Sozialkonstruktivismus: Gesellschaft als Konstruktion

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Sozialkonstruktivismus: Gesellschaft als Konstruktion
Volume 3, Number 2, © JSSE 2004 ISSN 1618-5293
Horst Siebert
Sozialkonstruktivismus: Gesellschaft als Konstruktion
(Social Constructivism – Society as Construction )
Constructivism is a theory of cognition based on the science of neurons
that emphasizes the operational closeness and structure determination of
the human perception and thinking processes. Learning as well is a selfacting, creative construction of knowledge. The learning process can be
activated, but not directed by teaching efforts. The construction of
knowledge is not only an individual mental process. On the one hand
society itself constructs knowledge, on the other hand society is a result of
constructions. The social constructivism, as conceived by P. Berger, T.
Luckmann, J. Searle, K. Gergen, is especially inspiring for social science
education. A differentiation between different forms of construction is
suggested:
reconstruction,
deconstruction,
self-construction,
coconstruction.
1 Konstruktivismus - eine Wende der Wahrnehmung
Der Konstruktivismus ist - zunächst - keine Theorie der Gesellschaft oder
der Pädagogik, sondern eine Metatheorie, die die Möglichkeiten und
Grenzen menschlicher (wissenschaftlicher und alltäglicher) Theoriebildung
beschreibt. Konstruktivisten sind Beobachter II. Ordnung, sie beobachten,
wie im Alltag oder in der Wissenschaft Wirklichkeit beobachtet und dadurch
erzeugt wird.
Theorien sind demnach beobachtungsabhängige Konstruktionen - wörtlich
übersetzt heißt Theorie = Beobachtung. Das erkennende Subjekt und der
Erkenntnisgegenstand sind untrennbar miteinander verbunden, mehr noch:
Der Erkenntnisgegenstand und das Problem werden durch den
erkennenden Beobachter erzeugt. Auf diesen Zusammenhang verweist
Humberto Maturanas Formulierung: "Alles Gesagte ist von jemandem
gesagt." (Maturana, Varela 1987, 32). "Diese Zirkularität, diese Verkettung
von Handlung und Erfahrung, diese Untrennbarkeit einer bestimmten Art zu
sein von der Art, wie die Welt uns erscheint, sagt uns, dass jeder Akt des
Erkennens eine Welt hervorbringt." (ebd. 31). Der Konstruktivismus ist also
keine Ontologie oder Metaphysik, er macht keine Aussagen über das Wesen
der Welt, über das "Sein", sondern ist eine reflexive Erkenntnistheorie, die
etwas aussagt über die menschliche Orientierung in der Welt. "In diesem
Sinne werden wir ständig festzustellen haben, dass man das Phänomen des
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Erkennens nicht so auffassen kann, als gäbe es 'Tatsachen' und Objekte da
draußen, die man nur aufzugreifen und in den Kopf hineinzutun habe."
(ebd. 31).
Unsere Sinnesorgane, unsere Kognitionen, unser Gedächtnis produzieren
also keine Abbildungen der äußeren Realität, sondern sie konstruieren
Wirklichkeiten zum Zweck erfolgreicher Handlungen. "Wir erleben nicht den
'Raum' der Welt, sondern wir erleben unser visuelles Feld, wir sehen nicht
die 'Farben' der Welt, sondern wir erleben unseren chromatischen Raum."
(ebd. 28) Streng genommen können wir nicht behaupten: "Der Himmel ist
blau." Allenfalls können wir feststellen: "Der Himmel erscheint uns blau."
Die Konstruktivisten distanzieren sich von herkömmlichen Theorien, die
Erkenntnis als Repräsentation, als Abbildung oder als Widerspiegelung der
objektiven Welt verstehen. So schreibt Francisco Varela: "In dieser meiner
Auffassung dient das Gehirn also vor allem dem ständigen Hervorbringen
von Welten im Prozess der viablen Geschichte von Lebewesen; das Gehirn
ist ein Organ, das Welten festlegt, keine Welt spiegelt." (Varela 1990, 109).
