Teilhabe gestalten – Engagement fördern - Friedrich-Ebert
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Teilhabe gestalten – Engagement fördern - Friedrich-Ebert
Teilhabe gestalten – Engagement fördern Publikation zur Veranstaltungsreihe „Wege zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt“ P ROJ ROJEK EKT Forum Berlin GESELLSCHAFTLICHE F T L I C H E INTEGRATION I MPR E S S U M Herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung Franziska Richter, Forum Berlin © 2008 by Friedrich-Ebert-Stiftung Forum Berlin Hiroshimastr. 17 10785 Berlin Text: Dr. Angela Borgwardt Redaktion: Franziska Richter Dr. Angela Borgwardt Titelfotos: dpa Picture Alliance Heike Wächter Fotografien von 1. Fachtagung: Joachim Liebe 2. Fachtagung: Peter Himsel 3. Fachtagung: Marc-Steffen Unger 4. Fachtagung: Michael Herrmann 5. Fachtagung: Robert Máté Layout: Pellens Kommunikationsdesign, Bonn Druck: Wagemann Medien GmbH, Berlin ISBN: 978-3-89892-946-2 Teilhabe gestalten – Engagement fördern Publikation zur Veranstaltungsreihe „Wege zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt“ Projekt „Gesellschaftliche Integration“ Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin 4 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Inhalt Vorwort Franziska Richter 1 Politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe 8 10 Engagement und Partizipation Dr. Angela Borgwardt 10 „Agieren statt resignieren! Wege zu stärkerem Engagement in unserer Gesellschaft“ 14 Wir entscheiden – Demokratie ist mehr als wählen gehen Dr. Harald Klimenta 14 Armut – soziale Ausgrenzung – Partizipation: Politische Teilhabe aus dem gesellschaftlichen „Abseits“? Dr. Dietrich Engels 18 Wie kann politisches und zivilgesellschaftliches Engagement gefördert werden? Podiumsdiskussion mit Dr. Dietrich Engels Eric Feise Elke Ferner, MdB Burgunde Grosse Susanne Huth 29 P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 2 5 Teilhabe am Arbeitsmarkt 43 Wandel der Arbeitswelt und Arbeitsmarktreformen Dr. Angela Borgwardt 43 „Arbeiten um zu leben – leben um zu arbeiten? Instrumente und Modelle von Arbeit und Beschäftigung“ 50 Welche neuen Instrumente und Modelle werden eingesetzt, um die Teilhabe am Arbeitsmarkt zu fördern? Podiumsdiskussion 50 mit Gabi van Dyk Sylvia Kühnel Dr. Rolf Schmachtenberg PD Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn „Aufschwung in Deutschland – für alle? Anforderungen an die Arbeitsmarktpolitik“ 71 Zwei Jahre nach der Arbeitsmarktreform: Bilanz und politische Handlungsfelder für Ost- und Westdeutschland Andrea Wicklein, MdB 71 Die Vermittlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und das Zusammenspiel der Akteure: Schwierigkeiten, Chancen und Visionen Podiumsdiskussion mit Rudolf Anzinger Achim Battenberg Cordula Hartrampf-Hirschberg Reiner Rabe Andrea Wicklein, MdB 80 6 3 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Ökonomische Teilhabe 99 Materielle Mitarbeiterbeteiligung Dr. Angela Borgwardt 99 „Die (Wieder)Entdeckung der Mitarbeiterbeteiligung. Kapitalbeteiligung und Belegschaftsaktie – Wege zu stärkerer ökonomischer Teilhabe?“ 108 Mitarbeiterbeteiligung – gesellschaftspolitische Notwendigkeiten und rechtlicher Handlungsbedarf Prof. Dr. Karl-Georg Loritz 108 Wie kann ökonomische Teilhabe durch Kapitalbeteiligung gestärkt werden? Podiumsdiskussion mit Joachim Elsholz Michael Lezius Prof. Dr. Karl-Georg Loritz Ludwig Stiegler, MdB 120 P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 4 7 Gesellschaftliche Teilhabe 146 Zukunftskonzepte in der Diskussion – das bedingungslose Grundeinkommen Dr. Angela Borgwardt 146 „Sozial und gerecht?! Bedingungsloses Grundeinkommen, Bürgergeld und Grundsicherung in der Debatte“ 151 Für eine bedarfsorientierte Grundsicherung Rolf Stöckel, MdB 151 Grundeinkommen und Gerechtigkeit – Ein Plädoyer für mehr soziale Demokratie Prof. Dr. Michael Opielka 155 Zugang zum Erwerbsleben und soziale Gerechtigkeit – statt Stilllegungsprämien für Arbeitslose Dr. Hans-Joachim Schabedoth 168 Welches Modell fördert gesellschaftliche Teilhabe am besten? Podiumsdiskussion 172 mit Ralph Boes Elke Ferner, MdB Prof. Dr. Michael Opielka Dr. Hans-Joachim Schabedoth Prof. Dr. Emmerich Talos 5 Personenverzeichnis 194 8 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Vorwort Franziska Richter Referentin des Projekts „Gesellschaftliche Integration“ Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin Im Rahmen des Projektes „Gesellschaftliche Integration“ befasst sich das Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung mit den zentralen Herausforderungen, vor die uns die gegenwärtigen Umbrüche in unserer Gesellschaft stellen, wie beispielsweise die Auswirkungen demografischer Entwicklung und zunehmender Migration, aber auch die Folgen des Wandels der Arbeitswelt für Individuum und Gesellschaft. Besonders fokussiert werden die neuen Spannungsfelder sozialer Ungleichheit, die zu gravierenden Konflikten führen können und die Gefahr einer dauerhaft „gespaltenen Gesellschaft“ bergen. Im Mittelpunkt des Projekts steht daher die Frage, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden kann und welche Reformimpulse und Handlungsperspektiven dazu erforderlich sind. Der Begriff der „Teilhabe“ steht dabei im Zentrum unserer Arbeit. Gesellschaftliche Integration ist nur dann zu erreichen, wenn möglichst alle Bürgerinnen und Bürger Teilhabe an Bildung und Ausbildung, an Arbeit und Beschäftigung, an den Systemen sozialer Sicherung und an sozialen Netzwerken haben. Teilhabe beinhaltet auch politische Partizipation: die aktive Beteiligung durch politisches und bürgerschaftliches Engagement. Jeder Bürger und jede Bürgerin sollten seinen bzw. ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Integration leisten und leisten können. Dem Staat kommt dabei die Aufgabe zu, durch Gestaltung entsprechender Rahmenbedingungen Chancen zur Teilhabe für alle zu gewährleisten und etwaige Zugangsbarrieren abzubauen. Welche Handlungsstrategien gegen soziale Ausgrenzung und Armut wirksam sein können, um für alle Bürgerinnen und Bürger politische, ökonomische und gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen, ist gesellschaftspolitisch von großer Bedeutung. Dies hat nicht zuletzt P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008 deutlich gemacht. Ein wesentliches Ziel des Projekts „Gesellschaftliche Integration“ besteht darin, Wege zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt aufzuzeigen: Welche Reformimpulse und Handlungskonzepte führen Deutschland in eine soziale, demokratische und nachhaltige Zukunft? In Konferenzen, Tagungen, Dialogforen und Fachgesprächen diskutieren Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und aus der Praxis diese Fragestellung und entwerfen Konzepte und Lösungsansätze für eine stärkere soziale Gerechtigkeit. Die vorliegende Publikation will der gegenwärtigen Debatte um mehr Chancengerechtigkeit, Teilhabe und Verwirklichungschancen neue Impulse geben und sie nachhaltig anregen. So sind in der Broschüre die Ergebnisse von fünf Fachtagungen zusammengefasst, die 2007 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wege zu einem stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zu folgenden gesellschaftspolitisch brisanten Themen durchgeführt wurden: • Integration durch Partizipation „Agieren statt resignieren! Wege zu stärkerem Engagement in unserer Gesellschaft“ (30. März 2007) • Integration durch Arbeit „Arbeiten um zu leben – leben um zu arbeiten? Instrumente und Mo- 9 delle von Arbeit und Beschäftigung“ (21. März 2007) „Aufschwung in Deutschland – für alle? Anforderungen an die Arbeitsmarktpolitik“ (26. Juni 2007) • Integration durch Beteiligung Die (Wieder)Entdeckung der Mitarbeiterbeteiligung. Kapitalbeteiligung und Belegschaftsaktie – Wege zu stärkerer ökonomischer Teilhabe?“ (10. Mai 2007) • Integration und Gesellschaft „Sozial und gerecht?! Grundeinkommen, Bürgergeld und Grundsicherung in der Debatte“ (10. Oktober 2007) Neben der Dokumentation der Vorträge und Diskussionsverläufe der jeweiligen Fachtagungen wird am Beginn jedes Kapitels der übergreifende Kontext des Themas skizziert. Dabei werden auch wichtige Fragen und Argumentationslinien der öffentlichen Debatte vorgestellt. Unser herzlicher Dank geht an alle Beteiligten dieses Projektes, die mit ihren fundierten Beiträgen und ihrem großen Engagement zum Gelingen der Fachtagungen und dieser Broschüre beigetragen haben. Auch allen Gästen sei gedankt, die sich in die Diskussionen eingebracht und mit ihren Fragen und Anregungen den offenen und kreativ-konstruktiven Dialog bereichert haben, dem sich das Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung in seiner Arbeit verpflichtet fühlt. 10 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G 1 Politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe Engagement und Partizipation Dr. Angela Borgwardt, Politologin Politische Beteiligung und bürgerschaftliches Engagement1 sind Aus- • die Übernahme öffentlicher Funktionen oder Ämter. druck der Partizipation der Bürgerin- Auch zunächst „politikfern“ erschei- nen und Bürger – und somit ihrer nende Beteiligungsformen prägen das Mitwirkung und Teilhabe am politi- öffentliche Leben und sind grundle- schen, sozialen und kulturellen Leben. gendes Element der sozialen Verfasst- Erst aktive Partizipation legitimiert eine heit einer Gesellschaft: Demokratie und erfüllt sie mit gesell- • informelles soziales und kulturelles schaftlichem Leben. Neben der Beteiligung an Wahlen – als formalisierte und punktuelle Form der politischen Mitwirkung – bietet eine funktionierende Demokratie zahlreiche aktivere Möglichkeiten der Partizipa- Engagement, z.B. in der Krankenpflege oder in Kultureinrichtungen, • Mitwirkung in Vereinen, Verbänden und Kirchen, • Mitarbeit in Nachbarschaftsinitiativen und Selbsthilfegruppen. tion, vor allem Die Partizipation der Bevölkerung • langfristiges Engagement in poli- stärkt den sozialen Zusammenhalt einer tischen Organisationen, z.B. in Par- Gesellschaft. Mangelnde Partizipation teien, Gewerkschaften, NGOs, hingegen führt zu fehlenden Einfluss- • kurzfristige Beteiligung an Bürger- und Gestaltungsmöglichkeiten der Bür- initiativen, Projekten und politischen gerinnen und Bürger, sie verringert ihre Aktionen (z.B. Demonstrationen, soziale Zugehörigkeit und erzeugt Aus- Unterschriftensammlungen), grenzungs- und Ohnmachtsgefühle. 1 „Bürgergesellschaftliches Engagement“ bezeichnet das politische, soziale und kulturelle Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, die sich in einer Demokratie selbst organisieren, zwischen Staat, Markt und Privatsphäre im öffentlichen Raum agieren und für gemeinsame Ziele eintreten. Ihre Tätigkeiten sind freiwillig bzw. ehrenamtlich und durch eine Verantwortung für das Gemeinwohl gekennzeichnet. Vgl. dazu den Bericht der Enquetekommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, Bundestags-Drucksache 14/8900, Berlin 2002. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 11 Insofern kann das Ausmaß der Partizi- tiven, zeitlich befristete Projekte und pation von Einzelnen oder gesellschaft- Aktionen.3 Insbesondere die jüngere lichen Gruppen als Gradmesser ihrer Generation bevorzugt spontane, flexib- sozialen Integration bzw. Ausgrenzung le und informelle Formen der politi- gelten. Die Möglichkeiten, politisch zu schen Partizipation, die zeitlich und partizipieren und am gesellschaftlichen thematisch begrenztes Engagement er- Leben teilzuhaben, sind vielfältig ab- möglichen.4 gestuft, kein Entweder-oder von „Inklusion“ und „Exklusion.“2 Das bürgerschaftliche, freiwillige und ehrenamtliche Engagement5 ist In den letzten beiden Jahrzehnten in den letzten Jahren tendenziell ge- hat sich in Deutschland das politische stiegen. Ein Drittel der Bürgerinnen und Engagement der Bürgerinnen und Bür- Bürger engagiert sich längerfristig frei- ger verändert: Das in Umfragen bekun- willig, im Sinne einer regelmäßig prak- dete politische Interesse und die Wahl- tizierten Tätigkeit, ein weiteres Drittel beteiligung ist gesunken, die Mitwir- beteiligt sich sporadisch, ohne kontinu- kung in „klassischen“ etablierten In- ierlich Aufgaben zu übernehmen. Ins- teressenorganisationen und Verbänden gesamt sind etwa 70 Prozent der Bevöl- deutlich zurückgegangen; besonders kerung (ab 14 Jahre) im weiteren Sinne stark zeigt sich diese Tendenz im „Mit- „gemeinschaftsaktiv“, d.h. in Vereinen, gliederschwund“ der Gewerkschaften Organisationen und anderen Gruppen und Parteien. des öffentlichen Lebens engagiert. Der Gleichzeitig haben nicht institutiona- mit Abstand größte Sektor freiwilligen lisierte Formen des politischen Engage- Engagements ist „Sport und Bewegung“, ments zugenommen, wie Bürgerinitia- gefolgt von „Schule und Kindergarten“, großen politischen 2 Darauf verweist z. B. Martin Kronauer: Inklusion – Exklusion: ein Klärungsversuch. Vortrag auf dem 10. Forum Weiterbildung des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, Bonn, 8.10.2007. Im Internet unter: www.die-bonn.de/doks/kronauer0701.pdf. 3 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.) in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen, Mannheim (ZUMA): Datenreport 2006. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2006. 4 Vgl. Shell-Jugendstudien 2002 und 2006. 5 Basierend auf der Definition der Enquetekommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“: Bürgerschaftliches Engagement ist freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, gemeinwohlorientiert, findet im öffentlichen Raum statt und wird in der Regel gemeinschaftlich bzw. kooperativ ausgeübt. Die Bürgerinnen und Bürger übernehmen freiwillig bzw. ehrenamtlich Aufgaben, Ämter und Arbeiten und damit gesellschaftliche Verantwortung für das Gemeinwesen und öffentliche Belange. 12 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G an dritter Stelle stehen „Kirche und Religion“ und „Kultur und Musik“. 6 und nicht Erwerbstätige. Die Bedeutung der Bildung für die Wahrneh- Sowohl bei der politischen Beteili- mung von Partizipationschancen gung wie beim bürgerschaftlichen En- wird in Zukunft vermutlich weiter gagement haben sich die Formen der steigen. Partizipation verlagert: weg von etab- • Das bürgerschaftliche Engagement lierten traditionellen Großorganisatio- steigt mit der sozialen Einbindung nen hin zu kleinen, befristeten Orga- einer Person, mit der Stärke der Kir- nisations- und Aktionsformen. chenbindung und mit einer sozialen Hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Partizipation zeigen 7 und öffentlich engagierten Werthaltung. sich soziale Unterschiede: Eine besonders geringe Partizipation ist • Einkommensarme Bevölkerungsgrup- bei Bevölkerungsgruppen mit niedri- pen engagieren sich deutlich weniger gem Einkommen, geringer Bildung, bei als einkommensstarke – das betrifft Menschen mit Migrationshintergrund die politische Beteiligung wie auch und längerfristig Arbeitslosen festzu- das freiwillige Engagement. Im un- stellen. Migrantinnen und Migranten tersten Einkommensbereich ist das sind im öffentlichen Leben der Auf- Engagement am schwächsten ausge- nahmegesellschaft unterrepräsentiert, prägt. haben aber ausgeprägte Bindungen • Personen mit höheren Bildungsab- innerhalb interner sozialer Netze, z.B. schlüssen sind häufiger politisch und in Migrantenvereinen und -communi- gesellschaftlich engagiert: Beamte, ties. höhere Angestellte und Selbstständige Die dauerhaft geringe Partizipation weisen höhere Engagementquoten gesellschaftlicher Gruppen kann zu auf als Arbeiter, einfache Angestellte sozialen Ausgrenzungsprozessen führen 6 Die Ergebnisse beziehen sich auf den Freiwilligensurvey, der die umfassendste quantitative Untersuchung zum bürgerschaftlichen, freiwilligen Engagement in Deutschland darstellt. Die repräsentativen Umfragen werden vom Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest Sozialforschung seit 1999 im Auftrag der Bundesregierung durchgeführt (inzwischen zwei Befragungswellen 1999 und 2004). Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004. Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement, München 2005. 7 Vgl. Bundesregierung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland. Der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht, Berlin 2005, S. 187ff. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N und birgt somit die Gefahr einer „ge8 13 tionen schwindet und Legitimations- spaltenen Gesellschaft“ . Eine solche verluste des politischen Systems ent- Entwicklung könnte schwerwiegende stehen. Folgen haben, da Partizipation, gesell- In der öffentlichen Debatte steht schaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe deshalb die Frage im Mittelpunkt, wie die sozialen Grundlagen einer demo- die politischen und gesellschaftlichen kratischen Gesellschaft darstellen. Es Partizipationsangebote verbessert wer- besteht die Gefahr, dass sich gering den können: Was kann getan werden, beteiligte Bevölkerungsgruppen vom um allen Bürgerinnen und Bürgern die Staat und der bestehenden Gesell- gleichen Möglichkeiten für selbst orga- schaftsordnung abkehren, das Vertrau- nisierte Mitgestaltung, politische und en in politische Akteure und Institu- gesellschaftliche Teilhabe zu eröffnen? 8 Vgl. Norbert Brömme/Hermann Strasser: Gespaltene Bürgergesellschaft? Die ungleichen Folgen des Strukturwandels von Engagement und Partizipation. Aus Politik und Zeitgeschichte B25-26/2001, S. 6–14. 14 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G „Agieren statt resignieren! Wege zu stärkerem Engagement in unserer Gesellschaft“ Wir entscheiden – Demokratie ist mehr als wählen gehen Dr. Harald Klimenta Autor und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Dr. Harald Klimenta berichtete in sei- Politik auf dem Weg zu einer kritischen nem Vortrag über seine Erfahrungen bei Zivilgesellschaft. Attac. Er versteht sich als „Bewegungs- Klimenta verdeutlichte, dass sich bei arbeiter“, der versucht, Menschen zu der Attac-Bewegung vor allem gebildete politischer Mitarbeit und Gestaltung Menschen mit einem positiven Welt- außerhalb der Parlamente und der Par- bild engagieren. Das tragende Rückgrat teien zu motivieren, also Mut zu zivil- seien Bildungseliten in Lebensverhält- gesellschaftlichem zu nissen, die den Aktiven als hinreichend machen. Klimenta informierte über Engagement gesichert erscheinen. Dagegen seien Attac und die Akteure, die sich in dieser sozial benachteiligte Menschen kaum Bewegung hauptsächlich engagieren. bei Attac aktiv, was Klimenta darauf Er beschäftigte sich aber auch mit der zurückführte, dass ihre Kapazitäten von Frage, welche Akteure und Strukturen den Erfordernissen der physischen und wirkungsvolles politisches Engagement psychischen Lebensbewältigung er- grundsätzlich braucht und wie Men- schöpft sind. Menschen, die in Armut schen dauerhaft zum politischen Enga- oder prekären Verhältnissen leben, gement motiviert werden können. Am beteiligten sich nur punktuell bei öf- Schluss skizzierte er die Aufgaben der fentlichen Aktivitäten, wie es z.B. bei P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N den Protesten gegen die Hartz IV-Reformen der Fall war. Entscheidende Impulse gehen nach 15 Politische Bewegungen und Initiativen brauchen nach Klimenta zudem eine tragfähige, verständliche Vision – Klimentas Auffassung von einzelnen vor allem eine positive Vision von einer Persönlichkeiten aus: Konkrete Bürger- zukünftig anderen Realität. Dieses posi- initiativen entstünden oft durch das tive Weltbild müsse von der Hoffnung Engagement einer einzelnen Person, die bzw. der Überzeugung getragen sein, den Mut hat, ihre Meinung deutlich zu etwas zum Besseren verändern zu kön- sagen und zugleich dazu fähig ist, Pro- nen. test zu organisieren. Aber auch in Bezug Wirksamkeit und Erfolge ergeben auf kontinuierliches Engagement habe sich nach Klimentas Ansicht letztlich sich bei Attac gezeigt, dass Regional- nur durch langfristiges Engagement. gruppen dann am ehesten weiter beste- Kurzfristiges Engagement wirke meist hen und wachsen, wenn gebildete Ak- nur wie ein Strohfeuer, das sogar kon- tive mit koordinativen Fähigkeiten und traproduktive Auswirkungen haben Ausstrahlung die Engagierten zusam- könne und keine nachhaltigen Erfolge menhalten. Fehle solch ein „integratives nach sich ziehe. Er stellte die These in Alpha-Tierchen“, würden diese Grup- den Raum, dass Engagement, das nur pen häufig wieder einschlafen oder aus eigener Betroffenheit resultiert (wie stagnieren. z.B. bei den Hartz IV-Protesten), nur Notwendig sei auch eine Basis in der selten dauerhaft sei – und daher in sei- Bevölkerung. Leider fehle es häufig an nen Wirkungen äußerst beschränkt einem politischen Bewusstsein der Bür- bleibe. gerinnen und Bürger, die Gesellschaft Ein wichtiges Ziel ist für Klimenta, oft nur noch als Familie oder als Freun- den Menschen prinzipiell Mut zum deskreis wahrnehmen, jedoch weniger Engagement zu machen. Den Bürge- als Nachbarschaft oder als Kommune. rinnen und Bürgern müsse vermittelt Damit eine „kritische Zivilgesellschaft“ werden, dass sie mit Engagement etwas lebendig werden könne, müssten die erreichen können und dass Politik und Menschen jedoch erkennen, dass sie in Gesellschaft prinzipiell änderbar sind. einer Gemeinschaft leben und auch ein Dies gelte insbesondere für die sozial „Wir“ sind; sie müssten lernen, „mit benachteiligten Bürger, die meist nicht hoher Lautstärke wenige Themen ge- daran glauben, dass Veränderungen meinsam zu orchestrieren“, dann könn- möglich sind. ten sie auch etwas bewegen. 16 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Gut zu mobilisieren seien bereits len, sich in die Gemeinschaft einzu- politisierte Menschen, die das Bedürfnis bringen, müsse eine neue Balance ge- haben, angesichts wahrgenommener funden werden zwischen individualis- Mängel die Politik zu verbessern. Die tischen bzw. egoistischen Interessen Partizipation politikferner Gruppen einerseits und Gemeinwohlinteressen kann nach Klimentas Auffassung nur andererseits. dann erreicht werden, wenn diese Von entscheidender Bedeutung ist spüren, dass sie wirklich eingebunden für Klimenta, mit den Bürgerinnen und werden und mitgestalten können. Bürgern zu sprechen und sie zu infor- Grundsätzlich könnten die Menschen mieren. Attac arbeitet in diesem Bereich für jedes Thema zum Engagement mo- mit einer Vielfalt an Mitteln, um die bilisiert werden, doch sei die Fokussie- Menschen für politische Themen zu rung auf ein bestimmtes Thema von interessieren: Dazu gehören Bildungs- Vorteil. Konkrete Themen und kreative veranstaltungen, Infostände, Seminar- Aktionen würden den Einstieg erleich- reihen und Sommerschulen, aber auch tern bzw. die Bereitschaft zum Enga- gemeinsame Aktionen mit Koopera- gement steigern. Dagegen sei die Mo- tionspartnern. So schließen sich z.B. bilisierung bei abstrakten Themen viel Attac-Gruppen mit Vereinen vor Ort schwieriger. zusammen und führen gemeinsame Günstig wirke sich auch die regio- Veranstaltungen durch, um dafür zu nale Nähe eines Themas aus. Ein guter werben, sich für bestimmte Themen Weg sei es, die Menschen über kom- einzusetzen. Der Appell, sich politisch munale Fragen zu erreichen, für ein zu engagieren, müsse möglichst breit Thema in ihrem Umfeld zu aktivieren. nach außen getragen werden. So könnte am Beginn eines politischen Dauerhaftes Engagement braucht Engagements z.B. ein Bürgerprotest aber unverzichtbar Erfolgserlebnisse, so gegen die geplante Schließung eines Klimenta: „Um Menschen zu langfris- Schwimmbads stehen. Klimenta be- tigem politischen Engagement zu mo- trachtet Nachbarschaften, Stadtteile tivieren, müssen sie Erfolge sehen – um und Regionen als wichtige Orte politi- viele Menschen zu politischer Partizi- scher Partizipation, in denen aufgrund pation zu bewegen, müssen sie an Er- persönlicher Nähe Verantwortungsbe- folge glauben.“ wusstsein besser gedeihen kann. Wenn Deshalb sei es wichtig, sich zunächst Menschen dazu motiviert werden sol- nur kleine, erreichbare Ziele zu setzen, P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 17 damit die Engagierten durch Erfolge Stadtteilebene – ansetzen, vor allem ermutigt werden. Für Attac sei es auf durch die Förderung direktdemokrati- regionaler Ebene schon ein Erfolg, kon- scher Elemente und eine ausreichende krete Privatisierungsvorhaben zu ver- Finanzierung der Kommunen. hindern oder kleine Veränderungen in Politik müsse insgesamt stärker in- Unternehmen durchzusetzen, wie z.B. tegrativ ausgerichtet sein und Rand- die Aufnahme von Transfair-Produk- gruppen bzw. sozial Benachteiligte oder ten ins Warenangebot. Ausgegrenzte eingliedern. Wichtig sei Vor welchen Aufgaben steht die Politik? deshalb eine Politik, die auf sozialen Ausgleich setzt, z.B. durch die Einfüh- Klimenta betrachtet es als unbedingt rung von Mindestlöhnen und eine notwendig, dass die Bürgerinnen und Umkehr des Trends kurzfristiger Arbeits- Bürger von der Politik wirklich ernst verträge. Im Bereich politischen Enga- genommen werden: Wenn Partizipa- gements spiele die allgemeine Sozial- tionsmodelle oder Bürgerentscheide politik eine wichtige Rolle. durchgeführt werden, dann müssten In der Wertevermittlung sei gezielt die artikulierten Meinungen auch tat- darauf hinzuwirken, dass demokrati- sächlich berücksichtigt werden; Ein- sche Werte, die Verantwortung für an- wände und Anregungen aus Bürger- dere Menschen und politische Partizi- beteiligungsverfahren dürften nicht – pation im Vordergrund stehen – und wie so oft bei Bebauungsvorhaben – nicht Werte, die sich an Konsum, Kon- einfach übergangen werden. Die Politik kurrenzdenken, Eigennutz und indivi- müsse ihre Wertschätzung demokra- dueller „Freiheit von allen Verpflich- tischer Kultur deutlicher zeigen und das tungen“ orientieren. Engagement der Bevölkerung mit Ein- Klimenta ist davon überzeugt, dass fluss- und Gestaltungsmöglichkeiten sich politisches Engagement zukünftig belohnen. immer weniger in Parteien und Gewerk- Da in den Kommunen die Bürge- schaften abspielen wird, sondern zu- rinnen und Bürger die Erfolge ihres nehmend gerade dort, wo im konkreten Mitgestaltens unmittelbar erleben kön- Fall etwas passieren muss – darauf müs- nen, müsse die Politik auf regionaler se sich die Politik einstellen. und kommunaler Ebene – auch auf 18 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Armut – soziale Ausgrenzung – Partizipation: Politische Teilhabe aus dem gesellschaftlichen „Abseits“? Dr. Dietrich Engels Geschäftsführer des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, Köln In meinem heutigen Vortrag möchte materiellen Mitteln, um den Lebens- ich drei Fragen behandeln: unterhalt zu bestreiten. Dabei handelt • Welche unterschiedlichen Perspekti- es sich um einen „absoluten Armutsbe- ven auf „Armut“ und „Ausgrenzung“ griff“, da der minimale Lebensstandard gibt es? in einem absoluten Geldbetrag benannt • Wie sieht es mit den faktischen Chancen politischer Teilhabe aus? • Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich daraus? werden kann. Im zweiten Ansatz ist Armut Ausdruck sozialer Ungleichheit. Armut wird im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte oder zur gesellschaftlich akzeptablen Lebensweise definiert. Es geht I. Armut und Ausgrenzung in unterschiedlicher Perspektive hier um „relative Armut“, weil sie in Beziehung zu etwas gefasst wird. Arm ist nach dieser Definition jeder, der we- Was heißt eigentlich „Armut“ und „so- niger als 60 Prozent des Durchschnitts- ziale Ausgrenzung“? Es können min- einkommens zur Verfügung hat. destens drei Ansätze zur Definition Im dritten Ansatz wird nicht nur unterschieden werden, die meiner materielle Armut betrachtet, sondern Meinung nach jedoch zusammenge- der Aspekt der sozialen Ausgrenzung in hören bzw. integriert zu sehen sind. den Mittelpunkt gestellt, die Exklusion. Im ersten Ansatz bedeutet Armut Armut ist demnach verbunden mit einer „unterer Lebensstandard“. Armut ist Ausgrenzung aus verschiedenen gesell- gekennzeichnet durch einen Mangel an schaftlichen Bereichen, wie dem Bil- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 19 dungs- und dem Beschäftigungssystem, Daraus ergeben sich dann bestimmte einem hinreichenden Lebensstandard, Durchschnittsbeträge. einer guten Gesundheitsversorgung Wie viele Menschen in Deutschland oder einer guten Wohnqualität. müssen von solchen Leistungen der Im Folgenden werde ich nun die Mindestsicherung leben? verschiedenen Auffassungen von Armut 7,1 Millionen Menschen beziehen und sozialer Ausgrenzung auf die Situa- Leistungen nach dem SGB II, also Ar- tion in Deutschland beziehen. beitslosengeld II oder das entsprechen- In Deutschland gibt es in Bezug auf de Sozialgeld für Familienangehörige den materiellen Lebensunterhalt ein – auch bekannt unter dem Stichwort System der Mindestsicherung. Dazu „Hartz IV“. Sie stellen den größten Teil gehören das Arbeitslosengeld II, die der Leistungsbezieher. 