Handout und Vortrag
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Handout und Vortrag
Ringvorlesung Blicke auf die Zeit Leibniz Universität Hannover PD Dr. Oliver Siebold (Universität Bielefeld) 9. Mai 2012 Zeit und Zeitreisen in der Science-Fiction Zu den Autoren Isaac Asimov (1920-1992) US-amerikanischer Science-Fiction-Autor und Wissenschaftsjournalist. Asimov, geboren in Weißrussland und mit seinen Eltern 1923 in die USA ausgewandert, erwarb den Doktortitel für Biochemie und arbeitete bis 1958 als Assistenzprofessor in Boston, bevor er sich für die Laufbahn als Schriftsteller entschied. Zu Asimovs bekanntesten Werken gehören der Foundation-Zyklus (ab 1951) und die RoboterGeschichten, in denen er unter anderem die berühmt gewordenen ‚Drei Gesetze der Robotik‘ entwickelte. Der Roman The End of Eternity erschien 1955. Stephen Baxter (1957) Englischer Science-Fiction-Autor. Baxter ist promovierter Ingenieur und lehrte Mathematik, Physik und Informatik, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde. Er gilt als bedeutender Vertreter der so genannten hard SF. Bekannte Werke sind der Xeelee-Zyklus (ab 1991) und der Roman Time Ships (1955). Ray Bradbury (1920) US-amerikanischer Science-Fiction-Schriftsteller und Drehbuchautor. Bradbury hatte als freier Schriftsteller früh Erfolg. Zu seinen bekanntesten Werken gehören The Martian Chronicles (1950) und Fahrenheit 451 (1953). Umfangreich ist auch Bradburys Schaffen im Bereich der Kurzgeschichte. „A Sound of Thunder“ erschien 1952. Michael Crichton (1942-2008) US-amerikanischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Crichtons bekanntester Roman ist Jurassic Park (1990), der, wie viele andere seiner Werke, erfolgreich verfilmt wurde (1993). Das gilt auch für Time Line (1999), verfilmt 2003. Robert A. Heinlein (1907-1988) US-amerikanischer Science-Fiction-Autor. Heinlein musste, gesundheitlich bedingt, eine Karriere bei der Marine abbrechen, bevor er zu schreiben begann. Heinlein gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des ‚goldenen‘ und ‚silbernen Zeitalters‘ der amerikanische Science-Fiction. Zu seinen wichtigsten Romanen gehören Starship Troopers (1959) und Stranger in a Strange Land (1961). Erfolgreich waren auch Heinleins Kurzgeschichten. Der Zeitreise-Klassiker „All You Zombies“ erschien 1958. Stanisław Lem (1921-2006) Polnischer Science-Fiction-Autor, Essayist und Philosoph. Lem studierte Medizin, praktizierte jedoch nie als Arzt. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Die Sterntagebücher des Weltraumfahrers Ijon Tichy (1957), Solaris (1961), Kyberiade (1965) und Die Stimme des Herrn (1968). In seiner Essaysammlung Phantastik und Futurologie (1970) entwickelt Lem Theorien zur Science-Fiction und übt zugleich heftige Kritik an eskapistischen und irrationalistischen Tendenzen des Genres. Herbert George Wells (1866-1946) Englischer Science-Fiction-Autor. Wells arbeitete in verschiedenen Berufen, zum Beispiel als Apothekergehilfe oder Lehrer, bevor um die Jahrhundertwende sein Erfolg als Schriftsteller begann. The Time Machine. An Invention (1895) gehört zu seinen bedeutendsten Werken, wie auch The War of the Worlds (1898) oder The Island of Dr. Moreau (1896). Literaturempfehlungen Clute, J. & Nicholls, P. (Hg.) 1993. The Encyclopedia of Science Fiction. New York. Eco, U. 1988. Die Welten der Science Fiction. In: Eco, U. Über Spiegel und andere Phänomene. München; Wien. 214-222. Innerhofer, R. 2008. Science Fiction – Glanz und Elend eines Genres. In: Der Deutschunterricht 2/2008. 2-12. James, E. 1994. Science Fiction in the Twentieth Century. Oxford; New York. Lehnert-Rodiek, G. 1987. Zeitreisen. Untersuchungen zu einem Motiv der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Rheinbach-Merzbach. Lem, S. 1984. Phantastik und Futurologie. Bd. I. Frankfurt am Main. Nagl, M. 1981. Science Fiction. Ein Segment populärer Kultur im Medien- und Produktverbund. Tübingen. Schlobinski, P. & Siebold, O. 2008. Wörterbuch der Science Fiction. Frankfurt am Main. Siebold, O. 2000. Wort–Genre–Text. Wortneubildungen in der Science Fiction. Tübingen. Suerbaum, U., Broich, U. & Borgmeier, R. 1981. Science fiction: Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild. Stuttgart. Vaas, R. 2010. Tunnel durch Raum und Zeit. Von Einstein zu Hawking: Schwarze Löcher, Zeitreisen und Überlichtgeschwindigkeit. 4. Aufl. Stuttgart. Ringvorlesung Blicke auf die Zeit Leibniz Universität Hannover PD Dr. Oliver Siebold (Universität Bielefeld) 9. Mai 2012 Zeit und Zeitreisen in der Science-Fiction Die Science Fiction hat die Themen Zeit und Zeitreise immer wieder aufgegriffen und aus unterschiedlichen Perspektiven literarisch gestaltet. Der polnische ScienceFiction-Autor Stanisław Lem, Vor- und Querdenker des Genres, hat in seiner Essaysammlung „Fantastik und Futurologie“ die Zeitreise sogar als „das ausschließliche Eigentum der Science Fiction“ (Lem 1984:333) bezeichnet, das sie, zumindest im Bereich der Literatur, mit niemandem teile. Im selben Atemzug geht Lem mit der Zeitreiseliteratur hart ins Gericht und wirft ihr eine ausgeprägte eine Tendenz zum „antiproblematischen Eskapismus ins Abenteuer“ (ebd.:322) vor: Über ihrer Domäne scheint ein merkwürdiges Fatum zu schweben, das dazu führt, daß Schriftsteller mit höchsten Ambitionen und zugleich erstaunlichem Talent […] wohl bisweilen konzeptuelle Mittel, die die Science Fiction schuf, hervorragend einsetzen, aber nicht mit dem Ziel, die Gattung zu veredeln und sie dem „optimalen“ Pol der Literatur zuzuführen. Sie […] betrügen […] mit jedem Schritt den programmatischen Realismus der SF zugunsten des Irrationalismus, denn ihre Fähigkeiten, ihre künstlerischen Talente werden intellektuell inadäquat begleitet. (ebd.:331) Ganz anders liest sich dagegen, was Umberto Eco über den Wesenskern der Science Fiction schreibt: In diesem Sinne ist jede wissenschaftliche Operation – und ich denke dabei nicht nur an die Naturwissenschaften, sondern auch an die Hypothesen des Psychoanalytikers, des Detektivs, des Philologen, des Historikers – am Anfang ein hoch angesetztes Science-Fiction-Spiel. Umgekehrt stellt jedes Science-Fiction-Spiel eine besonders gewagte Form von wissenschaftlicher Konjektur dar. (Eco 1988: 220) Was also ist Science Fiction – Eskapismus mit Hang zum Irrationalen oder womöglich eine Verwandte der Wissenschaft, wenn vielleicht auch eine etwas unvorsichtige? Beide Positionen haben etwas für sich. Gemeinsam stecken sie ein