Obwohl Erkenntnis ein biografisch bedingter und damit höchst
individueller, einmaliger Vorgang ist, ereignet sich Erkennen in sozialen
Kontexten. Viabel, also erfolgreich ist eine Erkenntnis meist dann, wenn sie
konsensfähig ist. In diesem Sinn definiert Francisco Varela Intelligenz "als
die Fähigkeit, in eine mit anderen geteilte Welt einzutreten." (ebd. 111) So
gesehen ist der kognitive Konstruktivismus immer auch ein sozialer
Konstruktivismus: Wir konstruieren unsere Wirklichkeit gemeinsam mit
anderen und in unseren sozialen Milieus. Varela unterscheidet drei zeitliche
Ebenen der Erzeugung von Lebenswelten: die evolutionsgeschichtliche
Entwicklung,
die
individuell-biografische
Entwicklung
und
die
gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung.
Selbstverständlich konstruieren wir nicht nur eine Welt, wir leben auch in
einer Welt. Die Welt ist vorhanden, wir können sie nicht ignorieren. Aber
das Verhältnis zwischen uns und der Außenwelt (sowohl der
gegenständlichen als auch der sozialen Umwelt) ist das einer "strukturellen
Koppelung". Es muss ein Minimum an "Korrespondenz", an "Entsprechung"
zwischen unseren Konstrukten und den Umwelten vorhanden sein, damit
unser Handeln viabel, erfolgreich ist.
Humberto Maturana und Francisco Varela, die als Begründer des modernen
Konstruktivismus bezeichnet werden können (obwohl sie selber den Begriff
Konstruktivismus meines Wissens nicht verwenden), sind Biologen. Ihr
berühmt gewordenes Buch "Der Baum der Erkenntnis" hat den Untertitel
"Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens". Ein biologischer
Schlüsselbegriff ist Autopoiese, wörtlich: Selbsterzeugung. Die chilenischen
Wissenschaftler definieren Lebewesen als "autopoietische Organisationen".
"Nach unserer Ansicht ist deshalb der Mechanismus, der Lebewesen zu
autonomen Systemen macht, die Autopoiese." (Maturana, Varela 1987, 55).
"Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und
dies bildet ihre spezifische Art von Organisation." (ebd. 56).
So kann auch Erkennen als autopoietischer Prozess verstanden werden.
Wahrnehmen, Denken, Lernen erfolgt - in Kontakt mit der Umwelt - als
autopoietischer, emergenter, selbstreferenzieller Vorgang. Im wörtlichen
Sinne gilt: "Die Gedanken sind frei ...", sie entwickeln eine Eigendynamik
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und entstehen "strukturdeterminiert", nicht aber durch die Umwelt
determiniert. "Von außen" können Gedanken allenfalls angeregt,
"perturbiert" werden. "Es erscheint uns offenkundig, dass die Interaktionen
zwischen Einheit und Milieu (...) für einander reziproke Perturbationen
bilden. Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die Struktur des Milieus in
den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese
also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt)." (ebd. 85).
Dies gilt auch für das Verhältnis von Lehren und Lernen - worauf wir noch
eingehen werden.
Die Autopoiese des Denkens lässt sich neurowissenschaftlich - mit Hilfe so
genannter "bildgebender Verfahren" - belegen. Unsere neuronalen
Netzwerke verarbeiten nur zum geringen Teil Inputs "von außen", sondern
sie operieren überwiegend selbst organisiert und eigendynamisch. Unser
Gehirn kommuniziert gleichsam mit sich selbst, es aktiviert und verknüpft
vorhandene Gedächtnisinhalte und Wissensnetze. Ein alltägliches Beispiel:
Wenn das Telefon klingelt, stellt unser Gehirn mehrere Hypothesen auf, wer
uns zu dieser Zeit mit welcher Absicht anrufen könnte. Auch wenn wir
jemandem zuhören, führen wir einen "inneren Monolog", setzen
angefangene Sätze des Gesprächspartners fort, verknüpfen einen Gedanken
mit entsprechenden "Assoziationsarealen" in unserem Gehirn. So hören wir,
was wir hören - und das ist selten mit dem identisch, was der andere sagt.