540.000 Men- Sozialhilfe und die Grundsicherung im schen erhalten Sozialhilfeleistungen, Alter und bei Erwerbsminderung. Die davon 80.000 die frühere Sozialhilfe Mindestsicherung umfasst bestimmte und 460.000 die Grundsicherung im Regelleistungen pro Person sowie die Alter und bei Erwerbsminderung. Ins- Übernahme der Miete und Heizkosten. gesamt leben also 7,6 Millionen bzw. Durchschnittlicher Bedarf an Leistungen der Mindestsicherung (SGB II, SGB XII) Deutschland (Stand: 1. Januar 2007) Typ der Bedarfsgemeinschaft Regelsätze Mehrbedarf Kaltmiete Heizkosten Alleinlebende/r 345 / 272 56 673 Ehepaar ohne Kind 622 / 356 76 1.054 844 1.066 1.288 / / / 420 474 533 85 87 102 1.349 1.627 1.923 124 124 356 420 76 85 1.108 1.457 Ehepaar mit Kindern einem Kind zwei Kindern drei Kindern Alleinerziehende/r mit einem Kind unter 7 J. zwei Kindern, 7 u. 14 J. 552 828 Summe €/Monat 20 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G 9,4 Prozent der deutschen Bevölkerung auf diesem Grundsicherungsniveau. Wie groß ist dabei der Anteil der Bürger/innen mit Migrationshintergrund? Von „relativer Armut“ wird gesprochen, wenn weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens erreicht wird. Wie wird dieser Betrag berechnet? Betrach- Der Anteil der Migrantinnen und tet werden die Einkommensbezieher Migranten an der deutschen Bevölke- nach der Höhe ihres äquivalenzgewich- rung beträgt 8,8 Prozent, doch 18,8 teten Nettoeinkommens. Das „Median- Prozent bei den Beziehern der Grundsi- einkommen“ ist das Einkommen, das cherung für Arbeitsuchende, hier liegt genau in der Mitte liegt; in Deutschland ihr Anteil also 10 Prozentpunkte höher. beträgt es 1.250 Euro pro Person – das In der Sozialhilfe und auch insgesamt heißt, 50 Prozent der Bevölkerung ver- sind 19 Prozent der Bezieher von Min- dienen mehr und 50 Prozent weniger. destsicherungsleistungen Migranten 60 Prozent von diesen 1.250 Euro sind und Migrantinnen, sie sind in diesem 750 Euro – dieser Betrag markiert die Bereich deutlich überrepräsentiert. In Armutsgrenze: Alle, die weniger als 750 Deutschland ist etwa jeder zehnte Ein- Euro im Monat zur Verfügung haben, wohner, aber jeder fünfte Migrant auf leben demnach in relativer Armut. In Mindestsicherungsleistungen angewie- Deutschland sind das insgesamt 13 sen. Soweit zum absoluten Armutsbe- Prozent der Bevölkerung, wobei sich die griff. in Deutschland lebenden Migranten Armut in Deutschland Bezieher von Leistungen der Mindestsicherung in Privathaushalten am Jahresende 2005 darunter Ausländer Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) Arbeitslosengeld II Sozialgeld Sozialhilfe (SGB XII) Hilfe zum Lebensunterhalt Grundsicherung im Alter/Erwerbsminderung Empfänger insgesamt Anteil an der Bevölkerung in PHH 7.100.647 5.224.494 1.876.153 1.334.533 981.919 352.614 18,8% 18,8% 18,8% 542.376 80.650 461.726 103.295 16.130 87.165 19,0% 20,0% 18,9% 7.643.023 9,4% 1.437.828 19,7% 18,8% P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 21 Einkommensverteilung und Armutsgrenze Äquivalenzgewichtetes Netto-Haushaltseinkommen pro Person, Deutschland 2005 1.250 € 50% der Bevölkerung 750 € 12,9% der Bevölkerung 23% der ausländ. Bev. 60% des Medianeinkommens Median ISG 2006 Quelle: SOEP 2005, Berechnungen des ISG häufiger in dieser Lebenslage befinden, eine Erwerbstätigkeit erreichbar, wenn hier sind es sogar 23 Prozent. man nicht über entsprechendes Ver- Wie schon bei der absoluten Armut mögen verfügt. Eine Erwerbstätigkeit zeigt sich also auch bei der relativen mit entsprechenden Verdienstmöglich- Armut eine sehr viel stärkere Betroffen- keiten setzt jedoch wiederum eine ge- heit der Migrantinnen und Migranten. wisse Qualifizierung und berufliche Nun zum dritten Armutskonzept, in Bildung voraus sowie eine physische dem die Ausgrenzung aus einzelnen und mentale Leistungsfähigkeit, die sozialen Bereichen betrachtet wird. Die durch einen guten Gesundheitszustand Grundidee ist, dass man einen gewissen unterstützt wird. materiellen Lebensstandard braucht, Wenn man aus irgendwelchen Grün- um sich zum Beispiel eine bestimmte den den Zugang zu einem dieser Be- Wohnqualität oder die Teilhabe an reiche nicht schafft, diese Zugangskri- Kultur leisten zu können. Dieser Le- terien also nicht erfüllt, dann ist man bensstandard ist eigentlich nur durch ausgegrenzt – zunächst einmal aus 22 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Armut als materielle und nicht-materielle Ausgrenzung (soziale Exklusion) Voraussetzungen sozialer Inklusion Bildung Gesundheit Beschäftigung Qualifizierung, berufliche Bildung physische und mentale Leistungsfähigkeit Kapital Transfers monetärer Einkommen Bereich Wohnqualität Partizipation Lebensstandard Wohnen, Umwelt Freizeit Kultur einem bestimmten gesellschaftlichen gesellschaftliche Ausgrenzung, eine Bereich. Das ist noch nicht allzu tra- problematische Exklusion wird. gisch, da es Möglichkeiten gibt, diesen Mangel auszugleichen. Wenn man aber Wie haben sich Exklusion und Inklusion in Deutschland entwickelt? aus zentralen gesellschaftlichen Berei- Einerseits hat „Hartz IV“ für die chen ausgegrenzt ist, indem man den klassischen Sozialhilfeempfänger eine Zugang grundsätzlich nicht schafft – Verbesserung gebracht, da sie nun z.B. die Zugangskriterien zum System gleichberechtigt in Arbeitsvermittlung der Beschäftigung nicht erfüllt – dann und Qualifizierung aufgenommen sind. hat das gravierende Auswirkungen. Die Andererseits ist längerfristig abzusehen, Folge kann dann sein, dass aus einer dass Geringqualifizierte kaum Chan- mehrfachen Ausgrenzung eine gesamt- cen auf reguläre Beschäftigung haben. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 23 Schon seit Jahrzehnten ist die Nachfra- selbst für Menschen, die es schwer ha- ge nach gering qualifizierten Arbeits- ben, eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt kräften rückläufig, was sich künftig zu bekommen. weiter fortsetzen wird. Dennoch würde ich bei dieser Personengruppe nicht von „Ausgegrenzten“ oder von „abge- II. Chancen der politischen Teilhabe hängtem Prekariat“ sprechen, da es in unserer Gesellschaft weiterhin Syste- Hier schließt sich die Frage nach den me gibt, die diese Menschen relativ gut Chancen der politischen Teilhabe an. einbeziehen. So sind das Bildungssys- Angesichts der Gefahr einer dauerhaf- tem und das Gesundheitssystem, aber ten Ausgrenzung ist es sehr wichtig, auch die Mindestsicherung allgemein aktiv zu werden und sich in verschie- zugänglich. Im Vergleich zu anderen denen gesellschaftlichen Bereichen zu Gesellschaften, wie beispielsweise in engagieren. Doch welche Chancen be- den USA, ist bei uns eine recht gut funk- stehen tatsächlich, an der gesellschaft- tionierende Inklusion vorhanden – lichen Gestaltung mitzuwirken? Einkommenslage und politische Partizipation Mitgliedschaft in... Politischer Partei 4% 3% 4% Gewerkschaft UmweltschutzOrganisation Insgesamt 7% 1% unter Armutsrisikogrenze 15% 17% über Armutsrisikogrenze 5% 5% Beteiligung an... Unterschriftensammlung 45% Demonstration 18% 17% 18% Bürgerinitiative 17% ISG 2004 Quelle: Allbus 2000 23% 24% 53% 55% 24 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Bei Mitgliedschaften in einer poli- monstrationen, Bürgerinitiativen oder tischen Partei zeigt sich zunächst kein anderen politischen Aktivitäten – über- großer Unterschied: Mitglied in einer all zeigt sich das gleiche Bild: Menschen, Partei sind 3 Prozent der Menschen die von Armut betroffen sind oder ein unter der Armutsrisikogrenze und 4 hohes Armutsrisiko haben, beteiligen Prozent der Menschen über der Ar- sich auch an diesen Formen der poli- mutsrisikogrenze. tischen Partizipation weniger. Bei Gewerkschaften ist der Unter- Betrachten wir die Parteimitglied- schied sehr viel deutlicher. Insgesamt schaft noch einmal näher – hier haben sind 15 Prozent der Bevölkerung Mit- wir ja zunächst angenommen, dass der glieder der Gewerkschaft, aber nur 7 Unterschied zwischen Einkommens- Prozent der Einkommensarmen. starken und -armen sehr gering ist. Ob es um die Mitgliedschaft in einer Unterteilt man die Bevölkerung in Umweltschutzorganisation geht, um fünf Einkommensgruppen (fünf Quin- die Beteiligung an Spontanaktivitäten tile bzw. Fünftel), dann zeigt sich: Das wie Unterschriftensammlungen, De- oberste Quintil in der Einkommens- Parteimitgliedschaft nach Einkommensschichtung 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 3,0% 2,2% 2,7% 4. Quintil 4,8% 5. Quintil Insgesamt 6,7% 3,9% Mitglied einer Partei ISG 2004 Quelle: Allbus 2000 P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 25 verteilung, also die 20 Prozent der Be- Umweltschutzorganisationen, die Mit- völkerung mit hohem Einkommen, gliedschaft in einer politischen Partei engagieren sich mehr als doppelt so lag bei null Prozent. stark wie einkommensarme Personen In allen Bereichen zeigte sich eine (unterstes Quintil) und können sich geringere politische Partizipation der somit mit ihren Interessen am ehesten Migranten und Migrantinnen. durchsetzen. Diese Schlussfolgerung ist meines Erachtens sehr wichtig. Eine Anmerkung zur Datenbasis: Die Zahlen stammen aus der ALLBUS- Vergleicht man nun die politische Statistik, die auf der Befragung von 3.000 Partizipation der Bürgerinnen und Bür- Personen basiert; es handelt sich somit ger mit Migrationshintergrund und um eine relativ kleine Stichprobe, so- der deutschen Bevölkerung, so werden dass gewisse Gruppen möglicherweise gravierende Unterschiede deutlich. unterrepräsentiert sind. Wenn es also Bei der untersuchten Personen- heißt: „Null Prozent“ der Migranten gruppe zeigte sich: Migranten und sind Mitglied in einer politischen Par- Migrantinnen waren erheblich seltener tei, dann kann das auch 0,3 oder 0,4 Mitglieder von Gewerkschaften oder Prozent heißen. Herkunft und politische Partizipation Mitgliedschaft in... Politischer Partei 0% 4% 4% Gewerkschaft UmweltschutzOrganisation Insgesamt 9% Bürgerinitiative ISG 2007 Quelle: Allbus 2000 mit Migrationshintergrund 5% 5% 3% Beteiligung an... Unterschriftensammlung Demonstration deutsch 15% 15% 25% 10% 12% 18% 18% 23% 24% 53% 55% 26 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Zudem sagt diese Zahl auch nichts zent von ihnen engagieren sich, hinge- allgemein über das Engagement von gen 34 Prozent der Menschen, die über Migranten und Migrantinnen aus: So der Armutsgrenze leben. Aber auch wird hier z.B. nicht die Beteiligung in zwischen Deutschen und Migranten türkischen Vereinen erfasst, die zum besteht hier ein ganz klarer Unter- Teil immens hoch ist. Unter dem Aspekt schied: Offenbar ist die Mitwirkung an der Integration bzw. Partizipation ist gesellschaftlicher Gestaltung sehr un- aber sehr umstritten, inwieweit dieses gleich. große Engagement in türkischen Ver- Bei der regelmäßigen Mitwirkung in einen in die Gesamtgesellschaft hinein Sport-, Hobby- oder Freizeitclubs sind wirksam ist. die Ergebnisse ähnlich: Personen unter Betrachten wir das bürgerschaftliche der Armutsrisikogrenze sind deutlich Engagement. Insgesamt sind 33 Prozent weniger engagiert als andere. In Nach- der Bevölkerung engagiert. Doch bei barschaftsvereinen und -gruppen ist der den Bürger/innen, die unter der Armuts- Unterschied zwar gering, aber auch grenze leben, zeigen sich hier unter- hier bestätigt sich die durchgängige durchschnittliche Werte: Nur 24 Pro- Tendenz. Bürgerschaftliches Engagement nach Einkommensschichtung insgesamt unter Armutsrisikogrenze 33,0% 24,8% über Armutsrisikogrenze 34,2% Deutsche Migranten ISG 2004 Quelle: Allbus 2002 37,0% 23,0% P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 27 Mitwirkung in Freizeitgruppen und Nachbarschaft Anteil regelmäßige Mitwirkung unter der Armutsrisikogrenze Anteil regelmäßige Mitwirkung über der Armutsrisikogrenze regelmäßige Mitwirkung in... Sport-, Hobby-, Freizeitclub 39,1% 47,3% Nachbarschaftsverein, -gruppe 10,9% 12,2% Form der sozialen Einbindung Quelle: Allbus 2002, Berechnungen des ISG Weitere Indizien ergeben sich aus Untersuchungen über das Engagement und die im weiteren Gespräch noch diskutiert werden könnten: von Jugendlichen, also zum Beispiel bei Die Ergebnisse sind deutlich – doch der Bereitschaft zu einem freiwilligen was kann man tun, um das Resignieren sozialen oder ökologischen Jahr. So hat zu verhindern und das Agieren zu un- eine Evaluationsstudie des ISG (2006) terstützen? ergeben, dass Hauptschüler und Mi- • Von entscheidender Bedeutung ist granten in diesem Bereich deutlich eine wirkungsvolle Prävention gegen unterrepräsentiert sind; es sind weitge- die „Abwärtsspirale“. Es ist außer- hend Gymnasiasten und Realschüler, ordentlich wichtig, eine frühzeitige die diese Möglichkeiten nutzen. Einbindung in gesellschaftliche Mit- Auch bei der Altersgruppe der Seni- gestaltung und politische Teilhabe zu oren sind Arbeiter und einfache Ange- erreichen. Dabei kann in allen mög- stellte sowie Migranten unterrepräsen- lichen Bereichen wie Sport, Kultur, tiert; dies ergab sich aufgrund der Wohnung, Bildung angesetzt wer- Evaluation des Projekts „Seniortrainer den. – junge Alte, die sich engagieren“. Das • Gezielte Engagementförderung: So- gleiche Ergebnis gilt für das freiwillige weit Engagement von politischer Engagement insgesamt. oder staatlicher Seite auch finanziell Schließen möchte ich mit einigen gefördert wird – wie z.B. das frei- Punkten, die mir wichtig erscheinen willige soziale Jahr oder Modellpro- 28 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G jekte –, gibt es auch die Möglichkeit, • In der Armutsforschung und in der inhaltlich Einfluss zu nehmen. Hier Armutsberichterstattung ist es von wäre eine entsprechende Steuerung großer Bedeutung, nicht nur den wichtig, um auf eine bessere Ein- materiellen Aspekt der Armut zu bindung sozial benachteiligter und berücksichtigen, sondern sich an bildungsferner Gruppen gezielt hin- einem umfassenden Verständnis von zuwirken. sozialer Inklusion zu orientieren, das • Politik- Interessenvertretung heißt: alle Aspekte im Blick zu haben, sollte auf konkrete Anlässe bezogen und insbesondere die Ausgrenzung aus sein und nicht von „oben“ organisiert bzw. die aktive Einbeziehung von werden. Menschen in die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Wie kann politisches und zivilgesellschaftliches Engagement gefördert werden? Podiumsdiskussion mit Dr. Dietrich Engels Geschäftsführer des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, Köln Eric Feise Leiter des gEMiDe, Modellprojekt zur Förderung des gesellschaftlichen Engagements von MigrantInnen und eingebürgerten Deutschen durch ehrenamtliche Tätigkeit, Hannover Elke Ferner, MdB Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin Burgunde Grosse Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Bezirk Berlin-Brandenburg, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Susanne Huth Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), INBAS Sozialforschung GmbH, Frankfurt am Main Moderation: Ferdos Forudastan Freie Journalistin, Köln 29 30 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Wie können Menschen zu mehr Engagement motiviert werden? aktiv und wissenschaftliche Mitarbeiterin der INBAS-Sozialforschung in Frankfurt am Main, wies darauf hin, Für Dr. Dietrich Engels lassen sich die dass die Motivation, sich zu beteiligen, Menschen nicht mit Appellen zum in jedem Engagementbereich sehr un- Engagement bewegen. Vielmehr sollte terschiedlich ist. Sie bezog sich dabei bei den konkreten Interessen und im auf Ergebnisse des Freiwilligensurveys, Umfeld der jeweiligen Zielgruppe an- bei dem über eine repräsentative Um- gesetzt werden. Der Weg zum Engage- frage Daten zum bürgerschaftlichen ment führe oft über direkte Anlässe, Engagement in Deutschland erhoben z. B. über die Unzufriedenheit von wurden. Menschen können demnach Bürgern über einen Mangel in ihrem durchaus zum Engagement bewegt Wohngebiet. Anhand eines gemein- werden, wenn die gesellschaftlichen samen Themas könnten sie dann mit Bedingungen entsprechend gestaltet vereinten Kräften daran arbeiten, ein sind. Für viele Aktive sei Spaß und Ge- konkretes Ziel zu erreichen. Der Ver- selligkeit beim Engagement sehr wich- such, sich alleine für eine Sache zu tig, deutlich sei aber auch der Wunsch, engagieren, führe dagegen häufig in Anerkennung für diese Tätigkeit zu die Resignation. erhalten. Die Moderatorin Ferdos Forudastan Huth stimmte Engels zu, dass viele erinnerte in diesem Zusammenhang Bürgerinnen und Bürger sich vor allem daran, dass Engagement nicht nur we- dann engagieren, wenn ihre eigenen gen des Einsatzes für eine bestimmte Interessen unmittelbar berührt sind, Sache, sondern auch für den Betroffe- insbesondere im Wohnumfeld. Ent- nen wichtig sei. So könne z.B. ein Er- sprechend sind die größten Wachstums- werbsloser dadurch einen Schritt vom bereiche des Engagements gegenwärtig Rand in die Mitte der Gesellschaft tun Schule, Kindergarten, Jugend- und Er- und seine Chance auf einen Job erhö- wachsenenbildung; hier engagieren sich hen, weil er über seine Tätigkeit Leute zunehmend mehr Bürgerinnen und kennenlernt und in ein soziales Netz- Bürger. Eine wichtige Ursache dafür ist werk hineinwächst, das bei der Job- nach Huth die niedrige Einstiegsschwel- suche hilfreich sein kann. le: Man wird schneller und persönlicher Susanne Huth, im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) angesprochen und zum Mitmachen aktiviert. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 31 Die Bereiche mit dem stärksten wird. Im Idealfall sollen sich dabei auch Engagement sind nach wie vor Sport Freundschaften zwischen Migranten und Bewegung, Freizeit und Gesellig- und Deutschen entwickeln. Vermittelt keit, auch Kultur und Musik, die Kirchen werden vorrangig soziale und karitative und der soziale Bereich. Doch kann Tätigkeiten, z.B. regelmäßige Besuche diese Form des freiwilligen Engagements einer Migrantin bei einem alten kranken auch Brücke zu politischem Engage- Deutschen in einem Pflegeheim, um ment sein, das z.B. Fragen der Armut den sich sonst niemand kümmert. Zu- oder Umwelt betrifft? nehmend wichtiger wird dabei aber Nach Auffassung von Susanne Huth auch der Sport- und Bildungsbereich; sind diese Brücken zwar vorhanden, so arbeiten immer mehr Migrantin- doch es zeige sich kein eindeutiger Zu- nen und Migranten ehrenamtlich als sammenhang. Zudem sei Engagement Übungsleiter/innen in Sportvereinen. häufig an bestimmte Lebensphasen Der Wille, sich zu engagieren, ent- gekoppelt, das heißt z. B., dass mit der steht nach Feises Erfahrungen vor allem Einschulung eines Kindes die Beteili- aus dem Bedürfnis der Menschen, sozial gung der Eltern im Kindergarten in der wahrgenommen und anerkannt zu Regel zu Ende ist. werden. Die Mehrzahl der Engagierten (fast 90 Prozent) stammen aus Familien von Arbeitsmigranten aus dem tür- Wie hoch ist die Partizipation von Migrantinnen und Migranten? kischsprachigem Raum, die zwar seit 30 Jahren in Deutschland arbeiten, aber nur wenig Zugang zu den Aktivitäten Eric Feise sprach über seine Erfahrun- der deutschen Gesellschaft bekommen gen bei gEMiDe in Hannover – einem haben. Diese Menschen würden einfach Modellprojekt, das ehrenamtliches mehr an der Gesellschaft teilhaben gesellschaftliches Engagement von wollen – und ehrenamtliches Engage- Migrantinnen und Migranten und ment sei ein Schritt in diese Richtung. eingebürgerten Deutschen fördern will. Wie die Ausführungen von Feise Erklärtes Ziel ist eine bessere gesell- deutlich machten, zeigt sich beim eh- schaftliche Integration der Bürgerinnen renamtlichen Engagement von Mi- und Bürger mit Migrationshintergrund, granten jedoch eine gravierende Ge- indem ehrenamtliche Arbeit als Brücke schlechterdifferenz. So engagieren sich in die deutsche Gesellschaft genutzt im Modellprojekt gEMiDe fast aus- 32 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G schließlich Frauen: 95 Prozent der im terschiede stellte Huth aber bei der Art Verein Engagierten sind Migrantinnen, des Engagements fest: Migrantinnen fast alle von ihnen stammen aus dem und Migranten engagieren sich über- türkischsprachigen Raum. Offenbar wiegend in informellen Beteiligungs- engagieren sich Frauen viel häufiger formen und in Migrantenselbstorgani- und spontaner als Männer, die sich trotz sationen. Dabei handelt es sich häufig erster Ansätze noch stark zurückhalten. um lokale Verwandtschafts- und Nach- Ein zentraler Punkt ist nach Feise jedoch barschaftsnetzwerke, die auf dem Prin- die Erkenntnis, dass Engagement nicht zip „Hilfe auf Gegenseitigkeit“ bzw. nur den anderen, sondern auch einem Selbsthilfestrukturen aufgebaut sind selbst Vorteile bringt. und meist abgeschottet im Verborge- Das gesellschaftspolitische Enga- nen bleiben. gement von Migrantinnen und Migran- Susanne Huth wies wie Dietrich ten wurde von der Sozialforscherin Engels darauf hin, dass es in der For- Susanne Huth wissenschaftlich unter- schung umstritten sei, ob diese infor- sucht. Zunächst verwies Huth auf die mellen Formen des Engagements zur Vielfalt von Migrantengruppen; ent- gesellschaftlichen Integration oder eher sprechend spiegelten sich bei Migranten zur Desintegration von Migrantinnen und ihrem Engagementverhalten auch und Migranten beitragen. soziokulturelle und materielle Hinter- Burgunde Grosse, arbeitsmarktpoli- gründe wider. Eindeutig habe sich ein tische Sprecherin der SPD-Fraktion im Zusammenhang von sozialen Ungleich- Berliner Abgeordnetenhaus und Ge- heiten und Beteiligungschancen ge- werkschaftssekretärin für den Bezirk zeigt. Entscheidend sei also nicht der Berlin-Brandenburg, bestätigte aus ih- Migrationshintergrund als solcher, son- rer Erfahrung die grundsätzlich große dern die Problematik, dass sich bei Engagementbereitschaft von Migran- vielen Migranten zahlreiche soziale tinnen und Migranten. So seien in den Ungleichheiten konzentrieren. Schließ- Gewerkschaften und Betriebsräten viele lich gäbe es auch viele gut integrierte von ihnen – überwiegend türkische und anerkannte Migranten, die z.B. in Männer – sehr engagiert. Mit dem Ver- der Kommunalpolitik als Stadträte lust ihres Arbeitsplatzes würde dann oder in Vereinen tätig sind. aber in der Regel auch die Mitgliedschaft Demnach seien Migranten zunächst gekündigt, so dass Migranten in den einmal genauso stark oder wenig enga- Erwerbslosengruppen der Gewerkschaf- giert wie Nicht-Migranten. Große Un- ten kaum mehr vertreten sind. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Warum sinkt die politische Beteiligung in Parteien und Gewerkschaften? 33 noch das Schlimmste verhindern könnten. Als Beispiel nannte sie den Öffentlichen Dienst in Berlin: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten nach Ferdos Forudastan bezog sich auf ein Abschluss des sog. Solidarpakts zu- Ergebnis in Engels Vortrag: Demnach gunsten der Arbeitsplatzsicherung auf sind einkommensschwache Personen Einkommen verzichten. In den unteren seltener Gewerkschaftsmitglied als ein- Einkommensgruppen gibt es nun zahl- kommensstärkere Personen. Aber auch reiche „Aufstocker“, die aufgrund ihres insgesamt würden die Gewerkschaften geringen Einkommens zusätzlich zu über Mitgliederverluste klagen. Wie sei ihrem Lohn Sozialleistungen erhalten. diese Entwicklung zu erklären? Gerade Daraufhin seien viele – besonders in bei denjenigen, die nur wenig haben, den unteren Einkommensbereichen – müsste der Antrieb doch viel stärker aus der Gewerkschaft ausgetreten, da sein, sich gemeinsam für die eigenen sie sich in ihren Interessen nicht mehr Interessen zu engagieren. vertreten sahen. Diese Menschen seien Burgunde Grosse stimmte dem zu: offensichtlich zu dem Schluss gekom- Natürlich sollte eine schwierige Lebens- men, dass die Gewerkschaften sowieso situation eigentlich Antrieb zum Enga- nichts mehr für sie erreichen können. gement sein. Ein großes Hindernis sieht Angesichts veränderter Verhältnisse sie aber in den knappen Finanzen der auf dem Arbeitsmarkt haben die Ge- Betroffenen. Wenn man im Alltag mit werkschaften nach Grosses Auffassung jedem Euro rechnen müsse, dann wolle aber keine andere Wahl: Sie müssen man sich den Mitgliedsbeitrag der bereit sein, bei Tarifverhandlungen Gewerkschaften, der ein Prozent des Kompromisse zu schließen. Die Men- Bruttoeinkommens betrage, meist spa- schen hätten sich daran gewöhnt, dass ren. die Gewerkschaften bei Verhandlungen Geldknappheit sei aber sicher nicht immer mehr Lohn erstreiten konnten, der einzige Grund für den Mitglieder- was inzwischen aber nicht mehr mög- schwund der Gewerkschaften. Eine lich sei. Die vorrangige Aufgabe der andere wichtige Ursache sei Resigna- Gewerkschaften bestehe nun darin, die tion. Grosse verwies auf die schwierige Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen Lage der Gewerkschaften, die nicht und Arbeitnehmer zu sichern. Den mehr wie in den vergangenen Jahr- Menschen müsse vermittelt werden, zehnten viel verteilen, sondern nur dass sie nur etwas erreichen können, 34 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G wenn sie sich für ihre Interessen und Arbeitnehmerrechte engagieren. Wichtig sei die Erkenntnis, dass sich politisches Engagement nicht nur auf Doch die wirtschaftliche Entwick- bundes- oder landespolitischer Ebene lung hat nach Auffassung von Burgun- abspiele, sondern auch auf kommunaler de Grosse ein strukturelles Problem mit Ebene vor Ort, wo sich schon viele sich gebracht, das sie am Beispiel Berlin Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich erläuterte: Früher gab es hier viele Groß- engagieren. Politik habe die Aufgabe, betriebe, die gewerkschaftlich sehr gut für verschiedene Gruppen der Bevölke- organisiert waren. Durch den wirtschaft- rung einen fairen Interessensausgleich lichen Strukturwandel sind aber in der zu schaffen. Dieser Kern von Politik Berliner Region viele große Unterneh- zeigt sich nach Ferners Auffassung auf men verschwunden, heute dominieren der kommunalen Ebene häufig viel kleinere und mittlere Betriebe, in denen deutlicher als auf Bundesebene, da z.B. die Menschen traditionell weniger ge- in den Stadträten viele Entscheidungen werkschaftlich organisiert sind. Viele einvernehmlich erfolgen. In den Kom- hätten nun Angst, als Gewerkschafts- munen gehe es in der Regel nicht um mitglied schneller ihren Arbeitsplatz zu die Durchsetzung parteipolitischer In- verlieren, wenn der Arbeitgeber von teressen, sondern um einen vernünf- ihrem Engagement erfährt. tigen Ausgleich verschiedener Interes- Ferdos Forudastan wollte wissen, sen. wie die Parteien auf die in der Bevöl- Einen wichtigen Grund für das sin- kerung weit verbreitete Ansicht reagie- kende Engagement in politischen Par- ren wollen, dass die Politiker sowieso teien sieht Elke Ferner vor allem in der „ihren Stiefel durchziehen“, ganz egal, Diskrepanz zwischen den Ankündigun- wofür und wie viel man sich engagiert. gen der Politiker und ihren tatsächli- Viele Bürger würden doch denken, dass chen Handlungen in der praktischen sich die Politik ohnehin nicht von ih- Politik. Dadurch hätten die Menschen ren politischen Willenserklärungen häufig den Eindruck, die Politiker wür- beeinflussen lasse. den ihre Versprechen nicht einhalten. Elke Ferner, Stellvertretende Vorsit- Bei diesem Vorwurf werde allerdings zende der SPD-Bundestagsfraktion, wies häufig übersehen, dass in bestimmten zunächst auf zwei wesentliche Barrieren politischen Konstellationen (wie Koa- hin, sich politisch bzw. gesellschafts- litionen) ohne Kompromisse keine politisch zu engagieren: Mangel an Mehrheiten gebildet werden können. Geld und Mangel an Bildung. Politische Entscheidungen seien meist P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 35 Ausdruck eines komplizierten Aushand- nur wenig Neuzugänge von Jüngeren. lungsprozesses, der den Bürgerinnen Auf diese Entwicklung müssten die und Bürgern sehr schwer zu vermitteln großen Parteien mit einer aktiveren sei. Anwerbepolitik reagieren. Lange Zeit Elke Ferner wollte das Phänomen hätten in der SPD „Komm-Strukturen“ rückläufigen Engagements allerdings dominiert, bei denen man sich darauf nicht auf politische Parteien reduziert verlassen habe, dass Menschen von sich sehen, da es bei allen großen Organisa- aus in die SPD kommen. Zudem seien tionen feststellbar sei. Dass Menschen neue Mitglieder in den gewachsenen immer weniger bereit seien, sich außer- Arbeitsstrukturen der Partei häufig nicht halb ihrer unmittelbaren Interessen- dazu ermutigt worden, sich voll einzu- lage zu engagieren, hätte die unter- bringen. Diese Mechanismen sind nach schiedlichsten Gründe – ob es nun an Ferners Auffassung unbedingt aufzu- den angesprochenen Barrieren durch brechen. Die Partei müsse sich attrak- mangelnde Bildung oder Finanzen tive Angebote überlegen, wie auf die liege, an ungünstigen Arbeitszeiten oder Menschen besser zugegangen werden Zeitmangel aufgrund anderer Betäti- kann, wo sie unmittelbaren Zugang zu gungen. Themen haben, von denen sie selbst Doch welche Veränderungen in den betroffen sind. Elke Ferner sieht ein letzten Jahren könnten dazu geführt mögliches Vorbild bei der Arbeitsge- haben, dass es für viele Menschen so meinschaft der Jungsozialisten, die eine unattraktiv geworden ist, sich in Par- offene Arbeitsweise praktizieren und teien – insbesondere in der SPD – zu die Möglichkeit der Mitarbeit auch engagieren? Ein wichtiger Grund liegt Nicht-SPD-Mitgliedern eröffnen. nach Elke Ferner darin, dass die Bun- Erfahrungen in den letzten Jahren despolitik der SPD in den letzten Jahren hätten gezeigt, dass sich viele – und nicht von allen Parteimitgliedern mit- besonders junge Menschen – lieber in getragen wurde. Eine wesentliche Ursa- konkreten, zeitlich überschaubaren che sieht sie aber auch in innerpartei- Projekten engagieren möchten, weni- lichen strukturellen Veränderungspro- ger in den üblichen Strukturen von zessen. So seien die Abgänge von Mit- Parteien und Großorganisationen. Eine gliedern größtenteils eine Folge der wichtige Ursache dieser Entwicklung Altersstruktur, was sich bei der Union liege sicher darin, dass die verschie- ebenfalls zeige: Viele Mitglieder schei- denen Lebensphasen heute schneller den aus Altersgründen aus und es gibt ablaufen bzw. die Biografien einem 36 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G größeren Wandel der Lebenssituation individuellen Interessen und Gemein- ausgesetzt sind. wohlinteressen sei für Engagement Gute Ansätze von Bürgerengage- entscheidend, sondern das persönliche ment sieht Elke Ferner im kommunal- Interesse an einem konkreten Pro- politischen Bereich, wenn bei der blem. Stadtviertelgestaltung die Wohnbevöl- Ferdos Forudastan hakte nach: kerung an der Konzeptentwicklung Müsse man von den „kleinen Dingen“, direkt beteiligt wird. Erfolgreich seien von denen man unmittelbar betroffen aber auch Netzwerke zu Frauen- und ist – z.B. dem Kampf gegen die Müll- Friedensthemen. In solchen Zusam- verbrennungsanlage vor der eigenen menhängen funktioniere der Austausch Haustür – nicht einen Sprung machen und die Zusammenarbeit häufig viel zu abstrakteren politischen Themen, besser als bei der manchmal etwas her- z.B. Armut in der Dritten Welt? metischen Arbeitsweise in einer Partei, Betroffenheit bedeutet nach Engels wo oft viel zu lange in einer „abge- aber nicht, nur die „kleinen Dinge vor schotteten Gruppe sein Süppchen ge- der Haustür“ im Blick zu haben. Ent- kocht“ werde. scheidend sei vielmehr das Gefühl, von Dr. Dietrich Engels verwies darauf, einem Problem berührt zu sein. Die dass politische Parteien in der Vergan- Unterscheidung zwischen „kleinen“ genheit einen anderen gesellschaft- unmittelbaren und „großen“ allgemei- lichen Stellenwert und eine andere nen Problemen erscheine ihm wenig soziale Bedeutung hatten: Als attraktive sinnvoll, da sich auch aus einer solida- Organisationen verkörperten sie eine rischen Betroffenheit mit den Armen politische Haltung; die Parteizugehö- dieser Welt Engagement entzünden rigkeit wirkte auch als soziales State- könne. Man müsse aber ein konkretes ment und Statussymbol. Der neue Trend Ziel vor Augen haben, etwas, wofür sei aber eher, sich für bestimmte The- man bereit sei zu kämpfen – in der men zu interessieren und zu engagie- Regel habe heute das Inhaltlich-Kon- ren. krete mehr Bedeutung für Engage- Engels widersprach der häufig vertretenen Auffassung, das rückläufige ment als reine Organisationszugehörigkeit. Engagement sei auf einen heute stärker Susanne Huth machte darauf auf- verbreiteten Egoismus zurückzuführen. merksam, dass das Engagement in Nicht die Unterscheidung zwischen Deutschland in den letzten fünf Jah- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 37 ren nicht zurückgegangen ist, sondern Ansprache muss gefunden, welche Be- vielmehr andere Formen gefunden hat: teiligungsformen müssen angeboten So hat die langfristige Bindung an for- werden? Gute Antworten im Kleinen melle Organisationen im klassischen gäbe es ja schon, wie das Projekt Ehrenamt zwar nachgelassen, doch sind gEMiDe zeige. dafür andere Beteiligungsformen hin- Nach Huth wird es entscheidend zugekommen, die ihre Wurzeln über- sein, bestehende „Komm-Strukturen“ wiegend in den Bürgerbewegungen der zu beenden und „Hingeh-Strukturen“ 70er Jahre haben. Diese neuen Betei- zu entwickeln und zu etablieren: Man ligungsformen zeichnen sich dadurch muss gewissermaßen „ins Feld gehen“, aus, dass aus konkreten Anlässen Pro- Leute ansprechen und sie an ihren jekte und Initiativen entstehen und das Bedürfnissen „abholen“. Damit bestä- Engagement zeitlich begrenzt ist. Die tigte sie auch die Auffassung Elke Fer- Beteiligungslandschaft und die mög- ners. lichen Engagementformen seien eben Als positive Beispiele guter Akti- – wie die Gesamtgesellschaft auch – vierung nannte sie bereits praktizierte pluraler geworden. Entsprechend wür- Beteiligungsformen in den Stadtquar- de das Engagement in vielen traditio- tieren (z. B. im Programm „Soziale nellen Bereichen zurückgehen, z. B. bei Stadt“). Hier werden beteiligungsferne der Freiwilligen Feuerwehr. Hier wür- Schichten angesprochen, um sie zum den schon Überlegungen angestellt, Engagement für Themen zu motivi- wie neue Personengruppen, vor allem eren, von denen sie unmittelbar betrof- Migranten oder Frauen, für eine ehren- fen sind. Wie Klimenta betonte auch amtliche Tätigkeit gewonnen werden Huth die große Bedeutung von klein- könnten. Um neue Personengruppen schrittigen Erfolgen: Mitgestaltungs- zu erschließen, ist nach Auffassung von möglichkeiten im persönlichen Wohn- Susanne Huth deshalb die Frage wichtig, umfeld lassen sich direkt erfahren und welche sozio-kulturellen Milieus in zeigen dem „Neu-Engagierten“, dass den Parteien und Gewerkschaften bis- Partizipation nicht nur möglich ist, her dominierten und wie sie sich für sondern sich auch lohnt. neue Milieus öffnen könnten: Welche 38 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Diskussion mit dem Publikum Welche Ursachen hat der Mitgliederschwund in Parteien und Gewerkschaften? • Einige Teilnehmer sahen einen wesentlichen Grund in der Art und Weise, wie Politiker sich und ihre Politik in der Öffentlichkeit präsentieren; insbesondere die Sprache der Politiker trage zu oft floskelhafte oder inhumane Züge (z. B. die Bezeichnung von Arbeitnehmern als „Humankapital“). Außerdem würden die von Parteien und Gewerkschaften vertretenen Positionen häufig wenig glaubwürdig und authentisch wirken. • Als weiterer Grund wurde genannt, dass sich größere Teile der Stammklientel in den Reformen und Kompromissen der aktuellen Politik nicht mehr wiederfinden könnten. Insbesondere der Mitgliederschwund in der SPD sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Partei in der Großen Koalition ihre Positionen nicht mehr durchsetzen könne. Viele SPD-Mitglieder würden sich dadurch nicht mehr in ihren Interessen und Überzeugungen vertreten sehen. Elke Ferner erklärte aufgrund der Erfahrungen in ihrem Wahlkreis, dass weniger jene Mitglieder die SPD verlassen haben, die negativ von den Arbeitsmarktreformen betroffen waren, sondern eher jene aus der „Mitte der Gesellschaft“, die mit der politischen Richtung insgesamt nicht mehr einverstanden gewesen seien. Burgunde Grosse bestätigte diesen Befund: Viele langjährige SPD-Mitglieder hätten ihren Austritt damit begründet, dass die SPD nicht mehr „ihre Partei“ sei – sie lehnten die Bun- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N despolitik der SPD ab und vermissten insgesamt die soziale Komponente in der SPD-Politik. • Die Bedeutung ökonomischer Erwägungen für eine Mitgliedschaft wurde im Publikum als eher gering eingeschätzt. Auf jeden Fall sollten bei den Mitgliedsbeiträgen angemessene Regelungen – z.B. je nach finanziellen Umständen gestaffelte Beitragssätze – ermöglicht werden. • Das sinkende Engagement in Gewerkschaften wurde auch auf die Angst von Arbeitnehmern in kleinen und mittleren Betrieben zurückgeführt: Wer aufgrund seiner Gewerkschaftsmitgliedschaft persönliche Nachteile im Betrieb bis hin zum Arbeitsplatzverlust befürchten müsse, scheue davor zurück, sich für seine Interessen in organisierter Form einzusetzen. Burgunde Grosse bestätigte, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Angst vor Entlassung gar nicht erst in eine Gewerkschaft eintreten. Die Politik könne dagegen wenig tun, außer darüber zu informieren, welche Sicherungen zum Schutz von engagierten Menschen vor ungerechtfertigten Nachteilen bestehen. Allerdings würden viele Arbeitgeber in den letzten Jahren verstärkt versuchen, den Einzug der Gewerkschaften in ihre Betriebe zu verhindern. 