Spannungsfeld ab, in dem der Großteil der Science Fiction operiert. Sie ist Kommerz und Entertainment, Sprachkunst und Vision, und in vielen ihrer Werke ist sie all das zugleich. Das gilt nicht minder für die Zeitreiseliteratur als eine ihrer prominentesten Spielarten. Ich werde auf die Positionen von Lem und Eco noch zurückkommen. Wie die Science Fiction insgesamt ist die Zeitreiseliteratur in ihrer Breite und Vielfalt schwer überschaubar. Ich möchte im Folgenden versuchen, diese Vielfalt ein wenig zu ordnen und in diesem Zusammenhang auch einige Stimmen aus der Zeitreiseliteratur selbst zu Wort kommen lassen. Dabei werde ich mich vor allem von folgenden Fragestellungen leiten lassen: 1. Welche Formen der Zeitreise gibt es? 2. Welche Auswirkungen haben Zeitreisen auf das Schicksal der Reisenden selbst, aber auch auf das der Menschheit, womöglich des gesamten Universums? Einen Schwerpunkt möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Frage legen, ob Zeitreisen den Verlauf der Geschichte verändern können. 3. Wie gelingt es, dem Leser gegenüber die Möglichkeit von Zeitreisen – wenigstens einigermaßen – plausibel darzustellen? Welche Rolle spielen zum Beispiel Bezugnahmen auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Spekulationen? Wie gelangt man in eine andere Zeit? Manchmal reicht es schon aus, dass uns jemand einen ordentlichen Hieb auf den Kopf verpasst. So geschehen in Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur's Court (1889). Als der Protagonist, Hank Morgan, aus seiner Ohnmacht erwacht, findet er sich im England des 6. Jahrhunderts wieder. Aus Sicht der modernen Zeitreiseliteratur kann so etwas freilich nur ein Notbehalf sein. Die Zeitreise im Koma gehört sicher zu den Varianten, die spätestens seit der Einführung der Zeitmaschine durch H.G. Wells im Jahre 1895 etwas antiquiert wirken. Auf Wells komme ich noch zurück. Damit Hank Morgan am Ende in seine Gegenwart zurückkehren kann, bedarf es im Übrigen einer weiteren Spielart der Zeitreise, nämlich die Zeitreise im Schlaf. Merlin persönlich versetzt Morgan in einen jahrhundertelangen Tiefschlaf. Beide Varianten, Ohnmacht und Schlaf, gehören zu einer Gruppe von Zeitreisemethoden, die Bewegungen durch die Zeit nur in eine Richtung erlauben, entweder in Vergangenheit oder in die Zukunft. Derartige Formen der Zeitreise werden auch als ‚eingleisige‘ oder ‚lineare Zeitreisen‘ bezeichnet. Es dominiert die Bewegung in die Zukunft, schon deshalb, weil die meisten dieser Methoden gar nichts anderes zulassen, wie eben der Schlaf. Im Grunde passiert uns das jede Nacht – wir gehen zu Bett und erwachen morgens in einer Welt, in der inzwischen viele kleine und gelegentlich größere Veränderungen vor sich gegangen sind. Die Zeitreiseliteratur macht sich dies zu Eigen, indem sie natürliche Schlafphasen auf medizinisch manchmal etwas fragwürdige Weise verlängert, auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Diese Art der Zeitreise hat eine lange und ehrwürdige Tradition. Man denke an die Siebenschläfer von Ephesus, an die Sage vom Kyffhäuser oder auch an Dornröschen. Das Zeitreisemotiv erscheint hier in ganz anders gelagerten literarischen Kontexten, die mit moderner Science Fiction nicht viel zu tun haben. Das mag auch noch für Washington Irving gelten, der seinen Rip van Winkle (1819) den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verschlafen lässt. Der modernen Zeitreiseliteratur schon deutlich näher steht Edward Bellamy, der in Looking Backward (1887) seinen Protagonisten Julian West in einem durch animalischen Magnetismus erzeugten kataleptischen Zustand vom Jahr 1887 ins Jahr 2000 schickt. Dort erhält West die Gelegenheit, sich intensiv mit der Verwandlung der Vereinigten Staaten in eine sozialistische Idealgesellschaft vertraut zu machen. Zustände herabgesetzter Lebensfunktionen, die durch technische Hilfsmittel – am beliebtesten ist das Tieffrieren – herbeigeführt werden, werden auch als ‚suspendierte Animation‘ bezeichnet. In Poul Andersons Kurzgeschichte „Time heals“ (1949) warten auf diese Weise unheilbar Kranke die Fortschritte der Medizin durch die Jahrhunderte ab. Obwohl auch eingleisige Zeitreisen schon vielfältige literarische Gestaltungsmöglichkeiten bieten, entfaltet die Zeitreiseliteratur ihr volles Potenzial doch erst mit der Aussicht auf eine Rückkehr der Zeitreisenden, also der Möglichkeit‚ aus der Vergangenheit oder Zukunft in die Gegenwart zurückzukehren oder sich zwischen beliebigen Zeiten hin- und herzubewegen. Auch das war bereits vor Wellsʻ Zeitmaschine praktikabel, und zwar durch eine Gruppe von Zeitreisemethoden, die unter dem Begriff ‚mentale Zeitreisen‘ zusammengefasst werden können. Zeitreisen im Traum sind rein imaginär. Echte Zeitreisen ermöglicht die Autosuggestion, wie in Jack Finneys Roman Time and again (1970). Besonders zeitreisebegabte Menschen können sich so fest einreden, in einer anderen Zeit zu leben, dass sie den Schritt dorthin irgendwann wirklich tun. Ebenfalls echte Zeitreisen kommen durch die so genannte Metempsychose zustande. In diesem Fall bewegt sich eine Person nicht in ihrer Gesamtheit durch die Zeit, sondern nur ihr Bewusstsein. Die Zeitreise ist dann auf einen Träger oder Wirt für dieses Bewusstsein angewiesen. Herbert Rosendorfer nutzt diese Möglichkeit in seinem Roman Stephanie und das vorige Leben (1977). Dass die Beispiele von Finney und Rosendorfer neueren Datums sind, zeigt im Übrigen, dass mentale Zeitreisen auch nach der Einführung der Zeitmaschine durch Wells durchaus eine Rolle spielen. Die effektivste Möglichkeit, die praktischen Probleme der Zeitreise zu lösen, stellt aber, wie schon angedeutet, die Zeitmaschine dar. H.G. Wells, eigentlich Herbert George Wells, hat sich hier, wie auch in anderen Belangen, als Vordenker erwiesen, von dessen Einfällen die Science Fiction auch heute noch gut lebt. Der Zeitreisende, wie Wells ihn einfach nennt, stellt die Zeitmaschine – zunächst nur im Modell – in privater Runde vor. Im weiteren Verlauf berichtet er von den Reisen mit seiner Zeitmaschine. Sie führen ihn in die Zukunft, zunächst ins Jahr 802 701, wo er den Eloi und den Morlocks begegnet, die ersten ätherische Wesen mit einer verfeinerten Kultur, die zweiten bedrohliche, unter der Erde hausende Monster. Der anfängliche Eindruck, die Eloi hielten die Morlocks als eine Art Sklavenkaste und beuteten sie aus, verkehrt sich jedoch ins Gegenteil: Die Morlocks halten die Eloi als Schlachtvieh, sie sind die