Die Tätigkeit unseres Gehirns ist synergetisch und emergent - und
keineswegs bloß rezeptiv.
Die Bremer Gehirnforscher Erol Basar und Gerhard Roth schreiben: "Die
meisten Eingänge (über 90 %) in corticale Netzwerke stammen von anderen
corticalen Netzwerken. In diesem Sinne ist die Großhirnrinde eine Struktur,
die im Wesentlichen zu sich selber 'spricht'. Auch dies unterstützt die
Interpretation des Neocortex als eines assoziativen (hauptsächlich
autoassoziativen) Netzwerkes." (Basar, Roth 1996, 296). So lässt sich die
These vertreten, "dass kognitive Leistungen innerhalb des Gehirns
zumindest zum Teil auf Resonanzphänomenen zwischen Aktivitäten von
Neuronenpopulationen (…) beruhen." (ebd. 315).
Auch die Chaostheorie bestätigt diese Selbstorganisationsthese: Hermann
Haken entwickelt die "Idee der Selbstorganisation", "bei der die einzelnen
Teile eines Systems, zum Beispiel eben die Nervenzellen des Gehirns ihr
Zusammenwirken ganz von sich aus bewerkstelligen." Diese "Lehre vom
Zusammenwirken" nennt Hermann Haken Synergetik. "Die Synergetik kann
als die am weitesten fortgeschrittene Theorie der Selbstorganisation
betrachtet werden." (Haken, Haken-Krell 1997, 15).
Auch die Verknüpfung von kognitiven, affektiven und sensorischen
Prozessen kann durch Synergetik neue Qualitäten des Erkennens erzeugen.
"Die Synergetik ist nicht nur eine Theorie der Selbstorganisation, sondern in
einem allgemeineren Sinne eine Theorie der Emergenz neuer Qualitäten."
(Haken 1996, 179).
Für einen neurowissenschaftlich "aufgeklärten" Lernbegriff ergibt sich aus
dieser Selbstorganisation des Gehirns: Lernen ist prinzipiell selbstgesteuert.
Lernen ist keineswegs nur ein "affirmativer" Assimilationsvorgang, sondern
die Verknüpfung von Inhalten verschiedener neuronaler Areale.
Man mag einwenden, dass diese neurobiologischen Forschungsergebnisse
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unser alltägliches Erkennen, nicht aber die wissenschaftlich-empirische
Erkenntnis betreffen. In der Tat unterscheidet sich unser erkennendes
Beobachten des "Mesokosmos" von der naturwissenschaftlichen,
experimentellen Erforschung des Mikrokosmos und des Makrokosmos.
Deshalb sollten die Unterschiede zwischen den alltäglichen Lebenswelten
und den wissenschaftlichen Forschungen nicht unterschätzt werden. Aber
auch Forschungsergebnisse sind beobachtungs- und methodenabhängig.
Dass auch die Physik als scheinbar objektive Wissenschaft "nur" Modelle
und keine zeitlos gültigen Wahrheiten hervorbringt, verdeutlicht Richard
Bandler mit einer amüsanten Geschichte über den Nobelpreisträger Nils
Bohr. Nils Bohr ist der "Erfinder" eines Atommodells, das aus Protonen,
Neutronen und Elektroden besteht. Auf Grund dieses Modells wurden viele
technische Erfindungen möglich, zum Beispiel das Plastik. "Erst vor kurzem
beschlossen Physiker, dass Bohrs Beschreibung des Atoms falsch sei. (...)
Das wirklich Erstaunliche ist, dass alle die Entdeckungen, die durch den
Gebrauch des 'falschen' Modells zu Stande kamen, immer noch existieren.
(...) Physik wird meist als eine sehr 'objektive' Wissenschaft dargestellt, aber
mir fällt auf, dass die Physik sich ändert, während die Welt gleich bleibt."
(Bandler 1987, 31).
