch kraft- sicher seine tausend Jahre hier gelegen hatte, natürlich lächerlich, das Stück in seinen Händen war frappierend gut erhalten, ja, doch würde es bald an einem von Rost zerfressenen Glied enden, wenn man nur eine Weile danach suchte ... Doch es fand sich nicht. Glied reihte sich an Glied über viele Meter zur ersten Stufe der Wendeltreppe hin, und diese weiter empor, als Martin ihr zu folgen willens war. Frustriert verweilte er kurz in Gedanken an eine andere Möglichkeit, des widerborstigen Endgliedes habhaft zu werden; dann atmete er tief durch, packte die Kette mit beiden Armen, tat einen kräftigen Ruck – und ging zu Boden. Offenbar war die Kette irgendwo dort oben an der Treppe festgerostet und der Boden glatter, als es den Anschein hatte. Verärgert rappelte er sich hoch und wiederholte seine Bemühungen mit doppelter Wucht. Diesmal folgte der Sturz noch rascher als beim ersten Mal; außerdem mußte er wohl ungeschickt aufgetreten sein, denn an seinem rechten Fußgelenk nagte ein grimmiges Weh. Er stand erneut auf, mühsamer diesmal, doch mit gemehrtem Zorn, preßte er seine Fäuste um die Kette, biß die Zähne zusammen und zog mit aller Kraft, die er im Leibe hatte. Das darauffolgende häßliche Knirschen brachte er gerade noch mit dem stechenden Schmerz in seinem Fuß zusammen, ehe sein Kopf auf den Stein aufschlug und er für eine Weile besinnungslos wurde. „DIES IST EIN KRUG. DIES EINE TASSE, EIN MESSER, EIN TELLER. DIES ...“ Diesmal war es anders; als hielte man sein Ohr speziell auf sie gerichtet, war der vielkehlige Choral in den Hintergrund getreten und damit der Dominanz einer einzigen Stimme gewichen, die sich von den übrigen kaum sagbar unterschied – doch wieviel ist über Stimmen mehr zu wissen, als sich sagen läßt! Sie war ein wenig heller als die meisten anderen, dabei nicht leiser, aber schwächer, zögerlicher, und wenn der Sprecher auch kein Wort, noch gar einen ganzen Durchlauf, ausließ, so waren seine Atempausen doch länger, als man zum Atemholen eigentlich gebraucht hätte, und sicherlich die längsten, die zu hören waren. „Unfug. Du arme Kreatur – ich will dir wahre Krüge, Tassen, Messer, Teller zeigen – und noch vieles mehr. Komm mit.“ „Ein ´wahrer Krug´ – was soll das sein? Was könnte wahrer sein, als das, was ich direkt vor mir sehe?“ „Jener, der den Schatten wirft, den du siehst. Nichts als 52 Betrug dabei – jene aus dem Neubau sind der festen Überzeugung, sie hätten über sich die Sonne und um sich die Welt. Erst dem Sehenden ist diese Spiegelei ein Nichts.“ „Und dieses – Ding?“ „Es ist gewiß das Scheußlichste, was je ersonnen wurde. Doch es birgt auch Hoffnung: Gerade indem es verstellt, betont es das Verstellte. Und sie, die Verstellte? Sie ist stark genug, dies ganze Blendwerk im Handumdrehen zu entlarven – dazu bedarf es nur, es in das rechte Licht zu stellen. Sie vermag die plötzliche Lichtung – den Blitz. Vielleicht läßt sie es eines Tages blitzen – wer weiß? Es ist nicht an uns, darüber zu befinden oder diesen Zeitpunkt zu bestimmen. Wir können uns nur ihrem Zuspruch öffnen, von ihr künden und, uns offenhaltend – warten. Komm.