Geographie des Zorns

Transcrição

Geographie des Zorns
Entwurf – bitte nicht zitieren – Stand: 20.10.2010 Geographie des Zorns1 Benedikt Korf I. Ich möchte diesen Vortrag mit einer Art Quizfrage beginnen: was haben die Ziffern 1983, 21 und 9/11 miteinander zu tun? [ANZEICHNEN] 1983 steht für das blutige Pogrom singhalesischer Massen gegen die tamilische Minderheit in Sri Lanka, das von singhalesischen Politikern als Ausdruck des Zornes der Mehrheitsbevölkerung gegenüber einer anmassenden Minderheit gerechtfertigt wurde. 21 steht für „Stuttgart 21“ und die Artikulation bürgerlichen Zorns gegen eine abgehobene politische Elite und ihre Praxis repräsentativer Demokratie – oder auch, wie Thomas E. Schmidt in der Zeit schreibt: Staatsautorität gegen Bürgerprotest.2 9/11 – nun dazu ist wohl nicht mehr viel zu sagen. Eine öffentliche Zornesdemonstration des islamischen Fundamentalismus vielleicht? „[Zorn] als Emotion mit hoher Schubkraft ist wieder im Gespräch … infolge der sozialen und politischen Krisen‐ und Ausnahmezustände“ schreiben die Organisatoren des sogenannten Wutgipfels, der im Mai 2010 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin stattgefunden hat. Es geht hier, wie der Titel meines Vortrages bereits andeutet, um die politische Geographie des Zorns, um seine politische Wirkkraft in der Ausgestaltung politischer Steuerungsformen. Man könnte diese Liste noch um andere Phänomene des Zorns ergänzen: „Griechenland“, Tea Party, Sarrazin und das „man wird doch wohl mal sagen dürfen“ Phänomen, die Gewalt in Pariser banlieues, öffentliche Wut gegen Rentenkürzungen usw., aber auch: Geert Wilders, Christian Stache, Christoph 1
Vortrag auf der Tagung des Arbeitskreises Politische Geographie, Münster, 22.‐23. Oktober 2010. Ich danke Paul Reuber und Iris Dzudzek für die freundliche Einladung und vorab gegebene Kommentare, die in die Argumentation eingeflossen sind. Pascal Goeke hat das vorliegende Manuskript kommentiert. Kommentare, Anregungen, Kritikpunkte an: [email protected] 2
Thomas E. Schmidt (2010) Wer hält länger durch? – In: Die Zeit, 7. Oktober, S. 3. 1 Blocher’s Schweizer Volkspartei und andere Rechtspopulisten erhalten soundso viele Stimmen in verschiedenen Wahlen – auch hier könnte es um die Artikulation von Zorn gehen – Zorn gegen politische Aushandlungs‐ und Steuerungsformen – das Thema dieser Tagung – und deren fehlende Legitimation und Einbettung in die Alltagserfahrungen der „Bürger“; protestiert wird gegen abgehobene Eliten – gegen „die da oben.“ Geht es um eine Art „Volkszorn“ – den „Zorn der kleinen Leute“ – wie der einflussreiche Schweizer Publizist Frank A. Meyer in Cicero schreibt? „Einfache Leute, kleine Leute, Kleinbürger, oft und gern als Spiessbürger verächtlich gemacht“3 ‐ „die Menschen da draussen“ – wie Politiker gerne sagen? Meyer‘s zeitgenössische Chiffre greift zu kurz. In den oben aufgeführten Beispielen handelt es sich um sehr verschiedene Phänomene des Zorns – ganz unterschiedliche Akteure artikulieren sich – in sehr verschiedenen Formen, individuell und kollektiv. Wollen wir die Phänomenologie des Zornes als politische Raumproduktion verstehen, müssen wir uns genauer mit den verschiedenen Typen des Zorns – und auch mit der Abgrenzung des Begriffes (zu Wut, Ärger, Hass) ‐ beschäftigen. Warum gerade Zorn? Peter Sloterdijk hat in Zorn und Zeit den politischen Wissenschaften – und hierzu möchte ich heute auch die Politische Geographie zählen – vorgeworfen, sie leide unter einer Verleugnung des Zornes.4 Sloterdjk begründet sein Gegenplädoyer mit der europäischen Überlieferung – schon in Homer’s Ilias stand das Wort thymos, Zorn, am Anfang. Der Zorn ist für den antiken Helden ein ihm von den Göttern verliehener Genius, der ihm übermenschliche Energien verleiht. Implizit feiert Sloterdijk damit eine Gewaltverherrlichung, einen Heroismus der „Tatentäter“. In der Antike – auch noch in der mittelalterlichen Figur des Ritters ‐ war der Zorn das Privileg, der Regungsherd des stolzen Selbst, des Helden, doch in der Geschichte der Aufklärung wird der Held domestifiziert – vom Zorn, über den Mannesmut zur Beherztheit und „Zivilcourage“ – wie Sloterdijk ironisch den von ihm nachgezeichneten „Strukturwandel des Zorns“ kommentiert. Sloterdijk’s Projekt einer „politischen Thymotik“ orientiert sich an der Vieldeutigkeit des 3