Die Wirklichkeitskonstruktionen der Wissenschaft sind andere als die des
"gesunden Menschenverstandes", aber auch der Wissenschaftler konstruiert
"seinen" Erkenntnisgegenstand und seine Fragestellung. Gleichwohl handelt
es sich dabei nicht um Gedankenspiele, sondern viele dieser Modelle
"funktionieren" und haben die Welt verändert. Helmut Peukert beschreibt
die epistemologische Wende der modernen Naturwissenschaft wie folgt:
"Immer deutlicher erweist sich die Formulierung der Quantenmechanik in
den Zwanzigerjahren durch W. Heisenberg, Nils Bohr, Erwin Schrödinger et
al. als der bedeutendste naturwissenschaftliche Durchbruch des 20.
Jahrhunderts. (...) Ihre grundlegende philosophische Bedeutung rührt daher,
dass dem Beobachter von Quantensystemen eine Rolle zugewiesen wird, die
er in der klassischen Physik nicht hat: Durch die Wahl des Messapparates
entscheidet er zugleich über die Wirklichkeit. (...) Wirklichkeit ist nur in
strenger Korrespondenz zum Handeln des Messenden zu bestimmen."
(Peukert 2000, 514).
Auch Wissenschaftler beschreiben die Welt nicht so, wie sie "wirklich" ist,
sondern sie konfrontieren die Welt mit ihren Fragestellungen und
Beobachtungen.
Wissenschaftler
erkennen
das,
was
ihre
Untersuchungsinstrumente "hergeben".
Der
Konstruktivismus
verwendet
den
Wahrheitsbegriff
auch
wissenschaftstheoretisch nur zögernd. "Auch empirisches Wissen ist nur
Wissen von der Welt, so wie wir sie erfahren und so wie wir dieses Wissen
formulieren. Die Erfahrung, dass empirisches Wissen intersubjektivierbar
ist, deutet nicht auf System- und auf Kognitions-Unabhängigkeit hin,
sondern auf den Grad kognitiver und kommunikativer Parallelität." (Schmidt
1998, 44).
Auch wenn auf die Leitdifferenz objektiv versus subjektiv verzichtet wird,
werden dadurch wissenschaftliche Aussagen nicht beliebig, und auch die
Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung wird nicht in Frage gestellt.
"Wissenschaftliche
Erkenntnis
als
Suche
nach
bestmöglichen
zweckgerechten Problemlösungen behält spezifische Differenzqualitäten
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gegenüber Kunst, Politik oder Religion. Auch wenn kein objektives Maß für
beste Problemlösungen zur Verfügung steht, gibt es in der Wissenschaft
bewährte Kriterien gegen Beliebigkeit, angefangen von der logischen
Konsistenz der Argumentation, der Einfachheit und Widerspruchsfreiheit
der Theorie bis hin zur 'empirischen Überprüfung'." (ebd.123).
2 Lernen als Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten
Wenn über sozialwissenschaftliche Bildungsarbeit nachgedacht wird, so
liegt es nahe, auf den sozialen Konstruktivismus zu rekurrieren. Der
radikale Konstruktivismus ist individuumzentriert und betont die
operationale Geschlossenheit des menschlichen Wahrnehmens, Denkens
und Fühlens. Der Sozialkonstruktivismus hebt die sozialen Kontexte und
die kommunikative Verfasstheit unserer Welt hervor. Nicht nur die
Individuen, sondern auch die Gesellschaften selber erzeugen Wirklichkeiten.
Das Individuum und seine Welt sind strukturell miteinander gekoppelt,
beide existieren nicht unabhängig voneinander. Der Mensch ist - um an K.
Marx zu erinnern - das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse; und
die Gesellschaft ist ein Produkt menschlichen Denkens, Handelns und
Unterlassens.
Auf diese Wechselwirkung von Individualisierung und Vergesellschaftung
verweisen zwei bekannte Buchtitel: Peter Berger und Thomas Luckmann
veröffentlichten 1966 ein Buch über "die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit": Der "homo sapiens" ist immer auch "homo socius" (Berger,
Luckmann 1980, 54), also ein vergesellschaftetes Wesen. Seine
"Selbstproduktion" ist stets "eine gesellschaftliche Tat". Auch seine
Individuierung findet im gesellschaftlichen Rahmen statt. Und gleichzeitig
produziert und konstruiert der Mensch seine Gesellschaft. Die
Gesellschaftsordnung ist "eine ständige menschliche Produktion." (ebd. 55).