“ Martin entsprach dem Willen des Alten, stellte sich an seine Seite, und so standen die beiden Weisen, der alte und der junge, auf ihrem Turm und blickten ernst und sinnend in die Ferne. Und da sie nicht gestorben sind, warten sie noch heute. volles Scheinen. Er wartete keine Sekunde, um Atem zu holen oder die Erfolgsaussichten zu überschlagen, sondern er schloß die Hände fest um das alte Holz der Leiter, stieg hinauf zur Plattform und blickte sich um. Über dem Land erstreckte sich, so weit sein Auge reichte, ein gläsernes Gestell, ein Ungeheuer aus Lupen und Spiegeln, die sich von unsichtbarer Hand gesteuert bald nach dieser, bald nach jener Richtung wandten, Licht von überallher fingen und es über eine unbegreifliche Zickzacklinie schließlich zum Boden sandten. Darüber aber stand die Sonne. Sie hatte den Zenit längst hinter sich gelassen, rotglühend schwand sie am Horizont, und während das Spiegelmeer ihr Licht aus der Ferne herüber in Stadt und Wald lenkte, sah Martin zum ersten Mal in seinem Leben einen Sonnenuntergang. Die erste Welle ehrfurchtsvollen Staunens war noch nicht ganz über ihn hinweg, da sprach der Alte hinter ihm. „Versuche gar nicht erst, dich an ihr sattzusehen – es widerspricht dem Wesen jenes Hungers, welchen du nun spürst, ihn zu stillen. Es ist im übrigen kein Der Säumer Lisa Glauche 53 noel takt-los sinnlos das lEben, doch solange lichter hinter meinen augen blühen, wenn sie deine seele sehen, ist es wenigstens von wert. brauen biegen stumme statements stirnwärts; lider müden noch, da grau das licht durch kahles bricht. der atem erfriert – an der atmosphäre. ist nichts zu ändern. man verkneift sich lippen lallen zu lassen, nichts anderes wäre es, da der metronom taktlos scheint. sinnlos das lEben, doch solange lichter hinter meinen augen blühen, wenn sie deine seele sehen, ist es wenigstens von wert. 54 Kommentar von Peter Felber zu „takt-los“ Hallo noel, das wird für mich immer ein Rätsel bleiben, was sicher gut so ist, warum Wörter, oder Worte (was Höheres meint), aufhören können, "sachgemäß" zu sein. Unversehens hört ihr ganzes Gliederwerk auf, damit meine ich eine Art rasselndes Geräusch wie von Ketten, als würde alle Sklaverei, und das ganz ohne Aufhebens oder Umsturz, enden. Die Worte geben sich ganz anders die Hand, ja, sie haben erst jetzt Hände. Da ruht irgendwas Größeres in den Worten, so ihre Wörter (was ihre Schatten meint) sich unversehens anders verhalten. Die Wörter sind die Schatten der Worte, und da, wie es scheint, begreifen sie es selbst. Sie sind nicht dazu da, ewig und immerfort an irgendetwas entlangzulaufen, für das sie im Grunde gar nicht ausreichen, was sie auch so atemlos macht. Nein, sie sind eigentlich nur da für sich selbst, oder für die Worte, die sie sind. Ich finde, das Gedicht lässt das begreifen. Ich wollte mich dann noch mal vorlehnen, um die Wörter aus den Worten zu sehn. Aber wozu eigentlich. Da ist eine Art Heimkehr. Ich frag mich, warum ich dieses Sich-Senken sehe, vielleicht, als blickte man an einem alten Vorhang hinab, und unten ruht er ganz still, als seltsam geschwung'ne Welle. Außer dem: Was ich interessant finde, ist diese Haltung mancher deiner neueren Gedichte, soweit ich sie verfolgen konnte. Es steckt für mich ein Wagnis darin, vielleicht auch soetwas wie ein Wunder. Die Haltung, die mir früher in deinen Gedichten begegnet war, schien mir eine, die sich an Rändern aufhielt (weit vorgelehnt oder ab- oder hinausgebrochen): Gedichte, wie Wind-Mitschnitte, Wind-Aufzeichnungen, da, wo das Gewohnte hinabstürzt, wo es dünn wird und fraglich. Nun scheint