wahren Herren. Die literaturwissenschaftliche Forschung zu Time Machine, die im Übrigen so umfangreich ist wie zu keinem anderen Text der Zeitreiseliteratur, hat gerade diesem Aspekt viel Aufmerksamkeit geschenkt, darf hierin doch eine beziehungsreiche literarische Verarbeitung der sozialen Konflikte im spätviktorianischen England gesehen werden. Auf der Flucht vor den Morlocks begibt sich der Zeitreisende schließlich noch viel weiter in die Zukunft, fast 30 Milliarden Jahre, und wird Zeuge einer sterbenden Welt, auf der es kein Leben mehr gibt, eine Welt des Schweigens und des Erlöschens. Die Evolution hat sich umgekehrt, sie ist zur Devolution geworden, ein Weg, auf dem auch die Eloi und Morlocks nur eine Zwischenstation waren. In diesem Ende mit Schrecken äußert sich nicht zuletzt Wells‘ intensive Auseinandersetzung mit den Theorien Charles Darwins. Es lohnt sich, kurz bei dieser Maschine selbst zu verweilen. In der Science Fiction wimmelt es mittlerweile von Zeitmaschinen aller Art. Doch wie sieht ihr Prototyp aus? Wells‘ eigene Darstellung hat Leser häufig an ein Fahrrad erinnert, was aus heutiger Sicht etwas antiquiert erscheinen mag. Immerhin handelt es sich ja um futuristische Hochtechnologie. Allerdings schickte sich das Fahrrad zu Wells‘ Zeit gerade erst an, sich zu einem Massenverkehrsmittel zu entwickeln, was dieser Anleihe aus zeitgenössischer Sicht doch eine gewisse Modernität verliehen haben mag. Wells betont außerdem, dass der Zeitreisende eine Konstruktion aus edlen Materialien gefertigt hat, wie Elfenbein, Nickel und Bergkristall. Doch was erfahren wir über ihre Funktionsweise? Der Zeitreisende selbst erläutert seinem Publikum das physikalische Grundprinzip: Kann ein Würfel, der keine Zeitdauer besitzt, eine materielle Existenz haben? […] Offensichtlich […] muß jeder feste Körper eine Ausdehnung in vier Dimensionen aufweisen: Er muß Länge, Breite, Höhe und - Dauer besitzen. […] Es gibt also vier Dimensionen: drei, die wir die Ebenen des Raums nennen, und eine vierte, die Zeit. (Wells 1895/1974:8) Die Dimensionen des Raums und die Zeit kategorisch voneinander zu trennen, ist, wie der Zeitreisende betont, eigentlich gegenstandslos, es gibt keinen Unterschied, außer einem, nämlich den Umstand, dass sich unser „Bewußtsein nun einmal von Anbeginn bis zum Ende […] entlang der vierten Dimension bewegt“, eben „entlang der Zeitlinie“ (ebd.). Diese Idee beansprucht der Zeitreisende keineswegs für sich: Die Wissenschaft weiß sehr gut, daß die Zeit nur eine Spielart des Raums ist. […] Erst vor einem Monat oder so hat Professor Simon Newcomb dies vor der New Yorker Mathematischen Gesellschaft dargelegt. (ebd.) Wells spielt hier auf den amerikanischen Mathematiker und Astronomen Simon Newcomb an, der in einem Aufsatz in der Zeitschrift Nature im Februar 1894 über die Möglichkeiten einer vierdimensionalen Geometrie spekuliert hatte. Während sich Newcomb in diesem Punkt als Visionär erwies, lag er, das sei am Rande vermerkt, in anderen Fragen völlig falsch. So hatte er, ebenfalls um diese Zeit herum, auch die Ansicht vertreten, dass Objekte, die schwerer als Luft sind, niemals würden fliegen können. Das haben die Gebrüder Wright kurz darauf widerlegt. Was seine Ideen über die Struktur von Raum und Zeit betrifft, gehört Newcomb, wie Ernst Mach und andere Wissenschaftler seiner Zeit, zu den Wegbereiteren der modernen Physik. Ein radikal neues Verständnis von Zeit und Raum lag zur Entstehungszeit von Time Machine bereits in der Luft, auch wenn zu betonen ist, dass Wells mit Ansätzen dazu bereits spielt, Jahre bevor es durch die Arbeiten von Einstein seinen endgültigen Durchbruch erlangt. Doch wenn nun die Zeit sich von den Dimensionen des Raums nicht wesentlich unterscheidet, [W]arum sollte er [der zivilisierte Mensch] nicht hoffen, daß er auch einmal imstande sein werde, sein Getriebenwerden entlang der Zeitdimension anzuhalten oder zu beschleunigen und sogar umzukehren und in die entgegengesetzte Richtung zu wandern? […] Vor langer Zeit hatte ich eine vage Vorstellung von einer Maschine […] die ungehemmt in jede Richtung des Raumes und der Zeit fährt, wie es ihr Führer bestimmt. (ebd.:11) Aus dieser „vagen Vorstellung“ entstand die Zeitmaschine, aber wie sie genau funktioniert, ist auch etwas vage geblieben. An dieser Stelle möchte ich einige grundlegendere Schlussfolgerungen aus der Darstellung der Zeitmaschine bei Wells ziehen. Bestimmte Verfahren der Science Fiction im Allgemeinen und der Zeitreiseliteratur im Speziellen sind bei Wells bereits angelegt und seit dem immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt worden. Die Möglichkeit der Zeitreise wird bei Wells durch den Rückgriff auf zeitgenössische wissenschaftliche Theorien und technische Entwicklungen legitimiert, was, wie in diesem Fall, damit einhergehen kann, dass bedeutsame Wissenschaftler namentlich genannt oder ihre Ideen im Text explizit erläutert werden. Ein beliebter Kunstgriff ist es, solche Erklärungen einer Expertenfigur in den Mund zu legen, wie bei Wells dem Zeitreisenden. In manchen Texten nimmt die explizite Darstellung wissenschaftliche Theorien noch sehr viel mehr Raum ein als bei Wells. Die Science Fiction trägt damit auch zur Popularisierung dieser Theorien bei, obwohl ein ausgesprochen didaktischer Zug zur Verbreitung wissenschaftlicher und technischer Kenntnisse, wie er die frühe Science Fiction mitgeprägt hatte, inzwischen etwas aus der Mode gekommen sein mag. Ein jüngeres Beispiel für einen Text, aus dem der Leser viel über moderne physikalische Theorien lernen kann, ist Michael Crichtons Roman Timeline, auf den ich noch zu sprechen komme. In anderen Texten der Zeitreiseliteratur beschränken sich Bezüge zu wissenschaftliche Theorien auf Andeutungen oder sie bleiben ganz implizit. Im Zusammenhang mit alternativen Formen der Zeitreise, etwa der Zeitreise im Schlaf, wird die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Legitimation oft gar nicht gesehen, obwohl die Frage sicher berechtigt wäre, wie ein Rip van Winkle zwanzig Sommer und vor allem zwanzig Winter ohne Schutz und medizinische Betreuung in einem nordamerikanischen Gebirgswald einfach verschlafen kann. Zumindest muss man niemandem erklären, was Schlaf ist. Die Zeitmaschine ist dagegen keine Selbstverständlichkeit und erfordert in dieser Hinsicht offenbar einen größeren Aufwand. Aber sie ist, wie schon angedeutet, auch keine Erfindung aus dem Nichts. Ihr Erscheinen gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist vielleicht kein Zufall, zu einer Zeit, in der sich die Maschine zum Symbol einer ganzen Epoche der kulturellen Entwicklung erhob und zugleich die physikalischen Grundlagen von Raum und Zeit neu definiert wurden. Gerade deshalb liegt es für Wells nahe, die Funktionsweise der Zeitmaschine so weit auszuarbeiten, dass sie aus der Sicht des zeitgenössischen, und das heißt eben oft auch an Wissenschaft und Technik interessierten Lesers wenigstens ansatzweise plausibel erscheinen kann. Ganz ähnlich hat die Zeitreiseliteratur nach Wells, wie die Science Fiction überhaupt, immer wieder auf wissenschaftliche Theorien zurückgegriffen, um ihr Potenzial spekulativ weiterzudenken oder zumindest ihre Autorität als Legitimation für das vermeintlich Unmögliche zu nutzen. Insofern kann die Science Fiction, um noch einmal auf Umberto Eco zurückzukommen, tatsächlich als eine etwas unvorsichtige und verspielte Verwandte der Wissenschaft gelten. Science-Fiction-Autoren haben manch eine wissenschaftliche Idee sogar vorweggenommen und es ist kein Einzelfall, dass Wissenschaftler gelegentlich die Seiten tauschen und selbst Science Fiction schreiben. Doch wie Stanisław Lems eingangs zitierte Generalkritik auch verdeutlicht hat, stehen mitunter ganz andere Absichten im Vordergrund, etwa die, den Leser durch bunte Abenteuergeschichten nach bewährten Rezepten der Spannungsliteratur zu unterhalten und ihn durch technische Wunderwerke zu beeindrucken. Die Legitimation durch die Verarbeitung wissenschaftlicher Theorien wird dann als überflüssig betrachtet oder allenfalls oberflächlich hergestellt. Es reicht schon aus, ein paar wissenschaftlich oder technisch konnotierte Pseudofachwörter im Text zu platzierten, um die Autorität der Wissenschaft auf den Plan zu rufen, im Vertrauen darauf, dass der Leser schon die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen wird. Man deutet einfach an, dass die Zeitmaschine nach der CTC-Technologie funktioniert oder vor ihrer Inbetriebnahme ein EMR-Check durchgeführt werden muss. Nähere Erklärungen werden stillschweigend übergangen oder durch Kommentare vermieden wie ‚Das würde jetzt zu weit führen‘ oder ‚Dafür haben wir keine Zeit mehr‘. Ich möchte aber ausdrücklich festhalten, dass auch die anspruchsvollere Zeitreiseliteratur nicht notwendigerweise erklären muss, wie eine Zeitmaschine funktioniert, wenn sie eigentlich andere Akzente setzen möchte, und dass aufwändige Erklärungsversuche in dieser Hinsicht auch nicht automatisch eine gute Zeitreisegeschichte ergeben. Mittlerweile verfügt die Zeitreiseliteratur über Zeitmaschinen in allen Formen und Größen, von eindrucksvollen technischen Anlagen wie dem Chronotron bei Wolfgang Jeschke bis zu der berühmten Polizeitelefonzelle in der britischen Fernsehserie Doctor Who, die innen größer ist als außen. Eine sehr leistungsfähige Maschine entwickelt Michael Crichton in seinem Roman Timeline, auf den ich im Folgenden etwas näher eingehen möchte, und zwar aus zwei Gründen. Erstens liefert er uns, genau genommen, noch eine weitere Form der Zeitreise, zweitens lässt sich an diesem Beispiel gut illustrieren, welche physikalischen Ideen und Modelle sich für die neuere Zeitreiseliteratur nach Wells als besonders ergiebig erwiesen haben. Ein leitender Angestellter des ICT-Konzerns, der die betreffende Technologie entwickelt hat, erklärt ihr Funktionsprinzip: „Wir schaffen Wurmlochverbindungen im Quantenschaum.“ „Sie meinen den Wheeler-Schaum? Subatomare Fluktuationen der Raumzeit?“ „Ja.“ (Crichton 2002:171) Der Begriff des Quantenschaums geht auf den amerikanischen Physiker John Archibald Wheeler zurück, der diese Bezeichnung 1955 geprägt hatte. Crichton erläutert seinem Leser sehr anschaulich, was unter Quantenschaum zu verstehen ist, „Kräuselungen und Blasen der Raumzeit“ (ebd.), wie es im Text heißt. Auch die Bezeichnung Wurmloch geht auf Wheeler zurück, hier verstanden als Mini-Wurmlöcher im Quantenschaum, die als Tore zu anderen Welten fungieren. Zeitreisen durch Wurmlöcher, also tunnelartige Verbindungen zwischen entlegenen Gebieten der Raumzeit, gehören eher zum neueren Inventar der Zeitreiseliteratur, obwohl sich erste Vorläufer hierzu schon in den 40er Jahren finden lassen. Wurmlöcher gelten jedoch mittlerweile nicht nur in der Science Fiction, sondern auch in der Physik zumindest prinzipiell als befahrbar. Kip Thorne und Michael Morris haben 1988 eine entsprechende Theorie vorgelegt, angeregt im Übrigen auch durch die Lektüre eines Science-FictionTextes, und zwar Carl Sagans Roman Contact. Allerdings sind mit Reisen durch Wurmlöcher erhebliche praktische Probleme verbunden, für deren Lösung auch wieder Maschinen benötigt werden. So sind die Mini-Wurmlöcher im Quantenschaum viel zu eng, um eine Person passieren zu lassen. Chrichton lässt seine Reisenden deshalb in Informationspakete umwandeln, mit Hilfe eines Supercomputers, der in der Lage ist, die ungeheure Menge an Daten, die einen Reisenden vollständig beschreiben, zu erfassen und so zu komprimieren, dass sie als eine Art Fax durch ein Wurmloch verschickt werden kann. Der Informationsscan erfolgt in einer käfigartigen Apparatur, die mitsamt dem Reisenden immer kleiner wird, bis sie durch das Wurmloch passt. Dass es dabei zu so genannten Transkriptionsfehlern kommen kann, der Reisende also unter Umständen pathologisch verändert zurückkehrt, verleiht dieser Art der Fortbewegung zusätzliche Brisanz. Was erwartet nun den Reisenden am anderen Ende des Wurmlochs? Die ICT-Technologie hat nichts zu tun mit Zeitreisen, zumindest nicht direkt. Was wir entwickelt haben, ist eine Art des Raumreisens. Um genau zu sein, wir verwenden die Quantentechnologie, um eine orthogonale Koordinatentransformation im Multiversum zu erzeugen. (ebd.:162) Crichton bezieht sich im weiteren Verlauf auch explizit auf die Viele-Welten-Theorie von Hugh Everett, der 1957 in seiner Dissertation die Idee formuliert hatte, dass unser Universum nur eines von vielen, parallel existierenden und sich verzweigenden Universen sei. Immer dann, wenn die Natur vor der Entscheidung zwischen zwei alternativen Zuständen stehe, spalte sich die Welt auf, in Welten, die sich gleichen, abgesehen davon, dass in jeder von ihnen einer der betreffenden Alternativzustände realisiert sei. Auf diese Weise werde alles, was möglich ist, auch Wirklichkeit. Everetts quantentheoretisch begründete Idee wurde bald auf größere Zusammenhänge übertragen und in dieser Form auch