Während Berger und Luckmann die Perspektive der Gesellschaft als
Konstrukteur stärken, betont John Searle die Gesellschaft als Resultat
menschlicher Aktivität und betitelt sein Buch dementsprechend "Die
Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit." (1997). Er deutet damit
an, dass es neben sozialen, institutionellen Tatsachen auch "rohe", "nichtinstitutionelle Tatsachen" gibt, die von unserer Wirklichkeitskonstruktion
"gänzlich unabhängig" sind (Searle 1997, 12) (dies würden die radikalen
Konstruktivisten jedoch bestreiten). Mit Berger und Luckmann stimmt Searle
u.a. darin überein, dass wir Menschen unsere gesellschaftliche Wirklichkeit
funktional zweckgerichtet, absichtsvoll, intentional konstruieren. "Autos
sind zum Fahren da; Geld zum Verdienen, Ausgeben und Sparen;
Badewannen, um ein Bad zu nehmen." (ebd. 14).
Auch Berger und Luckmann weisen darauf hin, dass unsere
Wirklichkeitskonstruktion intentional erfolgt, dass ihr ein subjektiver Sinn
zugrunde liegt, dass wir "etwas im Sinn" haben, wenn wir Wirklichkeit
konstruieren. "Gesellschaft wird tatsächlich konstruiert durch Tätigkeiten,
die subjektiv gemeinten Sinn zum Ausdruck bringen." (Berger, Luckmann
1980, 20).
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An dieser Stelle lässt sich eine erste Konsequenz für eine reflexive
sozialwissenschaftliche Bildungsarbeit andeuten: Wenn der "Sinn" unserer
sozialen Systeme nicht gottgewollt, zeitlos, selbstverständlich ist, sondern
kulturhistorisch bedingt, interessengeleitet, auch eine Machtfrage ist, wenn
unsere gesellschaftlichen Errungenschaften - z.B. "Autofahren für alle" stets auch riskante Nebenwirkungen, unkalkulierbare Folgen und
Langzeiteffekte
haben,
dann
wird
der
"Sinn"
vieler
unserer
Wirklichkeitskonstruktionen fraglich, problematisch, zweifelhaft, anders
formuliert: zu einem Thema reflexiven Lernens. Politische, soziale,
ökologische Bildungsarbeit hat demnach die Aufgabe, den manifesten und
latenten Sinn der gesellschaftlichen Wirklichkeiten aufzudecken und zu
reflektieren.
Noch dezidierter als P. Berger und T. Luckmann und J. Searle betont
Kenneth Gergen die "soziale Eingebundenheit allen Wissens". Während für
den kognitionstheoretischen Konstruktivismus die Devise gilt "Ich denke,
also bin ich", fügt der soziale Konstruktionismus hinzu: "Ich kommuniziere,
also denke ich." (Gergen 2002, 5). Ähnlich wie für den Linguisten J. Searle
ist für K. Gergen die Sprache des Medium unsere gesellschaftlichen
Wirklichkeitskonstruktion. Und deshalb betont Gergen auch die
pädagogische Bedeutung des Erzählens als eine Form der biografischen
Selbstvergewisserung und der sozialen Verständigung.
Unsere
biografischen
Erzählungen
sind
nicht
nur
Identitätsvergewisserungen, Konstruktionen und Rekonstruktionen unseres
Selbst, sondern auch gemeinsame kollektive Suchbewegungen (nicht
zufällig wird in manchen Regionen das konsensorientierte "nicht wahr?"
einem Satz hinzugefügt). Erzählungen - so Gergen - artikulieren und stiften
historisches Bewusstsein und vergewissern sich der moralischen Identität.
Biografische Erzählungen erwarten soziale Anerkennung und Übereinkunft.