4
Frank A. Meyer (2010) Der Zorn der kleinen Leute. ‐ In: Cicero 10, 66‐68. Peter Sloterdijk (2006) Zorn und Zeit. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2 Begriffes thymos – der Aspekte von Zorn, Stolz, Scham, Rachlust, Ehrgeiz, Geltungswillen und Rechtsempfinden (eben: Empörung) bündelt. Wir müssen hier Sloterdijk’s Antikenanbetung nicht in ihrer Totalität folgen, um erkennen zu können, dass Zorn zu einer Art Signum unseres Zeitalters geworden zu sein scheint. Wessen Zeitalters? Nun, die Beispiele, die ich am Anfang genannt habe, zeigen bereits die vielfältige(n) Geographie(n) des Zorns auf. Die „Wut in den Städten“, politischer Aufruhr, Massendemonstrationen, aber auch ethnische Gewalt gegen „Fremde“, all dies finden wir nicht nur in Europa, sondern in vielen Orten der Welt, in unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexten. Lange Zeit erschien uns der Zorn, zumindest in den europäischen Wohlstandsgesellschaften, erkaltet, als Ressentiment mit einem gewissen Zynismus, Sarkasmus oder distinguierter Ironie gepflegt. Zorn war etwas, das es noch auf dem Balkan oder im Irak gab. Stuttgart 21 ist ein Zeichen, dass Zorn in Form des (Massen‐)Protest wieder eine breitere, buntere Basis erhalten hat. Zorn ist eben nicht nur eine Verhaltensstörung, sondern hat auch moralische Konnotationen, kann ein Gefühl sein, dass aus Ehrverletzung entsteht. Wie beeinflusst Zorn als Affekt Politik? Was sind dann am Zorn kreative und produktive, vielleicht transformative, Energien? Damit wird, so meine ich, klar, dass sich auch die Politische Geographie mit dem Phänomen des Zorns beschäftigen sollte. Zwei Fragen werden uns in diesem Vortrag leiten: erstens, was macht den Zorn so wirkmächtig (eine ontologische Frage)? Und zweitens, was macht Zorn zu einem interessanten Phänomen für die Politische Geographie (eine epistemologische und forschungsstrategische Frage)? Ich werde hier Gedanken skizzieren, die in einigen Punkten die bekannten Pfade der deutschsprachigen Politischen Geographie verlassen werden. Ich tue dies nicht, um Zorn zu provozieren – oder wenn, dann nur, um sein transformatives Potenzial freizulegen. 3 II. [Versuch einer Phänomenologie des Zorns … oder einfach nur: Begriffsklärung] Meine Tochter Johanna ist zweieinhalb Jahre alt. Trotzphase. Ich versuche, die Eskalations‐ und Erregungsgeographien ihrer Zorn‐ und Wutausbrüche zu verstehen. Genau, sie ist ja noch ein Kind! Zorn wird gerne als „Jähzorn“, Unbeherrschtheit kleinen Kindern zugerechnet. Erziehung versucht, Kindern diesen Jähzorn auszutreiben, sie zu einer verhandlungsorientierten Lösungssuche zu disziplinieren. In unserer modernen Gesellschaft ist für den Zorn kein Platz. Er wurde domestifiziert. Genealogisch wird Zorn noch mit dem jähzornigen Gott des Alten Testaments in Verbindung gebracht ‐ nicht jedoch dem neutestamentlichen! – oder mit der rasenden Wut antiker Helden oder mittelalterlicher Ritter. Die Domestifikation des Zornes war ein Prozess der Zivilisation, wie Norbert Elias dargelegt hat: mit dem Fortschreiten der Zivilisation muss die Angriffslust des Ritters, zum Beispiel, gezügelt und geregelt werden.5 In der aufgeklärten, modernen, industrialisierten Gesellschaft ist Zorn als Affekt eher etwas, das therapiert werden sollte – als Aggression. Stärker politisch gewendet, spricht man von ‐ berechtigter oder unberechtigter – Empörung – doch steht hier das Urteil über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Vordergrund, nicht die emotionale Dynamik, mit der sie sich äussert. Wenn etwas empörend ist, kann es rational aufgezeigt werden. Aggression finden wir problematisch, für Empörung haben wir zumindest Sympathie. Wir sehen, es gilt eine Vielzahl semantische Feinheiten zu berücksichtigen zwischen Begrifflichkeiten – Zorn, Wut, Empörung, Hass, Ärger, Rage ‐ die eng beieinander liegen und doch jeweils spezifische Aspekte dieses Affekts fassen. Hass gilt „fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ‚gerecht‘ sein“6 schreiben Landweer und Demmerling in ihrer Philosophie der Gefühle. Wir erkenne hier eine Abstufung oder Typologisierung … a) hinsichtlich Intensität des Affekts: haben wir es mit einem plötzlichen Ausbruch, einem schwelenden Zustand oder einer aggressiven Grundstimmung zu tun? Zorn wird pathologisch in der Form des Amoklaufs, einer Art affektiver 5