für die Science Fiction interessant. Bei Chrichton liest sich das so: Jedes dieser Universen verzweigt sich ständig, so dass es ein Universum gibt, in dem Hitler den Krieg verlor, und ein anderes, in dem er ihn gewann; ein Universum, in dem Kennedy starb, ein anderes, in dem er weiterlebte. Und auch eine Welt, in der man sich morgens die Zähne putzte, und eine andere, in der man es nicht tat. Eine Unendlichkeit von Welten. (ebd.:165) Unter diesen Welten, heißt es weiter, gebe es auch solche, die der unseren gleichen, wie sie in einer zurückliegenden Epoche der Geschichte ausgesehen hat, also zum Beispiel eine Welt, die immer noch so aussieht wie die im französischen Mittelalter zur Zeit des Hundertjährigen Krieges. Ein Reisender, der durch ein Wurmloch in diese Welt gelangt, erreicht also, genau genommen, keine andere Zeit in unserer Welt, sondern ein Paralleluniversum. Dennoch dürfte der Leser Chrichtons Roman als eine Zeitreisegeschichte lesen, zumal der Text über weite Strecken das Leben im Frankreich des ausgehenden Mittelalters sehr anschaulich wieder auferstehen lässt. Damit sind nur zwei wichtige Konzepte aus der theoretischen Physik genannt, die moderne Zeitreiseautoren inspiriert haben. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Die Idee des Multiversums führt uns jedoch auch schon weiter zu der zweiten Leitfrage, die ich meinen Ausführungen vorangestellt habe, die nämlich, welche Auswirkungen Zeitreisen auf den Verlauf der Zeit haben, oder anders formuliert, ob Zeitreisen den Verlauf der Geschichte verändern können. Denn es wäre ja vorstellbar, dass Zeitreisen für neue Verzweigungen des Multiversums sorgen und auf diese Weise neue, alternative Geschichtsverläufe hervorbringen. Es könnte auch sein, dass sich in einem Multiversum eines der ältesten Probleme der Zeitreiseliteratur, nämlich das so genannte Großvaterparadoxon, auf elegante Weise lösen lässt. Ich werde darauf zurückkommen. Zuvor möchte ich jedoch auf einige etwas klassischere Antworten der Zeitreiseliteratur auf die Frage nach der Veränderbarkeit von Geschichtsverläufen durch Zeitreisen eingehen. Die amerikanische Science Fiction des goldenen und silberne Zeitalters, also der dreißiger bis fünfziger Jahre, hat einen Typ von Zeitreisegeschichte hervorgebracht, der im weiteren Verlauf immer wieder kopiert oder auch in größere Darstellungszusammenhänge integriert wurde. Diese Texte sind in der Regel sehr kurz und zeichnen sich dadurch aus, dass sie die pointierte Darstellung möglichst komplexer Zeitschleifen regelrecht zu einer eigenen Kunstform erheben. Ich möchte das anhand der vielleicht bekanntesten Geschichte dieser Art verdeutlichen, und zwar Robert Heinleins „All You Zombies“, geschrieben an nur einem Tag im Juli 1958. Heinlein erzeugt auf wenigen Seiten Text eine Zeitschleife, die dazu führt, dass der Protagonist nicht nur sich selbst begegnet, sondern zugleich auch sein eigener Vater und seine eigene Mutter ist. Wie funktioniert das? Wir schreiben das Jahr 1980. Ein junger Mann betritt eine Bar. Der Besitzer der Bar hinter der Theke ist in Wirklichkeit ein Zeitagent, der den jungen Mann für den Dienst in seiner Organisation anwerben möchte. Der junge Mann ahnt davon nichts. Er beginnt, dem Zeitagenten seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dazu gehört, dass er ursprünglich als Mädchen geboren wurde und seine Kindheit im Waisenhaus zubringen musste, dass er, passend zu einem unsteten und unglücklichen Leben, 1973 ein flüchtiges Liebeserlebnis in einem Park hatte, mit einem Mann, der sich so schnell aus dem Staub machte, dass er kaum einen Eindruck hinterlassen konnte, dass er daraufhin ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hat, im Anschluss daran auf Anraten des behandelnden Arztes eine Geschlechtsumwandlung vornehmen ließ, dass kurz darauf seine Tochter aus dem Krankenhaus entführt wurde, der Täter jedoch nie gefasst wurde und dass der junge Mann nunmehr noch immer dabei sei, sich an das Leben mit dem neuen Geschlecht zu gewöhnen, was nicht zuletzt durch den immer noch gehegten Groll gegen den Vater seines Kindes erschwert würde. Der Zeitagent überrascht den jungen Mann mit dem Angebot, sich am Vater des Kindes zu rächen. Als Bedingung stellt er, dass der junge Mann im Anschluss daran seinen Job übernimmt. Er führt den jungen Mann in einen Nebenraum, wo schon eine Zeitmaschine bereit steht, und entführt ihn in das Jahr 1973. Hier drückt er dem jungen Mann et- was Geld in die Hand und schickt ihn auf die Suche nach dem Kindsvater. Er selbst reist noch einmal etwas in der Zeit nach vorn, ins Jahr 1974, entführt in einem Krankenhaus ein neugeborenes Mädchen und reist ins Jahr 1955, wo er das Baby einem Waisenhaus übergibt. Zurück im Jahr 1973, sucht er den jungen Mann auf, von dem er weiß, dass dieser soeben in einem Park ein kurzes Liebesabenteuer mit einer jungen Frau hatte – wir ahnen es, eben jenes Mädchen, das der Zeitagent eben noch im Waisenhaus abgegeben hatte. Dies ist zugleich der Moment der Wahrheit: „Das genügt, mein Junge“, stellte ich fest. „Ich hole dich jetzt ab.“ „Du!“ Er starrte mich an. „Ich. Du weißt nun, wer er [der Kindsvater] ist – und wenn du ein bißchen nachdenkst, kommst du auch darauf, wer das Baby ist … und wer ich bin.“ Er gab keine Antwort; er war ziemlich erschüttert. Es ist ein Schock, bewiesen zu bekommen, daß man der Versuchung, sich selbst zu verführen, nicht widerstehen kann. (Heinlein 1959/1971:114) Der Zeitagent lässt den konsternierten jungen Mann erkennen, wer all die Personen um ihn herum eigentlich sind, der Kindsvater, das Baby, der Zeitagent, er selbst – alles Versionen ein und derselben Person. Dem Zeitagenten bleibt nur noch, mit sich selbst als jungem Mann ins Jahr 1995 zu reisen, sich als Rekruten im Ausbildungslager für Zeitagenten abzuliefern, ins Jahr 1980 zurückzureisen und die Bar zu verkaufen, sich schließlich erneut ins Ausbildungslager, und zwar im Jahr 2003, zu begeben und sich ein wenig erschöpft ins Bett zu legen. Der Kreis ist geschlossen. Doch wer entführt, verführt und gebiert da eigentlich wen? Fraglos handelt es sich um Versionen ein und derselben Person. Der Zeitagent, der uns die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, weiß auch, dass die Personen, mit denen er umgeht, Versionen seiner selbst sind. Dennoch bleiben sie für ihn Fremde. Das subjektive Welt- und Zeiterleben eines Menschen als Teil seiner Identität ist durch Zeitreisen nicht hintergehbar. Der