39 Das rückläufige Engagement in Parteien könnte nach Ansicht von Susanne Huth eine Folge des Politiker- und Parteienfrusts in der Bevölkerung sein. Sie wies aber auch darauf hin, dass politisches Engagement nur einen kleinen Bereich des gesamtgesellschaftlichen Engagements ausmacht. In den großen Engagementbereichen seien keine gravierenden Veränderungen feststellbar. Neue Chancen der Beteiligung würden aber nicht nur von politischem Engagement im engeren Sinn, sondern von allen Engagementbereichen ausgehen (z.B. im Sport). Dabei zeige sich ein Kreislauf: Je höher die Bildung, desto stärker ist die Beteiligung; je stärker die Beteiligung, desto größer ist die Chance, Leute kennenzulernen und Kompetenzen zu erwerben; je umfangreicher die Ressourcen an sozialen Kontakten und Kompetenzen, desto höher ist die Beteiligung und desto besser sind die Gestaltungsmöglichkeiten. Mit welcher Ansprache können Menschen zum Engagement bewegt werden? • Die geringe Beteiligung der sozial Schwachen wurde in der Diskussion als fataler Widerspruch gekennzeichnet: Gerade Globalisierungsverlierer und Leidtragende sozialer Einschnitte würden sich immer weniger enga- 40 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G gieren, obwohl diese Personengruppe Susanne Huth bestätigte die große doch eigentlich angespornt sein Bedeutung des Respekts und der per- sollte, sich für bessere Verhältnisse sönlichen Ansprache – dagegen würden oder zumindest für ihre eigenen In- allgemeine Appelle, sich zu engagieren, teressen einzusetzen. meist keinen Erfolg bringen. Dies gelte • Um Menschen zum Engagement zu nicht nur bei Migrantinnen und Mig- motivieren, wurde in mehreren Wort- ranten, sondern z. B. auch bei Menschen beiträgen die Bedeutung einer ge- in Armut oder prekären Lebenssituatio- zielten Ansprache der verschiedenen nen, denen häufig keine Wertschätzung Bevölkerungsgruppen hervorgeho- entgegengebracht werde. Man müsse ben, wie z.B. der Migranten, Senioren den Menschen vermitteln, dass sie über oder Jugendlichen. In der Praxis seien ihre Beteiligung auch soziale Anerken- die eingesetzten Methoden häufig nung erreichen können. ungeeignet und die Sprache, z.B. von Burgunde Grosse erläuterte, dass die Parteiprogrammen, für junge Leute Gewerkschaften in den letzten Jahren oder Migranten faktisch unverständ- die Form der Ansprache der Mitglieder- lich. werbung schon geändert hätten. Man wähle nun eine direktere Ansprache in Auch Eric Feise betonte, wie wichtig den Betrieben und setze auch früher an, die Form der Ansprache ist. So könne um schon Berufsschüler oder Studenten man z.B. Migrantinnen und Migranten für die Arbeit der Gewerkschaften zu mit Briefen so gut wie gar nicht errei- sensibilisieren. Zunehmend wichtiger chen. Stattdessen müsse man auf ihre sei auch die Erwerbslosenarbeit der anderen kulturellen Umgangsformen Gewerkschaften. Im Kern müsse es für eingehen: sich Zeit nehmen und das die Gewerkschaften darum gehen, den persönliche Gespräch suchen. Unver- Menschen stärker zu vermitteln, was in zichtbar sei eine „Kultur der Ansprache“, gemeinsamer Anstrengung erreicht die den Migranten signalisiert, dass ihr werden kann. Gegenüber ihnen mit Wertschätzung Elke Ferner sieht einen wesentlichen und Respekt begegnet. Man dürfe hier Grund für das geringe Engagement der also keine rein funktionelle Beziehung sozial Schwachen darin, dass sie ihre sehen, sondern es ginge um eine ehrli- Kräfte für die Bewältigung der alltäg- che Wertschätzung dieser Menschen. lichen Probleme einsetzen müssen und P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 41 z.B. nicht wissen, wie sie die nächste eine gute Ausbildung und eine siche- Klassenfahrt ihres Kindes oder den re Beamtenstelle in Deutschland gut neuen Kühlschrank finanzieren kön- integriert, weshalb er sich auch in- nen. Für diese Menschen sei es oft am tensiv gesellschaftlich und politisch wichtigsten, mit der eigenen Situation engagieren könne – so habe er einen zurechtzukommen. Verein gegründet, der Kulturaus- Für Dietrich Engels ist besonders das tausch und Armutsbekämpfung in Schichtenspezifische des Engagements seinem Heimatland zum Ziel hat. ein Problem: Insgesamt engagieren sich Viele Migranten fühlten sich aber zwar 33 Prozent der Bevölkerung, doch aufgrund der Sprache, ihres Aussehens sei das Engagement jedoch faktisch oder allgemeiner Vorbehalte von den größtenteils eine Sache des (Bildungs-) politischen Parteien und der Gesell- Bürgertums geblieben. Zahlreiche Bar- schaft ausgegrenzt – mit der Folge, rieren würden dazu führen, dass Men- sich für diese Gesellschaft auch nicht schen, die gerne mitmachen möch- engagieren zu wollen. ten, sich letztlich nicht trauen. Des- • Auch wurde darauf hingewiesen, dass halb gehe es vorrangig darum, eine so- Einzelaktionen engagierter Bürgerin- ziale Durchlässigkeit des Engagements nen und Bürger nur selten die not- zu erreichen. Wie man dieses Ziel errei- wendige Unterstützung der zustän- chen könnte, wäre am besten in der digen Politiker vor Ort erhielten und Praxis, z.B. durch ein Modellprojekt, dadurch die Motivation zum Enga- herauszufinden. gement erheblich sinke. Dr. Harald Klimenta betonte noch ein- Was wirkt sich auf die Bereitschaft zum Engagement förderlich aus? mal die große Bedeutung von Erfolgen, die engagierte Menschen als Ergebnis ihrer Aktivitäten sehen müssten. Rea- • Ein Teilnehmer mit Migrationshin- lisierbare Ziele und gemeinsame Ak- tergrund bestätigte den von Dietrich tionen seien entscheidend, um etwas Engels dargestellten Zusammenhang zu erreichen und nachhaltig Erfolg zu von gutem Einkommen und Bildung haben. Einzelaktionen könnten – wenn einerseits und verstärktem Engage- überhaupt – nur winzige Veränderungen ment andererseits. Er fühle sich durch nach sich ziehen. 42 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G • Da partizipatives Verhalten früh er- und Gewerkschaften hänge auch damit lernt werde, müssten Kinder und zusammen, dass sich Engagement heu- Jugendliche möglichst frühzeitig, also te zunehmend in anderen Formen äu- schon in der Kita, beteiligt werden, ßere. Wie Susanne Huth ausgeführt was aber bisher noch viel zu wenig habe, sei der Gesamtumfang des En- geschehe. Man müsse sich z.B. fra- gagements in Deutschland in etwa gen: Welche demokratischen Werte gleich geblieben und steige in manchen können schon in der Kita vermittelt, Bereichen sogar an. Die Bereitschaft, welche etwas zu tun, sei also nach wie vor partizipativen Strukturen praktiziert werden? Nur so entstehe vorhanden. Demokratieverständnis und die not- Ein wesentlicher Aspekt ist nach wendige Grundlage für Partizipation. Engels jedoch, dass politische oder soziale Bewegungen – wie z. B. Antiatom- Susanne Huth bestätigte, dass Partizi- und Friedensbewegung – in ihrer Ent- pation schon früh erlernt wird. Unter- stehungs- und Anfangszeit immer einen suchungen hätten gezeigt, dass Men- relativ hohen Mobilisierungsgrad auf- schen, die bereits in ihrer Jugend en- weisen. Etablierte Organisationen müss- gagiert waren, sich auch eher als Er- ten es dagegen schaffen, die Menschen wachsene engagieren. Dieser Zusam- zum dauerhaften Engagement oder zur menhang zeige sich auch im spezifi- Mitgliedschaft zu motivieren: Wenn schen Engagementverhalten der Mi- Bewegungen längere Zeit bestehen wol- grantinnen und Migranten, die z.B. die lten, sei es notwendig, die anfängliche deutsche Form der „Vereinsmeierei“ aus Begeisterung in kontinuierliches län- ihren Heimatländern häufig nicht ken- gerfristiges Engagement zu überführen. nen und auch keinen Zugang dazu Dazu gehöre, die Begeisterung auf kon- finden, weil sie die Vereine in Deutsch- krete Themen zu fokussieren. Auch land als „geschlossene Gesellschaften“ sollte die adäquate Ansprache gewählt empfinden. werden, um Einzelne in gemeinschaft- Für Dr. Dietrich Engels ist es wichtig, liche Formen des Engagements nach- Engagement zu fördern, doch er kann haltig einzubinden. Von zentraler Be- keine Hinweise darauf erkennen, dass deutung ist nach Engels aber, die Bar- sich die Menschen grundsätzlich weni- rieren des Engagements abzubauen, ger engagieren wollen als früher. Die damit diejenigen, die mitmachen wol- rückläufige Mitgliedschaft in Parteien len, auch mitmachen können. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 2 43 Teilhabe am Arbeitsmarkt Wandel der Arbeitswelt und Arbeitsmarktreformen Dr. Angela Borgwardt, Politologin In Deutschland vollzieht sich wie in Auch die traditionellen Arbeitsverhält- vielen anderen Industrieländern auf- nisse und Arbeitszeiten verändern sich: grund wissenschaftlich-techni- Vollzeiterwerbstätigkeit und versiche- schen Fortschritts, der Globalisierung des rungspflichtige Beschäftigungen gehen und der demografischen Entwicklung zurück, zeitlich befristete Arbeitsver- ein grundlegender sozialer Wandel, der hältnisse und Nebentätigkeiten nehmen zu tiefgreifenden Veränderungen in der zu, die Arbeitszeiten werden flexibler Arbeitswelt führt. Im Zuge der Heraus- (z.B. Gleitzeit, Arbeitszeitkonten) und bildung einer Dienstleistungs- und durch neue Modelle ergänzt (z.B. Teil- Wissensgesellschaft verändert sich die zeitmodelle wie Job-Sharing). Für die Arbeitsnachfrage und Tätigkeitsland- Beschäftigten löst sich dadurch der ge- schaft: Berufe sterben aus oder verlieren regelte Arbeits- und Lebensrhythmus an Bedeutung, was zu einem Abbau an mit festen Zeiteinteilungen (Arbeit – Arbeitsplätzen führt, etwa in der Indus- Freizeit, Ausbildung – Arbeit – Rente) trie und Landwirtschaft, viele Berufe tendenziell auf, die berufliche Normal- erfordern neue Qualifikationen, z.B. biografie wird zunehmend seltener. durch notwendige Computerkennt- Gefordert sind nun mehr Flexibilität nisse. Zugleich entstehen neue Berufe, und Mobilität in Arbeit und Beruf. Tätigkeiten und Branchen, insbeson- Auch der klassische Arbeitsbegriff, der dere im wachsenden Dienstleistungs- bisher an eine bestimmte Form der und Erwerbsarbeit gekoppelt war, wandelt Kommunikationssektor, durch Forschung, Entwicklung und Anwen- sich grundlegend. dung neuer Technologien oder durch Durch die Folgen des sozialen und die steigende Bedeutung einzelner Be- wirtschaftlichen Wandels haben sich reiche, wie des Umwelt- und Klima- strukturelle Probleme herausgebildet, schutzes. Am Arbeitsmarkt fordert die- die in ihrem Zusammenwirken zu einer se Entwicklung von den Beschäftigten Krise am deutschen Arbeitsmarkt füh- andere und erhöhte Qualifikationen. ren. Wesentliche Kennzeichen sind 44 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G hohe Unterbeschäftigung, eine Verfes- mente entwickelt. Umfassende Vor- tigung und ungleiche Verteilung der schläge zur Umgestaltung des Arbeits- Arbeitslosigkeit mit einem relativ hohen markts – darunter auch beschäfti- Anteil von Langzeitarbeitslosen, volks- gungspolitische Maßnahmen – entwi- wirtschaftliche Wachstumsschwäche ckelte die sogenannte Hartz-Kommis- und mangelnde Beschäftigungsdyna- sion, eine von der rot-grünen Bundes- mik. regierung eingesetzte Expertenrunde. Aus diesen Problemen ergibt sich Die Reformvorschläge umfasste ein für den Staat die längerfristige Aufgabe, Bündel verschiedener Maßnahmen, die durch politische Maßnahmen die Be- in einzelne Gesetze aufgeteilt wurden schäftigungsprobleme auf dem Arbeits- (Hartz I bis Hartz IV) und zwischen 2003 markt zu lösen. Wesentliche Ziele der bis 2005 schrittweise in Kraft traten. Arbeitsmarktpolitik sind deshalb die Ein wesentliches Element der Bekämpfung von struktureller Arbeits- Hartz-IV-Reformen war die Zusammen- losigkeit bzw. die Sicherung und Ver- legung der früheren Arbeitslosenhilfe besserung der Beschäftigungsmöglich- und Sozialhilfe zur sogenannten Grund- keiten, die Erschließung neuer Beschäf- sicherung für Arbeitsuchende, dem tigungsbereiche sowie die Förderung Arbeitslosengeld II (ALG II). Der Regel- des Wirtschaftswachstums. Auch geht satz betrug bei Einführung 345 Euro für es um eine bessere Abstimmung von alleinstehende bedürftige Arbeitslose vorhandenem Arbeitsangebot (Qualifi- zuzüglich Wohngeld. Die Grundsiche- zierung der Erwerbspersonen) mit der rung für Arbeitsuchende ist eine ein- veränderten Arbeitsnachfrage (offene heitliche Leistung für alle erwerbsfähi- Stellen). Dazu gehören Fortbildungs- gen Personen, die der staatlichen Hilfe und Umschulungsmaßnahmen, Ar- bedürfen, weil sie entweder keine Er- beitsmarkt- und Berufsforschung, Be- werbsarbeit haben oder ihr Arbeitsein- rufsberatung, Arbeitsvermittlung, be- kommen nicht ausreicht. Neben Geld- sondere staatliche Förderung für be- leistungen umfasst die Grundsiche- stimmte Personengruppen wie Lang- rung auch Eingliederungsmaßnahmen zeitarbeitslose oder Jugendliche (z.B. in den Arbeitsmarkt wie Berufsberatung Lohnzuschüsse, spezielle Eingliede- und Weiterbildungsmaßnahmen und rungshilfen, Sonderprogramme). die direkte Förderung von Beschäfti- Als Reaktion auf die anhaltende gung. Für diese Leistungen sind – je Massenarbeitslosigkeit wurden in den nach Wohnort – entweder die Agentur letzten Jahren zahlreiche neue Instru- für Arbeit, die Kommune (Optionskom- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 45 mune) oder eine der neu gegründeten tungsbezug, Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) zustän- pflichten des Arbeitsuchenden, Leis- dig.1 tungskürzung als Sanktion. Die Arbeitsmarktreformen seit 2005 verfolgen drei Schwerpunkte2: stärkere Mitwirkungs- Die Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik entsprechend der Im Zuge einer Flexibilisierung des „Hartz-Reformen“ umfasst auch die Arbeitsmarkts werden verstärkt neue Schaffung neuer Instrumente, wie den Beschäftigungsformen gefördert, wie Einbezug von privaten Anbietern bei Minijobs, Leiharbeit, befristete Beschäf- der Arbeitsvermittlung sowie eine Neu- tigung. Zugleich wird Selbstständigkeit organisation der Bundesagentur für bzw. Existenzgründung durch Zuschüs- Arbeit. Ziel ist eine verbesserte Betreu- se und Wegfall einiger Regeln erleichtert. ung der Arbeitslosen, insbesondere Auf diese Weise soll die Einstiegsschwel- durch gezieltere Maßnahmen und in- le für Arbeitsuchende in manchen Be- dividuell ausgerichtete Beratung, um reichen des Arbeitsmarktes verringert z.B. falsche Strategien bei der Arbeits- und eine Brücke zu regulären Beschäf- suche aufzudecken und offene Stellen tigungen geschlagen werden. schneller an geeignete Bewerber ver- Für Erwerbslose sollen höhere Ar- mitteln zu können. beitsanreize geschaffen werden, indem Arbeitsmarktreformen werden zwar die staatlichen Unterstützungsleistun- als dringend notwendig begrüßt, sto- gen (Sozialleistungen, ALG II) knapp ßen aber auch auf Kritik. Kontrovers gehalten und mit bestimmten Forde- wird die Effektivität der Reformen dis- rungen verbunden werden. Dazu gehö- kutiert bzw. inwieweit sie zu den ge- ren niedrigere „Zumutbarkeitskriterien“ wünschten Ergebnissen führen. Welche zur Annahme einer Arbeit (z.B. Wohn- Erfolge und Defizite zeigen sich durch ort- und Berufswechsel, geringer be- Erfahrungen mit den bisher prakti- zahlte Beschäftigung), strengere An- zierten Modellen? spruchsvoraussetzungen für den Leis- 1 2 Ausführliche Informationen auf der Webseite der Bundesagentur für Arbeit: http://www.bmas.de/coremedia/generator/22438/uebersichtsseite__arbeitsmarktreform.html. Vgl. Dr. Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg, Impulsvortrag zum Thema: „Vernachlässigte Potenziale? – Arbeit und Beschäftigung“. In: FriedrichEbert-Stiftung, Forum Berlin (Hg.): Dokumentation der Auftaktveranstaltung zum Projekt „Gesellschaftliche Integration“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin: „Fällt die Gesellschaft auseinander? Herausforderungen für die Politik“ am 28. September 2006, Berlin 2007, S. 74–78. 46 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Auch stellt sich die Frage, welche tiger arbeiten. Zahlreiche dieser Ko- neuen arbeitsmarktpolitischen Instru- operationen bewegen sich im klas- mente besonders geeignet sind, um sischen, personenorientierten Bereich Erwerbslose wieder in den Arbeitsmarkt der Arbeitsförderung: Mit Beratungs-, zu integrieren. Verschiedene Ansätze Trainings- und Qualifizierungsmaßnah- stehen derzeit in der öffentlichen Dis- men zielen sie einerseits auf bessere kussion. Berufschancen des Einzelnen und an- Die Ausrichtung der neuen Instru- dererseits auf die Besetzung offener mente hängt ganz entscheidend von Stellen mit optimal geeigneten Bewer- der Sichtweise auf das Problem ab: Ist bern. Einige der neuen privaten Agen- Erwerbslosigkeit vor allem eine Folge turen und Netzwerke nehmen für sich von Qualifikations- und Flexibilitäts- aber auch in Anspruch, dass ihre He- defiziten der Arbeitsuchenden? Oder rangehensweise auf einer ganz anderen handelt es sich vorrangig um struktu- Haltung gegenüber dem „betroffenen relle Probleme einer hoch entwickelten Subjekt“ beruht: Der Arbeitsuchende Volkswirtschaft, der aufgrund von stei- wird nicht mehr als defizitär, weil „ar- gender Produktivität allmählich „die beitslos“, sondern als Anbieter mit Arbeit ausgeht“? Potenzialen gesehen; nicht die Verwal- Eine Möglichkeit zur Bewältigung tung und Reglementierung eines Pro- der Krise am Arbeitsmarkt wird in neu- blemfalls, sondern die Entwicklung en Formen der Zusammenarbeit zwi- individueller Stärken soll im Fokus schen privaten und staatlichen Arbeits- stehen. An die Stelle sanktionsbedrohter vermittlungsagenturen gesehen. Diese Vorladung des Leistungsempfängers Arbeitsteilung bei der Bekämpfung und amtlicher Zuweisung von ange- von Arbeitslosigkeit ist auch Ausdruck ordneten Maßnahmen steht eine Ein- eines veränderten Verständnisses staat- ladung zu individueller Beratung und licher Aufgaben: Mit der Einbeziehung Unterstützung, die den Charakter einer privater Unternehmen ist meist die Dienstleistung haben soll. Hoffnung verbunden, dass sie im Ein- Befürworter betonen die neuen zelfall flexibler und damit individuell Möglichkeiten, die durch eine Kombi- angemessener reagieren können, dass nation unterschiedlicher Kompetenzen sie durch Konkurrenz innovative Lö- von Staat und Privaten entstehen. Bei sungswege entwickeln und durch bes- der Arbeitsvermittlung könne zielori- sere Effektivität insgesamt kostengüns- entierter sowohl auf den Bedarf des P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 47 Arbeitsmarktes als auch auf die Wünsche schaft als auch für den Einzelnen mit und Fähigkeiten des Arbeitsuchenden sich bringe. Hier setzen Maßnahmen eingegangen werden. wie Bürgerarbeit und Ein-Euro-Jobs Kritiker sehen diese Entwicklung oft an. als Teil einer bedenklichen Tendenz, So wurden bereits in Sachsen-Anhalt dass der Staat immer mehr Kernauf- und Thüringen Pilotprojekte Bürger- gaben abgibt und sich aus seiner sozia- arbeit gemeinsam mit der Bundes- len Verantwortung zurückzieht. Auch agentur für Arbeit durchgeführt.3 Das wird generell bezweifelt, dass das struk- Konzept der Bürgerarbeit basiert auf turelle Problem der Arbeitslosigkeit dem Gedanken, dass die Entlohnung durch eine bessere Qualifizierung und gesellschaftlich sinnvoller Aktivität Potenzialentwicklung von Arbeitsu- vernünftiger ist als die Alimentierung chenden grundsätzlich gelöst werden passiver Arbeitslosigkeit. Die Bezahlung kann: Da der Arbeitsmarkt nicht genug ist kaum höher als der Hartz IV-Satz, offene Stellen bereitstellt, finde letzt- doch geht es dabei auch nicht um klas- lich nur ein Verdrängungswettbewerb sische Erwerbsarbeit. Ziel soll vielmehr von Arbeitskräften und damit eine In- sein, Langzeitarbeitslosen durch ge- dividualisierung des eigentlich gesamt- meinnützige Tätigkeiten eine sozial- gesellschaftlichen Problems statt. versicherungspflichtige Beschäftigung Ein anderer Ansatz geht davon aus, und zugleich eine Aufgabe zu geben, so dass in der Gesellschaft ausreichender dass sie sich von der Gesellschaft wieder Bedarf an Arbeitsleistung besteht, aber gebraucht fühlen können. Das zugrun- unter den gegenwärtigen Marktbedin- de liegende Prinzip lautet: Keine Leis- gungen nicht nachgefragt wird. So- tung ohne Gegenleistung. Die „Bürger- lange die Lücke zwischen Angebot und arbeiterinnen“ und „Bürgerarbeiter“ Nachfrage von Arbeitskräften auf dem säubern z.B. öffentliche Parks oder Arbeitsmarkt nicht geschlossen ist, kümmern sich um Menschen in Pfle- sollte sie deshalb mit gesellschaftlich geheimen. Sie übernehmen Tätigkei- sinnvollen Tätigkeiten gefüllt werden ten, die zwar im öffentlichen Interesse – was sowohl Vorteile für die Gesell- liegen, von der Kommune aber nicht 3 Zu ersten wissenschaftlichen Ergebnissen der Modellversuche vgl. Christine Heinz/Christine Hense/ Susanne Koch/Christopher Osiander/Christian Sprenger: Modellversuch Bürgerarbeit. Zwischen Workfare und Sozialem Arbeitsmarkt. IAB-Forschungsbericht 14/2007. 48 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G zu einem normalen Lohnniveau finan- Wer einen ihm zugewiesenen Ein-Euro- ziert werden können. Wichtig ist dabei, Job ohne wichtigen Grund nicht auf- dass diese Jobs nicht zur Billig-Konkur- nimmt oder fortführt, dem können die renz für Beschäftigungen im ersten staatlichen Unterstützungsleistungen Arbeitsmarkt werden dürfen (z. B. keine für drei Monate gekürzt werden. Als Übernahme pflegerischer Leistungen). zumutbare Arbeit gilt jede legale, nicht Ein weiteres zentrales arbeitsmarkt- sittenwidrige Arbeit, die der Betreffen- politisches Instrument nach den Hartz de ausüben kann. Sie muss jedoch zu- IV-Reformen sind Ein-Euro-Jobs, soge- sätzlich sein und in öffentlichem In- nannte Arbeitsgelegenheiten mit Mehr- teresse liegen – es darf sich also nicht aufwandsentschädigung (nach § 16 Abs. um eine bezahlte normale Lohnarbeit 3 SGB II). Seit ihrer Einführung 2005 handeln, die reguläre Stellen anderer haben sie sich zur quantitativ größten Beschäftigter ersetzen könnte. Maßnahme der aktiven Arbeitsmarkt- Viele Gegner kritisieren an Modellen politik im Sozialgesetzbuch II entwi- der Bürgerarbeit und an Ein-Euro-Jobs ckelt. 2007 wurden mehr als 750.000 einen entwürdigenden Arbeitszwang. neue Förderungen begonnen. Ein-Eu- Angesichts des massiven Mangels an ro-Jobs sind vorwiegend für Langzeit- Arbeitsplätzen bestehe zudem die Ge- arbeitslose gedacht, die auf absehbare fahr, dass selbst gut ausgebildete Ar- Zeit wenig Chancen haben, eine regu- beitsuchende dauerhaft in unqualifi- läre Beschäftigung zu finden. Bei einem zierte Beschäftigungen gedrängt wer- Ein-Euro-Job entsteht kein reguläres den, die ihre bestehenden, aber nicht Arbeitsverhältnis, es wird kein Arbeits- ausgeübten Qualifikationen entwerten. entgelt oder Lohn, sondern zusätzlich Kritiker wenden zudem ein, dass die zu ALG II eine „Mehraufwandsentschä- flächendeckende Einführung solcher digung“ (MAE) von ein bis zwei Euro Instrumente pro Stunde bezahlt. Nach dem Willen massive Verdrängungseffekte auf dem des Gesetzgebers soll es sich dabei um ersten Arbeitsmarkt auslösen könnte gemeinnützige Tätigkeiten handeln. und somit das Gegenteil des Ge- Die Beschäftigungsdauer kann zwölf wünschten erreicht werde. durch Lohn-Dumping Monate umfassen, in der Regel liegt sie Befürworter sehen in solchen Maß- bei sechs Monaten. Meistens handelt nahmen einen guten Weg, die Beschäf- es sich um eine Teilzeitarbeit mit 20 tigungschancen von Arbeitslosen – ins- bis maximal 30 Stunden pro Woche. besondere Langzeitsarbeitslosen – er- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 49 heblich zu steigern. Auch wenn sich die sammenhang von Erwerbsarbeit und Integrationswirkungen nicht in jedem Einkommen aufgelöst wird. In den Einzelfall und erst mittelfristig ergeben Fokus der öffentlichen Debatte ist in könnten, werde den Langzeitarbeits- letzter Zeit verstärkt das Konzept des losen wieder gesellschaftliche Teilhabe bedingungslosen Grundeinkommens und persönliche Befriedigung ermög- gerückt, das sehr kontrovers diskutiert licht: Dauerhaft vom Arbeitsmarkt Aus- wird. Jeder Bürger bzw. jede Bürgerin gegrenzte leben oft passiv und zurück- soll vom Staat ohne Bedingungen ein gezogen ohne Hoffnung auf soziale festes monatliches Einkommen zur Anerkennung; mit Bürgerarbeit und Deckung der Grundbedürfnisse erhal- Ein-Euro-Jobs sollen sie wieder aktiviert ten. Wer über mehr Geld verfügen will, und ins gesellschaftliche Leben inte- kann es sich über Erwerbsarbeit verdie- griert werden. Hinzu kommen Vorteile nen. Hier scheint die Einlösung eines für die Kommunen durch die Ergeb- alten Menschheitstraums versprochen nisse der zusätzlich geleisteten Arbeit. zu werden: Vom „Joch der Arbeit“ be- Weitaus radikaler gehen Konzepte freit kann der Mensch sein Leben – ohne vor, die das bestehende Sozialsystem materielle Not und Existenzängste – und die Arbeitsgesellschaft so grund- ganz nach seinen persönlichen Vorstel- sätzlich umbauen wollen, dass der Zu- lungen und Überzeugungen gestalten. 50 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Arbeiten um zu leben – leben um zu arbeiten? Instrumente und Modelle von Arbeit und Beschäftigung Welche neuen Instrumente und Modelle werden eingesetzt, um die Teilhabe am Arbeitsmarkt zu fördern? Podiumsdiskussion mit Gabi van Dyk Mitgesellschafterin „jobkontakt GmbH“ (z. Zt. der Veranstaltung), Vorstand„Lebensunternehmer eG“ Sylvia Kühnel Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit, Projektgruppe Bürgerarbeit, Halle (Saale) Dr. Rolf Schmachtenberg Leiter der Unterabteilung Arbeitsförderung, Arbeitslosenversicherung, Grundsicherung für Arbeitsuchende und Arbeitsmarktstatistik, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin PD Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hochschullehrer an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Moderation: Peter Laudenbach Freier Autor Wirtschaftsmagazin „brand eins“, Berlin P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Bedingungsloses Grundeinkommen – ein zukunftsfähiges Konzept? 