Gergen definiert "personale Identität" so als eine "diskursive
Errungenschaft" (Gergen 1998, 191). Erzählungen sind also kommunikative
Verständigungsversuche, strukturelle Koppelungen im Medium der Sprache.
Aber diese Sprache bildet objektive Wirklichkeit nicht ab, sondern
konstruiert eine Welt. (Im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg waren und
sind G. W. Bush und seine Mannschaft unermüdlich bemüht, durch
sprachliche Regelungen (gut - böse, gottgewollt usw.) die Welt in ihrem
Interesse zu ordnen.) Sprache verschafft Wirklichkeit, sie bildet diese nicht
ab. "Schon die Idee von Wörtern als Abbildern ist trügerisch." (Gergen 2002,
47).
Die Alltagssprache des biografischen Erzählens rekonstruiert nicht nur
individuelle
Lebenswelten
und
Lebensgeschichten,
sondern
die
sprichwörtlichen Redewendungen, die Metaphern und Vergleiche, die
umgangssprachlichen Floskeln verweisen auch auf das kollektive
Gedächtnis einer Generation oder eines sozialen Milieus. In der narrativen
Wirklichkeitskonstruktion verbirgt sich oft eine soziale Topik, die
Erfahrungen aufbewahrt und gesellschaftliche - z.B. hierarchische Strukturen "verinnerlicht". Insofern ist das Erzählen in der politischen
Erwachsenenbildung eine "Konstruktionsmethode" (im Unterschied zu den
wissensvermittelnden "Instruktionsmethoden"), die geeignet ist, die
Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten reflexiv verfügbar zu
machen.
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Wenn von Wirklichkeitskonstruktion in pädagogischer Absicht die Rede ist,
so lassen sich mehrere Phasen und Formen der subjektiven Welterzeugung
unterscheiden:
- Konstruktion
Aufbau von Wissensnetzen, aber auch von komplexen "Fühl-DenkVerhaltensprogrammen" (Ciompi 2003, 62), die unsere Lebenswelt
ausmachen, die eine mentale Orientierung und viables Handeln
ermöglichen. Konstruktion ist nicht nur gedeutete, sondern erzeugte
Wirklichkeit.
- Rekonstruktion
Wissensnetze werden aufgebaut, indem wissenschaftliche, fachliche
Wissensbestände selbstständig und eigenwillig angeeignet, transformiert,
in bestehende kognitive Strukturen integriert, mit dem individuellen
Erfahrungswissen verschmolzen werden. Das Rekonstruktionskonzept
unterscheidet sich prinzipiell von einer Fachdidaktik, die fachliches
Wissen von A (Sender) nach B (Empfänger) zu transportieren versucht.
Rekonstruktion von Wissen findet im Spannungsfeld von Sachlogik,
Psychologik und Verwendungslogik statt.
- Dekonstruktion
Vielfach müssen überholte, disfunktionale, nicht viable Konstrukte - z.B.
unzulässige Verallgemeinerungen, Fremdbilder, Stereotype dekonstruiert, d.h. relativiert, problematisiert, differenziert werden. (vgl.
Reich 2002, 141) Solche Dekonstruktionen sind z.B. in der interkulturellen
Pädagogik und der Geschlechterbildung häufig.
- Ko-Konstruktion
Wir konstruieren unsere gesellschaftliche Wirklichkeit gemeinsam mit
anderen und auch in der Auseinandersetzung mit anderen. Die mentale
Erzeugung von Lebenswelten ist ein kommunikativer, interaktiver Prozess,
in dem nicht zuletzt durch Differenzerfahrungen und Perspektivenwechsel
gelernt wird.
- Selbst-Konstruktion
Auch das Selbst, die Ich-Identität ist ein Konstruktionsprozess. Wir
konstruieren unser Selbst, indem wir unsere Vergesellschaftung reflexiv
verarbeiten. Selbst-Konstruktion ist zu einer lebenslangen Lernaufgabe
geworden. Zur Selbstkonstruktion gehört die Vergewisserung der eigenen
Möglichkeiten und Grenzen, der Deutungsmuster und Affektlogiken
(Ciompi), der personalen und sozialen Verantwortung.