Norbert Elias (1997) Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1. Suhrkamp: Frankfurt a.M., S.369 ff. Hilge Landweer, Christoph Demmerling (2007) Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart: Metzler, S. 289. 6
4 Explosion. Amok ist die Inkarnation von Wut und Rachsucht, die sich in Wahllosigkeit und Masslosigkeit Bahn bricht – wir denken an den Amokläufer, der blindwütig auf Lehrer und Mitschüler(inn)en schiesst. b) hinsichtlich seiner zeitlichen Dynamik (Aufwallung, Anschwellen): Welchen Verlauf nimmt ein Wutausbruch? Wie wird er wieder gebannt, eingehegt? Oder bleibt er gar unterdrückt, unterhalb der Oberfläche und schwelt weiter? Und auch: warum führen Ausgrenzungen, Ehrverletzungen in manchen Situationen zu Aufbegehren, in anderen zu Resignation (und stillem Zorn)? c) hinsichtlich seiner moralischen Sittlichkeit oder sozialen Akzeptanz: Wann erscheint jemand als Bandit und wann als Rebell? Hier zeigt sich die Verbindung von Affekt mit sozialer Anerkennung: in den antiken Helden – oder den mittelalterlichen Rittersagen war Zorn noch ein Ausdruck von Edelmut, von Heroismus. Waren diese Zornesausbrüche unkontrollierte Affekte oder doch eher kommunikative Rituale?7 Und ist die skizzierte Zornesverachtung der zivilisierten Gesellschaft eventuell nur ein Mythos westlicher Theoretiker? Vielleicht auch ein kulturkritischer Affekt gegen postheroische Verweichlichung, wie er wieder en vogue ist im Anschluss an Ernst Jünger, Oswald Spengler und dergleichen konservative Denker? Sicher gälte es hier auch die Beziehungsgefüge zwischen Zorn und Angst, Zorn und (Un‐) Sicherheit zu explizieren. Hans Magnus Enzensberger zeichnet den Zorn der Verlierer nach, die, so Enzensberger, einen molekularen Bürgerkrieg im Westen entfacht haben. Damals, 1992, als er sein Essay schrieb, konnte selbst ein Enzensberger 9/11 nicht vorausahnen; deshalb bezog er sich noch auf die Gewalt in den Pariser banlieues. Doch Enzensberger legte nach: 2005 erschien Schreckens Männer – ein Versuch über den radikalen Verlierer, der als finale Inkarnation in der Form des Selbstmordattentäters gipfelt.8 Zorn wird oft geboren aus einem Gefühl der Unsicherheit, der Angst heraus – es ist, wie Enzensberger aufzuzeigen sucht, der Zorn der Verlierer, nicht mehr der heroische Zorn der Ritter. 7
Gerd Althoff. Hans Magnus Enzensberger (1992) Aussichten auf den Bürgerkrieg. Suhrkamp: Frankfurt a.M.; Hans Magnus Enzensberger (2006) Schreckens Männer: Versuch über den radikalen Verlierer. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 8
5 Und schliesslich: der Begriff „Volkszorn“ – Volk und Zorn. Wir erinnern uns an Frank A. Meyer’s Diktum vom „Zorn der kleinen Leute“. Betrachtete Enzensberger noch den individuellen Zorn, der sich dann im Attentäter potenzierte, gibt es auch das Phänomen des Zorns als Massenveranstaltung. Stuttgart 21 kommt einem in den Sinn. Der geballte bürgerliche Zorn scheint sich hier in der schwäbischen Hauptstadt zu artikulieren. Oder die Tea Party, die von der amerikanischen Publizistin Kate Zernike als Wut‐Partei bezeichnet wird. Das Paradox an diesem Phänomen ist, dass sich eine Ansammlung radikaler Libertärer, Individualisten, einem kollektiven Zornexzess hingeben. Der Zusammenhang zwischen Zorn und Volk impliziert eine semantische Konnotation zur Masse als Macht – Elias Canetti lässt grüssen: versteht man unter einer Menge noch eine Ansammlung von Menschen ohne weitere Wertung, so bezeichnet Masse eine grössere Zahl von Menschen, die, wenn auch nur vorübergehend, durch eine verbindende Leidenschaft, eine Erregung, eine Hoffnung, ein Augenblicksziel zu einer Einheit zusammengeschlossen wird – eine kollektive Subjektivität auslebt.9 Dies lässt uns mit einigen phänomenologischen Fragmenten zurück: erstens, wer sind die Zornigen? Sind es die Helden oder die Verlierer – oder einfach die vielbeschworene „Mitte“, die den Sinn für das Mass verloren hat, ihre Geduld mit den demokratischen Verfahren? Wir finden Anzeichen eines Zorns der gesellschaftlichen Verlierer (banlieues) ebenso wie bürgerlichen Zorn (Stuttgart 21). Ist Zorn ein individueller oder ein kollektiver Affekt? Während Enzensberger den zornigen Verlierer (in der Einzahl) beschreibt, der sich terroristischen Gruppen anschliesst, die wiederum Einzeltaten durchführen – oder der Amokläufer als Individuum agiert, fasziniert uns auch die kollektive Manifestation von Zorn in Form von Massenprotesten, in denen ein Kollektiv in Leidenschaft verbunden ist und eine ganz eigene Subjektivität zu entwickeln scheint. Hier vermischen sich Aspekte einer Individual‐ und Sozialpsychologie mit Fragen des Politischen und des Sozialen. Es besteht eine gewisse Gefahr der Psychologisierung von Protest, Amok oder Attentat. Auch müsste die diskursive Aufladung und Verstärkung von Emotionen und Affekten durch die Mediengesellschaft berücksichtigt werden. 9