51 wichtige Dimensionen: finanzielle Mittel, ausreichende Bildung sowie eine sinnvolle, gesellschaftlich anerkannte Beschäftigung. Sein Plädoyer für ein Moderator Peter Laudenbach vom solches Grundeinkommen will er aber Wirtschaftsmagazin „brand eins“ eröff- nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung nete die Diskussion mit der Frage, ob der aktiven Arbeitsmarktpolitik ver- das bedingungslose Grundeinkommen standen wissen. eine sinnvolle Alternative zu den beste- Das bedingungslose Grundeinkom- henden sozialstaatlichen Grundsiche- men skizzierte Strengmann-Kuhn als rungsmodellen in Deutschland sein eine Art Vorschuss des Staates, der je- könnte. weils am Ende eines Jahres – je nach Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Leistungsfähigkeit – steuerlich verrech- sieht darin durchaus eine vernünftige net wird: Vielverdiener müssen das Alternative zum gegenwärtigen So- Geld dann zusammen mit den Steuern zialversicherungssystem. Die vielfäl- komplett zurückzahlen, Geringverdie- tigen Konzepte eines bedingungslosen ner zahlen nur einen Teil und Einkom- Grundeinkommens basierten jenseits menslose überhaupt nichts zurück. Auf aller Unterschiede auf der Kernidee, diese Weise sei für jeden Menschen in dass jeder Mensch ein Recht auf Teilha- sämtlichen Lebenslagen eine stabile be an der Gesellschaft habe; um aber Grundsicherung überhaupt am gesellschaftlichen Leben durch eine gesicherte Lebensplanung partizipieren zu können, müsse er über mit erheblich größerer Selbstbestim- ein bestimmtes Einkommen verfügen. mung möglich werde als bisher. Es gehe Und die einfachste Möglichkeit dieser also nicht darum, das gesamte jetzige Grundabsicherung sei eben ein monat- Sozialsystem zu ersetzen, sondern mit liches festes Einkommen, das jeder einem Grundeinkommen einen festen Mensch vom Staat erhält: als gesetz- Boden der Existenzsicherung zu schaf- liches Anrecht und ohne irgendeine fen. Hier sieht Strengmann-Kuhn einen Bedingung. Dadurch könne niemand entscheidenden Unterschied zu den mehr durch das soziale Netz fallen und Hartz IV-Regelungen, bei denen viele die gesellschaftliche Teilhabe der Men- Menschen das Gefühl hätten, ihnen schen sei gesichert. Teilhabe umfasst werde der Boden unter den Füßen weg- nach Strengmann-Kuhn drei gleich gezogen. gewährleistet, wo- 52 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Ein wesentliches Ziel des bedin- mut“: So kann davon ausgegangen gungslosen Grundeinkommens ist nach werden, dass etwa zwei Millionen Er- seiner Auffassung, den Menschen ein werbstätige mit berechtigtem Anspruch stärker selbstbestimmtes Arbeiten zu ihre Leistungen nicht beantragen. Für ermöglichen. Gesellschaftlich notwen- all diese Menschen, die in prekären dige Arbeit sei insgesamt genug vor- oder manifesten finanziellen Notla- handen. Da sich die Arbeitswelt und gen leben, würde ein bedingungsloses das Wesen der Erwerbsarbeit jedoch Grundeinkommen eine sichere finan- strukturell verändert hätten und auch zielle Grundlage schaffen. Strengmann- weiter verändern würden, müsse man Kuhn erinnerte daran, dass alle Men- die soziale Sicherung so konzipieren, schen eine bestimmte Menge Geld dass die Menschen die sozial notwendi- zum Leben bräuchten – und es sei doch ge Arbeit auch ergreifen können. Denn kaum möglich bzw. äußerst zweifel- ein großer Nachteil des gegenwärtigen haft, Menschen von diesem Existenz- Systems liegt für ihn im grundsätzli- minimum unter Androhung von Sank- chen Ausschluss bestimmter Personen- tionen bzw. durch die Kürzung von gruppen von Transferleistungen, wie Transferleistungen auszuschließen. z.B. Studierende, die trotz überschrit- Dr. Rolf Schmachtenberg vom Bun- tener Regelstudienzeit einen Zweitstu- desministerium für Arbeit und Soziales diengang absolvieren möchten, oder verwies zunächst darauf, dass Streng- Eltern, die sich lieber um ihre Kinder mann-Kuhns Modell von den üblichen kümmern statt erwerbstätig zu sein. Konzepten eines bedingungslosen Auch angesichts der Ergebnisse des Grundeinkommens abweicht, da es auf zweiten Armuts- und Reichtumsberichts einem Ansatz aktiver Teilhabe beruht hält Strengmann-Kuhn die Einführung und eines bedingungslosen Grundeinkom- Maßnahmen vorsieht. Die meisten mens für den richtigen Weg: 2007 be- Verfechter würden jedoch eine einfache zogen in Deutschland etwa fünf Mil- Form dieses Modells vertreten, das sich lionen Menschen ALG II, zehn Millio- vom Ziel der gesellschaftlichen Teil- nen Menschen zählten als arm und habe weit entferne. Und dann sei doch ungefähr eine Million Erwerbstätige fraglich, ob es wirklich vorrangig um benötigten wegen ihres unzureichen- ein selbstbestimmtes Leben geht – er den Erwerbseinkommens zusätzliche befürchte vielmehr, dass einige dieser Transferleistungen vom Staat. Hinzu Konzepte auch darauf abzielten, in der kommt dann noch die „verdeckte Ar- Volkswirtschaft aus Sicht der Arbeit- weitere arbeitsmarktpolitische P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 53 geber „nicht mehr verwendbare Men- berücksichtigt wird: Angehörige einer schen zum Billigtarif abzuschieben“. solchen Bedarfsgemeinschaft erhalten Entscheidend sei doch die grund- demnach entsprechend weniger bzw. sätzliche Frage, in welcher Gesellschaft gar keine sozialstaatliche Hilfe, da sie wir eigentlich leben wollen, welches wie gemeinsam lebende Ehepaare be- Selbstbild wir von uns und unserem handelt werden, die zu gegenseitiger Zusammenleben haben. Gegenwärtig Hilfeleistung verpflichtet sind. dominiere in unserer Gesellschaft die Ein Problem sei dabei, dass bei Be- Grundeinstellung, dass wir in Aus- darfsgemeinschaften aus mehreren tauschbeziehungen leben, nach einem Erwachsenen mit ihren Kindern die Prinzip von Geben und Nehmen. An finanziellen Lasten sehr ungleich zwi- diesem Prinzip sei auch die – im Zuge schen Verheirateten und Unverheira- der Hartz-Reformen eingeführte – teten geregelt sind. Während z. B. „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ verheiratete Paare mit hohem Einkom- (ALG II) ausgerichtet: Das Recht jedes men eines Partners vom Ehegatten- Menschen auf soziale Teilhabe wird splitting stark profitieren, können Ehe- mit Pflichten verbunden und an Be- paare mit zwei niedrigen Einkommen dingungen geknüpft. Daraus folgten daraus keine Vorteile ziehen. Anderer- Regelungen, die in gesetzeskonformer seits stehen sie aber bei der Berechnung Vorgehensweise durchgesetzt werden von Sozialleistungen schlechter da als müssten. Problematisch sei dabei aller- nichteheliche Partnerschaften, soweit dings, dass viele dieser Regelungen auf diesen keine Bedarfsgemeinschaft nach- Voraussetzungen aufbauen, die sehr zuweisen ist. Daher ergebe sich eine genau betrachtet werden müssen. schwierige Gemengelage. Um soziale Schmachtenberg demonstrierte die- Ungerechtigkeiten zu vermeiden, müs- se Problematik am Beispiel der soge- se man sich auf die Stellung der Ehe im nannten „Bedarfsgemeinschaft“. Die- Grundgesetz beziehen, sonst gelte: Wer sem Konstrukt liegt die Annahme zu- heiratet (und damit Verantwortung für grunde, dass Personen, die mit einem den Partner übernimmt) hat das Nach- Lebenspartner oder Verwandten in ei- sehen – es sei denn, er verdient relativ nem Haushalt leben, sich in Notlagen viel, so dass er vom Ehegattensplitting gegenseitig materiell unterstützen und massiv profitiert. ihren Lebensunterhaltsbedarf gemein- Zahlreiche ähnliche Probleme wären sam decken, was bei der Berechnung noch zu nennen. Schmachtenberg ver- einer erforderlichen Grundsicherung wies auf die Komplexität des Systems 54 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G staatlicher Transferleistungen sowie auf rung der Grundsicherung für Arbeit- die Tatsache, dass viele der darin ent- suchende, also in 2005, eindeutig ihr haltenen Regelungen und Bedingun- Maximum erreicht: Nie seien in Summe gen hinterfragt werden müssten. Wohl mehr Sozialleistungen an diese Perso- deshalb erscheine auch vielen Bürge- nengruppe ausgezahlt worden als in rinnen und Bürgern das Bürgergeld diesem Jahr. Die Tatsache, dass Perso- bzw. Grundeinkommen sehr attraktiv, nen ihnen zustehende Leistungen trotz weil es als einfaches „Bierdeckelkon- bestehenden Anspruchs nicht beantra- zept“ schnell zu erklären und leicht zu gen, komme inzwischen seltener vor verstehen sei. Doch diese Konzepte als im alten System; insoweit habe die staatlicher Grundsicherung seien in der Einführung der Grundsicherung für Regel zwar einfach strukturiert, aber Arbeitsuchende zum Abbau verschämter deshalb noch lange nicht dazu geeig- Armut beigetragen, sinnvolle Abhilfe net, eine bessere gesellschaftliche Inte- könnten darüber hinaus nur bessere gration zu erreichen. Informationen und Aufklärung über Nach Auffassung von Schmachten- dieses Thema schaffen. Dagegen be- berg ist das bedingungslose Grundein- trachte er es als großes Problem, dass kommen keine angemessene Antwort gegenwärtig so viele Menschen trotz auf die problematischen Folgen des Vollzeitbeschäftigung zusätzliche Hil- Strukturwandels der Arbeitswelt. Viel- feleistungen in Anspruch nehmen mehr sieht er bei den Befürwortern eine müssten. Da stimme etwas Grundsätz- Art „Ausweichreaktion“, da sie sich sei- liches nicht. nes Erachtens den bestehenden zentra- Sanktionen bei der Verteilung von len Verteilungskonflikten in der Gesell- Sozialleistungen hält Schmachtenberg schaft nicht stellen. Er plädierte für eine für unverzichtbar, um eine dauerhafte grundlegende Lösung der Konflikte, Integration in den Arbeitsmarkt zu si- statt ihre Auswirkungen durch Alimen- chern: Die zuständigen Fallmanager tierung zu entschärfen. und Arbeitsvermittler vor Ort würden Zu Strengmann-Kuhns Ausführun- immer wieder die Bedeutung von Sank- gen über das Ausmaß der Armut in tionsdrohungen bestätigen, ohne die Deutschland merkte Schmachtenberg bei bestimmten Personengruppen kei- an: Auch wenn die relative Armut in nerlei Verhaltensänderungen herbei- den letzten Jahren gestiegen sei, hätten geführt werden könnten. die Transferleistungen für Erwerbsfähi- Schmachtenberg wies zudem darauf ge in Deutschland im Jahr der Einfüh- hin, dass die Verschärfungen im Sank- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 55 tionenrecht zum 1. Januar 2007 von und damit einer grundsätzlichen Pro- der Mehrheit des Bundestages – auch blemlösung näherkommen. auf Drängen der Länder – eingeführt Natürlich sei das der schwierigere, wurde und somit nun politische Wirk- weil differenziertere Weg. Viel einfacher lichkeit sei. Er erinnerte daran, dass sei da doch die Forderung, allen ein solche Entscheidungen in einer parla- bisschen Geld zu geben. Oft würde mentarischen Demokratie von poli- gegen Konzepte eines bedingungslosen tischen Mehrheiten getroffen werden, Grundeinkommens das Finanzierungs- die aus Wahlen hervorgegangen sind. problem als „Totschlagargument“ ein- Anschließend betonte er den wich- gesetzt. Er dagegen halte ein – allerdings tigen Stellenwert arbeitsmarktpoliti- – niedriges Grundeinkommen durch- scher Maßnahmen: Noch diskutiere aus für finanzierbar. Die viel wichtigere man in Deutschland viel zu wenig die und letztlich entscheidende Frage sei entscheidenden Faktoren zur Schaf- doch, ob eine auf bedingungslosem fung von mehr Beschäftigung, z.B. die Grundeinkommen beruhende Gesell- Zinsentwicklung oder die Einkommens- schaft mit ihren sozialen Implikatio- entwicklung aus Vermögen bzw. die nen überhaupt anstrebenswert sei. Er benachteiligte Position derer, die für jedenfalls sei fest davon überzeugt, dass Investitionen Kredite aufnehmen. Auch die Mehrheit der Deutschen eine solche seien die Investitionen in eine zu- Gesellschaft nicht wolle – und zwar aus kunftsfähige Infrastruktur – z.B. in gutem Grund. Bildung und Kindergärten – noch viel Dagegen hält Gabi van Dyk das zu gering. Über solche Maßnahmen Grundeinkommen vor allem aus zwei könnte man Beschäftigung schaffen Gründen für ein sehr gutes sozialpoli- 56 tisches Instrument: Erstens wäre dadurch die Stigmatisierung großer Bevölkerungsgruppen (als ALG II- oder Lei- F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Modellprojekt Bürgerarbeit – ein Weg zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe? stungsempfänger) beseitigt. Und zweitens könnte der bürokratische Aufwand Sylvia Kühnel, Mitarbeiterin der Bun- zur Verwaltung der Transferleistungen desagentur für Arbeit in der Regional- massiv abgebaut werden, z.B. durch direktion Sachsen-Anhalt-Thüringen, den Wegfall der Bedürftigkeitsprüfun- stellte das Modellprojekt Bürgerarbeit gen und der komplizierten Errechnung vor. Mit dieser Maßnahme soll ein von Versicherungsleistungen. In der neuer Weg beschritten werden, um Folge könnte in den öffentlichen Insti- Langzeitarbeitslose wieder in Beschäf- tutionen ein großes Kräftepotenzial tigung zu bringen. Bürgerarbeit ist dabei freigesetzt werden, das dann verstärkt ausschließlich für jene Arbeitslosen für die Begleitung der verschiedenen gedacht, für die auf dem gegenwärtigen Gruppen in den Arbeitsmarkt eingesetzt Arbeitsmarkt keine bzw. nur äußerst werden könnte. Allerdings ergänzte sie, geringe Vermittlungschancen bestehen. dass ein bedingungsloses Grundein- In Kühnels Zuständigkeitsbereich – den kommen erst dann die gewünschten Ländern Sachsen-Anhalt und Thürin- positiven Auswirkungen haben könne, gen – liegt der Anteil dieser schwer wenn die nächste Generation mit einem Vermittelbaren unter den Arbeitslosen neuen Weltbild und einer anderen mittlerweile deutlich über 40 Prozent. Vorstellung von Arbeit herangewachsen Da der Markt dieses Problem offensicht- ist. So stelle sich die Frage nach der lich nicht mehr lösen könne, werde nun Bedeutung von Arbeit doch ganz nach neuen Mitteln und Wegen ge- anders, wenn bereits im frühen Kindes- sucht. alter über Erziehung, Bildung und Ak- Das Pilotprojekt beruht auf der tivierung eine individuelle Talentför- Grundüberzeugung, dass die Bezahlung derung betrieben worden sei. Arbeit von Arbeit sinnvoller ist als die Finan- werde dann nicht nur über Geld, son- zierung von Arbeitslosigkeit. Kühnel dern auch über Sinnhaftigkeit defi- verdeutlichte die gegenwärtige proble- niert. matische Ausgangssituation, in der Langzeitarbeitslose oft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind und in einen Teufelskreis der Untätigkeit ge- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 57 raten: Aufgrund der Transferleistungen hin direkt eine Beschäftigung vermittelt haben sie zwar genügend Geld zum werden – rund 20 Prozent der Projekt- Leben, sind aber zu Hause ohne gesell- teilnehmer konnten sofort eine Arbeit schaftlich sinnvolle Tätigkeit häufig aufnehmen –, anderen, deren Arbeits- sozial isoliert, was zahlreiche Folgepro- marktnähe grundsätzlich noch gegeben bleme mit sich bringe, wie z.B. Demo- ist, wird zunächst eine Weiterqualifi- tivation und Sinnkrisen bis hin zu ge- kation oder Trainingsmaßnahme er- sundheitlichen Problemen sowie dem möglicht. Nur die „Arbeitsmarktfer- Verlust von Qualifikationen und Fer- nen“, also Arbeitslose, für die auch mit- tigkeiten. Als großes Problem betrachtet telfristig keine Beschäftigungschance Kühnel dabei die Weitergabe dieser erkennbar wird, erhalten ein Angebot Passivität in den Familienverbänden, für Bürgerarbeit. Ihnen wird eine ge- indem viele Heranwachsende den Zu- meinnützige Beschäftigung vermittelt, stand der Arbeitslosigkeit quasi als die allerdings auf keinen Fall mit dem Normalzustand erlernen: Kinder leisten ersten Arbeitsmarkt konkurrieren darf. dann auch in der Schule nichts mehr, Bei diesem Angebot werden die beruf- weil sie wissen, dass sie am Ende wie liche Vorgeschichte, die persönlichen ihre Eltern dennoch genügend Geld Kompetenzen und die Leistungsfähig- zum Leben bekommen werden. keit der Betreffenden berücksichtigt; so Ausgehend von dieser Problemlage ist z.B. nicht jeder dazu geeignet, im wurde das System der Bürgerarbeit sozialen Bereich für alte Menschen oder konzipiert: Jeder Arbeitslose wird zu- Behinderte tätig zu sein. Die Vermit- nächst von der zuständigen Arbeits- telten arbeiten dann wöchentlich etwa 1 agentur ARGE zu Gesprächen einge- 30 Stunden in Teilzeit, damit sie sich laden, um eine individuelle Standort- auch weiterhin auf dem ersten Arbeits- bestimmung durchzuführen. Dazu ge- markt bewerben können. Das Besondere hört z.B. die Erfassung der bisherigen dabei ist, dass es sich um eine sozial- beruflichen Erfahrungen des Arbeitsu- versicherungspflichtige Beschäftigung chenden, seiner erworbenen Kompe- mit Arbeitsvertrag handelt. Das Ein- tenzen und bereits gestarteten Bewer- kommen liegt bei durchschnittlich 800 bungsaktivitäten. Einigen kann darauf- Euro, was einem Stundensatz von etwa 1 ARGE: Arbeitsgemeinschaft der Arbeitsagentur und der Kommune, um Arbeitslose nach SGB II in Jobcentern oder Leistungszentren zu betreuen. 58 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G sechs Euro entspricht.2 Kühnel berich- ren und sich darin selbst verwirklichen, tete, dass die Möglichkeit, „arbeiten zu sie möchten von der Gesellschaft nicht gehen“, vielen Menschen wieder Selbst- nur nehmen, sondern auch geben. bewusstsein und einen großen Motiva- Durch diese ersten Erfahrungen mit tionsschub gegeben habe. Und dies sei dem Modell der Bürgerarbeit sah Dr. auch das Hauptziel des Projekts: Die Strengmann-Kuhn die Argumentation Menschen sollen durch Arbeit wieder der Grundeinkommensbefürworter das Gefühl bekommen, etwas wert zu bestärkt. Ähnliches höre man auch aus sein und sich aktiv in die Gesellschaft anderen Bundesländern und regiona- integrieren zu können. Kühnel berich- len Arbeitsagenturen. Man könne an tete weiter, dass sich nur etwa zwei diesem Beispiel sehr gut sehen, dass die Prozent der Betroffenen dem Angebot Menschen grundsätzlich zur Arbeit der Bürgerarbeit total verweigerten – in motiviert sind. diesen Fällen hätte man dann allerdings auch mit Sanktionen – sprich: der Kürzung von Transferleistungen – reagieren müssen. Insgesamt hätten die bisherigen Erfahrungen aber gezeigt, dass Bürgerarbeit sehr gut angenommen Kooperation von privaten und öffentlichen Trägern – neue Chancen zur Arbeitsmarktintegration? werde und die Menschen motiviert seien. Deshalb könne sie auch mit gro- Gabi van Dyk, bei der Firma „Jobkon- ßer Wahrscheinlichkeit sagen, dass die takt“ im Projekt „Vermittlungswerk“ Mehrheit der Langzeitarbeitslosen ein tätig, schilderte Erfahrungen aus der bedingungsloses Grundeinkommen privaten Arbeitsvermittlung. Ein Projekt zwar begrüßen würde, aber dennoch von Jobkontakt zielt darauf ab, Lang- weiterhin arbeiten wolle, was Kühnel zeitarbeitslose über das Instrument der folgendermaßen begründete: Die meis- Zeitarbeit wieder in den ersten Arbeits- ten Menschen möchten etwas leisten, markt zu integrieren. Van Dyk betonte, über ihre Arbeit Wertschätzung erfah- dass dieses Instrument nicht für alle 2 Gegenwärtig wird das Projekt aus Mitteln für die Arbeitsmarktpolitik der Agenturen für Arbeit und ARGEn sowie aus Mitteln des ESF (Europäischer Sozialfonds) des Landes Sachsen-Anhalt finanziert. Für die Zukunft ist geplant, die Finanzierung über zwei Quellen sicherzustellen: Mittel für die aktive Arbeitsmarktförderung sollen mit Mitteln der passiven Leistungen für die Sicherung des Lebensunterhalts (ALG I und II, Kosten für Unterkunft und Heizung) kombiniert werden. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 59 Zielgruppen geeignet ist, da die Be- nen, werde er auch in der Lage sein, darfe in den Berufssparten jeweils sehr seine Potenziale zu entfalten und seine unterschiedlich seien. Grundsätzlich Ziele zu erreichen. Bei der ganzen De- müsse für jede Gruppe das passende batte über die richtigen arbeitsmarkt- Instrument bzw. Projekt gefunden wer- politischen Instrumente dürfe man den. niemals vergessen, dass es dabei um In der Öffentlichkeit werde viel über die richtigen arbeitsmarktpolitischen Menschen gehe, die eine aktive individuelle Begleitung bräuchten. Instrumente debattiert, wie die Men- Van Dyk hob hervor, dass – bei allen schen wieder in Beschäftigung gebracht Unterschieden in den Arbeitsansätzen werden können – ob mit Mindestein- – eine enge Kooperation zwischen der kommen, Kombilöhnen, Grundein- Firma Jobkontakt und der Arbeit der kommen oder Bürgerarbeit. All diese ARGEn bestehe. Bei der Zusammenar- Konzepte führen ihrer Ansicht nach beit in konkreten Projekten könnten aber nicht weiter, wenn man bei der die unterschiedlichen Kompetenzen Entwicklung konkreter Projekte nicht genutzt werden. Erklärtes Ziel ist es, den betroffenen Menschen in den Mit- die Arbeitsmarktchancen einer ganzen telpunkt stellt. Region zu verbessern, indem Kompe- Genau dies sei der Fall beim Netz3 tenzen gebündelt und gemeinsame werk „Lebensunternehmer eG“ , in dem Projektangebote von öffentlichen und van Dyk ebenfalls aktiv ist. Die Philo- privaten Jobagenturen generiert wer- sophie dieser Initiative stelle den Men- den. schen ins Zentrum und basiere auf Wichtig bei der Arbeit von Jobkon- einem grundsätzlich positiven Men- takt ist, dass in den ersten Beratungs- schenbild, das auf der Annahme basie- gesprächen nicht die berufliche Vergan- re, dass der Mensch von Natur aus gut genheit thematisiert wird, um zu ver- sei. Wenn man ihm also dabei helfe, meiden, dass sich die Arbeitsuchenden seine Talente und Fähigkeiten zu erken- immer wieder mit ihrem bisherigen 3 Die Genossenschaft „Lebensunternehmer eG“ wurde im Oktober 2006 in Berlin von Repräsentanten verschiedener Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Verbände gegründet. Die damit verbundene weltweite „Initiative Lebensunternehmer“ verfolgt das Ziel, das vorhandene Bildungssystem, das in dieser Perspektive auf die Vermittlung von Wissen ausgerichtet ist, durch ein Kompetenzen-Bildungssystem zu ergänzen. „Lebensunternehmer eG“ bietet Trainings- und Ausbildungsprogramme an, in denen die Menschen Schlüsselkompetenzen erwerben können, die ihnen dabei helfen sollen, zu „Unternehmern ihrer eigenen Potenziale“ zu werden. 60 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Scheitern konfrontiert sehen. Im Rah- Funktion, Tätigkeit oder Orientierung men dieser Vermittlungscoach-Metho- habe. Auf dieser Grundlage könne man de lautet die erste Frage: Wenn Sie alle dann gemeinsam mit Wirtschaftspart- Wünsche frei hätten, wo würden Sie nern nach einer Aktivität suchen, bei sich in fünf Jahren sehen – und wo der verschiedene Instrumente gebün- sehen Sie Möglichkeiten, diese Wün- delt werden und die sich frei finanziert sche zu realisieren? Van Dyk erläuterte, entwickeln darf – unabhängig von fes- dass man über diese Frage dann auto- ten Strukturen, aber unter Einbindung matisch über die Bearbeitung der „Stol- bestehender Möglichkeiten, z.B. der persteine“ zu denkbaren Möglichkeiten Sozialgesetzgebung. Dies sei deshalb so komme, diese Hindernisse zu überwin- wichtig, weil sich dadurch eine unbe- den und seine Ziele zu erreichen: Was grenzte Gestaltungsfähigkeit ergebe und kann man konkret dafür tun, um eine gleichzeitig jeder mit ins Boot kommen Arbeit zu finden, die einem wirklich könne, der sich aktiv beteiligen möchte. Spaß macht? Nach dieser Methode Moderator Peter Laudenbach ver- kommt der Hilfesuchende schrittweise wies auf wichtige Unterschiede in von der Wunschvorstellung zur Akti- Selbstverständnis und Vorgehensweise vität, um sein Ziel zu verfolgen; das von öffentlichen und privaten Arbeits- kann eine Selbstständigkeit sein oder agenturen. Private Arbeitsvermittler, ein Arbeitsplatz auf dem ersten Ar- wie z.B. die „Job-City-Points“ der „Le- beitsmarkt, eine Zeitarbeit oder eine bensunternehmer“, hätten ein ganz Cluster-Arbeit in verschiedenen Tätig- anderes Bild von ihrer Tätigkeit und keiten. ihrem Gegenüber: Es gehe um mögliche, Ein großer Vorteil für das Projekt sei nachgefragte Dienstleistungen, die der es, so van Dyk, dass der Bundesverband Betroffene auf dem (Arbeits-)Markt Wirtschaftsförderung und Außenwirt- anbieten könnte. Er werde nicht als schaft dieses Konzept mittrage und Arbeitsloser unter Androhung von Social Sponsoring über Wirtschafts- Leistungsentzug in ein Amt bestellt, unternehmen stattfinde. Inzwischen sondern wende sich als Kunde an ein hätten sehr viele Unternehmen erkannt, Beratungsgeschäft mit dem Anliegen, wie unglaublich wichtig es sei, „am Hilfestellung bei seiner Integration in Menschen zu bleiben“ – ob es sich nun den Arbeitsmarkt zu bekommen. Lau- um einen Beschäftigten handle oder denbach verdeutlichte die Differenz um einen Menschen, der gerade keine zwischen den früheren Arbeitsämtern, P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 61 die in bürokratischen Verfahren offene Einführung der zugelassenen kommu- Stellen zuteilten, und diesen neuen Ver- nalen Träger. Die dadurch entstande- mittlungsunternehmen, die den Kun- nen, neuen Strukturen seien allerdings den durch aktive Leistungen, wie z.B. noch lange nicht konsolidiert. So gäbe Coachingmethoden, auf dem Weg in es z.B. in den Arbeitsgemeinschaften die Arbeit unterstützen möchten. Wer- (ARGEn) selbst einen hohen Anteil an den hier also die Mechanismen des befristet Beschäftigten mit unklarer Marktes und des Wohlfahrtsstaates beruflicher Perspektive, was teilweise produktiv miteinander verbunden? zu Motivationseinbußen der Mitarbei- Dr. Rolf Schmachtenberg begrüßte ter und mangelnder Kontinuität der diese jetzt möglich gewordene Zusam- Arbeit führe. Auch bestehe bei vielen menarbeit von privaten und staatlichen dieser Mitarbeiter noch erheblicher Trägern. Mit den Arbeitsmarktrefor- fachlicher Qualifizierungsbedarf, z.B. men seien erhebliche Veränderungen beim Fallmanagement. Das Feld der in der Verwaltung einhergegangen, ganz privaten Anbieter könne sich bundes- tiefgreifend seien sie im Bereich der weit aber durchaus unterschiedlich „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ entwickeln; eine Einschränkung oder ausgefallen – und zwar durch die Bil- Normierung durch Gesetze und Ver- dung der gemeinsamen Verwaltung von ordnungen sei nicht geplant. Bewusst Kommune und Agentur für Arbeit (Ar- habe man eine sogenannte Deckungs- beitsgemeinschaften) sowie durch fähigkeit zwischen den Mitteln für 62 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Personal und den Mitteln für die Be- feld in einer Stadt. Die jeweilige Per- auftragung Dritter eingerichtet, um zu sonengruppe wird dann in ihren beruf- ermöglichen, dass einerseits gutes ei- lichen und sozialen Belangen durch genes Personal bei den ARGEn aufge- einen Dritten betreut, wobei die Pro- baut wird und andererseits relativ viele zessergebnisse regelmäßig zu den An- Dienstleistungen an Dritte vergeben sprechpartnern in der ARGE rückge- werden können. koppelt werden. Solche Wege seien jetzt Allerdings wäre es nach Auffassung möglich und könnten sich noch weiter von Schmachtenberg besser, wenn die entwickeln. In diesem Bereich sei der ARGEn Aufträge an Dritte über längere gesetzliche Rahmen noch lange nicht Zeiträume vergeben würden. Bisher ausgeschöpft. wurden häufig nur kleinere Aufträge Dahinter stehe das Ziel, bei der erteilt, was offensichtlich viele Schnitt- Vermittlung von Erwerbslosen in den stellenprobleme mit sich brachte. So Arbeitsmarkt personenbezogene Dienst- wurden in einer Phase des „Profiling“ leistungen von hoher Qualität auch in bestimmte Teilunterstützungsleistun- neuen Formen zu erbringen: insbeson- gen – z.B. Beratungsgespräche mit den dere durch die Weiterentwicklung der Betroffenen – an Dritte vergeben. Die neuen Verwaltungsformen, indem die Ergebnisse dieser Phase seien dann zwar Kompetenzen von Kommunen und dokumentiert worden, doch die Mit- Agenturen gebündelt werden. Aller- arbeiter der weiter betreuenden Job- dings würden in der Praxis noch zu oft center hätten sie aus Zeitgründen häufig sehr verschiedene Verwaltungskulturen nicht gelesen. Aufgrund dieser schlech- aufeinandertreffen, was zu Konflikten ten Erfahrungen sollte die Auftragsver- und ineffektiven Strukturen führen gabe an Dritte künftig größere Zeit- könne. Tatsächlich sei es eine große räume umfassen. Managementherausforderung, die be- Die Bundesagentur arbeite bereits trächtliche Lücke zwischen Theorie und daran, die Kooperation mit Dritten zu Praxis zu schließen. Schmachtenberg verbessern und diese auch langfristiger hält diese Probleme aber für überwind- zu gestalten. So wurden für bestimmte bar, zumal an der Beseitigung der De- Zielgruppen gemeinsam Maßnahmen fizite und Hindernisse intensiv gear- entwickelt und durchgeführt, z.B. für beitet werde. Natürlich müsse aber Menschen mit Migrationshintergrund immer berücksichtigt werden, dass bei in einem bestimmten Alter und Berufs- all diesen Maßnahmen auch auf die P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 63 Ausgaben für die öffentliche Hand ge- fachlichen Weiterqualifizierung oder achtet wird. Schmachtenberg verwies an einem Training zur Stärkung ihres auf ein Spannungsfeld: Die Dienstleis- Selbstwertgefühls. tungen müssen qualitativ hochwertiger Dagegen wiederholte Dr. Schmach- erbracht werden als früher und zugleich tenberg noch einmal die grundsätzliche sind bei der Verwendung öffentlicher Bedeutung von Sanktionsmöglich- Gelder bestimmte haushaltstechnische keiten, ohne die sich manche Arbeits- Regeln einzuhalten, die einen wirt- losen – insbesondere in der Gruppe der schaftlichen Mitteileinsatz sicherstellen unter 25-Jährigen – einfach nicht ak- sollen. tivieren ließen. Auch van Dyk sieht ein grundsätzliches Problem darin, dass viele der Sind Sanktionen ein sinnvolles Instrument, um Teilhabe am Arbeitsmarkt zu erreichen? Langzeitarbeitslosen häufig demotiviert und lethargisch seien; in diesen Fällen sei zur Aktivierung manchmal auch Zwang notwendig. Dies müsse nicht Dr. Strengmann-Kuhn kritisierte die unbedingt eine finanzielle Sanktionie- Sanktionsdrohungen im gegenwärtigen rung sein, wie sie an einem Beispiel System: Wer nicht bereit ist, die von der erläuterte: Manche Projekte von Job- Arbeitsagentur vorgesehenen Maßnah- kontakt seien als Coachingprozess an- men zu ergreifen, muss grundsätzlich gelegt, bei dem sich die involvierten mit Leistungskürzungen rechnen. Oft Menschen gegenseitig betreuen und genug seien diese Maßnahmen aber reglementieren. Wenn z.B. eine Person nicht auf den jeweiligen Einzelfall zu- eine Zielvereinbarung nicht einhält geschnitten und deshalb dann auch und auf Dauer nicht aktiv wird, kann wenig sinnvoll. Die Planung von Maß- daraus folgen, dass sie an einer Maß- nahmen und die Sanktionierung ihrer nahme bzw. an einem Projekt nicht Ablehnung müsse viel differenzierter mehr teilnehmen darf. Zusätzlich kann und fallspezifischer erfolgen: So bräuch- dieser Ausschluss auch noch mit finan- ten manche Empfänger von Transfer- ziellen Sanktionen verbunden werden leistungen z.B. gar keine Arbeitsvermitt- oder zu Handlungsempfehlungen wie lung, weil sie als bereits Erwerbstätige z.B. Sucht- oder Schuldnerberatung nur ergänzende Leistungen beziehen, führen. Ganz wesentlich sei, Erwerbs- andere hätten vielleicht Bedarf an einer lose immer in einem aktiven Modus zu 64 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G halten, damit sie nicht untätig zu Hau- öffentliches Geld aus Steuermitteln se sitzen und der Gefahr massiver psy- und Versicherungsbeiträgen – und jeder chischer Probleme ausgesetzt sind. Beschäftigte, der in diese Kassen ein- Aufgrund der sehr unterschiedlichen, zahlt, habe doch ein berechtigtes In- individuellen Problemlagen brauche es teresse an einer zweckentsprechenden aber eine große Vielfalt an Aktivierungs- Verwendung dieses Geldes. Sanktionie- und Sanktionierungsmaßnahmen. rung ist nach Kühnels Auffassung des- Sylvia Kühnel stimmte van Dyk zu, halb keine Drohung, sondern nur eine dass nur eine differenzierte Vorgehens- Möglichkeit, um die wirtschaftliche und weise Erfolg versprechend sein kann. sinnvolle Verwendung der von der Auch die Arbeitsgruppen der Bundes- Gesamtgesellschaft zu Verfügung ge- agentur für Arbeit würden bereits für stellten Mittel zu gewährleisten. Und besondere Problemfälle die Methode wer sich konsequent weigert, seinen eines individuellen Fallmanagements Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, einsetzen. der müsse dann auch hinnehmen, dass Schwierigkeiten habe sie allerdings er finanzielle Einbußen hat oder z.B. mit dem Begriff der Drohung im Zu- nur einen Lebensmittelgutschein er- sammenhang mit Sanktionierungs- hält. möglichkeiten. Schließlich gehe es um P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 65 Diskussion mit dem Publikum Werden bei den Arbeitsmarktreformen fangreichen Evaluationsberichte mit wissenschaftliche Erkenntnisse ausrei- Empfehlungen nicht gebührend be- chend berücksichtigt? achtet worden? • Ein Teilnehmer verwies auf die zahl- Dr. Rolf Schmachtenberg nannte für die reichen Modellversuche, die seit genannten Diskrepanzen zwei wesent- vielen