es in deinen Gedichten aber ein Sich-Zurückwenden zu geben, was aber dann das, was ich vorhin als "Wunder" bezeichnen wollte, auslöst. Diese seltsame Mischung, dass man spürt, und man spürt es ja, dass hier etwas Fernes zurückkehrt, mit noch den zerbrochnen Dingen, mit noch dem Wind-Geruch des Abgrunds, schafft irgendwie dieses Licht, dieses Licht um doch eigentlich verbrauchte Dinge. Ich meine im obigen Gedicht geht dasselbe um – es spricht von etwas, von dem es eigentlich nicht sprechen könnte, wenn es nicht aus der Ferne käme. Jedenfalls hätte es dann kaum diese Kraft zu solcher Verdichtung. Wahrscheinlich der Fremde, der in eine Wohnung kommt ganz aus der Nacht, und der als einziger begreift, was es heißt, zu wohnen (aber der hier nicht angekommen sein wird). Jedenfalls, das Spannende, das an sich Spannende, weil es eben so Verschiedenes aufzeigt, scheint mir diese Bekleidung des Nahen durch das Ferne – als zögest du, um es salopp zu sagen, wenn ich sagen darf: einem alten Topf, aus dem man immer isst und aus dem jeder isst und aus dem alles so gewöhnlich schmeckt, ein hauchdünnes Kleid an, und da leuchtet er, absurd, und auch das, was unser täglicher Eintopf ist, leuchtet, er schmeckt zum Weinen fein. Und das kann nur die Ferne. (Eine Eintopf-Zeile wäre halt: „sinnlos das lEben“, das findet sich in jedem Mund; aber wie es hier gesagt ist, macht es erst zu Worten.) Mit lieben Grüßen, Peter 55 Marlies Blauth 56 Steine / 2008 - Landschaft - Steine II Jutta Over fellstudie je länger der winter anhält desto höher wächst das fell sparrige borsten sprießen aus der türschwelle die zerbirst sobald man hinaustritt wiesen und felder morgens noch silbergläsern sind mittags bereits von nassfaulen bälgen bedeckt schorf überzieht straßen und plätze erst nur ein schmaler reif ums fußgelenk rollt es sich langsam die waden empor umgeht die knie queckengleich ausläufer treibend wabert unsichtbar auf der unterseite der oberschenkel aus mauerspalten wachsen schüttere bärte durchtränkt vom atem der vorübergehenden und oben aus dem kirchturm baumelt ein alter zopf bald wird es die wirbelsäule hinauf ziehen ein aalstrich wie auf dem rücken der waldpferde niemand schert sich mehr je länger der winter anhält desto räudiger wird das fell auf der innenseite der häuser darum ausgetretene pfade verbinden bett und heizung herd und sofa unter tischen vor fenstern breiten sich lichtungen aus dazwischen verfilzt das fell ballt sich zu festen knäueln und wülsten stolperfallen für den seltenen gast von möbeln und zimmerdecke hängt das fell in langen flusen wie vom bauch eines wollschafes je länger der winter anhält desto enger zieht sich das fell um die häuser fellstudie gelesen von Jutta Over 57 Annett Friebel das lied vom sichnichterinnernkönnen (als hätte ich nie gelernt, dass tage namen tragen.) ich bedeute dem morgen: werde hell. aber ich kann den abend nicht halten, wenn er vergeht. ich kann das wort nicht sagen. ein wort, das an den rändern steht. auf der klippe hocken wir, schauen hinab auf das meer. und manchmal tut sich die erde auf. dann schieben wir das sommergras zur seite, scharren im sandigen boden und haben feuersteingeschmack im mund. (als hätte ich nie gelernt, dass tage namen tragen.) ich bedeute dem morgen: werde hell. aber ich kann den abend nicht halten, wenn er vergeht. ich kann das wort nicht sagen, ein wort, das an den rändern steht. du glaubst, dass eine strömung die menschen davonträgt. sie sind dann nie gewesen. du magst den gedanken – du willst keine tränen und keine trauer. kein grab im sandigen boden und auch keinen stein. (als hätte ich nie gelernt, dass tage namen tragen.) ich bedeute dem morgen: werde hell. aber ich kann den abend nicht halten, wenn er vergeht. ich kann das wort nicht sagen, ein wort, das an den rändern steht. 