Zeitreisende erlebt sein Dasein immer in seinem Hier und Jetzt, selbst dann, wenn er in die Vergangenheit oder in die Zukunft reist, um dort sein eigenes Schicksal zu manipulieren. Der amerikanische Science-Fiction-Autor Robert Silverberg hat dafür das Bild der ‚drifting bubble‘ gefunden, einer durch die Zeit treibenden Blase des individuellen Bewusstseins, die den Zeitreisenden immer umschließt, auch wenn es sich noch so weit aus dem üblichen Verlauf der Zeit gelöst hat (vgl. Slusser & Chatelain 1995:168). Das Leben des Zeitagenten wird sich vom Jahr 2003 an fortsetzen, er wird altern und sterben, er muss, nachdem er seine eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschaffen hat, nicht wieder in die Zeitschleife zurück. Zugleich ist das jedoch nur möglich, weil andere Versionen seiner selbst, jede für sich eine autonome ‚drifting bubble‘, die Zeitschleife weiter in Gang halten. An seiner Stelle wird der junge Mann, nunmehr Rekrut im Ausbildungslager für Zeitagenten, in das Jahr 1980 reisen, dort hinter der Bar auf sich selbst warten und alles aufs Neue in Szene setzen. Der Zeitagent und all seine Versionen sind gefangen in einer kausalen Schleife ohne Anfang und Ende, er sieht sein Leben zu Recht als eine „Schlange, die immer und ewig ihren Schwanz verschlingt“ (Heinlein 1959/1971:116). Texte wie „All you zombies“ fordern die gewohnten Perspektiven des Lesers auf Kausalität und Identität heraus. Sie spielen offen mit Paradoxien, die auch in anderen Zeitreisegeschichten von Bedeutung sind, dort aber oft durch andere Elemente der Darstellung überlagert oder verschleiert werden. Das bekannteste Paradoxon dieser Art ist das so genannte Großvaterparadoxon: Was geschieht, wenn ein Zeitreisender in der Vergangenheit seinen eigenen Großvater tötet, bevor dieser den Vater des Zeitreisenden zeugen konnte? Der Zeitreisende wäre niemals geboren worden, er hätte die Zeitmaschine nicht gebaut, seine Reise in die Vergangenheit hätte nicht stattgefunden, der Großvater hätte weiter gelebt und den Vater, dieser den Zeitreisenden gezeugt, der Zeitreisende hätte die Zeitmaschine gebaut, wäre in die Vergangenheit gereist, hätte den Großvater getötet und so weiter. Der Zeitagent und seine Versionen bei Heinlein entgehen diesem Problem, weil sie nicht aus der Zeitschleife ausbrechen können. Könnten sie es doch, stünden wir wieder vor dem Großvaterparadoxon, in diesem Fall eigentlich einem Vater-Mutter-Kind-Paradoxon. Weil dem nicht so ist, bleibt die Konsistenz der Geschichte gewahrt. Das gilt auch für andere Zeitschleifen, deren Beliebtheit in der Zeitreiseliteratur bis heute nicht nachgelassen hat. Heinlein veranschaulicht den seinerseits paradox anmutenden Gedanken, dass Geschichte durch Zeitreisen nicht nur veränderbar ist, sondern auch verändert werden muss, damit sie sich nicht verändert, oder anders gesagt, der Eingriff durch Zeitreisende führt dazu, dass die Geschichte in der uns bekannten Weise abläuft. Der Eingriff in die Geschichte erfolgt hier ganz bewusst, mit einem klar umrissenen Ziel, das der Zeitagent auch erreicht. In anderen Zeitreisegeschichten erfolgen derartige Eingriff unbeabsichtigt und sind unter Umständen auch ausdrücklich nicht erwünscht. Dennoch können sie gravierende Folgen haben. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Ray Bradburys Kurzgeschichte „Der ferne Donner“. Hier offeriert ein Reisebüro seiner Kundschaft „Safaris in jedes beliebige Jahr der Vergangenheit“, wie es auf einem Werbeplakat heißt. Ein Kunde namens Eckels entschließt sich, eine Reise ins Zeitalter der Dinosaurier zu buchen. Dort angekommen, darf sich die Reisegruppe nur entlang genau abgesteckter Pfade bewegen, denn: Wir wollen nicht die Zukunft verändern. Wir gehören nicht in diese Vergangenheit. […] Eine Zeitmaschine ist eine verdammt heikle Sache. Wenn wir nicht Bescheid wüßten, könnten wir ein wichtiges Tier, einen kleinen Vogel, eine Küchenschabe oder auch nur eine Blume töten und so ein unentbehrliches Glied in der Entwicklung der Spezies zerstören. (Bradbury 1952/1972:68) Eckels ist, wie sich fast von selbst versteht, dazu ausersehen, ins Stolpern zu geraten, um neben dem vorgesehenen Pfad einen Schmetterling zu zertreten. Wieder in der Gegenwart, zeigt sich, dass die Angst vor anachronistischen Spuren in der Vergangenheit nicht unberechtigt war. Ein zertretener Schmetterling hat ausgereicht, um den bekannten Geschichtsverlauf über Jahrmillionen hinweg zu verändern. Das betrifft zum Beispiel die Sprache, in diesem Fall besonders die Orthographie, wie das bereits angesprochene Werbeplakat erkennen lässt. Hier zunächst die ursprüngliche, dann die neue Version (ebd.:65 und 78): SAFARIS IN DIE ZEIT GMBH SAFARIS IN JEDES BELIEBIGE JAHR DER VERGANGENHEIT SIE NENNEN DAS TIER WIR BRINGEN SIE HIN SIE SCHIESSEN ES ZAIT SEFARI GMBH SEFARIS YN JEDES JAAR DEER VERGANGENHEIT SY NENNEN DAS TIIR WIIR BRINGEN SY HYN. Schwerer wiegt die Tatsache, dass sich bei den gerade durchgeführten Präsidentschaftswahlen, anders als noch vor Eckels Abreise, ein Kandidat durchgesetzt hat, der die Vereinigten Staaten in eine Diktatur verwandeln wird. Wir haben es mit einem klassischen Fall des Schmetterlings-Effekts zu tun, im wahrsten Sinne des Wortes, denn am Anfang dieser in ihrer Endkonsequenz nicht mehr rekonstruierbaren, weil viel zu komplexen Veränderungen hat in der Tat ein Schmetterling gestanden. Der Begriff des Schmetterlings-Effekts wurde im Übrigen durch den amerikanischen Meteorologe Edward Lorenz eingeführt, und zwar in einem Vortrag, den er 1972 gehalten hat, also genau zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von „Der ferne Donner“. Ob Bradbury ihn dazu inspiriert hat, ist nicht überliefert, aber immerhin möglich. Bradbury zeigt, dass Zeitreisen fatale Folgen haben können. Ein kleines Missgeschick reicht aus, um die Welt, wie wir sie kennen, zu verändern. Dabei ist diese Welt eigentlich noch glimpflich davongekommen. In anderen Zeitreisegeschichten, etwa in Robert Silverbergs „Was heute in der Morgenzeitung stand“ aus dem Jahr 1972, verschwindet die Gegenwart ganz und verwandelt sich in einen namenlosen Nebel. Es wäre durchaus beruhigend, wenn wir wüssten, dass die Geschichte gegen Eingriffe durch Zeitreisende resistent ist oder sie zumindest korrigiert. Diese Idee hat Isaac Asimov in seinem Roman The End of Eternity aufgegriffen. Asimov stellt Geschichte als veränderbar dar, in diesem Fall auch ganz bewusst und zielgerichtet, zugleich arbeitet die Geschichte diesen Veränderungen aber entgegen und lässt sie unwirksam werden. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Organisation, die sich ‚die Ewigkeit‘ nennt und ebenfalls Zeitagenten entsendet, mit dem Auftrag, Eingriffe in die Geschichte, auch ‚Realität‘ genannt, vorzunehmen, um die Menschheit davon abzuhalten, sich selbst auszulöschen oder sich an aufwändigen Projekten wie der interstellaren Raumfahrt zu übernehmen. Diese Eingriffe müssen genau geplant werden und unterliegen strengen Regeln, doch sie funktionieren. Ihre Wirkung ebbt aber irgendwann ab: Warum, zum Beispiel, gibt es in der Realität so etwas wie ein Trägheitsmoment? Wir alle wissen, daß es so ist. Die Realität hat immer eine Tendenz, in ihre originäre Lage zurückzufließen. Nehmen wir einmal eine Realitätsveränderung hier im 575. [Jahrhundert] an. Sie wird sich vielleicht bis zum 600. hin verstärken. Bis zum 650. klingt der Effekt langsam ab, und danach bleibt die Realität unverändert. (Asimov 1955/1967:107). Hat man also zum Beispiel die Menschheit im 575. Jahrhundert davon abgebracht, die interstellare Raumfahrt zu entwickeln, muss man das nach dem 650. wahrscheinlich irgendwann wiederholen. Die Geschichte pendelt sich also wieder auf ihren bisherigen Verlauf ein. Anders als bei Bradbury würde ein zertretener Schmetterling niemals ausreichen, um die gesamte Menschheitsgeschichte zu verändern. Die Idee, dass Eingriffe in die Geschichte zwar erfolgreich sein können, jedoch von begrenzter Reichweite sind und deshalb weitgehend folgenlos bleiben, haben auch andere Zeitreiseautoren verfolgt. Schon H.G. Wells hat in einem Vortrag im Jahre 1902 die Ansicht vertreten, dass gezielte Eingriffe in die Geschichte keine großen Erfolge erwarten lassen, etwa wenn historische Persönlichkeiten wie Julius Cäsar, Napoleon und andere daran gehindert würden, in der uns bekannten Weise geschichtlich relevant zu werden. „Diese großen Männer“, so Wells, „sind bloße Federspitzen, die das Schicksal zum Schreiben verwendete“ (Vaas 2010:249). Wenn eine solche Federspitze zerbricht, wird das Schicksal schon eine andere finden. Bradburys „Ferner Donner“ und viele andere Zeitreisegeschichten entwickeln dagegen die Vorstellung, dass die Geschichte durch Zeitreisen nachhaltig veränderbar ist, ob nun gezielt oder aus Versehen. Auf einem anderen Blatt steht, ob diese Veränderungen überhaupt bemerkt werden. Die Angehörigen der Ewigkeit bei Asimov stehen vermeintlich außerhalb der Geschichte. Sie können deshalb ihren Verlauf überblicken und die Wirksamkeit ihrer Eingriffe beobachten. Die Bewohner der von einem Eingriff betroffenen Epoche selbst können die vor sich gehenden Veränderungen jedoch nicht erkennen. Aus ihrer Sicht ist alles so, wie es immer gewesen ist. Die Zukunft, die sie erlebt hätten, wenn die Ewigkeit sie nicht verhindert hätte, hat für sie niemals existiert. Bei Bradbury erkennt der Zeitreisende Eckels, was er angerichtet hat, doch für den Angestellten des Reisebüros, der ihn nach seiner Rückkehr empfängt, ist gar nichts vorgefallen. Noch einen Schritt weiter geht William Tenn in seiner Kurzgeschichte „Brooklyn Project“. Anders als bei Asimov und Bradbury gibt es hier keinen unabhängigen Beobachter, der die Veränderungen der Geschichte registrieren könnte. Ein Team von Wissenschaftlern demonstriert zu Propagandazwecken einer versammelten Journalistenschar ein Experiment mit dem Chronar, einer Art ZeitPeriskop, mit dessen Hilfe Einblicke in verschiedene Epochen der Vergangenheit gewonnen werden sollen. Warnungen vor möglichen Gefahren des Experiments werden als Miesmacherei und Vaterlandsverrat abgetan. Das Chronar verursacht jedoch überall in der Vergangenheit kleine Veränderungen, Bradburys Schmetterling nicht unähnlich – es zerstört ein paar Moleküle, einen Krebs im Wasser, eine Handvoll Bakterien. Auch hier schlagen die Veränderungen bis zur Gegenwart durch. Die Wissenschaftler selbst und die geladenen Journalisten verwandeln sich in monströse Geschöpfe. Der Leser erfährt das wie nebenher zwischen den Zeilen, was die Wirkung des Geschehens noch erhöht. Die letzten Zeilen des Textes gehören dem Mitarbeiter des Projekts, der die Vorführung geleitet hat: „Schaut doch“, rief das Ding, das der geschäftsführende Sekretär des Dezernenten für Pressewesen gewesen war. „Schauen Sie doch genau hin! Die, die quellen, hatten unrecht. Wir haben uns nicht verändert!“ Und er streckte fünfzehn purpurrote Fühler voller Triumph von sich. „Nichts hat sich geändert!“ (Tenn 1948/1967:75) Der Ausdruck quellen ist übrigens Teil einer Sprache, die sich ebenfalls verändert hat, und bedeutet so viel wie ‚Bedenken tragen‘ oder ‚nörgeln‘. Wieder bleibt die Konsistenz der Geschichte gewahrt, weil die Gegenwart, die sich aus der Vergangenheit vor den Veränderungen ergeben hätte, aus Sicht der unmittelbar Beteiligten niemals eingetreten ist. Bis hierher kann der Eindruck entstanden sein, dass die Zeitreiseliteratur eine Literatur des Paradoxons ist. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch und würde die ungeteilte Zustimmung Stanisław Lems finden. Die Zeitreiseliteratur hat sich jedoch nicht damit begnügt, Paradoxien aller Art zu entwerfen und literarisch auszugestalten. Sie hat auch Wege aufgezeigt, die aus dem Paradoxon herausführen. Doch hat der Zeitreisende das Paradoxon einmal hinter sich gelassen, steht er unter Umständen vor neuen Problemen. Das zeigt zum Beispiel Stephen Baxter in seinem Roman Zeitschiffe. Wir begegnen hier Wells‘ Zeitreisenden wieder, den Baxter erneut auf die Reise schickt. Ziel ist zunächst wieder das Jahr 802 701, wo der Zeitreisende das unrühmliche Ende seines ersten Ausfluges korrigieren möchte. Er merkt jedoch schnell, dass dieses Jahr 802 701 ganz anders ist als erwartet, und im weiteren Verlauf der Geschichte wird ihm klar, dass seine erste Zeitreise, vor allem der öffentliche Bericht darüber, eine ganz neue Zukunft geschaffen hat. Der Zeitreisende glaubt zunächst, den ursprünglichen Geschichtsverlauf und damit das Leben vieler Unschuldiger ausgelöscht zu haben. Von schlechtem Gewissen getrieben, reist er in die Vergangenheit, um dort sich selbst dazu zu überreden, die Zeitmaschine gar nicht erst zu bauen. Damit scheint zunächst wieder eine jener klassischen paradoxen Situationen gegeben zu sein, die für die Zeitreiseliteratur so charakteristisch sind. Doch die Sorgen des Zeitreisenden erweisen sich als überflüssig. Sie beruhen lediglich auf einer Fehlinterpretation