Jahren in Deutschland durch- liche Gründe: geführt werden und neue Formen der Erstens sei es bis Anfang dieses Jahr- Arbeitsmarktpolitik erproben, z.B. zehnts politischer Konsens gewesen, „MoZArT – Neue Strukturen für Jobs“ dass die Bundesagentur für Arbeit – wie oder die Beschäftigungsförderung in die anderen öffentlichen Verwaltungen Kommunen. Auch habe es schon – Personal abbauen muss, unabhängig einige Jahre vor der Hartz-Gesetzge- von der Höhe der Arbeitslosigkeit. Zu- bung umfangreiche Erfahrungen mit sätzliches Personal sei daher anfangs der Zusammenlegung von Arbeitslo- schlichtweg nicht durchsetzbar gewe- sen- und Sozialhilfe gegeben. Eben- sen. Diese Entwicklung sei im Verlauf falls sei bekannt gewesen, dass für der Reformen stufenweise und teilwei- individuelles Fallmanagement eine se etwas abrupt geändert worden. We- ausreichende Ausstattung mit quali- sentliche Ursache sei die Auseinander- fiziertem Personal unabdingbar ist. setzung zwischen verschiedenen poli- Warum seien also bei der Umsetzung tischen Interessen: Auf der einen Seite der Arbeitsmarktreformen die um- stehe die Forderung, öffentliche Ver- 66 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G waltung bzw. staatliche Aufgaben mög- manchmal tausende Arbeitsplätze lichst klein zu halten und Steuern zu durch Betriebsschließungen und Per- sparen, auf der anderen Seite sehe man sonalabbau im Öffentlichen Dienst die Notwendigkeit einer Aufstockung verloren. Indem man diese Entwick- der Ressourcen. Angesichts dieser kom- lungen zuließe bzw. ihnen nichts plizierten Aushandlungsprozesse gehe Wirkungsvolles entgegensetze, pro- es hier deshalb häufig nur schrittweise duziere man die Langzeitarbeitslosen voran. von morgen. Zweitens bestehe in Deutschland historisch bedingt ein hoch komplexes, Rolf Schmachtenberg stimmte prinzi- föderales System, das die Verwaltungs- piell zu, dass noch viel zu wenig über kompetenzen zwischen Bund, Länder strukturelle Fragen des Arbeitsmarktes und Kommunen aufteilt. Dies habe eine diskutiert werde, z.B. in welchen Be- sehr komplizierte Verwaltungsstruktur reichen Arbeitsplätze entstehen und in zur Folge, in der aufgrund komplexer welchen sie wegfallen. Es sei dringend Abstimmungsprozesse nicht alle Emp- nötig, diese Prozesse auf dem Arbeits- fehlungen eins zu eins umgesetzt wer- markt genauer zu analysieren und zu den könnten. Jede Gruppe versuche, diskutieren. Er nannte dazu einige ihre Interessen durchzusetzen und am Stichpunkte: die zunehmende Alterung Ende komme ein Kompromiss heraus. der Gesellschaft infolge des demografischen Wandels, den wachsenden Wird in der öffentlichen Debatte die Dienstleistungssektor sowie die teil- strukturelle Dimension der Arbeitslo- weise sehr schlecht bezahlten Tätig- sigkeit vernachlässigt? keiten im Pflegebereich, die gesellschaftlich zwar eine zunehmend wichtige • Kritisiert wurde die Individualisie- Rolle spielen, aber aufgrund geringer rung des Problems der Arbeitslosig- Entlohnung häufig nur noch von Aus- keit: Bei der Thematisierung und ländern übernommen werden. Bekämpfung von Arbeitslosigkeit würden vorrangig Individuen und Wo werden Defizite der gegenwärtigen ihre Probleme in den Blick genom- Arbeitsmarktreformen gesehen? men, nicht jedoch die strukturellen Defizite. Ausgeblendet würden dabei • Es wurde die Auffassung vertreten, die Ursachen der Langzeitarbeitslo- dass die Leistung ALG II im Rahmen sigkeit. Täglich gingen hunderte, der Grundsicherung für Arbeitsu- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 67 chende genauso wenig aktivierende Entscheidungen sowie eine Frage der Funktionen habe wie das bedingungs- Mittel, die für diesen Bereich zur Ver- lose Grundeinkommen. Über beide fügung stehen. Systeme seien die Menschen zwar grundgesichert, aber letztlich ruhiggestellt. • Aus dem Publikum kam der Hinweis, dass die grundsätzliche Arbeitsbereitschaft der Menschen sich auch Auch Schmachtenberg betrachtet die darin gezeigt habe, dass sie sich um Aktivierung noch als unzureichend. die Ein-Euro-Jobs regelrecht gerissen Allerdings wies er darauf hin, dass es hätten. Ein Problem liege aber in der 2006 im SGB II schon 3,1 Millionen niedrigen Integrationsquote der Ein- Abgänge aus der Arbeitslosigkeit ge- Euro-Jobs: Nur sehr wenige Menschen geben hat – mehr als Zugänge! – und hätten über diesen Weg eine Beschäf- davon konnten 26 Prozent eine regu- tigung im ersten Arbeitsmarkt ge- läre Beschäftigung antreten. Das seien funden, obwohl dies doch das we- schon erste Erfolge, auch wenn hier sentliche Integrationsinstrument des natürlich noch mehr passieren müsse. SGB II sei. • Ein Teilnehmer meinte, die Zusam- Schmachtenberg widersprach: Nach menlegung von Arbeitslosenhilfe und Auffassung des Bundesministeriums sei Sozialhilfe sei im Prinzip zu befür- das Instrument des Ein-Euro-Jobs gera- worten, weil die Sozialhilfeempfän- de nicht als Integrationsmaßnahme in ger nun auch in den Genuss von den ersten Arbeitsmarkt gedacht, son- Vermittlungsbemühungen kommen. dern als Ultima Ratio, wenn keine realen Zu kritisieren sei jedoch die damit Vermittlungsmöglichkeiten mehr gese- verbundene reale Absenkung der Re- hen werden. Genauso stehe das auch gelleistungen. im Gesetz. Geringe Eingliederungsquoten von Zusatzjobs dieser Art seien Schmachtenberg erläuterte, dass der innerhalb des Gesamtkonzepts durch- Regelsatz für die Existenzsicherung ei- aus konsistent. Werde hingegen eine nerseits auf eine bestimmte Weise Integrationsstrategie verfolgt, dann sei festgelegt werde – mit Hilfe von Stati- nicht ein Zusatzjob das Mittel der Wahl, stiken und wissenschaftlichen Verfah- sondern eher eine Qualifizierung, ein ren. Andererseits sei die Höhe des Re- Training, ein Praktikum oder eine kon- gelsatzes aber auch Ergebnis politischer krete Vermittlungshilfe. 68 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G • Es wurde darauf hingewiesen, dass in erhafte Integration in den Arbeits- einem Gutachten des Wissenschaft- markt könne mit diesem Instrument lichen Beirats vom Bundesministeri- also nicht erreicht werden. So müsse um für Wirtschaft und Technologie der Eindruck entstehen, es gehe den vom Juni 2002 in Vorbereitung zu Arbeitsämtern vor allem um eine Hartz IV schon empfohlen worden Schönung der Arbeitslosenstatistik sei, die Sozialleistungen abzusenken. bzw. eine Erhöhung ihrer Leistungs- Diese Empfehlung habe die Politik bilanz, indem die Menschen als ver- dann mit den Arbeitsmarktreformen mittelt gelten. bzw. den Hartz IV-Gesetzen umgesetzt. Die Erfassung der Vermittlungsdauer sei tatsächlich lange Zeit ein Datenpro- Schmachtenberg betonte, dass Politiker blem gewesen, so Rolf Schmachtenberg. keine Erfüllungsgehilfen der Wirt- Bisher fehlten die langlaufenden Daten schaftsexperten sind, sondern ihre zu Erwerbsverläufen, doch inzwischen Entscheidungen in eigener Verantwor- habe die Bundesagentur für Arbeit eine tung treffen. So habe z.B. der Sachver- entsprechende Datensammlung in an- ständigenrat im letzten Herbst erneut onymisierter Form aufgebaut. Deshalb vorgeschlagen, die Sozialleistungen um könne jetzt auch die Langzeitwirkung 30 Prozent zu senken – und die Politik von Qualifizierungsmaßnahmen gemes- habe diese Empfehlung des hochran- sen werden, wodurch sich bereits gezeigt gigen Gremiums nicht umgesetzt. habe, dass Weiterbildung perspekti- • Ein Teilnehmer vertrat die Ansicht, bietet, um wieder in den Arbeitsmarkt visch in der Regel sehr gute Chancen dass Zeitarbeit die Probleme am Ar- hineinzukommen. beitsmarkt nicht dauerhaft lösen könne. Die befristet Beschäftigten, die von Zeitarbeitsfirmen an Unternehmen vermittelt werden, müssten Skandinavische Länder: Vorbild für Deutschland? sich mit großem Aufwand für einen kurzen Zeitraum einarbeiten, um • In einer Wortmeldung wurde die danach wieder arbeitslos zu sein. Vorbildwirkung der skandinavischen Darunter leide nicht nur die Motiva- Länder betont: So sei man z.B. in tion der Betroffenen, sondern auch Dänemark in Bezug auf die Bekämp- die Effektivität der Arbeit. Eine dau- fung von Arbeitslosigkeit wesentlich P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 69 erfolgreicher als in Deutschland. Ein wichtiges Ziel der Arbeitsmarktre- Könnten hier nicht geeignete Modelle formen in den letzten Jahren sei durch- für Deutschland gefunden werden? aus auch eine stärkere Steuerfinanzierung gewesen: Im Jahr 2002 wurden Dr. Strengmann-Kuhn schickte voraus, die Ausgaben für Erwerbsfähige (Ar- als Ökonom ein großer Anhänger der beitslosengeld und -hilfe, Sozialhilfe skandinavischen Politik zu sein und einschließlich Wohngeld) noch zu 62 erläuterte, warum skandinavische Mo- Prozent von den Beitragszahlern fi- delle aus seiner Sicht arbeitsmarktpoli- nanziert. Dagegen waren es 2007 – bei tisch erfolgreicher sind. Er nannte drei etwa gleichbleibender Ausgabenhöhe Hauptursachen: Erstens sei die Staats- – nur noch 43 Prozent. Durch diese quote insgesamt deutlich höher als in Umschichtung von Beitragsfinanzie- Deutschland, was dazu führe, dass we- rung zur Steuerfinanzierung konnte eine sentlich mehr finanzielle Ressourcen Senkung der Arbeitslosenbeiträge um sowohl für Bildung als auch für ein ein Drittel erreicht werden. Schmach- höheres Niveau sozialer Sicherung zur tenberg machte aber auch darauf auf- Verfügung stehen. Zweitens werde die merksam, dass eine stärkere Steuerfi- Sozial- und Arbeitsmarktpolitik klein- nanzierung mit anderen Regeln ver- räumiger organisiert, so dass Maßnah- bunden ist: Beitragsfinanzierte Syste- men zielgenauer umgesetzt werden me hätten durchaus ihre Vorteile, z.B. können. Drittens werde der Sozialstaat Eigentumsschutz und Zumutbarkeits- steuerfinanziert. regeln. Schmachtenberg befürwortet Dr. Rolf Schmachtenberg stimmte zu, zwar eine stärkere Steuerfinanzierung, dass in vielen anderen europäischen warnt aber davor, ausschließlich darauf Staaten unter ähnlichen Rahmenbe- zu setzen. Letztlich müsse man in jedem dingungen eine höhere Erwerbsbetei- politischen Handlungsfeld – z.B. auch ligung erreicht wird. Allerdings sei bei im Gesundheitsbereich – die richtige den meisten dieser Länder bemerkens- Mischung zwischen Beitrags- und Steu- wert, dass sie immer eine irgendwie erfinanzierung finden. Schmachten- stillgelegte Reserve an Arbeitskräften berg skizzierte den Zusammenhang aufweisen, z. B. eine große Personen- zwischen den Veränderungen am Ar- gruppe in Erwerbsunfähigkeit oder im beitsmarkt und der hohen strukturel- Vorruhestand. Dadurch veränderten len Arbeitslosigkeit: Einerseits finden sich in den Statistiken die Prozent- massive Umschichtungen von Arbeits- punkte ganz entscheidend und die plätzen statt, gleichzeitig stehen dem Modelle würden ein wenig schillernd. Arbeitsmarkt mehr Erwerbstätige als 70 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G in den 1970er-Jahren zur Verfügung. dazu beitragen, das Problem der Arbeits- Im Vergleich der OECD-Staaten hat losigkeit zu lösen. Deutschland einen relativ hohen An- Nach Dr. Strengmann-Kuhn kann teil an gewerblicher Wirtschaft und das Problem der strukturellen Arbeits- produziert viele Exportgüter. Im Zuge losigkeit nicht allein durch eine Stei- der Veränderungen auf dem Arbeits- gerung des Erwerbsarbeitsvolumens markt sind aber auch zahlreiche neue erreicht werden. In Deutschland sei Produkte und Dienstleistungen ent- heute nicht nur die Arbeitslosen-, son- standen, sodass nach Schmachtenbergs dern auch die Erwerbstätigenquote Auffassung die Erwerbsbeteiligung ins- insgesamt höher als zu Zeiten der Voll- gesamt nicht zurückgehen müsste. beschäftigung Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre. Deshalb hält er es für notwendig, alle möglichen Arten Kann Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung reduziert werden? der Arbeitsumverteilung vorzunehmen: Dazu gehörten nicht nur eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, sondern auch vielfältige Möglichkeiten von • Angesprochen wurden auch Rationa- Sabbat-Jahren, Teilzeitarbeit, Aussetzen lisierung und Automatisierung als wegen Familienarbeit oder Weiterbil- zentrale Ursachen der Massenarbeits- dung usw. Da es sehr wichtig sei, für losigkeit – eine Entwicklung, die sich diesen Weg eine soziale Sicherung zu vermutlich weiter fortsetzen werde. schaffen, plädiere er für ein bedin- Angesichts dessen wurde die Frage gungsloses Grundeinkommen, wodurch gestellt, ob nicht eine Umverteilung eine soziale Sicherung in allen Lebens- der Arbeit durch Arbeitszeitverkür- lagen gelingen könne und der Arbeits- zung sinnvoll wäre. markt entlastet werde. Zusätzlich zu einer guten makroökonomischen Poli- Dazu merkte Dr. Schmachtenberg an, tik, die auf eine Ausdehnung des Er- dass Arbeitszeitverkürzung über Jahr- werbsarbeitsvolumens zielt, sei die hunderte – von 1800 bis 1980 mit Un- Einführung terbrechungen in den Kriegsjahren – ein Grundeinkommens ein notwendiger langjähriger Trend war, der in den 80er Weg, um endlich dahin zu kommen, Jahren gestoppt wurde. Möglicherweise dass diejenigen, die arbeiten wollen, könnte Arbeitszeitverkürzung aber auch auch arbeiten können. des bedingungslosen P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 71 Aufschwung in Deutschland – für alle? Anforderungen an die Arbeitsmarktpolitik Zwei Jahre nach der Arbeitsmarktreform: Bilanz und politische Handlungsfelder für Ost- und Westdeutschland Andrea Wicklein, MdB Vorsitzende der Arbeitsgruppe Aufbau Ost der SPD-Bundestagsfraktion Wenn wir heute über aktuelle Anfor- tungswillen mit einzubringen – für ihre derungen an die Arbeitsmarktpolitik Existenzsicherung, aber auch für die diskutieren wollen, ist zunächst eine Entwicklung unserer Gesellschaft. Positionsbestimmung notwendig. Unser Land wird auf Dauer nur dann Arbeitsmarktpolitik findet statt in wettbewerbsfähig sein, wenn es uns einer Welt, die sich rasant verändert. gemeinsam gelingt, das Potenzial jedes Die Globalisierung ist Realität. Der Einzelnen durch geeignete Rahmenbe- deutsche Arbeitsmarkt ist den globalen dingungen freizusetzen. Dieses überge- Kräften des internationalen Wettbe- ordnete Ziel müssen wir im Auge haben, werbs ausgesetzt. Heute reicht es nicht wenn wir zukünftige Handlungsfelder mehr aus, auf die Veränderungen zu der Arbeitsmarktpolitik definieren. reagieren, sondern es geht darum, Umstrukturierungsprozesse aktiv zu ge- Wie sieht der heutige Arbeitsmarkt aus? Vor welcher Situation stehen wir? stalten und neue Perspektiven zu ent- Die Arbeitslosigkeit in Ost und West wickeln. Neue Perspektiven für die ist seit einem Jahr enorm gesunken. Nur Menschen in den Regionen, die ein An- noch 3,8 Millionen Menschen waren recht darauf haben, ihre Arbeitskraft, im Mai 2007 arbeitslos. Das ist eine ihre Kompetenz und ihren Gestal- positive Bilanz. 72 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Wenn man aber genauer hinsieht, sprechen komme, werde ich einen ergibt sich im Vergleich der Regionen kurzen Blick in die Vergangenheit wer- immer noch ein sehr differenziertes fen. Bild. Im Schnitt ist die Arbeitslosen- Ich kann mich noch sehr gut daran quote im Osten mit 15,2 Prozent nach erinnern, wie angespannt die Stimmung wie vor mehr als doppelt so hoch wie im Deutschen Bundestag – ganz beson- im Westen, wo sie 7,5 Prozent beträgt. ders in unserer SPD-Bundestagsfrak- Besonders auffällig ist die unterschied- tion – war, als Gerhard Schröder am liche Entwicklung der Kurzzeit- und 14. März 2003 seine Regierungserklä- der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahl rung zur Agenda 2010 hielt. Uns war der Kurzzeitarbeitslosen sank in Ost bewusst, dass mit dieser Erklärung der wie in West um mehr als 20 Prozent. radikalste Reformprozess in der Ge- Bei den Langzeitarbeitslosen im Osten schichte der Bundesrepublik Deutsch- ist der Aufschwung aber noch nicht land eingeleitet werden sollte. angekommen. Ihre Zahl sank lediglich Nicht ohne Grund hatte Gerhard um 8 Prozent. Rund 40 Prozent der Schröder für seine Regierungserklärung Langzeitarbeitslosen im Osten sind seit den Titel „Mut zur Veränderung“ ge- mehr als fünf Jahren keiner sozialver- wählt. Er sagte damals: „Wir müssen sicherungspflichtigen Beschäftigung den Mut aufbringen, uns und unserem mehr nachgegangen. Von den 100 Re- Land jetzt die Veränderungen zuzumu- gionen mit einer Arbeitslosigkeit von ten, die notwendig sind, um es wieder über 15 Prozent befinden sich 90 in den an die Spitze der wirtschaftlichen und neuen Bundesländern und 10 in den sozialen Entwicklung in Europa zu füh- alten Bundesländern. Die Arbeitslosen- ren. Wir werden Leistungen des Staates quoten gehen teilweise bis weit über kürzen, Eigenverantwortung fördern die 20-Prozent-Marke, wenn man die und mehr Eigenleistungen von den Uckermark oder die Stadt Görlitz be- Einzelnen fordern müssen. Arbeit und trachtet. Nach wie vor gibt es Regionen Wirtschaft sind das Herzstück unserer mit einer verfestigten Langzeitarbeits- Reform-Agenda. Eine dynamisch wach- losigkeit. Das gilt für Ost und West sende Wirtschaft und eine hohe Be- gleichermaßen. Soweit die derzeitige schäftigungsquote sind die Voraus- Bestandsaufnahme. setzungen für einen guten Sozialstaat Bevor ich auf die heutigen Anforderungen an die Arbeitsmarktpolitik zu und für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft.“ P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 73 Diese Kernaussage von Schröder investitionen, Forschungs- und Ent- hatte damals Gültigkeit, hat heute Gül- wicklungsvorhaben und in den Ausbau tigkeit und wird auch in Zukunft seine von Betreuungsangeboten. Wir schaffen Gültigkeit haben: Arbeitsmarktpolitik dadurch Investitionsanreize in privaten braucht eine vernünftige Wirtschafts- Haushalten, bei der Instandsetzung und politik. Denn nachhaltige Arbeitsmarkt- energetischen Gebäudesanierung. politik funktioniert nur dort, wo die Von Bedeutung war zudem die um- Rahmenbedingungen für wirtschaftli- fassende Reform des Systems der Ar- ches Wachstum gegeben sind. beitsvermittlung, das vorher zu den am Deshalb war es richtig und notwen- wenigsten entwickelten in Europa zähl- dig, die Arbeitsmarktreformen in ein te. Über viele Jahrzehnte war über die Gesamtpaket von Maßnahmen einzu- Schwachstellen diskutiert worden, ohne betten, welche die Rahmenbedingun- die vorhandenen Fehler zu korrigieren. gen für mehr Wachstum und Beschäf- Die damalige Bundesanstalt für Arbeit tigung verbessern konnten. kam ihrem Kerngeschäft, der Vermitt- Dazu gehörte eine umfassende lung von Menschen in Arbeit, nicht Steuerreform, im Einkommens- und ausreichend nach. Vor der Reform war auch im Unternehmenssteuerbereich. ein Vermittler für bis zu 800 Arbeit- Die Unternehmen, die in Deutschland suchende zuständig. Mehr als die Ar- produzieren und hier Arbeit schaffen, beitslosigkeit zu verwalten, war unter sollten gestärkt werden. Zahlreiche diesen Voraussetzungen nicht möglich kleine und mittelständische Unter- – erst recht keine individuelle Betreu- nehmen wurden bei der Körperschafts- ung. Viele Firmen haben freie Stellen und Gewerbesteuer spürbar entlastet. nicht mehr gemeldet, weil sie das Ver- Dazu gehörte die Mittelstandsoffen- trauen in die Arbeitsämter verloren sive der Bundesregierung, mit der un- hatten. Tatsächlich liefen die Qualifi- nötige Bürokratie abgebaut wurde, und zierungsmaßnahmen der Arbeitsämter das zweite Mittelstandsentlastungsge- oft am Bedarf vorbei. Die Betroffenen setz, was Entlastungen von rund 11 Mio. gerieten in unsinnige Qualifizierungs- Euro im Jahr brachte. schleifen, ohne damit ihre Chancen Wichtig war aber auch das 25-Mil- auf einen Job verbessern zu können. Es liarden-Euro-Programm, das kräftige gab keine Vernetzung zwischen Schu- Impulse auf den Binnenmarkt aus- len, Arbeitsämtern und Unternehmen strahlt. Dieses Geld fließt in Verkehrs- in den Regionen. Eine Umfrage unter 74 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Schülern am Chemiestandort Schwarz- zubauen. Vor allem wollten wir errei- heide ergab beispielsweise, dass die chen, dass die Betroffenen schneller meisten nicht einmal die dort ansäs- und kompetenter in Arbeit vermittelt sigen Firmen kannten. Von den Job- oder qualifiziert werden, einen einheit- möglichkeiten ganz zu schweigen. Das lichen Zugang zu Beratung, Vermitt- ist teilweise auch heute noch so. lung und Förderleistungen erhalten Das ineffiziente Nebeneinander sowie vorrangig Eingliederungsleis- zweier Leistungen und zweier Systeme tungen statt Transferleistungen bekom- in Form der Arbeitslosenhilfe und der men. Sozialhilfe musste beendet werden. Et- Ein weiteres Ziel war, dass vor allem wa eine Million Sozialhilfeempfänger Jugendlichen Arbeitslosigkeit erspart waren zuvor von den arbeitsmarkt- bleibt. Jeder Jugendliche sollte einen politischen Maßnahmen ausgegrenzt Arbeitsplatz, einen Ausbildungsplatz, gewesen. Dieser Zustand war nicht mehr ein Qualifizierungsangebot oder zu- akzeptabel. mindest eine Arbeitsgelegenheit er- Die SPD hat mit den Hartz-Gesetzen die wohl schwierigste Reform auf dem Gebiet der Arbeitsmarkpolitik auf den Weg gebracht. Bei aller Kritik und bei halten. Seit dem Beginn der Arbeitsmarktreformen hat sich viel getan. Die Bundesagentur für Arbeit wurde allem Widerstand war diese Reform modernisiert, Job-Center flächende- notwendig und richtig. Uns ging es ckend eingerichtet und alle relevanten unter dem Leitprinzip „Fördern und Dienstleistungen unter einem Dach Fordern“ im Kern darum, bessere Vo- zusammengefasst. raussetzungen für eine rasche Vermittlung in Arbeit zu schaffen. Mit dem „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ Die Service- und Vermittlungs- (Hartz IV) haben wir Arbeitslosenhilfe qualität der Arbeitsämter sollte durch und Sozialhilfe zu einer einheitlichen strukturelle Veränderungen wesentlich Grundsicherung für Arbeitsuchende verbessert, überflüssige Bürokratie und zusammengeführt. verkrustete Strukturen abgebaut wer- Die Vermittlungsaktivitäten wurden den. Ziel war es, die Bundesagentur für intensiviert. Kamen vor der Reform bis Arbeit zu einem modernen Dienstleis- zu 800 Arbeitsuchende auf einen Ver- ter – nicht nur für Arbeitsuchende, mittler, so sind es jetzt etwa 150, im sondern auch für Unternehmen – aus- Bereich der langzeitarbeitslosen Ju- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 75 gendlichen sogar nur 75. Eine indivi- men richtig waren und wir insgesamt duelle, passgerechte Vermittlung ist jetzt auf dem richtigen Weg sind. Meine grundsätzlich möglich. Wahrnehmung ist, dass verloren gegan- Mit den Arbeitsmarktreformen er- genes Vertrauen allmählich zurück- hielten die Regionen mehr Freiraum kehrt: Vertrauen der Menschen in ihre und Verantwortung. Durch die Zusam- Zukunft und in die Leistungsfähigkeit menführung der kommunalen Kom- unserer Gesellschaft. petenz vor Ort und der Kompetenz der Die Auftragsbücher vieler Unter- Bundesagentur wurden die Weichen für nehmen sind voll. Das Wachstum in eine am Bedarf orientierte Vermittlung Deutschland liegt weit über 2 Prozent gestellt und optimale Bedingungen für und in den neuen Ländern seit langem die individuelle Betreuung der Lang- mit 3 Prozent über dem Gesamtdurch- zeitarbeitslosen geschaffen. schnitt. Das verarbeitende Gewerbe als Die Umstellung verlief nicht rei- Motor des Aufschwungs verzeichnet in bungslos und auch heute verstehen wir Ost und West hohe Zuwachsraten. Der die Reformen noch als lernenden Pro- Export entwickelt sich weiter positiv. zess, in dem wir uns nicht davor scheu- Die Situation im Baugewerbe hat sich en, Anpassungen vorzunehmen, wo deutlich verbessert. Gesetze nicht funktionieren. Wir spüren anhand vieler Indikatoren in Ost und West, dass die Refor- Diese insgesamt positive Entwicklung spiegelt sich in der aktuellen Arbeitsmarktstatistik wider. 76 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G In vielen Regionen, in denen der Die Große Koalition verfolgt konse- Aufschwung bereits greift, zeigt sich quent die Linie: bereits das Phänomen, dass Fachkräfte • investieren in spezifischen Branchen fehlen. Das • sanieren Spektrum reicht dabei vom Kraftfahrer • reformieren. für die Logistikbranche, über den Diesen breiten Ansatz müssen wir auch Schweißer im Maschinenbau bis hin verfolgen, denn die Herausforderungen zum Fachmann für Luft- und Raum- sind unvermindert groß. Wenn wir fahrttechnik. Wohlstand, Wachstum und Arbeit so- An anderen Regionen geht der Auf- wie soziale Sicherheit in Deutschland schwung bisher noch vorbei. Dabei dauerhaft sichern wollen, müssen wir handelt es sich um die sogenannten den Wandel gestalten. Globalisierung, strukturschwachen Regionen, die von demografischer Wandel, Klimaschutz Langzeitarbeitslosigkeit und Abwan- und technologische Veränderungen derung ganz besonders betroffen sind. sind nur einige Stichworte für die ge- Darüber hinaus gibt es trotz Auf- waltigen Herausforderungen, vor denen schwung und drohendem Fachkräfte- wir stehen. Doch wir müssen nicht mangel in ganz Deutschland Menschen, davor zurückschrecken. Denn das Leben bei denen multiple Vermittlungshemm- ist ein Prozess von Veränderungen und nisse bestehen und die deshalb in ab- es liegt an uns, wie wir diesen Prozess sehbarer Zeit nicht in den ersten Ar- gestalten wollen. Auf jeden Fall ist es beitsmarkt integriert werden können. wichtig, die Weichen in die richtige Die Zahl der Betroffenen liegt schät- Richtung zu stellen. zungsweise bei 400.000. Deutschland muss seinen weltwei- Dies ist nicht nur eine bittere Wahr- ten Ruf als Hochleistungsland be- heit, sondern erscheint regelrecht ab- haupten. Das erreichen wir nur durch surd angesichts des Umstandes, dass es Qualität. Zentrale Voraussetzungen für gleichzeitig eine Vielzahl von gesell- Qualität sind Bildung, Qualifizierung, schaftlich notwendigen Tätigkeiten Forschung, Innovation, Kreativität, gibt, die aufgrund knapper Kassen der Fleiß, Ausdauer und Teamfähigkeit. öffentlichen Hand nicht erledigt wer- Diese Aspekte werden im Ausland auch den können. klar als unsere Stärken erkannt. Nach Welche Anforderungen ergeben sich daraus für die Arbeitsmarktpolitik? wie vor wird Deutschland als einer der attraktivsten Standorte in Europa an- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 77 gesehen. Weltweit liegen nur die USA schluss, einen guten Abschluss und da- und China vor uns. nach ein ordentliches Ausbildungsange- Besondere Standortvorteile Deutschlands sind: bot. Wir wollen, dass keine jungen Men- • die Infrastruktur schen mehr von der Schulbank in die • die Attraktivität des Binnenmarktes Arbeitslosigkeit gehen. Der Ausbil- • die Qualität von Forschung und Ent- dungspakt wurde bis 2010 verlängert. wicklung und • die gute Ausbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Bundesregierung finanziert 40.000 Plätze für Einstiegsqualifizierungen, um junge Leute für eine Ausbildung fit zu Dies sind nach wie vor unsere Erfolgs- machen. Mit einem Qualifizierungs- faktoren, die jedoch weiter ausgebaut kombilohn wollen wir unter 25-Jähri- werden müssen. Wer morgen ernten gen eine Chance geben, doch noch den will, muss heute säen: Wir müssen heu- Einstieg ins Berufsleben zu schaffen. te in die Zukunftsfähigkeit investieren. Etwa 40 Prozent eines Jahrgangs Von großer Bedeutung sind deshalb werden als Studierende an den Univer- Investitionen in Forschung und Ent- sitäten benötigt, um für die Herausfor- wicklung, Bildung und Qualifizierung. derungen von morgen gerüstet zu sein. Wir haben uns in Europa verpflich- Den Fachkräftemangel hatte ich bereits tet, ab 2010 jährlich 3 Prozent des angesprochen. Und wir müssen uns Bruttoinlandsproduktes für Forschung darüber klar werden, dass die vorhan- und Entwicklung auszugeben: 1 Pro- dene Arbeit in erster Linie von Men- zent der Staat und 2 Prozent die Wirt- schen getan werden sollte, die in schaft. Das heißt: Gewinne in die Ar- Deutschland leben. beitsplätze von morgen stecken. Angesichts des demografischen Auch der Ausbau der Kinderbetreu- Wandels werden wir erst recht darauf ungseinrichtungen muss zügig umge- angewiesen sein, die Kompetenz der setzt werden. Hier müssen wir gemein- Älteren in den Betrieben zu halten. Hier sam mit den Ländern noch mehr an sind rechtzeitige und umfassende Qua- Tempo zulegen. lifizierungsmaßnahmen notwendig. Die Quoten der Schulabbrecher müs- Ausgelernt hat heute niemand mehr. sen deutlich gesenkt werden. Im Bil- Wir können uns nicht damit abfin- dungssystem darf niemand mehr durch den, dass Menschen, die arbeiten wol- den Rost fallen. Jeder braucht einen Ab- len, aufs Abstellgleis geschoben wer- 78 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G den. Wir müssen auch für diejenigen chen Politikfelder miteinander ver- intelligente Lösungen entwickeln, die zahnt werden. Es gilt, vorhandene derzeit keine oder nur geringe Chancen Stärken zu identifizieren und gezielt auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. zu fördern. Ein positives Beispiel ist Zum Abschluss möchte ich noch einige Thesen formulieren: Arbeitsmarktpolitik kann dort er- die Unterstützung des Strukturwandels des bayerischen Landkreises Cham mit Fördermitteln aus der folgreich sein, wo eine zielgerichtete Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe Standortpolitik in den Regionen selbst „Verbesserung der Regionalen Wirt- betrieben wird. schaftsstruktur“. Auch die Stand- 1. Jede Region hat ihre Potenziale. In ortentscheidungen großer Unter- den ländlichen Regionen kann dies nehmen – von BMW und DHL für der Tourismus, aber auch die Pro- Leipzig, von VW und DaimlerChrys- duktion von Energie, Kraftstoffen ler für Teltow-Fläming – waren kein und Bioprodukten sein. In der Be- Zufall, sondern Ergebnisse einer reitstellung und Verarbeitung von klugen Standortpolitik in den Re- Biomasse liegen noch ungeahnte gionen selbst. Möglichkeiten. Das Spektrum reicht 4. Regionale Netzwerke zwischen Schu- von der Erforschung über den An- len, Unternehmen und Arbeitsagen- lagenbau bis hin zum Produkt und turen müssen ausgebaut werden, um dessen Vermarktung. die regionale Berufsberatung zu 2. Arbeitsmarktpolitik muss sich in verbessern und Jobperspektiven in regionale Entwicklungsstrategien der Region aufzuzeigen. Gute An- einordnen. Die Erfahrungen zeigen, sätze sind z.B. das Zentrum Aus- dass sich dort Erfolge einstellen, wo und Weiterbildung Ludwigsfelde Qualifizierungen von Arbeitsuchen- (ZAL) oder Unterrichtstage in der den am Bedarf der Unternehmen Praxis (UTP). oder am Bedarf von zu erwartenden 5. Die Instrumente der Arbeitsmarkt- Ansiedlungen ausgerichtet werden, politik müssen so flexibel handhab- wie z.B. beim gerade entstehenden bar sein, dass sie auf die spezifischen Flughafen Berlin-Brandenburg In- Anforderungen in den Regionen ternational (BBI). passen. 