58 ° interne Links ein Klick in diesen Bereich führt wieder zurück Carl Reiner Holdt Vom Säumen Das Thema gibt nicht so viel her. Ich könnte Cimi * bitten ... Statt dessen schaue ich aus dem Fenster. Es ist Winter. Das ethymologische Wörterbuch schreibt dazu: siuwen (ahd.) sumen (mhd.) 2. zögern, sich verweilen, trödeln. Der Morgen steigt gerade ins Tal. Bis an den schwarzen Saum der Fichten liegt eine weiße Ebene, die jetzt langsam rosa wird ... mit was soll ich diese weiße Fläche vor mir bloß beschreiben? Cimi ist Geschichtenerzähler. Und er ist der weiße Wind aus dem Norden, der weht wo er will. Du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, wann er kommt und wann er geht. Vielleicht würde er erzählen, dass bei ihm zu hause die Priester in der längsten Nacht im Winter ein Korn zum Wachsen bringen. Sie ziehen sich in die unterste Kammer des Tempels zurück und meditieren über dem Korn. Beobachter der Zeremonie schwören, sie hätten die ganze zwei Meter hohe Mais-Staude gesehen, wie sie millionenfach im Sommer geerntet wird! Aber nur, wenn sie jemand im Winter vorher zum wachsen bringt ... vielleicht so wie das sitzende Mädchen, das in seine Händen schaut? ° Was auch immer sie da so konzentriert geschehen lässt: es ist ja nicht nichts, oder? Ein vermuteter Zusammenhang mit gr. ean (seFan) zulassen, gestatten, in Ruhe lassen ist ungewiss. alle Kräfte konzentrieren sich in einer dicken Schale aus Kleidung. Der Blick schärft sich am Kontrast der kahlen Bäume gegen den bleichen Himmel. Wie soll man da das Einhorn sehen? ° Vielleicht würde Cimi ja auch die Geschichte vom Weißen Hasen von Inaba erzählen. Die stammt zwar aus dem Osten, aber das macht nichts. Der weiße Wind kommt auch schon mal aus dem Osten. Außerdem zeigt Cimis Kin den Fluss, der das Land in zwei Hälften teilt. Und er mit einem Bein hüben und mit dem andern drüben. Der Hase also sitzt Tag für Tag am Ufer seiner Insel, on the border, falls jemand den Song aus year of the cat noch kennt, * und will rüber aufs Festland: mhd. Siuwan, der Pfriem, mit dem man die Löcher für die Naht macht, denn siuwen heißt 1. nähen. Und außerdem vermutet man einen Zusammenhang mit Schwelle. Saum bzw. Soum heißt ja auch Land, Grenze. Natürlich ist das ein Kommunikationsproblem. Ich meine jetzt nicht den Hasen, der hat auch eins. Er sitzt mit dem Mädchen in einem Boot, aber es ist ein ziemlich langes Boot, aus Glas, mit viel Zwischenraum in der Mitte. Ganz schön weit bis zum jeweils andern Ufer. ° Und die größte Herausforderung überhaupt ist das Gespräch mit sich selbst ... die Sache mit den Krokodilen brauchen wir an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen. Ich meine jetzt diesen Text hier, der hat ja keinen roten Faden! Doch wenn man eine Geschichte inszeniert, also mit Absicht, und Absicht ist immer hinterlistig, dann kriegt man prompt Ärger mit den Krokodilen. Lest es