Ernesto Grassi (1956) Masse: Enzyklopädisches Stichwort. – In: José Ortega y Gasset ([1930] 1956) Der Aufstand der Massen. Rowohlt: Reinbek, S. 142‐146. 6 Dies bringt mich zu einem sehr grundlegenden Punkt: Natürlich können wir die diskursive Konstruktion von Zornphänomenen oder den politischen Phänomenen, die Zorn auslösen, untersuchen. Mit einer rein diskursiven „Brille“ können wir aber nicht die ganz eigene Dynamik von Zornesausbrüchen, individuell und kollektiv, und ihre Auswirkungen auf politische Dynamiken verstehen. Wir können erst dann wieder die diskursive Brille aufsetzen, wenn diese Dynamiken in die Diskurse der Mediengesellschaft – als Repräsentation – aufgesogen wurden. Dazwischen bleibt aber eine Erkenntnislücke bestehen, weshalb ich glaube, dass die Politische Geographie sich für politisch‐
psychologische Ansätze öffnen sollte, z.B. Ansätze, die sich mit den Geographien des Affektes auseinandersetzen. [Da bin ich selbst über mich erstaunt – als Advokat eines “affective turns“ in der Politischen Geographie!] III. Ich möchte nun drei Arbeiten diskutieren, die eher essayistisch eine politisch‐
psychologische Grammatik zur Analyse verschiedener Facetten des Zorns als politisches Phänomen angelegt haben. Hans Magnus Enzensberger, den ich bereits erwähnt hatte, ist mit SchreckensMänner vertreten. Desweiteren Peter Sloterdijk mit Zorn und Zeit. Und schließlich Arjun Appadurai mit Geographie des Zorns. Die drei Werke beschäftigen sich vor allem mit dem Zusammenhang zwischen Zorn und Gewalt. Während wir dabei die Potenziale dieser Sichtweise sehen können, sollen auch deren Grenzen aufgezeigt werden. Für Hans Magnus Enzensberger ist es vor allem der Zorn des radikalen Verlierers, der sich in spektakulären, oft unerwarteten Gewalttaten entlädt: „Er schweigt und wartet ... Gerade deshalb wird er gefürchtet“ (S. 10). Nicht umsonst spricht man von „Schläfern“ und bezeichnet damit Selbstmordattentäter in Wartestellung. Besonders gefährlich wird der Verlierer dann, wenn er eine „Verliererheimat“ findet, „ein Kollektiv von seinesgleichen, das ihn willkommen heisst“ (S. 19), und ihm damit die Anerkennung verschafft, die er in der Gesellschaft – als Verlierer ‐ nicht findet. In dieser Verlierer‐Heimat „potenziert sich die destruktive Energie … in letzte Skrupellosigkeit ... und aus seiner Ohnmacht erlöst [den Verlierer] ein katastrophales Allmachtsgefühl“ (S. 7 19). Diese Verlierer‐Heimat unterscheidet den Einzeltäter vom islamistischen Selbstmordattentäter. Was Enzensberger als „Verlierer‐Heimat“ bezeichnet, mutiert bei Peter Sloterdijk zur Zornbank. Osama bin Laden wird zu einem erfolgreichen Konzernchef einer solchen Bank. Die Islamisten besetzen, so Sloterdijk, in der post‐kommunistischen Konstellation – nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ – die freigewordene Aufgabe der Zornrepräsentanz. Sie werden damit zu Erben der katholischen Kirche und des Kommunismus. Hatte die katholische Kirche den Zorn der Unterdrückten noch durch den angedrohten Zorn Gottes im Jüngsten Gericht gebündelt, versuchte der Kommunismus den Zorn auf den Kapitalismus zu lenken und wurde damit zu einer irdischen Agentur des Zornmanagements. Der politische Islam nimmt den Zorn der Unterdrückten wieder auf und formt ihn in ein übergreifendes Projekt, das als Bank die Zornkapitalien sammelt und das über die spontane Eruption von Zornaffekten hinausgeht. Damit steht der politische Islam am Ende eines permanenten Niedergangs der Bündelung des Ressentiments in der Form politischer Zornbanken. Christentum, die europäische Linke, der Kommunismus führten den Zorn der Benachteiligten in eine Sprache und Handlungsfähigkeit über. Die europäische Linke, so Sloterdijk, habe dieses Projekt aufgegeben, sich vom Image einer