der Welt. Ich gebe hier die Worte von Nebogipfel wieder, ein kultivierter Morlock, dessen Namen Baxter aus Wells‘ Kurzgeschichte „The Chronic Argonauts“ entlehnt hat. Er klärt seine Gesprächspartner über die wahren Verhältnisse auf, und zwar den verzweifelten Zeitreisenden selbst und dessen jüngeres Alter Ego, das der Zeitreisende mit Moses anspricht: Schau: angenommen, du wärst mit einem Gewehr durch die Zeit zurückgereist und hättest Moses erschossen. […] In diesem Fall hätten wir also ein denkbar simples Kausalitäten-Paradoxon vorliegen. Wenn Moses tot ist, wird er die Zeitmaschine nicht bauen und du werden – und folglich kann er auch nicht in der Zeit zurückreisen und zum Mörder werden. Doch wenn dieser Mord nicht stattfindet, wird der lebende Moses die Maschine entwickeln, zurückreisen – und sein jüngeres Ich töten. […] Es ist ein pathologisches Versagen der Kausalität, […] eine Endlosschleife. Doch falls das Multiple-WeltenTheorem korrekt sein sollte, gäbe es kein Paradoxon. Die Historie teilt sich: in einer Version lebt Moses, in der anderen stirbt er. Du, als Zeitreisender, bist einfach von einer Historie in die andere gewechselt. (Baxter 1995:303) Das Großvater-Paradoxon, auf das Baxter hier Bezug nimmt, löst sich also elegant auf. Der Zeitreisende hat die Geschichte nicht verändert oder gar ausgelöscht, sondern er hat einen neuen Geschichtsverlauf in Gang gesetzt, eine neue Welt geschaf- fen, die es ohne ihn nicht gegeben hätte und die sich mit einer unüberschaubaren Zahl von Welten zum Multiversum vereint. Der Zeitreisende irrt von nun ab durch dieses Geflecht multipler Welten, bis er sich darin völlig verirrt hat. Zumindest in moralischer Hinsicht ist er jedoch gerettet. Baxters voluminöser Roman, der voller Anspielungen auf wissenschaftliche Theorien und literarische Texte steckt, ist damit nur ansatzweise gewürdigt. Genau einhundert Jahre nach dem Erscheinen von Wells‘ Time Machine zeigt er, wie viel die Zeitreiseliteratur – und nicht nur sie – mittlerweile dazugelernt hat, und dennoch trifft Baxter Wells‘ Schreibstil immer noch ausgezeichnet. Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf Stanisław Lem zurückkommen. Lem hat im Spiel mit Paradoxien den Kern der Zeitreiseliteratur schlechthin gesehen. Aus seiner Sicht steckt dahinter meist nicht mehr als die Absicht, den Leser zu seinem zweifelhaften Vergnügen zu verwirren. Doch so einfach liegen die Verhältnisse nicht. Wenn William Tenn in „Brooklyn Project“ mit den Paradoxien der Zeit spielt, dann wohl auch, wenn nicht in erster Linie, um einen Wissenschaftsbetrieb zu karikieren, der sich in den Dienst politischer und militärischer Macht stellt und in ihrem Auftrag bedenkenlos die Natur manipuliert. Baxters Roman Zeitschiffe transportiert Wissen über moderne physikalische Theorien und reflektiert zugleich die Eigenheiten der Zeitreiseliteratur selbst, einschließlich ihrer prominentesten Paradoxien. Lems eigene Beiträge zur Zeitreiseliteratur, bezeichnenderweise vor allem Parodien, lesen sich herrlich komisch. Überhaupt kann Zeitreiseliteratur sehr unterschiedliche Darstellungsabsichten verfolgen. Oft ist die Zeitreise ohnehin nur ein Vehikel, um den Leser in vergangene oder zukünftige Welten zu entführen. Damit bedient die Zeitreiseliteratur sicher auch eskapistische Erwartungshaltungen aufseiten des Lesers. Doch das ist nicht immer der Fall. Zum Beispiel mag man Edward Bellamys Looking Backward als Zeitreisegeschichte lesen, doch zugleich ist der Text als eine der einflussreichsten Sozialutopien des ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt geworden. In anderen Texten stehen die psychologischen Auswirkungen von Zeitreisen im Vordergrund. Zeitreisende sind oft Menschen, die von Neugier und Forscherdrang, manchmal auch von Machthunger oder Geldgier angetrieben werden, doch nicht selten wird die Erfahrung von Fremdheit und zeitlicher Entwurzelung für sie auch zu einer Belastung. Fragen wie die nach dem Realismus einer jeweils gewählten Zeitreisemethode sind in solchen Kontexten oft von untergeordnetem Interesse. Das gilt erst recht, wenn das Phänomen Zeit unter ganz anderen Vorzeichen in den Blick kommt. Was geschieht zum Beispiel, wenn die zeitliche Ordnung des Universums ganz von selbst aus den Fugen gerät? In Gordon Dicksons Roman Time Storm aus dem Jahr 1977 irren die Protagonisten durch eine Gegenwart, die infolge von Zeitbeben fragmentarisiert und entvölkert ist. Manchmal verwirrt sich der Ablauf der Zeit nur für eine einzelne Person, sie wird zum Beispiel als alter Mensch geboren und stirbt mit ihrer Geburt, wie es Benjamin Button bei F. Scott Fitzgerald ergeht. Oder wie fühlt es sich an, wenn sich das individuelle Zeiterleben einer Person im Vergleich zu ihrer Umwelt in extremer Weise verlangsamt oder beschleunigt? J.G. Ballard hat solche Ideen in wunderbar poetische Bilder übersetzt. Mit den zuletzt genannten Beispielen sind fraglos Randbezirke der Zeitreiseliteratur angesprochen. Sie vervollständigen die Vielfalt einer Literatur, die eine lange Tradition hat und noch längst nicht an ihr Ende gekommen zu sein scheint, wie die Science Fiction überhaupt, die immer wieder totgesagt wurde und die sich doch immer wieder neu erfunden hat. Diese Vielfalt zu entdecken, bleibt das Vergnügen des Lesers. Zitierte Literatur Asimov, I. 1955/1967. Das Ende der Ewigkeit. Utopischer Roman. München. Baxter, S. 1995. Zeitschiffe. Roman. München. Bradbury, R. 1952/1972. Ferner Donner. In: Bradbury, R. Geh‘ nicht zu Fuß durch stille Straßen. Science-Fiction-Stories. München. 65-79. Crichton, M. 2002. Timeline. Eine Reise in die Mitte der Zeit. Roman. München. Eco, U. 1988. Die Welten der Science Fiction. In: Eco, U. Über Spiegel und andere Phänomene. München; Wien. 214-222. Heinlein, R. A. 1959/1971. Entführung in die Zukunft. In: Heinlein, R. A. Entführung in die Zukunft. Utopischer Roman und andere Science-Fiction-Stories. München. 105-116. Lem, S. 1984. Phantastik und Futurologie. Bd. I. Frankfurt am Main. Slusser, G. & Chatelain, D. 1995. Space Geometries: Time Travel and the Modern Geometric Narrative. In: Science Fiction Studies 22. 161-186. Tenn, W. 1948/1967. Das Projekt Brooklyn. In: Silverberg, R. (Hg.) Die Mörder Mohammeds. Zeitreise-Stories. München. 66-75. Vaas, R. 2010. Tunnel durch Raum und Zeit. Von Einstein zu Hawking: Schwarze Löcher, Zeitreisen und Überlichtgeschwindigkeit. 4. Aufl. Stuttgart. Wells, H. G. 1895/1974. Die Zeitmaschine. Eine Erfindung. Zürich.