selber. * Auf die Idee, ich bin hier die res cogitans und der Rest der Welt Mir wäre es lieber, es wäre Sommer! Dann könnte ich an den Wiesen-Rändern durchs Sonnenlicht mäandern wie der Bach durchs Starzeltal. Alle Sinne fließen lassen und schauen, wo sie sich verfangen. Bei dieser Kälte wird sofort ein Überlebenskampf draus, 59 bleibt draußen, kann man nur im tiefsten Kriegs-Winter anno 1619 kommen, in einer Hütte hinter dem Ofen, während draußen alles unter einer weißen Decke erstarrt. * Deshalb erzählt Cimi ja lauter Geschichten, wo man nichts Greifbares in den Händen hat, keine res extensa. Einen roten Faden findet ihr da nur im Analogie-Schluss so ... wie ... nicht, dass sich noch jemand für Krokodile interessiert, die sind längst gegessen. Aber Feen seht ihr eben auch nur aus den Augenwinkeln. und das Außerordentliche träumen. Nicht dass es viel gebracht hätte ... sie trafen die Ungeheuer der Vernunft. Ich meine nicht die Schriftsteller vor der letzten Jahrhundertwende. Die hatten eine andere Erklärung für die Entstehung von Texten. Bei denen war es ja verpönt, sich Dichter zu nennen. Schriftsteller war ein solider Beruf wie ... wie Holzfäller! Arbeiteten sogar in der gleichen Branche: die einen am Anfang, die andern am Ende der Produktions-Kette. Und da der Markt für leere Blätter rapide abnahm, mussten möglichst viele Blätter bedruckt werden, z.B. als dicke Bücher, oder als hohe Auflagen. Da versteht es sich von selbst, welche politischen Gesinnungs-Zu-Taten man für welches Publikum braucht, und wie man passende Artikel konstruiert. Oder auch wieder de-konstruiert. Wie man Gedichte macht und wozu. Hauptsächlich läuft's bis heute darauf hinaus, dass das Sensibelchen Individuum an den äußeren Umständen zerbricht, am liebsten an der Gesellschaft. Seit klar ist, dass ich immer ein anderer bin, nicht die Mitte der Welt, sondern ihr ausgefranster Rand, lebe ich da nicht ständig auf dem schmalen Grat? ° Bin ich nicht eine hauchdünne Membran, die gestern und morgen trennt, drinnen und draußen, dich und mich, leben und sterben? Bin ich nicht immer keins von beiden, nur das löchrige Netz, das manches aus dem Strom filtert, das meiste aber unbemerkt durchrauschen lässt? Karriere ist Illusion, Beziehungen ein Krieg, den das Ich unaufhaltsam verliert, der zivile Alltag Sklaverei. Nicht, dass Ich es vermeiden könnte. Ich braucht es sogar dringend ... denn es weiß ja, wie gefährlich das Säumen ist. Da ist zuerst die Angst, etwas zu versäumen. Sie Was mich wieder auf das Einhorn bringt: Absichtslosigkeit. Tun im Nichttun ... könnte man ja auch als Unberührtheit ... im übertragenen Sinne meine ich, obwohl ... Syuman (aind.) Band, Riemen, Naht und Hymen (gr.) Membran, Sehne leiten sich durch Suffixbildung mit men auch von sivyati (aind.) annähen her. Oder eben siuwen (ahd.) was uns wieder zu sumen (mhd.) säumen bringt. Jedenfalls wäre Jungfräulichkeit bekanntlich die Voraussetzung ein Einhorn zu fangen. Letztlich ist es wohl gleich, wie man sich die Entstehung eines Textes erklärt. Der Kuss der Muse ist nicht schlechter als Cimis Hauch. Die Begegnung mit dem Einhorn in der Dämmerung, oder mit dem Zeit-Pferd am Saumpfad °... meinetwegen auch tiefenpsychologisch. Dann hätten wir mit dem einen Horn als PhallusSymbol in Kombination mit Jungfrau, die es sich einfängt, auch unsere Referenz an Sigmund