Zornrepräsentanz abgelöst. Doch auch dem politischen Islam traut Sloterdijk nicht zu, eine Weltoppositionsbewegung zu werden. Einer ganz anderen Artikulation des Zornes geht Arjun Appadurai nach: derjenigen der Mehrheit gegenüber einer Minderheit, die sich in ethnisch motivierter Gewalt und Pogromen gegen ethnische Minderheiten zeigen. Auch demokratische Gemeinwesen, so Appadurai, sind anfällig für die plötzlichen Ausbrüche von Zorn in Aggressionen. Appadurai’s Schauplatz ist die Gewalt hinduistischer Extremisten gegen die muslimische Minderheit in Nordindien, vor allem in seiner Heimat Mumbai, die sich unter dem Slogan hindutva vor allem in den 1990er Jahren anbahnte und von der damaligen indischen Regierung unter Führung der Bharatiya Janata Partei (BJP) angefeuert wurde. Für Appadurai ist es die fear of small numbers10, die Angst vor der kleinen Zahl, der Minderheit, die dazu führen kann, das numerische Mehrheiten gegenüber 10
So der Titel der englischen Originalausgabe: Arjun Appadurai (2006) Fear of Small Numbers: An essay on the geography of anger. Duke University Press, Durham und London. 8 kleinen Gruppen eine aggressive, ja mörderische Haltung einnehmen, „wenn bestimmte (zahlenmässig kleine) Minderheiten sie daran erinnern, dass es nur sehr wenige Menschen sind, deren Existenz sie daran hindert, ihren Status als Mehrheit zu dem eines unbefleckten, … makellos reinen nationalen Ethnos [auszubauen]“ (S. 21). In dieser Art Dialektik zwischen Mehrheit und Minderheit bleibt die Angst der Mehrheit, Minderheit zu werden, latent virulent, da die Mehrheit eben nur Mehrheit, aber nicht das Ganze des Gemeinwesens ist (Wenzel 2009, 41). Appadurai nennt dies die Angst vor der Unvollständigkeit und beruft sich auf Schriften des kanadischen Philosophen Michael Ignatieff, der mit Hilfe von Freud’s berühmten Beobachtungen zum „Narzissmus der kleinen Differenz“ die ethnischen Kämpfe auf dem Balkan zu erklären versuchte (Ignatieff 2000). Wie kommt es dazu, dass Völker, deren Sprachen, Geschichte und Identitäten über Jahrhunderte verwoben waren, „so viel Energie in ihren gegenseitigen Hass investierten“ (Appadurai, S. 100)? Für Appadurai zeigt die Geographie des Zorns in Südasien, wie sich „die Furcht vor kleinen Gruppen und deren Macht die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Dimensionen und Schauplätzen beeinflussen“ (S. 111, Betonung im Original), indem sie Massnahmen und ein geistiges Register erzeugt, „in dem Handel, Transport, Arbeit und Konsum Zug und Zug von einer Geographie des Krieges, der Sicherheitsbedenken, der Verbrechen und des Terrors überlagert wird“ (S. 117). Was Appadurai hier über die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan schreibt, trifft auch die Dynamik des sogenannten globalen Kriegs gegen den Terror nach dem 11. September 2001. Diese Geographien, so betont Appadurai, sind der „räumliche Niederschlag einer komplizierten Wechselwirkung zwischen entfernten Ereignissen und intimen Ängsten … [sie entspringen] der Sorge um das ewig unvollendete Projekt nationaler Reinheit“ (S. 118). Im Grunde handelt es sich bei allen drei Schriften um politisch‐psychologische Versuche (so auch der Untertitel von Sloterdijk’s Zorn und Zeit). Appadurai wendet die Sozialpsychologie Freud’s und seine Beobachtungen zum „Narzissmus der kleinen Differenzen“ auf „komplexe, kollektive, öffentliche Formen der Gewalt“ an, die zeigen, „wie narzisstische Wunden auf der Ebene öffentlicher Diskurse über Gruppenidentitäten ‚produktiv‘ werden und zur 9 Bildung jener aggressiven Identitäten anstacheln“ (S. 100). Auch Enzensberger bezieht sich auf Freud, wenn er dem common sense des Selbsterhaltungstriebes Freud’s Konzept des Todestriebes entgegenhält, als Motivationsschub für den radikalen Verlierer (S. 19). Peter Sloterdijk hingegen hält nicht viel von psychoanalytischen Figuren. Vielmehr kritisiert Sloterdijk die aus seiner Sicht herablassende Art, in der die Psychoanalyse Racheenergien auf einen Nebenschauplatz verschoben hätte, als Folge einer einseitigen Erotisierung der menschlichen Triebkräfte. Sloterdijk stellt dem eros den thymós, den zornbildenden Trieb, zur Seite – und korrigiert damit die Anthropologie der Psychoanalyse. Griechisch thymós heißt das Organ, das nach der Säftelehre der antiken Medizin für die zornige Aufwallung verantwortlich ist (Meller 2006, S. 28). Der Zorn erzeugt kulturbildende Symptome, wie Stolz, Ambition, Ehre, Selbstbehauptungswillen, wie sie in Homer’s Ilias besungen werden (Sloterdijk beginnt sein Buch mit einem Hinweis auf diese griechische Sage), aber eben auch zerstörerische Kräfte wie Empörung, Aggression oder Kampfbereitschaft. Die Pointe Sloterdijk’s ist, dass der Übergang von heroisch‐