3. Für eine erfolgreiche Arbeitsmarkt- 6. Für diejenigen, die auf dem ersten politik müssen die unterschiedli- Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 79 keine Chance haben, brauchen wir sozialversicherungspflichtige Be- ergänzende Programme und neue schäftigung zu fördern. Hier sollten Initiativen auf dem Arbeitsmarkt. Es Bund, Länder und Kommunen ge- gibt drei große Programme zur Be- meinsam geeignete Konzepte ent- kämpfung von Langzeitarbeitslo- wickeln. sigkeit, die die Bundesregierung auf Der wesentliche Punkt ist: Die Ent- den Weg gebracht hat: die „Ini- wicklungen der Globalisierung und die tiative 50 plus“, das Programm damit einhergehenden rasanten Ver- „JobPerspektive“, das darauf zielt, änderungen am Arbeitsmarkt erfordern 100.000 Langzeitarbeitslosen in Ost eine hohe Leistungsbereitschaft und und West mit besonderen Vermitt- Flexibilität der Menschen. In Ost- lungshemmnissen neue Perspekti- deutschland, aber auch in vielen Re- ven auf dem Arbeitsmarkt zu eröff- gionen der alten Länder, fanden und nen, und auch spezielle Programme finden dramatische Umstrukturierungs- für Jugendliche, z.B. der Ausbau von prozesse statt. Diese Veränderungen ausbildungsbegleitenden Hilfen. aktiv zu gestalten und die Menschen 7. In strukturschwachen Regionen mit darauf vorzubereiten, ist auch eine einer überdurchschnittlich hohen Aufgabe von aktiver, vorausschauender Arbeitslosigkeit (über 15 Prozent) Arbeitsmarktpolitik. Unser gemein- brauchen wir öffentlich geförderte sames Ziel muss es deshalb sein, dass Arbeitsplätze für zusätzliche, im jeder, der arbeiten kann und will, dazu öffentlichen Interesse liegende Ar- auch die Möglichkeit erhält. Es gibt beiten bei den Kommunen. Statt viele Beispiele, dass dies funktionie- passive Leistungen zu finanzieren, ren kann. muss es darum gehen, sinnvolle, 80 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Die Vermittlungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und das Zusammenspiel der Akteure: Schwierigkeiten, Chancen und Visionen Podiumsdiskussion mit Rudolf Anzinger Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (z. Zt. der Veranstaltung), Berlin Achim Battenberg Geschäftsführer VHS Ennepe-Ruhr-Kreis Süd Cordula Hartrampf-Hirschberg Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit, Chemnitz Reiner Rabe Geschäftsführer, Zentrum Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde (ZAL) Andrea Wicklein, MdB Vorsitzende der Arbeitsgruppe Aufbau Ost der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin Moderation: Alfred Eichhorn Inforadio, rbb Berlin P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Welche Auswirkungen haben die Arbeitsmarktreformen auf die Beschäftigungssituation? 81 Jahren die Arbeitslosenquote nach dem ILO-Standard als internationalem Vergleichsmaßstab für Erwerbslosigkeit erhoben.2 Nach dem ILO-Verfahren liegt Rudolf Anzinger, Staatssekretär im die Arbeitslosenquote in Deutschland Bundesministerium für Arbeit und So- mittlerweile unter 7 Prozent (2007), ziales, unterstützte die Ausführungen wobei allerdings bestimmte Gruppen von Andrea Wicklein, die sehr deutlich von Erwerbslosen nicht erfasst werden. gemacht hätten, dass die Beschäfti- Nach Anzingers Auffassung hat gungseffekte ingesamt sehr positiv sei- der gegenwärtige wirtschaftliche Auf- en und die Arbeitslosigkeit in Ost und schwung drei Hauptursachen: erstens West innerhalb eines Jahres enorm das allgemeine Klima, zweitens das abgenommen habe: auf 3,8 Mio. ar- Wirtschaftswachstum und drittens eine beitslose Personen im Mai 2007, das „vernünftige Reformpolitik“. Bei allen seien 760.000 weniger als noch vor Wissenschaftlern sei im Prinzip unum- einem Jahr. Dass in verschiedenen stritten, dass die Reformen positive Berichten und Statistiken häufig ver- Veränderungen bewirkt hätten. 1 schiedene Arbeitslosenzahlen genannt Insgesamt sei also eine positive Bi- werden, sei meist auf die gewählte Be- lanz zu ziehen: Untersuchungen be- rechnungsmethode zurückzuführen, stätigten, dass die Beschäftigungs- was Anzinger näher erläuterte: Die schwelle3 durch die Reformen von 2,5 Bundesagentur für Arbeit ermittelt die auf 1,5 gesenkt werden konnte. Auch Arbeitslosenquote traditionell nach der im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit Berechnungsmethodik des Sozialge- verwies Anzinger auf eine positive Ten- setzbuches. Zusätzlich wird seit zwei denz: Es gibt 365.000 Arbeitslose (nach 1 2 3 Die jeweils aktuellen Arbeitsmarktstatistiken der Bundesagentur für Arbeit sind im Internet zu finden unter http://www.pub.arbeitsamt.de/hst/services/statistik/000000/html/start/index.shtml. Hier gibt es u.a. auch Informationen zur Arbeitsmarktlage in den einzelnen Bundesländern und Regionen, Daten zu Ost-/Westunterschieden sowie SGB II-Kennzahlen. Die amtlichen Arbeitsmarktstatiken des Statistischen Bundesamtes, die nach dem ILO-Konzept (Konzept der Internationalen Labour Organisation in Genf) erhoben werden, können unter http:// www.destatis.de eingesehen werden. Aus volkswirtschaftlicher Sicht wird ein Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und dem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts postuliert. Demnach entstehen erst dann zusätzliche Arbeitsplätze, wenn die Wirtschaftsleistung deutlich stärker wächst als die Arbeitsproduktivität; die für diesen Effekt erforderliche Höhe des Wirtschaftswachstums wird auch als „Beschäftigungsschwelle“ bezeichnet. 82 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G SGB II) weniger als im Vorjahr; auch Etwa eine Million arbeitsfähige, aber zeigt sich mehr Bewegung im SGB III- nicht arbeitslos gemeldete Sozialhilfe- Bereich (Maßnahmen und Leistungen empfänger seien erstmals als Arbeitslo- zur Arbeitsförderung). Zudem wechseln se erfasst worden. Vor der Reform – und weniger Menschen als erwartet vom der damit verbundenen Zusammenle- „Versicherungsbereich“ (ALG I) in den gung von Arbeitslosenhilfe und Sozial- „Fürsorgebereich“ (ALG II). Diese Ten- hilfe zum Arbeitslosengeld II – seien denz ist für Anzinger ein deutliches diese Menschen überhaupt nicht als Zeichen dafür, dass die Reformen auch Arbeitslose in der Bilanz aufgetaucht. bei der Arbeitsvermittlung gegriffen Dieser Schritt sei politisch sehr mutig haben und dass schneller und passen- gewesen, weil die offizielle Zahl der der vermittelt wird. Arbeitslosen dadurch plötzlich auf über Cordula Hartrampf-Hirschberg von fünf Millionen anstieg. Man habe sich der Regionaldirektion Sachsen der Bun- aber dennoch dafür entschieden, um desagentur für Arbeit nannte Zahlen den unbefriedigenden Zustand zu be- aus ihrem Bundesland: Die Arbeitslo- enden, dass arbeitslose Menschen nur senquote im SGB II-Bereich (Langzeit- finanziell aufgefangen, aber ohne Pers- arbeitslose) ist von 12,5 Prozent im Mai pektive auf eigenständigen Verdienst 2006 auf 11,3 Prozent im Mai 2007 nach Hause geschickt wurden. Das zurückgegangen. Zu beachten sei dabei Entscheidende ist nach Wicklein, dass jedoch, dass sich diese Arbeitslosen- heute alle gemeldeten Arbeitslosen – zahlen nur auf die arbeitsuchend ge- neben dem Anrecht auf finanzielle Un- meldeten Menschen ohne Beschäfti- terstützung – einen Anspruch auf qua- gung beziehen: Menschen, die an ar- lifizierende Arbeitsmarktinstrumente beitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Vermittlung in den Arbeitsmarkt teilnehmen, sind nach der gesetzlichen haben. Definition nicht arbeitslos und damit Leider sei der Aufschwung bei den auch in dieser Zahl nicht enthalten. Im Langzeitarbeitslosen tatsächlich noch Regelfall werden sie aber in die Vermitt- nicht in nennenswertem Umfang an- lungsbemühungen der Agenturen mit- gekommen; dies sei aber vor allem da- einbezogen, da sie ebenso wie Beschäf- rauf zurückzuführen, dass die meisten tigte als arbeitsuchend erfasst sind. Langzeitarbeitslosen schon über viele Andrea Wicklein betonte, dass die Jahre keiner Beschäftigung mehr nach- Zahlenwerte durch die Arbeitsmarkt- gegangen seien – unter anderem des- reform vor allem „ehrlicher“ wurden: halb, weil es an entsprechenden Arbeits- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 83 angeboten fehlte. Aufgrund der „mul- absoluten Arbeitslosenzahlen oft in tiplen Vermittlungshindernisse“ hält den Hintergrund, dass auf dem Ar- Andrea Wicklein eine besondere Betreu- beitsmarkt meist Arbeitskräfte mit be- ung und individuelle Qualifizierung stimmten Qualifikationen gesucht wer- dieses Personenkreises für unverzicht- den. So sei bei Ingenieuren die Arbeits- bar. Zugleich müsse für passende Be- losenzahl innerhalb von zwei Jahren schäftigungsangebote gesorgt werden. von etwa 75.000 auf etwa 28.000 gefal- Sie verwies auf verschiedene Programme len. Trotz dieser positiven Entwicklung der Bundesagentur, die schon heute in gebe es aber nach wie vor arbeitslose den einzelnen Regionen gezielt einge- Ingenieure, insbesondere in einzelnen setzt werden können. Regionen, in denen Arbeitskräfte mit Aus ihrer Sicht müsste jedoch noch dieser Qualifikation nicht nachgefragt deutlich mehr getan werden: So sollten werden – was Experten als „Mismatch“ die derzeit hauptsächlich für Transfer- bezeichnen. Um diese Lücken zwischen leistungen ausgegebenen Mittel stärker Angebot und Nachfrage zu schließen, dafür eingesetzt werden, bezahlte Be- sei es besonders wichtig, dass sich die schäftigung öffentlich zu finanzieren. Bereitschaft der Arbeitnehmer zur Damit könnten Menschen eine sozial- Mobilität noch deutlich erhöhe. versicherungspflichtige Beschäftigung erhalten, die nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Gerade im Bereich der Langzeitar- Welche Erfahrungen gibt es vor Ort in den Regionen? beitslosigkeit sei es dringend erforderlich, dass alle entscheidenden Akteure in den Regionen zusammenarbeiten Das Beispiel Optionskommune Ennepe-Ruhr-Kreis und gemeinsam geeignete Konzepte für Beschäftigung entwickeln. Achim Battenberg, Geschäftsführer der Nach Auffassung von Rudolf An- Volkshochschule Ennepe-Ruhr-Süd4, zinger gerät bei der Betrachtung der berichtete von seinen Erfahrungen im 4 Auf Initiative der VHS Ennepe-Ruhr-Süd wurde 2006 „DIA gGmbH – Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ als gemeinnützige Gesellschaft gegründet. Ziel ist die Förderung der beruflichen Fortund Weiterbildung. Zum Angebot gehört die Durchführung von Bildungs-, Vermittlungs- und Beratungsmaßnahmen. Die Arbeit ist eingebettet in ein dichtes Netz von Kooperationen, u.a. mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, der Bundesagentur für Arbeit, JobAgenturen, Städten/ Kommunen und Bildungseinrichtungen. Vgl. www.dia-vhs.de. 84 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Ennepe-Ruhr-Kreis. Der Kreis ist seit Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“). Anfang 2005 eine von bundesweit 69 Insgesamt gibt es über 16 Teilprojekte, sogenannten Optionskommunen, die an denen mehr als 30 verschiedene ALG II-Empfänger in Eigenregie be- Akteure beteiligt sind. Für die Zusam- treuen, unterstützen und vermitteln. menarbeit sind gemeinsame Standards Battenberg nannte zuerst einige formuliert worden; dabei werden klei- Kennzahlen für die Region5: Die Arbeits- ne, individuell gestaltete Projekte, aber losenquote lag 2007 bei 8,7 Prozent, sie auch übergreifende Aktionen durch- ist seit dem 1. Januar 2005 um 1,6 Pro- geführt. zent zurückgegangen. Der Region stan- Die Optionskommune bietet mit den im Jahr 2006 Eingliederungsleis- verschiedenen tungen in Höhe von 20,3 Millionen „Sprungbrett-System“ in Ausbildung Euro zur Verfügung, im Jahr 2007 noch und Arbeitmarkt an und schafft auf die- 16 Millionen. Einige Förderinstrumen- se Weise ein breites, abgestuftes Integra- te wurden von der örtlichen Options- tionsprojekt, so Achim Battenberg. Die Job-Agentur aufgebaut: Zielgruppen- Integration erfolge vor allem durch Ko- programme mit den entsprechenden operationen, über „Integrationsketten“ Segmenten Beschäftigung, Qualifizie- und durch die koordinierende Tätigkeit rung, direkte Eingliederung usw. Nach der Job-Agentur, die eine wichtige Be- Battenberg ist die freie Förderung ein deutung habe, da sie den Prozess krea- besonders wichtiger Bereich, sie macht tiv begleite und vor Ort als Mittler von etwa 13 Prozent der Eingliederungs- verschiedenen Akteuren agiere. Projekten eine Art leistungen in der Region aus. Seiner Durch die Kombination verschie- Ansicht nach ist sie ein besonders ge- dener Arbeitsmarktinstrumente kann eignetes Instrument, um Kooperatio- ein Arbeitsuchender bis zu vier Jahre nen vor Ort zu ermöglichen. Insge- betreut bzw. gefördert werden, um eine samt werden drei Schwerpunkte ver- reguläre Beschäftigung zu finden. Län- folgt: das Programm für ältere Arbeits- gere Integrationsketten sind nach Auf- lose „Perspektive 50plus“, Angebote für fassung von Battenberg besonders wich- Jugendliche ohne Ausbildung sowie tig, damit gering Qualifizierte auch 5 Die aktuellen Zahlen und Informationen zur Optionskommune finden sich unter: http://www.enkreis.de/p/d1.asp?artikel_id=4065. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 85 genügend Zeit zur Qualifizierung ha- Gegenwärtig funktioniere die Zusam- ben: Sechs Monate oder ein Jahr reich- menarbeit und Kommunikation mit den ten einfach nicht aus, um den Anschluss Akteuren vor Ort sehr gut: Man entwick- an die Anforderungen des Arbeits- le gemeinsam Konzepte und Modelle, marktes zu finden. Battenbergs Sorge die durch intensiven Austausch neue ist, dass die Schwachen bei befristeten Wege eröffneten. Dagegen kommuni- oder geringfügigen Beschäftigungen auf zieren die Mitarbeiterinnen und Mitar- längere Sicht aus dem System herausfall- beiter der Bundesagentur nach Batten- en, insbesondere Migranten oder Jugend- bergs Eindruck noch zu wenig mit den liche ohne Ausbildung. Deshalb sei es örtlichen Akteuren – zumindest in sei- enorm wichtig, in diesem Bereich gezielt ner Region. Während sich bei Gesprä- weitere Instrumente in Vermittlungs- chen in der Bundesagentur für Arbeit prozesse einzubauen, z.B. Coaching- in Nürnberg eine große Kreativität bei angebote für Geringqualifizierte. Umsetzungsmöglichkeiten zeige, werde Achim Battenberg berichtete auch von den Erfolgen des Projekts „JobAct“, davon in den regionalen Agenturen nur relativ wenig realisiert. einem Theaterprojekt für Jugendliche Als wichtige Erkenntnis seiner bis- ohne Ausbildung, das mit Mitteln des herigen Arbeit formulierte Battenberg, Bundesministeriums für Arbeit und dass bei Arbeitsvermittlungsprozessen Soziales in Kooperation mit örtlichen vor Ort angesetzt werden sollte; dort Unternehmen und Kulturinstitutio- könne am besten entschieden werden, nen durchgeführt wurde und eine welche Maßnahmen in der jeweiligen Auszeichnung erhielt. Durch die selbst- Region und für eine konkrete Personen- ständige Entwicklung und Aufführung gruppe am besten geeignet sind. Die eines Theaterstücks und die damit ver- Aktivitäten und Erfahrungen der Kom- bundene Anerkennung seien die Fähig- munen müssten dann „nach oben“ keiten und das Selbstbewusstsein der transportiert werden – und nicht um- Jugendlichen deutlich gestärkt worden. gekehrt: Es mache keinen Sinn, dass Der Erfolg spiegele sich auch in den Regionen mit unterschiedlichen Pro- guten Eingliederungsquoten der Pro- blemlagen Maßnahmenpakete ausfüh- jektteilnehmer in den Ausbildungs- ren müssen, die vom Bund zentral markt wider. vorgefertigt sind. 86 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Das Beispiel Zentrum Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde (ZAL) bunden werden. Zunächst recherchieren seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deshalb den Arbeitskräftebedarf Reiner Rabe, Geschäftsführer des Zen- bei den jeweiligen Firmen: Welche Ar- trums Aus- und Weiterbildung Lud- beitskräfte werden gesucht? Zu wel- wigsfelde (ZAL) berichtete ebenfalls chem Zeitpunkt? Mit welcher Qualifi- über seine praktischen Erfahrungen. Er kation? In welchem Alter? Diese mög- schickte voraus, dass Arbeitslosigkeit lichst genaue Bestandsaufnahme der neben das Wünsche und Anforderungen in den Schlimmste sei, was einem Menschen Firmen sei unverzichtbar, um Arbeits- passieren könne, und formulierte des- lose gezielt in Arbeit zu bringen. Nur halb als Leitmotiv: Es muss alles dafür auf dieser konkreten Bedarfsbasis hät- getan werden, damit jeder Mensch eine ten die darauf abgestimmten Profiling- Arbeit erhält, von deren Lohn er sich oder Trainingsmaßnahmen überhaupt und seine Familie ernähren kann. einen Sinn. Zu oft habe sich bei anderen 6 schweren Krankheiten Das Zentrum Aus- und Weiterbil- Trägern gezeigt, dass Arbeitslose ohne dung arbeitet an sechs Standorten in klare Perspektive jahrelang eine Trai- Deutschland mit insgesamt 586 Firmen ningsmaßnahme nach der anderen aller Größenordnungen zusammen, absolvieren, ohne am Ende eine länger- darunter auch sehr großen Unterneh- fristige Arbeit zu finden: Ein-Euro-Jobs men wie DaimlerChrysler und VW. und allgemeine Weiterbildungsmaß- Rabe skizzierte die Vorgehensweise seines Unternehmens zur Arbeitsver- nahmen wechselten sich dann ab, ohne zum Erfolg zu führen. mittlung. Ein entscheidender Punkt sei In Potsdam hat Rabe gemeinsam mit die Ermittlung der unbekannten, offe- der Landesregierung das „Informations- nen Stellen. Mindestens 50 bis 60 Pro- zentrum Jobs und Bildung“ geschaffen, zent der Arbeitsplätze, besonders im an dem 16 Partner beteiligt sind, darun- Fachkräftebereich, werden den Arbeits- ter die Arbeitsagentur, das Arbeitsmini- agenturen nicht oder zu spät gemeldet. sterium, die Landesagentur für Struktur Diese Stellen müssten aber unbedingt und Arbeit (LASA), die Wirtschaftsför- in die Vermittlungsarbeit mit einge- derung der Kreise, die ARGEn und 6 Das Zentrum Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde (ZAL) ist ein inhabergeführtes Unternehmen und gehört zu den größten privaten Bildungseinrichtungen in der Region Berlin-Brandenburg. Siehe http://www.zal-ludwigsfelde.de/zal-ludwigsfelde/index.htm [11.1.2008]. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 87 verschiedene Bildungsträger. Dieses Dreher, Informationszentrum habe schon zahl- Elektroniker. Rabe ist jedoch davon reiche offene Stellen ermittelt, die zum überzeugt, dass die Menschen für diese Teil auch schon besetzt werden konnten. Berufe oder Stellen nur gezielt qualifi- Die Unternehmen hätten aus dieser ziert werden müssen – und zwar wirt- Erfahrung gelernt und meldeten nun schaftsnah, nicht allgemein. Aluminiumschweißer oder rechtzeitig die offenen Stellen an das Als großes Problem betrachtet Rabe Zentrum. Auch die Arbeitsuchenden die mangelnde Ausbildungseignung der kämen inzwischen gerne ins Zentrum, Jugendlichen für nachgefragte Berufe um sich zu informieren und nach einer – nach dem Schulabschluss seien bei Stelle zu suchen. Sowohl die Unterneh- einem großen Teil die mathematischen, men als auch die Bürgerinnen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten Bürger fänden die Atmosphäre in dieser und die Deutschkenntnisse zu gering, Einrichtung angenehmer als in einer auch die Leistungsbereitschaft reiche Behörde. oft nicht aus. Deshalb sollte schon in Ein anderer wichtiger Punkt ist nach der Schule mit einer gezielten Berufs- Rabe der massive Arbeitskräfte- und orientierung begonnen werden. Aus Fachkräftemangel, der in ein paar Jahren diesem Grund hat Rabe ein Berufsori- auf dem deutschen Arbeitsmarkt erwar- entierungsprojekt namens UTP („Un- tet wird. Tatsächlich sei dieser Mangel terrichtstage in der Praxis“) initiiert mit schon in einigen Branchen und Regio- dem Ziel, Begeisterung für Arbeit und nen in beträchtlichem Ausmaß ange- Ausbildung in Brandenburg zu wecken. kommen: Alleine im Arbeitsamtbezirk Die Jugendlichen müssten rechtzeitig Potsdam werden 600 Berufskraftfahrer die verschiedenen Berufe und ihre kon- gesucht, ohne dass diese große Nach- kreten Möglichkeiten und Anforderun- frage bisher gedeckt werden konnte; zu gen kennenlernen. Ohne gezielte Nach- einer Info-Veranstaltung für Berufs- wuchsförderung könnten sich manche kraftfahrer im Informationszentrum Regionen wirtschaftlich wie sozial ka- kamen gerade einmal zwölf Interessier- tastrophal entwickeln. te. Es sei also dringend notwendig, dass Rabe berichtete von einem Koope- alle Netzwerke und Akteure in diesem rationsprojekt des Zentrums Aus- und Bereich ihre Anstrengungen koordi- Weiterbildung mit dem Großunter- nierten und bündelten. Oft klagten die nehmen DaimlerChrysler. Im Ergebnis Unternehmen, sie bekämen keine quali- wurden in Ludwigsfelde und in Düssel- fizierten Leute, zum Beispiel keine CNC- dorf 1.000 Arbeitslose für die Fertigung 88 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G von Transportern eingestellt, darunter lose wieder in den Arbeitsmarkt inte- 360 frühere ALG II-Empfänger, so Rabe. griert werden. Von großer Bedeutung In einem zwei- bis dreitägigen Assess- sei dabei ein gezieltes Agieren der ment-Center wurde zunächst festge- ARGEn schon in den ersten beiden stellt, welcher Arbeitsuchende für wel- Jahren der Arbeitslosigkeit, damit Lang- che Tätigkeit überhaupt geeignet sein zeitarbeitslosigkeit gar nicht erst ent- könnte. An dieses Auswahlverfahren stehe. Sehr wichtig sei zudem, eng mit wurde dann eine gezielte Qualifizierung den Unternehmen und den verschie- angeschlossen. In enger Zusammenar- denen Akteuren vor Ort zusammenzu- beit mit ARGEn und Arbeitsagenturen arbeiten und die vielen Einzelaktivitä- habe sich bei diesem Projekt gezeigt, ten praxisnah zu verzahnen. dass bei manchen ARGEn noch erheb- Statt die internen Strukturen der licher Nachsteuerungsbedarf bestehe: Arbeitsagentur und der ARGEn ständig So habe die ARGE Potsdam-Mittelmark zu reformieren, sollte man sich lieber nur sieben Personen in das Projekt ge- intensiv mit der regionalen Situation schickt, die ARGE Teltow-Fläming da- beschäftigen und Kooperationen mit gegen 70. allen wichtigen Akteursgruppen vor Ort Mit dieser wirtschaftsnahen, am aufbauen. Nur so könnten sich realis- konkreten Bedarf der Unternehmen tische Chancen ergeben, auch Langzeit- orientierten Methode können nach arbeitslose und geringqualifizierte Ju- Rabes Auffassung auch Langzeitarbeits- gendliche in Arbeit zu bringen. Gegen- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 89 wärtig sei die Unkenntnis über die Be- wesen sei. Es habe einen Richtungs- sonderheiten der regionalen Arbeits- wechsel auf Bundesebene gegeben, der märkte bzw. freie Arbeitsplätze noch den Weg von einer verwaltenden Be- viel zu groß. hörde zu einer aktiven Vermittlungsagentur markiere. Dabei hätten sich Die beiden vorgestellten Erfahrungs- auch die Vermittlungsprozesse stark berichte wertete Andrea Wicklein als verändert, unter anderem orientierten Zeichen, dass die Arbeitsmarktrefor- sich die Qualifizierungsmaßnahmen men gegriffen hätten und die neuen nun stärker am individuellen Bedarf. Instrumente und Weichenstellungen Cordula Hartrampf-Hirschberg wi- prinzipiell richtig seien – auch wenn dersprach Battenbergs Kritik, die Bun- natürlich einzelne Punkte nachjustiert desagentur kommuniziere zu wenig mit werden müssten. An den beiden Bei- den Akteuren vor Ort. Sie könne bei spielen sei sehr deutlich geworden, dass ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei- vieles von den Akteuren vor Ort abhän- tern auf diesem Gebiet keine gravie- gig ist. Oberstes Ziel müssten passge- renden Kommunikationsdefizite fest- rechte Lösungen sein, die zum einen stellen. Die Agenturen und Arbeitsge- den Fähigkeiten des Arbeitslosen und meinschaften seien ebenso integriert zum andern den Erfordernissen der in die regionalen Netzwerkstrukturen. Unternehmen und der Region entspre- Auch sei es keineswegs so, dass die Ini- chen. tiativen der Bundesagentur in Nürn- Rudolf Anzinger erläuterte, dass die berg nicht in den Kommunen und Reformierung der Arbeitsvermittlungs- Regionen ankämen. Vielmehr fände strukturen aufgrund der gesellschaft- auch ein regelmäßiger Austausch zwi- lichen und ökonomischen Strukturver- schen den Regionen und der Zentrale änderungen dringend notwendig ge- in Nürnberg statt. 90 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Diskussion mit dem Publikum Welcher arbeitsmarktpolitische Ansatz ist erfolgversprechend? für allgemeine Strukturpolitik- und Qualifizierungsmaßnahmen zum Abbau der Arbeitslosigkeit eingesetzt • Ein Teilnehmer aus dem Publikum werden. verwies auf die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit: Im Jahr Rudolf Anzinger entgegnete, es werde 2006 habe sie 11,2 Mrd. Euro mehr keine Rückkehr zur vormals prakti- eingenommen als ausgegeben, wo- zierten Art aktiver Arbeitsmarktpolitik raufhin der Beitragsatz für die Ar- geben. Vor den Arbeitsmarktreformen beitslosenversicherung um ein Drit- seien weitgehend ungezielt umfangrei- tel gesenkt wurde. Dies sei für Arbeit- che Qualifizierungsmaßnahmen durch- nehmer und Betriebe natürlich eine geführt worden, die viel Geld gekostet, wunderbare Entlastung, ändere aber aber nicht zum gewünschten Vermitt- nichts am Problem der Massenar- lungserfolg geführt hätten. beitslosigkeit. Für das Jahr 2007 wer- Heute verfolge man in der Arbeits- de erneut ein Überschuss von 5,5 Mrd. marktpolitik einen anderen, stärker am Euro erwartet. Dennoch sei weiterhin tatsächlichen Bedarf orientierten An- keine aktive Beschäftigungsförde- satz. Zudem werde für aktive Einglie- rung geplant. Angesichts von immer derungsleistungen nicht weniger Geld noch knapp vier Millionen Arbeits- ausgegeben als früher. Auch im SGB losen in Deutschland sollten die er- II-Bereich werde durchaus erfolgreich zielten Überschüsse aber unbedingt vermittelt, und man habe schon oft P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 91 eine Job-to-job-Vermittlung erreicht – in Wismar sowie Sachverständige was vor Jahren noch undenkbar gewe- für den Vorstand der Bundesagentur, sen sei. Oberste Priorität müsse heute darauf hin, dass man immer klar eine wirksame Verwendung der Mittel zwischen ALG I- und ALG II-Bereich und eine passgenaue Vermittlung der trennen müsse: Die Überschüsse in Arbeitsuchenden haben. der Arbeitslosenversicherung seien Anzinger erläuterte eine gravierende im ALG I-Bereich (Kurzzeitarbeitslo- Schwäche des alten Systems: Manche se) aufgrund der starken wirtschaft- Maßnahmen hätten sogar noch zur lichen Verbesserungen erwirtschaf- Verfestigung der Langzeitarbeitslosig- tet worden und in diesen Bereich keit beigetragen. So seien in die soge- zu investieren – was durchaus sinn- nannten ABM-Maßnahmen oft nur die voll sei. Denn auch wenn manche gut qualifizierten Leute aufgenommen ALG I-Empfänger Job-to-job in den worden, die ohnehin gute Chancen auf ersten Arbeitsmarkt vermittelt wer- Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt den konnten, gebe es noch zahlreiche hatten. Dadurch seien die weniger qua- andere, die auf Förderung angewiesen lifizierten Menschen übriggeblieben, sind. In den letzten Jahren seien die die viele Jahre Arbeitslosenhilfe beka- Eingliederungsmittel7 nicht immer men, aber keinerlei Unterstützung. Mit ausgeschöpft worden, aber es sei dem Konzept eines sozialen Arbeits- dringend notwendig, vorhandene markts wolle man sich nun genau um Gelder für die bisher Vernachlässig- diese Klientel kümmern. Dieser Stra- ten einzusetzen. Und damit die Bun- tegiewechsel sei sehr vernünftig – wo- desagentur hingegen es unvernünftig wäre, die könne, sollte ihr ein Teil der Über- Überschüsse der Bundesagentur mit schüsse belassen werden. längerfristig planen aktiver Arbeitsmarktpolitik zu verschwenden. Rudolf Anzinger erwiderte, die Bundesagentur werde auf keinen Fall Über- • Aus dem Publikum wies Ursula En- schüsse für die nächsten Jahre verplanen gelen-Kefer, u.a. verantwortlich für – das sei die „typische alte Denke“. Die die Organisation von Projekten zur neue arbeitsmarktpolitische Strategie Eingliederung Langzeitarbeitsloser ziele darauf, genau das zu machen, was 7 Eingliederungsmittel sind die Finanzmittel, die von der Bundesagentur für Arbeit für die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden. 92 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G für die Arbeitslosen im ALG I-Bereich konkret notwendig ist. Tatsächlich hätten die ARGEn und Optionskommu- Sind Ein-Euro-Jobs sinnvolle Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration? nen im Jahr 2006 die vorhandenen Eingliederungsmittel nicht ausgegeben. • Ein Teilnehmer forderte, die Langzeit- Das könne jedoch nicht falsch sein, arbeitslosen langfristiger zu fördern. denn schließlich ginge es doch darum, Gegenwärtig wirkten Ein-Euro-Jobs vernünftige Maßnahmen vor Ort wirt- häufig schaftlich durchzuführen, und nicht wenn die Menschen von einer befris- darum, das vorhandene Geld unbedingt teten Stelle auf die nächste verschoben auszugeben. Anzinger erinnerte daran, werden. Aus eigener Erfahrung mit dass die Bundesanstalt für Arbeit zwan- Ein-Euro-Kräften könne er berichten, zig Jahre lang Defizite machte, so dass wie verheerend sich dieser immer Bund und Steuerzahler ständig Geld mehr oder weniger gleiche Ablauf auf zuschießen mussten. Auch insofern die Psyche eines Betroffenen auswirkt: seien die Überschüsse doch sehr zu Ein Arbeitsloser wird nach etwa einem begrüßen. halben Jahr Beschäftigung in einem als „Verschiebebahnhof“, Anzinger merkte an, dass er die – im Projekt wieder entlassen, obwohl er Zuge der Reformen gewählte – Bezeich- – wie sein Arbeitgeber – die Zusam- nung „ALG II“ für irreführend und so- menarbeit gerne fortsetzen würde. mit für einen Fehler hält, da zwei völlig Nach ein paar Monaten des Wartens verschiedene Leistungen sehr ähnlich ohne Perspektive bekommt er dann bezeichnet werden: Das Arbeitslosen- den nächsten Ein-Euro-Job und das geld ALG I stellt eine durch Beiträge Ganze beginnt von vorne. Jedem Ein- finanzierte Versicherungsleistung dar. Euro-Jobber werde dabei klar, dass er Hingegen ist die Grundsicherung für keine echte Chance auf eine Stelle im Arbeitsuchende (ALG II) eine steuerfi- ersten Arbeitsmarkt mehr hat, was zu nanzierte Fürsorgeleistung des Staates, Frustration und Hoffnungslosigkeit über deren Höhe und Ausgestaltung das führe und letztlich Persönlichkeiten Parlament entscheidet. zerstöre. Richtig wäre das Umgekehrte: Die Menschen müssen mental aufgebaut werden, indem man ihnen Verantwortung überträgt und ihre P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 93 Leistungen auch dadurch anerkennt, Arbeitnehmer zweiter oder dritter dass man ihnen die Perspektive einer Klasse fühlten. Zur Veranschauli- längerfristigen Beschäftigung bietet. chung einer besseren Möglichkeit, die Menschen wieder in Beschäftigung • Nach Ansicht von Dr. Ursula Engelen- zu bringen, berichtete Engelen-Kefer Kefer sollte im ALG II-Bereich bei den beispielhaft über ihre Erfahrungen ARGEn und Agenturen darauf hinge- mit Bürgerarbeit in Sachsen-Anhalt wirkt werden, dass weniger Ein-Euro- und mit öffentlichen Beschäftigungs- Jobs und mehr sozialversicherungs- projekten für über 55-Jährige in Wis- pflichtige Beschäftigungen gefördert mar (Mecklenburg-Vorpommern): werden. Ein-Euro-Jobs könnten zwar Hier bekämen die Betroffenen einen im Einzelfall als Brücke in den ersten richtigen Arbeitsvertrag und das Ge- Arbeitsmarkt funktionieren, in mas- fühl vermittelt, vollwertiges Mitglied senhafter Durchführung seien sie der Arbeitsgesellschaft zu sein. Sie aber kontraproduktiv, da die Arbeits- zeigte sich optimistisch, dass auch losen von staatlichen Leistungen ältere Langzeitarbeitslose, wenn man (ALG II) abhängig blieben und sich ihnen über Erfolgserlebnisse Selbst- nach ein paar Monaten der Beschäf- vertrauen geben kann, wieder voll- tigung in der Regel in der gleichen wertig beschäftigt werden können. Situation wie vorher wiederfänden. Schließlich hätten die meisten der Ein-Euro-Jobs könnten deshalb keine Langzeitarbeitslosen viele Jahre ge- wirkliche berufliche Perspektive bie- arbeitet und entsprechende Erfah- ten, zumal sich die Menschen als rungen vorzuweisen. 