Freud. So war es wohl, bevor das vernünftigste und fortschrittlichste Jahrhundert, das wir je hatten, in seine Götterdämmerung ging. Als dem Bürger der Hut vom spitzen Kopfe zu fliegen drohte. Da konnten Dichter in ihrer Verzweiflung gegen die hermetische Abschottung aller Himmel wenigstens ans Unbewusste anknüpfen, wenigstens mit Drogen der Maschinerie entkommen 60 bewirkt genau das, was sie zu vermeiden sucht, wie im Märchen. Die Präfixbildung mit ver- ist übrigens früher belegt (9. Jh.) als das Simplex säumen. Ist wohl ein altes Problem. Dann ist da die Angst, dass es nicht so wird, wie Ich es braucht. Doch ja, tatsächlich, die Geschichte geht nicht zwangsläufig gut aus. Am Waldrand lauert der Wolf, der Leviathan unter der spiegelglatten Oberfläche. Jeder Held hat seine Ferse oder sein Linden-Blatt. Ich muss die Begegnung mit dem Tod aushalten um zu säumen. Fragt mich mal wie ... eindrückt – vielleicht ein Tier, das es nicht gibt, oder ein weißer Hase – es wird eingeschmolzen in eine Figur aus Glas, dieses Erlebnis, eingeschrieben in einen Kirschkern, in ein Gedicht oder eine Geschichte ... wie eine Libelle in Bernstein. Sie ist dann tot. Ein kleines, harmloses Schmuckstück. Aber jeder der Augen und Ohren hat zu sehen und zu hören – absichtslos – kann sie wieder zum Leben erwecken, diese Begegnung. Und mit ihr die ganze Welt. Um zu lernen, wie man so viel Magie ausübt, genügt Säumen natürlich nicht. Es ist ein Anfang. Wenn ich säume, komme ich dem Strom der Wirklichkeit näher. Was an Wunde(r)n sich bei diesem Tauchgang Andreas Ferdinand Fecke Kurz nur durchsteift sein Geist die Pfade zwischen den Sternen – Scheinbar; denn kommt er nach Haus, lebt dort kein Mensch, der ihn kennt. Das Märchen von der verschleierten Frau Hugo von Hofmannsthal gelesen von Gabriella 61 Blauer Salon [ unplugged ] offene Lesebühne jeden 1. Freitag des Monats in Berlin www.blauersalon-unplugged.net Berlin 20. August 2010 >> Als hättest du gelauscht << anthologie blauer salon eins Paris 17. Oktober 2010 >> recontres << Bochum 30. Oktober 2010 >> Ménage à trois Von Liebe und anderen Ungereimtheiten << Freiberg 29. Januar 2011 >> Wir sind Brieftaubenangler man sieht uns an den Horizonten << Vorschau: Samstag, 28. Mai 2011, 20 Uhr im Café Arte in Münster >> unterwegs im unterwuchs << Lyrik und Prosa, querfeldein gelesen von Autoren des Blauen Salons Weitere Lesungen in Heidelberg und Berlin sind in Planung. Aktuelle Informationen unter www.blauersalon.net 62 Masayo Odahashi 63 at twilight a b l e a u Mit Beiträgen von: Ann Catrin Apstein-Müller; Arne; Mira Berkenblit; Marlies Blauth; P.J. Blumenthal; Eva Bourke; Patrick Braun; Merlin Carl; Estragon; Eva; Andreas Ferdinand Fecke; Peter Felber; Annett Friebel; Hans-Detlef Fröhlich; Gabriella; Lisa Glauche; Franz Hofner; Carl Reiner Holdt; Hiromi Itō / I. Hijiya-Kirschnereit; Nikolaus Josef Kahlen; Annette Kolbe; Last; Leonie; Matthias Löwe; Renée Lomris; Jair Meschullam; Thomas Milser; Victoria Faraj Mummelthei; noel; Masayo Odahashi; Jutta Over; Elsa Rieger; Jürgen Riering; Anna Rinn-Schad; Aram Peter Tunkel; Isabella Vogel; Flora Winter; Xanthippe; Henkki Zakkinen Wir danken allen Mitwirkenden für ihre Unterstützung! Impressum: Herausgeberin: Lisa Glauche www.blauersalon.net Redaktion: Flora Winter Seitengestaltung: Flora Winter, Peter Felber Webdesign: Peter Felber