kriegerischen zu (stadt‐) bürgerlichen Tugenden zur Domestikation des Zorns bzw. zum negativ aufgeladenen Bild des Zorns in unserer Gesellschaft führte. Wohin führen uns diese Überlegungen? Peter Sloterdijk’s zeitdiagnostische Konklusion ist, es gebe keine Weltoppositionsbewegung mehr, die als Zornbank fungieren könne. Deshalb sei auch der islamistische Fundamentalismus nicht in der Lage, das globale Zornpotential zu bündeln. Zwar gibt es das Verlierer‐
Kollektiv, aber es bleibt auf ein enges Klientel begrenzt. Andere Verlierer finden zu diesem Kollektiv keinen Zugang – und enden als Amokläufer, individualisierte Täter ohne politische Botschaft. Slavoj Žižek kritisiert Sloterdijk’s Denunziation des Ressentiments und seine Kritik an den linken Intellektuellen, dem Restbestand der ehemaligen Zornmanager (Žižek 2008, 159f.; vgl. auch de Beistegui 2009, Klauser 2009), doch scheint mir diese Debatte ein eurozentristisches Projekt elitärer Linker zu sein. Es mag global gesehen nicht genug Zornkapital geben, doch mehr als genug in den unterschiedlichen lokalen Welten des Politischen, wo, wie uns Appadurai, Spencer und andere zeigen, Zornmanager weiterhin ihren Einfluss ausüben, um den Zorn zu kanalisieren und für das Politische zu instrumentalisieren. Oder eben: Stuttgart 21. 10 IV. Man kann gegen alle drei politisch‐psychologischen Versuche einiges einwenden: Ohne begriffliche Trennschärfe verhandeln die drei Autoren ganz unterschiedliche Affekte: Stolz, Ehrgeiz, Groll, Hass, Frustration, Wut – und eben auch Mut. Der Übergang von akutem Affekt zu Haltung und Handlung bleibt undeutlich, ebenso die Dynamik kollektiver Emotionen, der Exzess kollektiver Rache und kollektiver Ausrottung. Auch widersprechen sich die drei Autoren in ihrer Analyse des Zeitgeistes: Für Sloterdijk können Empörung, Erregung und Zorn keinen gesellschaftlich wirksamen Zusammenhalt mehr generieren. Doch sitzt Sloterdijk hier einem Eurozentrismus auf, denn Appadurai’s Analyse der Gewalt in Nordindien, aber auch Michael Ignatieff’s Arbeiten zum Balkan zeigen ja gerade die sozialpsychologische Sprengkraft der Angst vor der Unvollständigkeit, wie Appadurai es nennt, auf. Empörung, der Zorn auf den Anderen, kann auf dem indischen Subkontinent und anderswo offensichtlich noch existentielle Zusammengehörigkeitsgefühle erzeugen. Enzensberger, Sloterdijk und Appadurai skizzieren unterschiedliche Ausprägungen des Zorns. Doch damit aus dem Affekt „Zorn“ ein politisches Phänomen der Gewalt wird – in der Form islamistischer Attentäter, in der Form ethnischer Gewalt usw. – muss der Zorn „gemanagt“, kanalisiert werden, müssen die erzürnten Körper und Geister in politisch instrumentalisierte Bahnen gelenkt werden. Der Gesellschaft gefährlich wird nicht der isolierte Amokläufer, sondern der in einer Verlierer‐Gemeinschaft sozialisierte Selbstmordattentäter, so Enzensberger. Diese Zornmanager massieren die eruptive Dynamik des Zorns und wenden sie gegen bestimmte Ziele. Das Bild einer zornigen Masse, die sich affektiv und spontan Luft verschafft in Form von Gewalt, ist irreführend. Und so findet auch Appadurai’s fear of small numbers nur dann fruchtbaren Boden, wenn dieser von politischen Unternehmern bestellt wird. Dies spricht gerade gegen eine kollektive Sozialpsychologie, die die affektive Entladung des Zorns im Begriff der Masse als Subjekt zeichnet, wie sie Elias Canetti in Masse und Macht beschreibt (Canetti [1960] 1980). 11 Ein kurzes Beispiel kann diesen Punkt verdeutlichen: Im Juli 1983 attackierten tamilische Rebellen in Jaffna im Norden Sri Lankas einen Militärkonvoi. Im Anschluss daran entstanden in verschiedenen Städten Sri Lankas Pogrome der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit gegen die tamilische Minderheit. Geschäfte wurden geplündert, Menschen auf offener Strasse getötet, gelyncht, verbrannt. Was die damaligen Machthaber als spontane Explosion aufgestauten Zorns der Mehrheit gegen eine anmaßende Minderheit nur widerwillig eindämmten, stellte sich als klug geplanter Exzess der Rache heraus: Mitnichten waren urplötzlich normale Bürger auf die Strasse gegangen, um ihrem Unmut Luft zu tun. Vielmehr hatten einflussreiche Politiker ihre eigenen Schlägertruppen versammelt – und den gefährlichen Cocktail an anti‐