- Aktion
Wir konstruieren unsere Lebenswelt nicht nur mental, sondern wir
gestalten sie auch durch unser "Dasein", durch unser Handeln, durch
unsere Versäumnisse. Der Konstruktivismus trennt nicht zwischen
Erkenntnistheorie und Handlungstheorie: Erkennen (z.B. sensorische
Wahrnehmung) ist Handeln - und handelnd erkennen wir.
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3 Resumé
Eine konstruktivistisch inspirierte Didaktik der sozialwissenschaftlichen und
politischen Bildung ist - insbesondere in der Erwachsenenbildung anschlussfähig an Konzepte des erfahrungsorientierten, lebensweltlichen
Lernens, des biografischen Lernens und an den Deutungsmusteransatz.
Eine konstruktivistische Didaktik vernachlässigt die Wissensaneignung nicht
- wie gelegentlich vermutet wird - , aber Wissen ist eine kognitive,
konstruktive Aneignung von Wirklichkeit und wird mit Begriffen wie
"Gewissheit", "Bewusstsein" und "Gewissen" verknüpft.
Die konstruktivistische Didaktik distanziert sich von einer normativen
Pädagogik, die gleichsam stellvertretend für die Lernenden verbindliche
Norm- und Wertentscheidungen trifft. Allerdings sind normative Fragen
einer zukunftsfähigen, sinnvollen, sozial- und umweltverträglichen
Wirklichkeit durchaus zentrale Themen einer konstruktivistischen
Pädagogik.
Das konstruktivistische Konzept setzt den argumentativen Diskurs, die
rationale Konsensfindung, die empirisch gesicherten Erkenntnisse
keineswegs außer Kraft und leistet keiner moralischen oder politischen
Beliebigkeit
Vorschub,
es
akzeptiert
jedoch
die
Vielfalt
der
Wirklichkeitsdeutungen und Beobachtungsperspektiven und betont die
"Differenzerfahrungen."
Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie und keine Ontologie. Er
verzichtet deshalb auf einen ontischen Wahrheitsbegriff und spricht
allenfalls von relativen, bereichsspezifischen Wahrheiten.
Das gilt auch für wissenschaftliche Erkenntnisse: Zwar unterscheidet sich
das
wissenschaftliche
Wissen
qualitativ
von
dem
alltäglichen
Erfahrungswissen. Aber auch wissenschaftliche Forschungsergebnisse sind
beobachtungsabhängig
und
methodenabhängig.
Dennoch
sollten
empirische Forschungen intersubjektiv nachprüfbar sein.
Das konstruktivistische Paradigma ist anschlussfähig an erkenntniskritisch skeptizistische Denktraditionen, an die Kognitionspsychologie eines J.
Piaget oder an die Sozialpsychologie des "symbolischen Interaktionismus".
Dennoch ist "nicht alles schon da gewesen": insbesondere die
neurowissenschaftlichen Erkenntnisse der "operationalen Geschlossenheit"
unseres Gehirns sind relativ neu.
Der Konstruktivismus legt es nahe, den Konstruktionsmethoden in der
Bildungsarbeit mehr Aufmerksamkeit zu widmen - im Vergleich zu den
vorherrschenden Instruktionsmethoden. Allerdings lässt sich aus einer
Erkenntnistheorie nicht ein methodischer "Königsweg" der Bildungsarbeit
ableiten. Der systemisch-konstruktivistische Diskurs regt eine Reflexion des
pädagogischen Selbstverständnisses an. Die Wissensvermittlungsfunktion
der Lehrenden wird relativiert zugunsten der Gestaltung von Lernsituation,
der Moderation von Lerngruppen, der Beratung von Lernenden und
lernenden
Organisationen.
Die
Aneignung
von
metakognitiven
Lerntechniken und reflexiven Lern- und Denkstrategien gewinnt an
Bedeutung gegenüber einer Stoffvermittlung (vgl. Siebert 1999, 2003).
Der Konstruktivismus kann dazu anregen, den eigenen pädagogischen
"Habitus", die Haltung sich selbst und der Gesellschaft gegenüber neu zu
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