94 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G • In einer Wortmeldung wurde die Ansicht vertreten, dass mit einem den wieder näher an den ersten Arbeitsmarkt. sozialen Arbeitsmarkt sozialversiche- Andrea Wicklein plädierte dafür, rungspflichtige Beschäftigung geför- darüber nachzudenken, wie sozialver- dert werden sollte statt auf befristete sicherungspflichtige Beschäftigung Ein-Euro-Jobs zu setzen, da nur so noch stärker gefördert werden könne. realistische Chancen auf eine Stelle Dies gelte insbesondere für Bereiche auf dem ersten Arbeitsmarkt entste- hoher Langzeitarbeitslosigkeit, wo sich hen könnten. die Strukturen inzwischen so verfestigt haben, dass ein direkter Wechsel in den Anzinger bewertete den Maßnahmen- ersten Arbeitsmarkt unrealistisch er- Mix der letzten Jahre als insgesamt scheint. Eine gute Möglichkeit könnten positiv, weshalb er unbedingt beibehal- hier sozialversicherungspflichtige, ge- ten werden sollte. Viele Ein-Euro-Jobber sellschaftlich sinnvolle Beschäftigungen seien sehr froh gewesen, wieder über in den Kommunen sein. Das Geld zur ihre Arbeit an der Gesellschaft teilhaben Finanzierung solcher Jobs sei durchaus zu können. Die Befristung – auf meist vorhanden: Gelder, die für passive Un- ein halbes Jahr – solle verhindern, dass terstützungsleistungen von ALG II zur sich die Arbeitsuchenden in diesen Verfügung stehen, sollten besser für nicht-regulären Jobs einrichten. Der öffentlich geförderte Beschäftigungen staatlich geförderte soziale Arbeitsmarkt eingesetzt werden, am besten über habe seine Vorteile, aber es bestehe die längere Zeiträume. Länder und Kom- Gefahr der Stigmatisierung. Deshalb munen müssten auch ihren Finanzie- könnten diese Maßnahmen keine Dau- rungsanteil leisten, denn sie würden ja erlösung sein, sondern es müsste in auch von den dadurch entstehenden jedem Fall geprüft werden, ob der Ein- Arbeitsergebnissen profitieren. Natür- zelne wieder in den ersten Arbeitsmarkt lich müsse aber darauf geachtet werden, wechseln kann. Es sei wichtig, kurz- und dass der Einsatz von Arbeitsmarktinstru- langfristige Maßnahmen sinnvoll zu menten wie Ein-Euro-Jobs und geförder- kombinieren, was vor Ort in den ARGEn ter Beschäftigung keine Arbeitsplätze entschieden werde. auf dem ersten Arbeitsmarkt vernichtet. Das arbeitsmarktpolitische Instru- Reinhard Rabe hält eine gezielte ment der Ein-Euro-Jobs werde vernünf- Qualifizierung und direkte Vermittlung tig genutzt und bringe die Arbeitsuchen- der Arbeitsuchenden an Unternehmen P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 95 für erheblich erfolgversprechender als der Regel nicht mehr direkt in den ers- Ein-Euro-Jobs, die letztlich den dauer- ten Arbeitsmarkt vermittelt werden haften Ausschluss vieler Arbeitsloser können. Für diese Personengruppe wä- vom Arbeitsmarkt bewirken würden. ren Integrationsketten besser, in denen Zudem sei es für viele Unternehmen ein verschiedene Maßnahmen – u.a. auch K.O.-Kriterium, wenn ein Bewerber Ein-Euro-Jobs – über einen längeren mehrmals einen Ein-Euro-Job hatte. Zeitraum kombiniert werden. Nach Rabes Ansicht bergen Maßnahmen dieser Art letztlich die Gefahr, Menschen dauerhaft in die Langzeitarbeitslosigkeit zu führen. Dagegen sind nach Ansicht von Wie ist die Arbeitsmarktpolitik nach den Hartz IV-Reformen zu beurteilen? Achim Battenberg Ein-Euro-Jobs nicht prinzipiell ungeeignet, wenn auch ver- • Aus dem Publikum kam der Vorwurf, besserungswürdig. Die direkte Vermitt- die Hartz IV-Reformen hätten vor lung in den ersten Arbeitsmarkt sei si- allem der Kostensenkung gedient: cher die beste Lösung, doch in der Mit Einführung der bedarfsorientier- Praxis eben leider häufig nicht möglich. ten Grundsicherung seien zahlreiche In solchen Fällen könnten Ein-Euro- der bisherigen Sozialleistungen ge- Jobs für Arbeitsuchende die wichtige strichen oder reduziert worden, z.B. Möglichkeit bieten, durch Arbeit am Qualifizierungs- und Integrations- gesellschaftlichen Leben teilzuhaben maßnahmen für besondere Zielgrup- und zumindest eine Perspektive auf pen. Das traurige Ergebnis sei nun, längerfristige, reguläre Arbeit zu erhal- dass diejenigen, die nicht kurzfristig ten. Für die Unternehmen seien solche in den Arbeitsmarkt reintegriert wer- Beschäftigungen keineswegs per se ein den können, als überflüssig betrachtet K.O.-Kriterium bei Einstellungen. Viel- und an den Rand der Gesellschaft leicht zeige sich in dieser Frage ein gedrängt werden. Dieser Ausschluss Unterschied zwischen neuen und alten könne ganze Regionen treffen, was Bundesländern. Denn im Westen gebe sich an Ostdeutschland besonders es unter den ALG II-Beziehern nur we- deutlich zeige. Arbeitsmarktpolitik nige Facharbeiter oder besser Qualifi- sollte sich aber nicht vorrangig an zierte, sondern viele Langzeitarbeitslo- Kostenreduzierung orientieren, son- se mit geringen Qualifikationen, die in dern an der Frage, wie viel Sozialstaat 96 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G sich dieses Land leisten möchte: Wie greifenden Reformen dieser Art nicht viel ist Deutschland die berufliche zu ungeduldig zu sein. Ausbildung, die Reintegration Arbeits- Trotz noch bestehender Defizite loser und ein reguläres, auskömm- zeigte sich Andrea Wicklein davon liches Einkommen wert für alle überzeugt, dass sich die Arbeitsmarkt- Menschen – auch für jene, die „nicht politik in den letzten Jahren insgesamt marktgängig“ sind? verbessert hat: Sie sei nun flexibler, zielgerichteter und bedarfsgerechter, Anzinger versuchte, das Ausmaß der zugleich stärker auf regionale Beson- Arbeitsmarktreformen zu verdeutli- derheiten ausgerichtet. chen: Man müsse sich klar machen, dass es sich dabei um die größte Sozial- • In einer Wortmeldung wurde die reform in der Geschichte der Bundes- Ausrichtung der Reformen kritisiert: republik handle. Seit Einführung der Die Hartz IV-Maßnahmen beruhten neuen Instrumente seien erst dreißig auf der Vorstellung, dass jeder, der Monate vergangen, und es brauche sehr Arbeit habe, auch integriert sei. Das viel mehr Zeit, bis sich die positiven funktioniere aber immer schlechter, Auswirkungen entfalten könnten. Im weil zunehmend mehr Menschen Jahr 2007 erhielten über sieben Millio- aufgrund von Niedriglöhnen nicht nen Menschen die Grundsicherung für mehr von ihrer Arbeit leben könnten. Arbeitsuchende, was für die Mitarbei- In letzter Konsequenz könnte diese terinnen und Mitarbeiter der ARGEn Entwicklung dazu führen, dass die vor Ort eine gewaltige Herausforde- Mitarbeiter der ARGEn engagiert und rung darstelle. Man müsse ihnen Zeit erfolgreich Menschen in Beschäfti- lassen, die umfangreichen Verände- gungen vermitteln, aber weiterhin rungen umzusetzen. Anzinger räumte viele Vollzeiterwerbstätige von staat- ein, dass in den ersten beiden Jahren lichen Transferleistungen abhängig nach Einführung der Reformen die bleiben. Könnte hier ein gesetzlicher Leistungsgewährung vielleicht etwas zu Mindestlohn Abhilfe schaffen? sehr im Vordergrund gestanden habe, doch im dritten Jahr werde schon mehr Andrea Wicklein hält es auch für einen auf Integration geachtet. Außerdem unhaltbaren Zustand, dass inzwischen gäbe es entsprechende Zielvereinba- 600.000 vollbeschäftigte Arbeitneh- rungen. Es sei sehr wichtig, bei tief- merinnen und Arbeitnehmer ergänzend P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 97 ALG II-Geld beziehen müssen, um ihren dung in einer Branche wird der Min- Lebensunterhalt bestreiten zu können. destlohn über das Arbeitnehmer-Ent- Die Einführung eines Mindestlohnes sendegesetz geregelt, bei weniger als sei deshalb wichtig, doch würde man 50%-Tarifbindung über das Gesetz von sich vermutlich in absehbarer Zeit in 1952 über Mindestarbeitsbedingun- der Großen Koalition nicht darauf ei- gen. nigen können. Für viele Beschäftigte sei es aber schon ein Fortschritt, dass das sogenannte Entsendegesetz auf weitere 15 Branchen ausgedehnt wird, so wie es im Baugewerbe und bei den Was sollte bei der zukünftigen Arbeitsmarktpolitik verstärkt bedacht werden? Gebäudereinigern gemacht wurde. Das bedeutet, dass eine gesetzliche Unter- • In mehreren Wortmeldungen wurde grenze gemeinsam mit dem Tarifpart- die Notwendigkeit hervorgehoben, ner definiert wird. die Vermittlungsmaßnahmen auf die Auch Rudolf Anzinger betrachtet es Besonderheiten der Regionen und die als Problem, dass zunehmend mehr konkreten Bedürfnisse der potenziel- Vollzeiterwerbstätige aufgrund ihres len Arbeitgeber zielgenau abzustim- niedrigen Arbeitseinkommens auf zu- men. Dies sei erfahrungsgemäß von sätzliche staatliche Unterstützung als entscheidender Bedeutung für jeden Aufstockungsleistung zur Existenzsi- Vermittlungserfolg. Im Mittelpunkt cherung angewiesen sind. Bei einem sollte dabei immer der Arbeitslose geringqualifizierten Alleinverdiener, der stehen – jeder Einzelne müsse indi- eine Familie mit mehreren Kindern viduell beraten und begleitet, unter- ernähren müsse, würde sich das ver- stützt und in seinen Kompetenzen mutlich auch durch einen Mindestlohn entwickelt werden. Nicht Druck und nicht ändern. Doch der gegenwärtig Zwang, sondern individuelle Betreu- hohe Anteil an alleinstehenden Gering- ung und Begleitung von Arbeitslosen verdienern unter den Hilfeempfängern führe letztlich zum Erfolg. sei nicht akzeptabel. Da seiner Ansicht • Ursula Engelen-Kefer forderte, die nach ein allgemeiner gesetzlicher Min- Unternehmen in Zukunft stärker in destlohn dieses Problem nicht gänzlich die Pflicht zu nehmen. Es sei gut, die lösen kann, befürwortet er eine zweige- Organisation der Arbeitsvermittlung teilte Lösung: Bei über 50%-Tarifbin- zu verbessern, doch es werde zu wenig 98 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G nach der Rolle der Arbeitgeber gefragt. tatsächlich ankommt, so dass eine am Gerade in Bezug auf Langzeitarbeits- spezifischen Bedarf ausgerichtete Ver- lose sei es wichtig, die Arbeitgeber mittlung möglich ist – es gebe ja durch- stärker ins Boot zu holen und auch aus beträchtliche Unterschiede in den Anreize zu geben, mehr Langzeitar- einzelnen Regionen. Notwendig sei beitslose zu beschäftigen. aber unbedingt auch eine größere Bereitschaft der Arbeitnehmer zur Mobi- Reinhard Rabe betonte, dass eine wirt- lität. schaftsnahe, am Bedarf orientierte Rudolf Anzinger stimmte zu, dass Qualifizierung für den ersten Arbeits- die Arbeitsmarktpolitik künftig noch markt immer die beste Lösung und stärker an regionalen Besonderheiten durch nichts zu ersetzen sei. Deshalb ausgerichtet werden sollte. In manchen sollte in diesen Bereich erheblich mehr Regionen sei vielleicht der soziale Ar- investiert werden als bisher: Die Men- beitsmarkt der richtige Weg, in anderen schen müssten für neue Berufe und könnten Ein-Euro-Jobs oder andere Tätigkeiten mit gezielten Maßnahmen Maßnahmen sinnvoller sein. Im Kern fit gemacht werden, was bereits in der ginge es immer darum, die jeweiligen Schule möglichst früh als Berufsorien- Instrumente vor Ort vernünftig einzu- tierung beginnen sollte. Nach einer setzen. Gegenwärtig werde bereits viel Ermittlung der vorhandenen Arbeits- Geld zur Bekämpfung von Arbeitslo- plätze müssten gezielte Lösungen in sigkeit aufgewendet. Das Vermittlungs- breiter Zusammenarbeit aller Akteure system verbessere sich nicht durch eine entwickelt werden. Auch seien die Ge- Aufstockung der Mittel, sondern es spräche der Bundesagentur mit Prak- müsse weiter der Weg verfolgt werden, tikern noch zu intensivieren. Es sei das Geld möglichst zielgenau und be- wichtig, dass das vorhandene Praxis- darfsorientiert auszugeben. wissen in den Agenturen und ARGEn P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 3 99 Ökonomische Teilhabe Materielle Mitarbeiterbeteiligung Dr. Angela Borgwardt, Politologin Seit einigen Jahren wird intensiv darü- Bei der materiellen Mitarbeiterbe- ber diskutiert, wie Arbeitnehmerinnen teiligung ist grundsätzlich zwischen und Arbeitnehmer stärker als bisher an Formen der Erfolgsbeteiligung und der Unternehmenskapital und -gewinnen Kapitalbeteiligung zu unterscheiden. materiell beteiligt werden können. Ein Bei Erfolgsbeteiligungen erhalten wichtiger Grund liegt in der stark un- die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichen Entwicklung von Erwerbs- zusätzlich zu ihrem festen Lohn bzw. einkommen und Kapitaleinkünften: Gehalt eine erfolgsabhängige, variable Seit Anfang der 1990er-Jahre sind die Zuwendung: entsprechend dem Ge- realen Nettoeinkommen aus Löhnen winn eines Unternehmens (Gewinnbe- und Gehältern stagniert oder sogar teiligung), gemäß ihren Leistungen zurückgegangen, während die Einkom- (Leistungsbeteiligung), nach Ertrag des men aus Vermögen und Kapital deut- Unternehmens (Ertragsbeteiligung). lich gestiegen sind.1 Im Zuge der Debat- Die weitaus häufigste Form ist die te über Verteilungsgerechtigkeit wird Gewinnbeteiligung: Bei wirtschaft- deshalb die Forderung lauter, geeignete lichem Erfolg eines Unternehmens wird politische Rahmenbedingungen zu ein Teil der Unternehmensgewinne in schaffen, damit mehr Arbeitnehmerin- Form von Gratifikationen, Prämien oder nen und Arbeitnehmer am Produktiv- Provisionen an die beteiligten Mitar- vermögen beteiligt werden und von den beiterinnen und Mitarbeiter ausbezahlt. Zuwächsen am Kapitalvermögen profi- Soweit nicht anders in Arbeits- oder tieren können. Tarifverträgen vereinbart, sind Gewinn- 1 Vgl. z. B. Einkommensentwicklung im Spannungsfeld zwischen verbesserter Wettbewerbsfähigkeit und Konsumschwäche. Monatsbericht des BMF (Bundesministerium der Finanzen), Dezember 2007. 100 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Formen der Mitarbeiterbeteiligung2 (Schema) Mitarbeiterbeteiligung materiell Erfolgsbeteiligung Kapitalbeteiligung Gewinnbeteiligung Eigenkapitalbeteiligung Leistungsbeteiligung (z.B. Belegschaftsaktie, GmbH-Anteile) Ertragsbeteiligung Fremdkapitalbeteiligung immateriell Gesetzliche Mitbestimmung (Betriebsverfassungsgesetz, Mitbestimmungsgesetz 1976) Freiwillig eingeräumte Partizipation von Mitarbeitern am Unternehmensprozess (Mitarbeiterdarlehen) Mischformen (Genussrecht, direkte stille Beteiligung, indirekte Beteiligung) beteiligungen eine freiwillige Leistung Verfügung und werden dadurch zu des Arbeitgebers, der Art und Umfang Miteigentümern oder Kreditgebern des weitgehend nach eigenem Ermessen Unternehmens. festlegen kann. Die Beschäftigten sind Verbreitete Modelle der Eigenkapi- nicht mit ihrem privaten Vermögen am talbeteiligung sind: Kapital des Unternehmens beteiligt und • Belegschaftsaktie: Die Mitarbeiterin- somit auch nicht am wirtschaftlichen nen und Mitarbeiter einer Aktien- Risiko. gesellschaft kaufen (vergünstigte) Bei Kapitalbeteiligungen stellen Aktien ihres Unternehmens und er- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ih- werben dadurch eine echte Eigenka- rem Unternehmen eigenes Kapital zur pitalbeteiligung. Sie werden zu Mit- 2 Schema orientiert an: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Mitarbeiterbeteiligung am Produktivvermögen. Ein Wegweiser für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Bonn 1998. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 101 eigentümern mit allen entsprechen- oder gewinnabhängig innerhalb ei- den Aktionärsrechten. Durch Aktien- ner definierten Schwankungsbreite kurs und Dividende sind sie direkt ausgehandelt werden kann. Es han- am Wertzuwachs und am Gewinn des delt sich um reines Fremdkapital ohne Unternehmens beteiligt. Ihre Haf- Kontroll- und Mitbestimmungsrech- tung beschränkt sich auf den Wert te. An Wertzuwachs, Gewinn und ihrer Einlage. Diese Beteiligungsform Verlust des Unternehmens sind die hat bei börsennotierten Aktienge- Mitarbeiter/innen nicht beteiligt; sellschaften für die Beschäftigten den allerdings muss das Darlehen vom Vorteil großer Flexibilität, da der Arbeitgeber gegen Insolvenz abgesi- Aktienbesitz nach persönlicher Ein- chert werden (Kreditwesengesetz). schätzung der wirtschaftlichen Lage Mischformen: an der Börse aufgestockt oder abge- • Genussrechte: Die Arbeitnehmerinnen stoßen werden kann. • GmbH-Anteil: Die Mitarbeiterinnen und Arbeitnehmer erwerben am arbeitgebenden Unternehmen nur und Mitarbeiter werden zu eingetra- Vermögensrechte ohne weitergehen- genen Gesellschaftern ihres GmbH- de Rechte eines Miteigentümers; das Unternehmens mit sehr umfäng- Konkursrisiko und die Beteiligung an lichen Rechten. Sie sind am Wertzu- Gewinn und Verlust können vertrag- wachs, Gewinn und Verlust der Ge- lich weitgehend frei vereinbart wer- sellschaft direkt und dauerhaft beteiligt, können ihre Beteiligung aber den. • Direkte stille Beteiligung: Durch eine nicht ohne Weiteres veräußern. Ihr Vermögenseinlage werden die Mitar- Risiko ist im Konkursfall in der Regel beiterinnen und Mitarbeiter zu stillen auf ihre Stammeinlage begrenzt (Haf- Gesellschaftern des Unternehmens tungsbeschränkung). und sind an Gewinn und Verlust (je Bei Fremdkapitalbeteiligung werden die nach Vereinbarung) beteiligt; sie Beschäftigten nicht zu Eigentümern, haben jedoch keine Mitentschei- sondern zu Kreditgebern des Unterneh- dungs-, sondern nur Informations- mens: und eng begrenzte Kontrollrechte • Mitarbeiterdarlehen: Die Mitarbeite- ohne gesetzlich vorgeschriebene In- rinnen und Mitarbeiter stellen ihrem solvenzsicherung. Unternehmen ein Darlehen zur Ver- • Indirekte Beteiligung: Im Unterschied fügung, wobei der Zins als fester Satz zu den anderen Beteiligungsformen, 102 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G die auf einem direkten Vertragsver- werden (z.B. Belegschaftsaktien, betrieb- hältnis zwischen arbeitgebendem liche Rentensysteme, GmbH-Anteile). Unternehmen und Mitarbeiter bzw. Bei allen Kapitalbeteiligungen werden Mitarbeiterin basieren, wird hier eine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Institution (Mitarbeitergesellschaft) ihren Kapitalanteil am Unternehmens- zwischengeschaltet. Häufigste Form ergebnis beteiligt, doch die Unter- ist die indirekte stille Beteiligung, bei schiede in Bezug auf Mitspracherechte, der eine Mitarbeiterbeteiligungsge- mögliche Gewinne und Risiken sind sellschaft (MBG) das Kapital der Be- beträchtlich. schäftigten sammelt und gebündelt In Deutschland beteiligen etwa zehn an das arbeitgebende Unternehmen Prozent der Betriebe ihre Mitarbeite- weitergibt; die Gewinne des Unter- rinnen und Mitarbeiter am Gewinn, nehmens werden an die MBG ausge- aber in nur zwei Prozent der Unterneh- schüttet und an die entsprechenden men sind sie am Kapital beteiligt.3 Mitarbeiter verteilt. Diese Verbreitung von Gewinn- und In der Praxis werden Formen der Er- Kapitalbeteiligungen ist im Vergleich folgsbeteiligung und der Kapitalbetei- zu anderen EU-Ländern eher unter- ligung oft kombiniert, z.B. indem durchschnittlich.4 Neuere Untersuchun- Einnahmen der Arbeitnehmerinnen gen haben gezeigt, dass in Deutschland und Arbeitnehmer aus Erfolgsbeteili- innerhalb von Betrieben mit derartigen gungen als Kapitalbeteiligung im Un- Beteiligungsformen der Anteil der par- ternehmen angelegt werden. Als Inves- tizipierenden Beschäftigten aber relativ tivlohn werden Lohnbestandteile oder hoch ist.5 Zudem zeigten sich folgende lohnähnliche Zuwendungen des Ar- Ergebnisse: beitgebers bezeichnet, die nicht direkt • Vor allem qualifizierte Arbeitneh- an den Arbeitnehmer ausbezahlt, son- merinnen und Arbeitnehmer, insbe- dern in Form einer Beteiligung am ar- sondere Hochqualifizierte, profitieren beitgebenden Unternehmen angelegt von solchen Beteiligungsmodellen. 3 4 5 Vgl. Lutz Bellmann/Ute Leber: Materielle Mitarbeiterbeteiligung: Geringe Verbreitung, aber hohe Intensität, IAB-Kurzbericht 13/2007 (Zahlen für 2005). Vgl. Lutz Bellmann/Iris Möller: Die Betriebe in Deutschland haben Nachholbedarf, IAB-Kurzbericht 13/2006. Zu diesem Ergebnis kamen wissenschaftliche Vergleichsstudien Ende der 1990er-Jahre, wobei das Angebot an Mitarbeiterbeteiligung (Gewinn- und Kapitalbeteiligung) in Deutschland zwischen 2001 und 2005 weitgehend unverändert geblieben ist. Vgl. Bellmann/Leber 2007. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 103 Geringqualifizierte, Arbeiter aus dem Identifikation mit dem arbeitgebenden gewerblichen Bereich und Niedrig- Unternehmen erhöhen. Auch für die verdiener werden nicht so oft einbe- Rekrutierung hochqualifizierter Mitar- zogen. beiter und ihre Bindung an das Unter- • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kleinen Betrieben werden seltener an Gewinn und Kapital beteiligt als solche in großen Unternehmen. nehmen wird ein positiver Einfluss vermutet.7 Kritische Stimmen gegenüber Mitarbeiterkapitalbeteiligungen kommen • Staatliche Interventionen zur Förde- mehrheitlich aus den Reihen der Arbeit- rung der Mitarbeiterbeteiligung kön- nehmerverbände und Gewerkschaften.8 nen zwar ihre Verbreitung erhöhen, Folgende Argumente stehen im Vorder- sollten aber das Prinzip der Freiwil- grund: ligkeit beachten. • Kapitalbeteiligungen können für die • Positive Effekte der Mitarbeiterbetei- Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- ligung auf Beschäftigung und Wachs- mer ein „doppeltes Risiko“ darstellen: tum in den Betrieben ergeben sich Im Falle wirtschaftlicher Probleme nur bei geeigneten Rahmenbedin- bis hin zu einer Insolvenz ihres Un- gungen – z. B. durch eine partner- ternehmens wäre nicht nur der schaftliche Unternehmenskultur.6 einkommenssichernde Arbeitsplatz, Aus Sicht der Unternehmen können sondern auch ihr investiertes Kapital materielle Kapitalbeteiligungen neue gefährdet. Gesetzliche Regelungen Finanzierungsquellen erschließen und zur Insolvenzsicherung des Kapi- so die Eigenkapitalquote und die Liqui- taleinsatzes werden deshalb als un- dität erhöhen. Zudem werden produk- verzichtbar betrachtet. tivitätssteigernde Wirkungen erwartet, • Die Erträge von Kapitalbeteiligungen wenn sich die Motivation der Mitarbei- sind von der wirtschaftlichen Ent- terinnen und Mitarbeiter und ihre wicklung abhängig und können die 6 7 8 Ebd. Vgl. Rosemarie Kay, Institut für Mittelstandsforschung (IfM): Materielle Mitarbeiterbeteiligung. Das Für und Wider verschiedener Beteiligungsformen. (Impulsreferat auf der Veranstaltung „Mittelstandsförderung durch materielle Mitarbeiterbeteiligung?“ der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Investitionsund Strukturbank Rheinland-Pfalz in Kaiserslautern am 14. Juni 2007. Z.B. in öffentlichen Äußerungen des IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters, des Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske, des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer. Vgl. IG-Metall-Pressemitteilung 35/2007, 27.06.2007; Wirtschaftspolitische Informationen 5/06, ver.di Bundesvorstand Berlin, November 2006; DGB-Pressemeldung, 29.11.2006. 104 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G zum Inflationsausgleich notwendigen eines Arbeitnehmers – sehr proble- Lohn- und Gehaltserhöhungen nicht matisch werden kann: Mit Ausnahme ersetzen. Die direkte Einkommens- der börsennotierten Aktiengesell- steigerung sollte somit absoluten schaften sind Kapitalbeteiligungen Vorrang haben (u.a. durch Tarifver- an Unternehmen nicht ohne Weiteres träge, Mindestlöhne). im Wert zu beziffern und zu verkaufen • Beschäftigte mit geringem Einkom- (auf dem Markt handelbar), da kein men haben in der Regel kein ausrei- entsprechender Markt besteht. Aus chendes Vermögen, das als Kapital- diesem Grund sind für die Mehrzahl beteiligung einsetzbar wäre und der kleinen und mittelständischen können somit nicht von den Zuwäch- Betriebe Eigenkapitalbeteiligungsmo- sen des Produktivvermögens profitie- delle praktisch kaum umsetzbar. ren. Mitarbeiterbeteiligungen sollten • Kapitalbeteiligungen bedeuten auch prinzipiell zusätzliche Leistungen zu eine höhere Beteiligung am unter- den fest vereinbarten Tariflöhnen nehmerischen Risiko und sollten („on top“) sein, keine umgewandelten deshalb mit einer Ausweitung der Anteile des Lohns (Investivlohn). Mitbestimmungsrechte (immaterielle • Kapitalbeteiligungen sind grundsätz- Mitarbeiterbeteiligung) verbunden lich als freiwillige Option anzubieten. werden. Nach Ansicht der Arbeitnehmervertre- • Die Stärkung der betrieblichen Alters- ter müssen diese noch offenen Fragen vorsorge sollte Vorrang vor dem und Probleme zunächst geklärt und bei Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung gesetzlichen Neuregelungen entspre- haben. chend berücksichtigt werden. • Kapitalbeteiligungen müssen durch Die Große Koalition will mit gesetz- gesetzliche Regelungen zur Rückgabe lichen Regelungen die materielle Mit- für den Mitarbeiter bzw. die Mitarbei- arbeiterbeteiligung weiter fördern und terin kalkulierbarer gemacht werden, dadurch eine stärkere Verbreitung be- da sonst der Verkauf von Unterneh- günstigen.9 Die Regierungsparteien sind mensanteilen – z.B. bei Ausscheiden sich darin einig, dass für die Beschäf- 9 Gegenwärtig wird materielle Mitarbeiterbeteiligung im eigenen Unternehmen im Wesentlichen auf zwei Wegen staatlich gefördert: nach dem Fünften Vermögensbildungsgesetz (VermBG, Arbeitnehmersparzulage) und der Förderung nach § 19a EStG. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 105 tigten aufgrund der nur mäßig wach- auf freiwilliger Basis Fondsanteile er- senden Löhne und Gehälter zusätz- werben. Dieses Kapital wird dann ge- liche Einkommensquellen über Ge- bündelt an die arbeitgebenden Unter- winn- und Kapitalbeteiligungen er- nehmen als Eigenkapitalbeteiligung schlossen werden sollen, um die Kluft weitergegeben (in Höhe der Fondsein- zwischen Beziehern von Kapital- und lage ihrer Mitarbeiterinnen und Mit- Arbeitseinkommen zu mindern. Auch arbeiter). Eine Bank soll dabei das wird davon ausgegangen, dass sich eine Fondsmanagement übernehmen. Fol- verstärkte Mitarbeiterbeteiligung posi- gende Ziele stehen im Vordergrund: tiv auf Beschäftigung und Wirtschafts- • Förderung des Vermögensaufbaus der wachstum auswirken würde. Im Sommer 2007 haben SPD und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Union ihre jeweiligen Konzepte vorge- • Reduktion des doppelten Risikos der legt. In beiden Modellen werden Mit- Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- arbeiter zu Mitunternehmern,10 doch mer zeigen sich deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung. Das SPD-Konzept „Deutschlandfonds“11 soll die bisherigen Möglich- • Sicherstellung der Handelbarkeit der Anteile • Reduktion der administrativen Kosten. keiten der Kapitalbeteiligung ergänzen Die Absicherung gegen Insolvenz soll und dazu beitragen, dass die Beschäf- über eine Streuung des Risikos durch tigten stärker an den Unternehmens- die Beteiligung einer Vielzahl von Un- gewinnen partizipieren. Bei dieser in- ternehmen gewährleistet werden: Die direkten Beteiligungsform fungiert der Insolvenz einer einzelnen Firma könn- Deutschlandfonds als eine Zwischen- te dann breit aufgefangen werden und instanz zwischen Arbeitnehmer und würde somit nicht das investierte Ver- arbeitgebendem Unternehmen: Als mögen der dort Beschäftigten gefähr- „deutschlandweite Kapitalsammelstel- den. Ein zusätzlicher Absicherungsme- le“ sammelt er Kapital bei den Arbeit- chanismus in Form einer Bundesgaran- nehmerinnen und Arbeitnehmern, die tie könnte hinzukommen. Die SPD 10 Vgl. Kolja Rudzio: Kollege Kapitalist. In: Die Zeit, 5.7.2007, Nr. 281. 11 SPD/SPD-Bundestagsfraktion: Deutschlandfonds für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Eckpunkte für mehr Mitarbeiterbeteiligung. Bericht der gemeinsamen „Arbeitsgruppe Mitarbeiterbeteiligung“ von SPD-Parteivorstand und SPD-Bundestagsfraktion, Juni 2007. 106 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G möchte mit ihrem Konzept ganz beson- z.B. Belegschaftsaktien oder Mitarbei- ders mittelständische Unternehmen terdarlehen, stärker als bisher zu fördern ansprechen, die bisher noch kaum und steuerlich zu subventionieren. Die Mitarbeiterkapitalbeteiligungen anbie- Union will vorrangig die Anlage zusätz- ten, da die existierenden Modelle – auf- licher freiwilliger Leistungen des Ar- grund hoher Kosten und bürokratischer beitgebers fördern, aber auch die frei- Verfahren – vielen nicht geeignet er- willige Umwandlung von Bruttolohn- scheinen. anteilen in Kapitalbeteiligungen unter- Die Union setzt dagegen auf direkte stützen. Darüber hinaus sollen die Be- Kapitalbeteiligungen, die den Arbeit- schäftigten ihre Beteiligungen in Alters- nehmer bzw. die Arbeitnehmerin un- vorsorgepläne über führen können. mittelbar am arbeitgebenden Unter- Hinsichtlich der Insolvenzsicherung nehmen beteiligen. Ein wichtiges Ziel sehen CDU/CSU keinen gesetzgeberi- ist die Steigerung der Motivation bei schen Handlungsbedarf: Gesellschafts- den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rechtliche Beteiligungen seien grund- durch erhöhte Identifikation und Leis- sätzlich Risikokapital, zu denen eine tungsbereitschaft. Die damit verbun- gesetzliche Absicherung nicht passt; denen produktivitätsteigernden Effek- das Abschließen entsprechender Aus- te können nach Auffassung von CDU/ fallversicherungen könne aber indivi- CSU aber nur durch eine enge Bindung duell innerhalb der Betriebe vereinbart an das eigene Unternehmen erreicht werden. werden. Nach ihrem Konzept „Betrieb- Ende 2007 gingen CDU/CSU und liche Bündnisse für Soziale Kapitalpart- SPD in der Frage der Mitarbeiterkapi- nerschaften“12 sollen sich Arbeitgeber talbeteiligung aufeinander zu. Im April und Arbeitnehmer weiterhin auf be- 2008 verständigte sich die zuständige trieblicher Ebene darüber verständigen, Arbeitsgruppe der Großen Koalition ob und in welcher Form Kapitalbeteili- unter gungen angeboten und wahrgenom- (SPD), CSU-Chef Erwin Huber (CSU) men werden. Der Staat soll sich darauf und dem nordrhein-westfälischen Ar- beschränken, die bereits existierenden beitsminister Formen von Kapitalbeteiligung, wie (CDU) auf wesentliche Eckpunkte eines Arbeitsminister Olaf Karl-Josef 12 Detailliertere Ausführungen zum Konzept finden sich unter: www.cdu.de/doc/pdfc/070629-eckpunktepapier-kapitalpartnerschaften-cdu-csu.pdf. Scholz Laumann P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 107 Modells zur Mitarbeiterbeteiligung.13 mit würde der Förderhöchstbetrag Das Eckpunkte-Papier vereint als Kom- von 72 auf 80 Euro jährlich steigen. promiss Positionen der SPD und der Außerdem sollen die dabei geltenden CDU: Einkommensgrenzen im Vermögens- • Der Erwerb von Kapitalanteilen am bildungsgesetz auf 20.000 Euro für eigenen Betrieb soll künftig durch Ledige (bisher 17.900) und 40.000 einen Steuerfreibetrag von 360 Euro Euro für Ehepaare (bisher 35.800) pro Jahr (bisher 135 Euro) zusätzlich gefördert werden. angehoben werden. • Neben der direkten Beteiligung am • Die Förderung über die sog. vermö- Unternehmen soll auch eine indirekte genswirksamen Leistungen soll er- Beteiligung als Anlage in speziellen höht werden. Fonds förderfähig sein, z.B. für ein- • Der Freibetrag im Einkommenssteu- zelne Branchen (angelehnt an das ergesetz soll steigen und künftig nicht SPD-Fondsmodell). Dabei muss je- mehr daran gekoppelt werden, dass doch ein Rückfluss von 75 Prozent der Arbeitnehmer oder die Arbeit- des eingebrachten Kapitals an die nehmerin parallel zum Arbeitgeber- beteiligten Unternehmen garantiert Zusschuss einen gleich hohen Anteil werden. mit seinem eigenen Gehalt erwirbt. Somit scheint nach jahrelanger Dis- • Der Fördersatz für vermögenswirksa- kussion eine stärkere Teilhabe der Ar- me Leistungen, die in Beteiligungen beitnehmerinnen und Arbeitnehmer angelegt werden, soll erhöht werden an Kapitaleinkommen und Unterneh- (von derzeit 18 auf 20 Prozent). Da- mensgewinnen in greifbarer Nähe. 13 Vgl. Koalition baut Mitarbeiterbeteiligung aus. In: Handelsblatt online, 21. April 2008. 