tamilischen Affekten und Aggressionen angerührt. Diese Massenunruhen und Pogrome sind in Südasien, wie wir auch von Appadurai und anderen wissen, kein isoliertes Phänomen. Für Elias Canetti ist die Masse das von Affekten geleitete Gebilde, in dem der Verlust der Individualität als befreiender Akt empfunden wird. Durch diese Solidarisierung, so Canetti, werde das Andersartige der Welt „dort draussen“ umso bewusster – und generiere die „Zerstörungssucht“ der Masse. Doch ist es irreführend, aus dem beobachteten Phänomen „Massenunruhen“ den Massen selbst eine Art intentionale Handlungsmacht zuzuordnen, argumentiert der Anthropologe Jonathan Spencer (2007, S. 133). Zwar brauchen politische Unternehmer die oft durch sie selbst genährten Affekte, wie Zorn, Rachegelüste, oder Appadurai’s Angst der Unvollständigkeit. Zu spontanen Eruptionen des Zorns gegen die Anderen wird es jedoch nur durch gezielte unternehmerische Handlungen kommen. Spencer beschreibt die Gewaltexzesse von 1983 als „irreducibly political“ (S. 17), doch dies in einem zweifachen Sinn: das Politische, so Spencer, ist sowohl produktiv als auch destruktiv. Durch die Gewalt gegen den Anderen kann gerade Solidarität und Identität geschaffen werden – und ähnliche Dynamiken zeigen sich in den Formen der Massendemokratie in Südasien in unterschiedlichsten Konstellation; man denke nur an Appadurai’s Beispiele aus Mumbai. V. 12 An diesen Punkten eröffnet sich ein spannendes Forschungsfeld für die Politische Geographie: Die politische Dynamik der Affekte kann nicht nur durch diskursive Grammatiken erklärt werden, nicht nur auf der Ebene der Repräsentationen, sondern auch durch die Ontologie der Affekte. Chantal Mouffe hat in ihrem Pamphlet Über das Politische [On the Political] (Mouffe 2009 [2005]) im Anschluss an Carl Schmitt die Ontologie des Freund‐Feind‐
Denkens und seine affektive Wirkkraft in der Arena des Politischen herausgestellt – und so das Wiedererstarken des Rechtspopulismus in Europa erklärt. Nigel Thrift schreibt zu den turbulenten Leidenschaften der affektiven Räumen politischer Performanz (Thrift 2008, S. 220ff.; kritisch hierzu: Barnett 2008). Nicht nur Zorn, auch Angst ist ein Affekt, der derzeitige Geo‐ und Sicherheitspolitik antreibt (Pain 2009). Die spezifische Wirkkraft der Affekte bildet, so suggerieren diese Analysen, eine ganz eigene Dynamik, die von der Rationalität politischer Diskurse abgekoppelt scheint. Und dennoch: Zorn allein (im Sinne eines kollektiven Affektes) regiert nicht die Welt. Es braucht auch die cleveren Zornmanager, die den Zorn erst politisch werden lassen – und die sich nicht allein von Affekten steuern lassen. Dies ist die Paradoxie einer Geographie des Zorns. Es bleibt noch viel zu tun: Eine einseitige psychologisierende Verengung, wie sie bei Sloterdijk – und teilweise auch Appadurai ‐ angelegt ist, gilt es zu vermeiden. Wut, Zorn, Rachsucht, Empörung, Hass – all diese Affekte können historisch und kulturell ganz unterschiedliche Gestalten annehmen. Tiefenpsychologische Deutungsmuster sollten das Politische und das Soziale nicht ersetzen, und doch steht eine Klärung der Beziehungsgefüge zwischen diesen Sphären noch aus. Sicher, werden diese Affekte jenseits ihrer diskursiven Repräsentation analytisch gefasst, wird eine Art performative turn vollzogen, sollten wir nicht hinter die Errungenschaften des cultural turn und der mit ihm verbundenen turns zurückbleiben (linguistic, spatial). Gleichzeitig wird es auch Zeit, dass in der deutschsprachigen Politischen Geographie über die Grenzen des cultural turn offensiv diskutiert wird – und eben auch das begrenzte Konzept von agency, das, wie Matthew Hannah gezeigt hat, auf eine einseitige Interpretation von Foucault’s Schriften in der Humangeographie zurückgeht. Das Politische lässt sich eben nicht nur diskursiv fassen, nicht nur aus hegemonialen Leitbildern und Ordnungen des othering erklären. Zwar 13 können wir Zorndiskurse analytisch fassen, aber diese Untersuchung sagt uns wenig oder nichts, wie Zorn als Affekt etwas bewirkt, z.B. im Sinne von Handlungen von Individuen in ihrer materiellen Körperlichkeit, oder wie Zorn kollektive Dynamiken verstärkt im Sinne von Elias Canetti. Drei Punkte möchte ich abschliessend skizzieren: Erstens: Diskurse und Praktiken bedingen sich gegenseitig. Jonathan Spencer erinnert uns daran, dass Politik als Praxis sowohl eine Imaginationskraft entwickelt – was wir alles von „der Politik“ erwarten – als auch spezifische soziale Praktiken, die diese normativen Imaginationen selten widerspiegeln. Und dies betrifft eben nicht nur „die Politiker“, sondern auch „den Bürger“, der z.B. Steuern hinterzieht, aber bei Korruptionsfällen laut aufschreit. Spencer zeigt dies für Sri Lanka auf, wo es immer noch hohe (normative) Erwartungen an „die Politik“ gibt, und gleichzeitig viele sich an dem verpönten Patronagesystem beteiligen, sobald es ihnen Vorteile bilden. Diese Praktiken lassen sich diskursiv nur vage abbilden. Gleiches gilt für die sogenannten „Zornmanager“ – wie sie Sloterdijk nennt – und ihre oft eng gewebten Netzwerke, die zur Instrumentalisierung kollektiver Affekte und Diskurse genutzt werden. Beides ist wichtig: die Diskurse der Ausgrenzung, der Wut und die sozialen Praktiken und Mechanismen, die erklären können, wie solche Diskurse das konkrete Handeln von Akteuren beeinflusst, wie es kollektiv geteilte Affekte schafft (wenn überhaupt) oder wie solche Affekte „organisiert“ werden. Zweitens sollte eine einseitige Verengung auf negativ empfundene Leidenschaften vermieden werden. Gerne wird über Wut, Hass, Zorn geschrieben, aber selten über Freundschaft, Empathie, Mitleid, Grosszügigkeit und deren transformativen Potenziale. Carl Schmitt’s Definition des Politischen im Freund‐Feind‐Denken, das von Chantal Mouffe aufgegriffen wird, ist eben eine ontologisierende Setzung (Barnett 2008). Ebenso könnte man die progressiven, transformativen Elemente affektiver Aufladung normativ reflektieren: wie ist Wandel möglich, wenn nicht auch durch die affektive Aufladung normativer Debatten? Rationale Argumente treten neben emotionale, mobilisierende Register des Überzeugens. Politik ist, wie Michael Walzer schreibt, Vernunft und Leidenschaft! 14 Drittens lassen sich aus den gegenwärtigen Wut‐ und Zorndiskursen einige grundlegende Fragen an demokratische Verfahren und Rituale stellen. Oft resultiert dies in einer Gegenüberstellung von Legalität versus Legitimität. Wir sollten uns hierbei bewusst sein, dass diese Frontstellung auf Carl Schmitt zurückgeht, der bekanntlich kein Freund der Demokratie, sondern vielmehr einer Diktatur war. Auch helfen Gegenüberstellungen von „Volk“ bzw. „Bürger“ versus „Politiker“ oder „Elite“ wenig, da hier nur grobe Sozialraumcontainer geschaffen werden. Bei den öffentlichen Artikulationen kollektiven Zornes, wie ihn die politische Elite, leicht irritiert so scheint mir, in Stuttgart beobachtet, geht es um das Recht auf Rechtfertigung (Forst) und das Recht auf Anerkennung (Honneth) – um zwei Begrifflichkeiten der neueren Frankfurter Schule aufzugreifen. Aber ebenso können die demokratischen Verfahren dieses Recht für sich in Anspruch nehmen: Auch sie haben ein Recht auf Rechtfertigung gegenüber denjenigen, die jetzt Verfahren in Zweifel ziehen. Und dann kommen eben neben den Affekten doch wieder die Argumente ins Spiel, wie wir bei der Vermittlungsaktion Heiner Geisslers beobachten können. Zorn als kollektiver Affekt ist stark im dagegen – und welche Affekte bringen eher ein „dafür“ oder „wohin“ hervor? Stuttgart 21 ‐ geht es hier nur um einen Bahnhof in der schwäbischen Hauptstadt oder um „Deutschland 21,“ wie in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war? Warum, so könnte man fragen, genau jetzt – und nicht schon früher? Zorn, so Joseph Vogl, ist ein auflösender Affekt, der kategoriale Begrenzungen in Frage stellt.11 Zorn könnte zum Mechanismus des Öffnens werden, des Aufbrechens und Offenhaltens des Politischen, der politischen Verfahren. Vielleicht können wir dieses „21“ als ein Signum zeitgenössischer Aushandlungsprozesse des Politischen verstehen und dabei einige affektive Register des Zorns in der Politik beobachten. 11
.. paraphrasiert in: Harry Nutt (2010) Sehnsucht nach dem Volkszorn. – In: Frankfurter Rundschau, 10.5.2010. 15 

Documentos relacionados