108 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Die (Wieder)Entdeckung der Mitarbeiterbeteiligung Kapitalbeteiligung und Belegschaftsaktie – Wege zu stärkerer ökonomischer Teilhabe? Mitarbeiterbeteiligung – gesellschaftspolitische Notwendigkeiten und rechtlicher Handlungsbedarf Prof. Dr. Karl-Georg Loritz Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät I. Die aktuelle Situation der Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland lich halte. Gegenwärtig ist nur jeder dreizehnte Arbeitnehmer am Gewinn seines arbeitgebenden Unternehmens beteiligt. Thema meines heutigen Vortrags ist die In Deutschland sind über 90 Pro- aktuelle Situation der Mitarbeiterbe- zent der im Arbeitsleben Stehenden teiligung in Deutschland. Dabei möch- Nichtselbstständige (Angestellte, Arbei- te ich weniger auf rechtliche Details ter, Beamte). Dieser große Teil der Be- eingehen, sondern verdeutlichen, dass völkerung muss an dem teilhaben in diesem Bereich endlich etwas passie- können, was künftig in der Volkswirt- ren muss. Es darf nicht sein, dass wir schaft vermutlich erheblich bessere noch weitere zwanzig oder dreißig Jah- Wertschöpfungspotenziale hat als die re lang über dieses Thema diskutieren menschliche Arbeit, nämlich die Be- – so lange, bis es schließlich zu spät ist. teiligung an Unternehmen und die Im Folgenden möchte ich darstellen, zielgerichtete Investition von Kapital. warum ich die Einführung der Mitar- Ich bin fest davon überzeugt – wie auch beiterbeteiligung für dringend erforder- viele andere Experten –, dass in Zukunft P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 109 die Verteilung dessen, was in der Volks- nur um eine abstrakte Form der Ver- wirtschaft erwirtschaftet wird, für die mögensverteilung, sondern auch um deutsche Gesellschaft eine wesentliche die Frage, wie der Zugang zu den Bil- Rolle spielen wird. Dabei geht es nicht dungschancen und damit auch zu den Überblick über die Zuwächse der Einkommen der Nichtselbstständigen in der Vergangenheit 1. Durchschnittliche Brutto-Monatsverdienste der Angestellten 1957 1967 1977 1987 1997 2006 228,– € 466,– € 1161,– € 1901,– € 2689,– € (alte Bundesländer 2778,– €, neue Bundesländer 2122,– €) 3510,– € (alte Bundesländer 3595,– €, neue Bundesländer 2679,– €) Überblick über die Zuwächse der Einkommen der Nichtselbstständigen in der Vergangenheit 2. Durchschnittliche Brutto-Monatsverdienste der Arbeiter 1957 1967 1977 1987 1997 2006 238,– € 466,– € 1096,– € 1589,– € 2145,– € (alte Bundesländer 2234,– €, neue Bundesländer 1657,– €) 2510,– € (alte Bundesländer 2669,– €, neue Bundesländer 1994,– €) Überblick über die Zuwächse der Einkommen der Nichtselbstständigen in der Vergangenheit 3. Steigerung der Tariflöhne von 2000 (=100) bis 2006 ● ● ● ● alle erfassten Wirtschaftszweige: 113,0 verarbeitendes Gewerbe 116,4 Gebrauchsgüter 114,2 Verbrauchsgüter und Produktion 113,1 110 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Berufschancen geregelt ist, der vom durchschnittliche Zuwachs in den letz- finanziellen Wohlstand der Eltern mit ten Jahren ungefähr bei 2,3 Prozent in abhängig ist. einer ganzen Reihe von Wirtschafts- Wenn man die Einkommenszu- zweigen. wächse der Nichtselbstständigen in den Betrachtet man Unternehmensge- letzten Jahrzehnten betrachtet, ist fest- winne und Einkommenssituation, zeigt zustellen, dass die durchschnittlichen sich eine klare Tendenz, die weltweit Brutto-Monatsverdienste der Angestell- festzustellen ist. Im Vergleich von Wirt- ten kontinuierlich gewachsen sind. schaftswachstum und Tariflohn-An- Diese Aufwärtsbewegung hat bis unge- stieg wird deutlich: Die Chancen, durch fähr Mitte der 90er Jahre angehalten, Unternehmens- und Kapitalinvestitio- dann wurden die Steigerungen deut- nen überdurchschnittlich zu verdienen, lich geringer – auch wenn man die sind in den letzten Jahren tendenziell Friktionen zwischen alten und neuen besser geworden als die Chancen, durch Bundesländern eliminiert. Bei den Ver- den Einsatz der Arbeitskraft überdurch- diensten der Arbeiter sind die Einkom- schnittlich zu verdienen. Das gilt übri- menszuwächse etwas bescheidener gens nicht nur für den Niedriglohnbe- ausgefallen. reich, sondern auch für obere Einkom- Auch wenn Statistiken natürlich mensgruppen. Selbst die Professoren- immer mit Skepsis zu sehen sind, ist gehälter der obersten Kategorie, die an offensichtlich, dass die Tariflöhne in den Rang eines Staatssekretärs heran- Deutschland seit dem Jahr 2000 relativ reichen, sind nur relativ moderat ge- wenig gestiegen sind. Demnach lag der stiegen. Der entscheidende Punkt ist Unternehmensgewinne und Einkommenssituation ● ● ● ● ● Die Gewinne der 30 größten Dax-Unternehmen sind 2006 um ca. 72% gestiegen. Die Wirtschaft in Deutschland ist um 1,7% gewachsen. Die Tariflöhne sind um durchschnittlich 1,5% gestiegen. Die Bruttomonatsverdienste der Angestellten sind von 2005 bis 2006 von durchschn. 3442,– € auf 3510,– € = 2% gestiegen. Die Bruttomonatsverdienste der Arbeiter/innen sind von 2005 bis 2006 von 2542,– € auf 2562,– € = 0,8% gestiegen. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N aber: Wie hat sich das Einkommen des Großteils der Bevölkerung – also der 111 II. Das Tarifgeschehen in Deutschland nichtselbstständigen Arbeitnehmer – in den letzten Jahren entwickelt? Zunächst möchte ich auf das Tarifge- Im Hinblick auf das Geldvermögen schehen in Deutschland eingehen, in- ist Deutschland durchaus ein reiches besondere auf die Ursachen für die Land. Das Gesamtvermögen der pri- aktuelle Situation in diesem Bereich. vaten Haushalte liegt bei etwa 9,2 Bil- Die Grundlagen des Arbeitsrechts, na- lionen Euro, unterteilt in Geldvermögen mentlich der Tarifautonomie, haben (3,7 Bill. Euro brutto), Sachvermögen sich nicht nur in Deutschland, son- (4,6 Bill. Euro brutto) und Gebrauchs- dern weltweit fundamental geändert. vermögen (0,9 Bill. brutto). Davon Von den 60er bis zu den 80er Jahren entfallen auf die unteren 50 Prozent der gab es Tariflohnerhöhungen, die über Haushalte ungefähr 4 Prozent und auf dem Produktivitätsfortschritt zahlrei- die oberen 10 Prozent der Haushalte 47 cher Unternehmen lagen. Die Arbeit- Prozent des Vermögens. nehmerseite hatte wirksame Instrumen- Das Ungleichgewicht ist deutlich, tarien zur Durchsetzung ihrer Rechte, aber ich bin ein großer Gegner der die zum Teil in überzogener Form ge- Auffassung, man sollte den Vermö- schah. Im Zuge dessen verloren viele genden dann doch einfach etwas weg- deutsche Unternehmen ihre Konkur- nehmen. Das haben schon einige Re- renzfähigkeit. Seit den 80er Jahren hat gierungen versucht und es ist gründlich der internationale Konkurrenzdruck misslungen – es hat eine „Auswande- die Unternehmen zu alternativem Han- rungswelle“ vieler sog. großer Vermögen deln gezwungen – und dieses auch er- und gut verdienender Unternehmer leichtert. und Manager hervorgerufen. Deutsch- Nun stellt sich die Frage, ob wir im land ist eines der wirtschaftlich erfolg- Bereich des Tariflohns wieder in alte reichsten Länder und muss deshalb Muster zurückfallen und an die Instru- einen anderen Weg gehen. Und ich mente der 60er, 70er und 80er Jahre denke, dass wir mit relativ wenigen anknüpfen sollten. Unabhängig davon, Stellschrauben auch das Notwendige ob das überhaupt umzusetzen wäre, erreichen könnten. würde es uns auch nichts nützen, weil 112 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G wir uns nicht dauerhaft gegen weltwirt- im Chaos versinkt und versucht, sich schaftliche Trends stellen können. Es mehr oder weniger von den dortigen ist einfach nicht möglich, international Entwicklungen abzuschirmen. Das tätigen Investoren und Unternehmen mögen manche für richtig halten – ich vorzuschreiben, wo sie sich ansiedeln halte es nicht für richtig und ethisch sollen. Auch mit noch so rigorosen für nicht vertretbar. Gerade in Afrika ist steuerlichen Maßnahmen wird man es auch erhebliches Arbeitskräftepoten- nicht schaffen, zu verhindern, dass zial vorhanden, das eines Tages „erwa- deutsche Unternehmen Standorte ins chen“ und das „Angebot“ an mensch- Ausland verlagern. licher Arbeit weltweit „vergrößern“ Wir hatten in Deutschland lange wird. Zeit das Glück, ein wirtschaftlich blü- Wenn nach Deutschland von irgend- hendes Land im Aufschwung zu sein. woher Arbeitskräfte zuströmen, die Bis in die 80er Jahre hinein war da- bereit sind, zu billigen Löhnen zu ar- durch eine Politik möglich, die auf re- beiten, ist das klassische Tarifsystem lativ hohen Steuerlasten, relativ hohen nicht das geeignete Mittel, um den Abgabenlasten im Sozialbereich und internationalen Konkurrenzdruck auf- relativ hohen Tariflöhnen basierte. Das zufangen. kann aber in dieser Form heute nicht Der internationale Wettbewerb mehr funktionieren, da nicht mehr nimmt auf Deutschland keine Rück- genügend zum Verteilen da ist. sicht. In anderen Ländern der Welt Ein weiterer wichtiger Aspekt kommt interessieren deutsche Fragen der Vertei- hinzu, dessen Auswirkungen noch un- lungsgerechtigkeit schlichtweg nicht. gewiss sind. Global gesehen wird die Ob jemand bereit ist, in Deutschland Zahl der Arbeitskräfte noch zunehmen. Kapital zu investieren und Arbeitsplät- Nehmen wir das Beispiel China. Dort ze zu schaffen, hängt von seiner per- arbeiten heute gerade einmal 300 Mil- sönlichen Entscheidung ab. Wenn wir lionen von 1,5 Milliarden Menschen unsere Probleme in Deutschland nicht an der Ostküste oder in Boomregionen. lösen, wird auch niemand allein des- In diesem Land existiert also noch ein halb hier im Land bleiben, weil er unglaubliches Arbeitskräftepotenzial. Deutscher ist – es sei denn, er ist ganz Oder ein anderes Beispiel: Die wirt- besonders patriotisch. schaftlich starken Staaten dieser Welt Selbstverständlich müssen wir eine haben zugesehen, wie Afrika weithin vernünftige Lösung finden. Ich bin zum P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 113 Beispiel völlig dagegen, einen Steuersatz unter dem ungeschriebenen Vorbe- von 25 Prozent für alle einzuführen, halt, dass deutsche Unternehmen auch wenn solch ein einheitlicher Steu- am Weltmarkt konkurrenzfähig blei- ersatz für die Bezieher hoher Einkom- ben müssen. men ideal wäre. Der Staat kann sich Deshalb kann über diese Instru- einen solchen Einheitssteuersatz in mente nichts Entscheidendes be- dieser Höhe auch einfach nicht leisten. wegt werden. Wir werden auch keine Dieser Weg wäre also unsinnig. europäischen Tariflöhne erreichen. Wir müssen uns aber darüber im Ob es uns passt oder nicht – wir müs- Klaren sein, dass der weltweite Wettbe- sen feststellen: Das vergangene Jahr- werb hart und rücksichtslos ist. Ich bin hundert war in Deutschland ein fest davon überzeugt, dass bei den Un- Jahrhundert der Arbeitnehmer. Aus ternehmenssteuern momentan ein in- kleinsten Anfängen wurde ein weit- tensiver Wettbewerb besteht. Vermut- verzweigtes System von Arbeitneh- lich wird in etwa fünf Jahren ein merrechten entwickelt. Das 21. Jahr- Wettbewerb um die besten Arbeitskräf- hundert scheint ein Jahrhundert der te beginnen und es ist davon auszuge- Unternehmer und Kapitalinvesto- hen, dass in vielen Industrieländern die ren zu werden. Meine Prognose Spitzensteuersätze für Leute im „Top- lautet: Weltweit werden künftig die Segment“ erheblich gesenkt werden. Einkommen aus Vermögen – auch Wir haben also nur begrenzte Spielräu- aus unternehmerisch eingesetztem me, und diese müssen wir nutzen. Vermögen – deutlich stärker steigen Aus den gegenwärtigen Entwick- als die Einkommen aus Arbeit aller lungen ergeben sich für Deutschland Art. aus meiner Sicht folgende Konsequen- Entscheidend ist nicht die Frage, wie zen: man diese Entwicklung zurückdre- 1. Eine ausgeglichene Einkommens- hen kann – das funktioniert nicht. und Vermögensverteilung wird al- Damit meine ich nicht, dass es lein über die Komponente der Fest- künftig keine Tariflohnerhöhungen entlohnung für nichtselbstständige mehr geben soll und dadurch noch Arbeit nicht gelingen. mehr Menschen auf Hartz IV-Leis- Die Handlungsmöglichkeiten der tungen angewiesen sind. Investiv- Tarifparteien sind auf das Inland löhne sind immer nur für Menschen beschränkt. Die Abschlüsse stehen geeignet, die „genug zum Leben“ 114 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G verdienen. Ein Arbeitnehmer, der in gebenden Unternehmen ist ein der Monatsmitte nicht weiß, wie er guter, wenn auch nicht der einzige seine Familie ernähren soll, hat an Weg, um dieses zu erreichen. Investivlohnkonzepten sicher kein Interesse. Das hätte auch keinen Sinn. 2. Eine möglichst gerechte Einkom- III. Rechtlicher Rahmen für Mitarbeiterbeteiligungen mens- und Vermögensverteilung ist mit Hilfe der Tarifautonomie in In rechtlicher Hinsicht sind zwei Be- Deutschland nicht mehr zu ver- reiche zu unterscheiden: Mittelauf- wirklichen. bringung und Mittelverwendung. Das Sicher wird es weiterhin Tarifauto- erforderliche rechtliche Instrumenta- nomie und Tarifverträge geben. rium, um Mitarbeiterbeteiligung zu Deshalb ist die langgehegte Angst verwirklichen, liegt in Deutschland mancher Gewerkschaften, dass Mit- bereits seit Jahrzehnten vor. arbeiterbeteiligung die Tarifauto- Die Mittelaufbringung kann arbeits- nomie aushöhlen könnte, völlig rechtlich auf verschiedene Weise gere- unbegründet. Beim Thema Mitar- gelt werden in: beiterbeteiligung geht es, wie er- • Tarifverträgen wähnt, um die Kapitalbeteiligung • Betriebsvereinbarungen (im Rahmen von Menschen, die finanziell gese- des Tarifvorbehalts) hen genug zum Leben haben. Es ist • Individualarbeitsverträgen. nicht vertretbar, Mitarbeiter am Dann gibt es für die Mittelaufbringung Unternehmensgewinn oder -risiko eine – für meine Begriffe immer noch zu beteiligen, die schon das Risiko viel zu komplizierte – staatliche Förde- tragen müssen, eventuell das Exis- rung nach § 19 a Einkommensteuerge- tenzminimum nicht verdienen zu setz (EStG) und durch das 5. Vermö- können. gensbildungsgesetz. 3. Wir brauchen „intelligente“ Instru- Ich habe mich immer dafür einge- mentarien, um die über 90 Prozent setzt, dass zumindest die wenigen Nichtselbstständigen an den „er- rechtlichen Regelungen bestehen blei- tragreichen Quellen“ der Volkswirt- ben, wenn wir nichts Besseres zur Ver- schaft teilhaben zu lassen: an den fügung haben. Aber es ist ganz klar: Mit Erträgen der Unternehmen. Die einer Förderung, die sich im Minimal- Mitarbeiterbeteiligung am arbeit- bereich von 100 Euro im Jahr aufwärts P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 115 bewegt, können Arbeitnehmer natür- Mittel verwendet werden sollen. Es gibt lich nicht wirklich Vermögen bilden. keine Tarifverträge, die die Mittelver- Diese Möglichkeit hat bisher auch kei- wendung genau vorschreiben würden, nen sehr großen Anreiz geboten. Im also die konkreten Maßnahmen fest- Rahmen meiner Beratungstätigkeit ha- legten, die der Arbeitgeber in einem be ich schon so manches große Beteili- Unternehmen ergreifen muss, ob er also gungsmodell begleitet, und da stellte z. B. die Einführung von Darlehen oder sich immer die Frage: Sollte man sich von stillen Beteiligungen bevorzugt. wegen dieser staatlichen Förderung Zunächst ist es eine theoretische Frage, wirklich alle Restriktionen antun, die ob man beispielsweise im Tarifvertrag damit verbunden sind? Manchmal habe festhalten kann, dass der Arbeitnehmer ich den Mandanten gesagt: Wenn Sie einen Anspruch darauf hat, pro Jahr als gut verdienender Unternehmer die eine bestimmte Anzahl an Belegschafts- Fördermittel, die Sie vom Staat bekom- aktien zu bekommen. Eine solche men würden, gleich den Arbeitnehmern Festlegung ist meiner Ansicht nach bei geben, ist das am Anfang zwar teurer börsennotierten Unternehmen kein für Sie. Aber dann entstehen Ihnen Problem. Hier können Aktien ja an der erstens keine Beratungskosten, und Börse erworben werden. Eine theo- zweitens haben Sie die Flexibilität, die retische Frage ist, ob dem Arbeitgeber Sie brauchen. per Tarifvertrag vorgeschrieben werden Mein Ziel ist: Die Mitarbeiterbetei- könnte, etwas von seinen Unterneh- ligung sollte in den Rahmen der Unter- mensanteilen abzugeben. Das verneint nehmensteuerreform integriert werden, die einhellige Ansicht. In der Praxis indem Mitarbeiterkapital als etwas be- haben Tarifparteien kein Interesse an trachtet wird, das zu begünstigen ist. solchen „Zwangsregelungen“. Natürlich muss das Ganze systemkon- So stellt sich eine grundsätzliche form angelegt werden und darf auch Frage: Stehen der Aufwand des Staates nicht zu kompliziert sein. und die bürokratischen Erfordernisse Der zweite Bereich betrifft die Mit- der Unternehmen im Zusammenhang telverwendung. Es gibt hier zivilrecht- mit der Förderung in angemessenem liche Vereinbarungen, insbesondere Verhältnis zu den bislang „beschei- gesellschaftsrechtliche Regelungen. Wir denen“ Erfolgen? Ich glaube, das ist haben in Wissenschaft und Praxis lan- nicht der Fall: Das bisherige System ist ge darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, nicht effektiv genug. im Tarifvertrag vorzuschreiben, wie 116 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G IV. Gewinnbeteiligungen durch Tarifverträge nehmer in guten Zeiten per Beteiligung mindestens 1.900 Euro pro Monat verdienen und entsprechend investie- Grundsätzlich sind Gewinnbeteiligun- ren kann; in schlechten Zeiten kann es gen durch Tarifverträge in Form von dann aber auch sein, dass der monatli- Öffnungs- oder Bestimmungsklauseln che Lohn auf 1.700 Euro zurückgeht. zulässig. So entstünde ein gewisser Spielraum. Beispiel: In einer Öffnungsklausel Die Rahmenmodalitäten könnten im wird festgelegt, dass der Tariflohn – die Tarifvertrag oder in einer Betriebsver- Zahl ist zufällig ausgewählt – 1.800 Euro einbarung geregelt werden. pro Monat beträgt. Wenn ein Beteili- Die eigentliche Schwierigkeit bei gungsmodell vereinbart wird, könnte solch einem Modell besteht jedoch Folgendes festgehalten werden: Be- darin, dass der Flächentarifvertrag die triebsrat und Arbeitgeber – oder eine Situation der einzelnen Unternehmen Kommission, wenn es keinen Betriebs- nicht berücksichtigt. Es ist also nicht rat gibt wie in vielen Unternehmen – empfehlenswert, das Ganze zu restriktiv einigen sich darauf, dass der Arbeit- anzulegen. Im Prinzip ist es ein ganz Modell eines Tariflohns Nach oben offen Mindest erzielbarer Zusatzverdienst 200 € Tariflohn 1.800 € Tariflohn 1.700 € P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 117 einfaches Modell: Es gibt einen festen • In die neu geschaffenen Gewinn- Tariflohn, alternativ einen etwas gerin- thesaurierungsmöglichkeiten der Ka- geren festen Tariflohn und einen min- pital- und Personengesellschaften destens erzielbaren Zusatzverdienst, der werden Arbeitsnehmerbeteiligungen idealerweise nach oben offen ist. einbezogen. • Eventuell könnten ermäßigte Steuersätze für thesaurierte „Arbeitnehmer- V. Überlegungen im Zusammenhang mit der Unternehmenssteuerreform beteiligungs-Guthaben“ eingeführt werden. • Die für solche „Arbeitnehmerbeteiligungs-Guthaben“ verwendeten Löh- Damit komme ich zum letzten Teil mei- ne und Gehälter werden bis zu einer nes Vortrags, in dem ich mich mit der gewissen Grenze von Sozialversiche- Frage beschäftige, ob die bisherige rungsbeiträgen freigestellt. staatliche Förderung im Rahmen ei- • Bei Ausschüttung nach Ablauf einer ner Ergänzung der Unternehmenssteu- gewissen Zeit gilt eine niedrige Ab- erreform abgelöst werden sollte. In geltungssteuer und es wird kein So- Deutschland wurde lange darüber dis- zialversicherungsbeitrag erhoben. kutiert, ob eine Unternehmensteuerre- Ich sage aber auch ausdrücklich: Das form durchgeführt werden sollte. alles muss bezahlbar sein. Zu Fragen Stark vereinfacht gesagt beinhaltet der staatlichen Finanzierung will ich die Unternehmenssteuerreform zwei mich als Wissenschaftler nicht äußern. wesentliche Elemente: Hier ist vorrangig die Politik gefragt. • Die Steuersätze für thesaurierte Ge- Auf jeden Fall sollte es keine unbe- winne werden abgesenkt – mit der grenzte Öffnung „nach oben“ geben, Folge einer Gesamtbelastung von denn dann könnte es passieren, dass unter 30 Prozent. jemand, der 300.000 Euro im Jahr • Es wird eine Abgeltungsteuer für Ka- verdient, 100.000 Euro davon anlegt pitalerträge in Höhe von 25 Prozent und dann insgesamt in den Genuss des eingeführt. ermäßigten Steuersatzes kommt. Das Das ermöglicht folgende Überlegun- wird auch niemand ernstlich verlan- gen: gen. • § 19 a EStG und das 5. Vermögensbildungsgesetz werden abgeschafft. Es kommt entscheidend darauf an, wie viel Steuerausfälle in den nächsten 118 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Jahren der Staat verkraften kann. Ent- es zu einem Teil „konservativ“ angelegt sprechend kann Beteiligungskapital in wird. Der wesentliche Punkt ist: Wenn einer bestimmten Höhe einbezogen eine betriebliche Beteiligung nicht werden – damit könnte zumindest zum möglich ist, dann muss eine andere Teil eine Umschichtung erreicht wer- attraktive Möglichkeit gefunden wer- den. Eine wichtige Frage ist: Wenn das den, damit ein großer Teil der Menschen Kapital nach Ablauf einer gewissen Zeit in Deutschland an den unternehme- ausgeschüttet wird, ist es dann möglich, rischen Chancen beteiligt werden kann. dass die Abgeltungssteuer von 25 Pro- Und die Unternehmensteuerreform zent plus Kirchensteuer und Solidar- wäre dazu geeignet, entsprechende beitrag in einem solchen Falle etwas Regelungen umzusetzen. abgesenkt wird? Natürlich muss bei all dem berücksichtigt werden, dass es sich um Arbeitnehmer handelt. Dabei sind zwei VI. Politische Handlungsnotwendigkeiten Komponenten wichtig. Eine Komponente ist die betriebliche Beteiligung, Wir können uns nicht gegen weltweite die nicht für alle Unternehmen geeignet Entwicklungen stellen und die Unter- ist. So darf es keinesfalls passieren, dass nehmen weiter belasten. Mit der Un- ein schlecht funktionierendes oder ternehmenssteuerreform haben wir jetzt nicht marktgerechtes Unternehmen die den gegenteiligen und genau richtigen Arbeitnehmer in eine betriebliche Be- Weg eingeschlagen. Wir müssen aber teiligung „hineintreibt“. Die andere auch fragen, wie wir die Arbeitnehmer Komponente besteht darin, die Arbeit- an den unternehmerischen Chancen nehmer an Kapitalmärkten zu beteili- und an den Chancen der Kapitalmärk- gen. Es gibt heute genügend von Banken te beteiligen können. und Anlagegesellschaften herausgege- Wir brauchen Fortschritt in Form bene „Save-Invest-Konzepte“, die auf kreativer Lösungen. Ansonsten besteht folgendem Prinzip beruhen: Die An- die Gefahr einer größer werdenden leger bekommen eine Aktienbeteiligung Spreizung zwischen Arbeitseinkommen in einer bestimmten Höhe und es wird einerseits und Unternehmens- und garantiert, dass nach einer Ablaufzeit Vermögenseinkommen andererseits. von sechs, zehn oder zwölf Jahren das Die Industriestaaten, auch Deutsch- Kapital zumindest erhalten bleibt, da land, werden gezwungen sein, in der P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 119 nächsten „Runde“ des internationalen Fazit: Statt die ohnehin in Deutsch- Steuerwettbewerbs die Spitzensteuer- land schon zu stark belasteten Unter- sätze deutlich zu senken. Die Folge wird nehmen noch weiter zu belasten, ist es sein, dass für Steuersenkungen im un- der richtige Weg, Arbeitnehmer an den teren und mittleren Bereich kaum unternehmerischen Chancen und an Spielraum zur Verfügung stehen wird. den Chancen der Kapitalmärkte zu beteiligen. 120 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Wie kann ökonomische Teilhabe durch Mitarbeiterbeteiligung gestärkt werden? Podiumsdiskussion mit Joachim Elsholz Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Berlin Michael Lezius Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft e.V. (AGP), Kassel Prof. Dr. Karl-Georg Loritz Hochschullehrer an der Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Ludwig Stiegler, MdB Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion für die Bereiche Wirtschaft und Technologie, Arbeit, Tourismus, Berlin Moderation: PD Dr. Stefan Büttner Universität Potsdam, Firma denkInform P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Welche Erfahrungen gibt es mit Mitarbeiterbeteiligung? 121 • Unternehmen mit Mitarbeiterbeteiligung sind insgesamt rentabler, innovativer und produktiver. Michael Lezius, Geschäftsführer der • Durch Beteiligungsmöglichkeiten Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in werden Arbeitnehmerinnen und Ar- der Wirtschaft e.V. (AGP), erläuterte, beitnehmer zu mentalen Mitunter- dass in Deutschland bereits in beacht- nehmern, die sich für ihre „eigene lichem Umfang verschiedene Modelle Firma“ stärker verantwortlich fühlen. der Mitarbeiterbeteiligung umgesetzt Indirekte positive Auswirkungen werden: Es gibt gegenwärtig etwa zeigen sich z.B. im Krankenstand, der 173.000 Betriebe mit Erfolgsbeteili- etwa nur ein Drittel des Durchschnitts gung – davon die überwiegende Mehr- beträgt. heit (90 Prozent) im Mittelstand – und • Mitarbeiterbeteiligung führt zu einer 41.500 Betriebe mit Kapitalbeteiligung höheren Akzeptanz marktwirtschaft- (von Mitarbeiterguthaben bis zur Be- licher Prinzipien durch die Arbeitneh- legschaftsaktie). Aufgrund der guten merinnen und Arbeitnehmer, weil sie Erfahrungen mit diesen Instrumenten sich als Teilhaber des Unternehmens sollten Beteiligungsmodelle weiter aus- sehen. gebaut und gefördert werden. Nationale • Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- und internationale Untersuchungen mer, die an Mitarbeiterbeteiligung hätten gezeigt, dass Mitarbeiterbeteili- partizipieren, sind insgesamt wirt- gung zahlreiche Vorteile sowohl für die schaftlich risikobewusster und auch Unternehmen als auch für die Arbeit- eher bereit, Veränderungen zu akzep- nehmer mit sich bringe. Lezius nannte folgende positive Auswirkungen: tieren. • Durch Kapitalbeteiligungen können • Im Vergleich zum Durchschnitt schaf- Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- fen Betriebe mit Mitarbeiterbeteili- mer Vermögen bilden, das die tradi- gung mehr Beschäftigung und gehen tionelle Altersversorgung zusätzlich seltener in Konkurs. ergänzen könnte. • Eine breite finanzielle Beteiligung der Die Grundidee der Mitarbeiterbeteili- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gung ist nach Michael Lezius an einer erhöht die Eigenkapitalquote, was zu langfristigen Strategie ausgerichtet, die einer besseren Bonität bei Banken und sowohl Werte der katholischen Sozial- Sparkassen und dadurch zu niedri- lehre als auch der Sozialdemokratie geren Finanzierungskosten führt. beinhaltet. Sie fördere eine „partner- 122 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G schaftliche Unternehmenskultur“, die unterschiedlich strukturierten Bran- auf einem neuen Verhältnis von Kapital chen organisiert sind. Die IG BCE ver- und Arbeit bzw. Unternehmer und tritt Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Arbeitnehmer basiere, und steigere nehmer aus großen Unternehmen und durch Partizipation im Berufsleben die DAX-Aktiengesellschaften, in denen Arbeitsmotivation der Menschen. Beteiligungsmodelle schon länger rea- Dr. Stefan Büttner merkte hierzu lisiert werden. kritisch an, dass Mitarbeiterbeteiligung Elsholz nannte einige Beispiele keineswegs automatisch die Unterneh- funktionierender Mitarbeiterbeteili- menskultur fördert. Vielmehr könnte gung. So bietet das große Pharmaunter- sie auch zu einer Entsolidarisierung der nehmen Schering seit 1977 Kapital- Belegschaft führen, wenn sich gut ver- beteiligungen in Form von Aktien an. dienende Arbeitnehmerinnen und Ar- Das Unternehmen fördert den Erwerb beitnehmer eine Kapitalbeteiligung von Belegschaftsaktien, die durch Zu- leisten können, während dies für an- schüsse zu einem gegenüber dem Bör- dere aus ökonomischen Gründen nicht senkurs erheblich günstigeren Preis möglich ist. Diese Zweiteilung im Un- ausgegeben werden können. Auf diese ternehmen würde dann genau das Weise sollen die Arbeitnehmerinnen Gegenteil der gewünschten Integration und Arbeitnehmer am Unternehmens- bewirken: Statt einer verbesserten Un- erfolg – auch am potenziellen Wert- ternehmenskultur entsteht dann eine zuwachs – beteiligt werden. In einem konflikthafte Spaltung der Belegschaft. Zeitraum von 30 Jahren gab es bei Joachim Elsholz von der Industrie- Schering in 21 Jahren entsprechende gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Aktienangebote für die Arbeitnehmer, (IG BCE) betonte zunächst, dass seine die weitgehend genutzt wurden – aller- Gewerkschaft der Mitarbeiterbeteili- dings überwiegend von besserverdie- gung grundsätzlich positiv gegenüber- nenden Angestellten (rund 80 Prozent), steht und auch schon die Umsetzung weniger von Arbeitern (rund 60 Pro- zahlreicher Beteiligungsmodelle be- zent). Elsholz verwies darauf, dass sich gleitet hat. Allerdings sei diese Position bei großen Unternehmen wie Schering, nicht repräsentativ für alle Gewerk- Bayer, BASF und Degussa in den letzten schaften, die in dieser Frage keine ein- Jahren sehr deutlich gezeigt habe, dass heitliche Haltung vertreten. Das sei aber Kapitalbeteiligungen dieser Art mehr auch nicht verwunderlich, da in den Wertzuwächse für den Einzelnen er- Gewerkschaften Arbeitnehmer aus sehr bringen können als z.B. durch Sparen P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 123 und dadurch die Motivation der Ar- sätzlich beitnehmerinnen und Arbeitnehmer Abgeordneter hat er entsprechende steige. Zudem gäbe es in vielen Unter- Beteiligungsmodelle bereits in ver- nehmen weitere Formen von Gewinn- schiedenen Zusammenhängen prak- bzw. Erfolgsbeteiligungen, z.B. Weih- tisch mitorganisiert. nachts- oder Urlaubsgeld und andere Prämien und Gratifikationen. Mitarbeiterbeteiligung. Als Zunächst betonte Stiegler die Unterschiede zwischen den zwei grundsätz- Entscheidend für den Erfolg dieser lichen Formen der materiellen Mitar- Modelle ist für Elsholz, dass die Kapi- beiterbeteiligung: der Gewinn- bzw. talbeteiligung eine zusätzliche Leistung Erfolgsbeteiligung einerseits und der des Unternehmens darstellt und nicht Kapitalbeteiligung andererseits. vom Lohn abgezweigt wird. Auch wenn Bei der Erfolgs- bzw. Gewinnbeteili- beim Aktienkauf natürlich ein Eigen- gung handelt es sich um eine zusätzliche beitrag des Arbeitnehmers erforderlich Auszahlung, die vom Gewinn bzw. Er- ist, muss also auch ein nennenswerter folg eines Unternehmens abhängig ist. Zuschuss des Arbeitgebers klar erkenn- Dabei ist es nach Stiegler wichtig, diese bar sein. Er hob zudem hervor, dass die Beteiligung in den Tarifverträgen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gro- berechenbaren Anspruch so zu gestal- ßer Unternehmen privilegiert sind, z. B. ten, dass die Belegschaft auch wirklich durch gute Tarifverträge und starke am Erfolg eines Unternehmens parti- Betriebsräte. Als Interessenvertreter aller zipiert. Arbeitnehmer müssten die Gewerk- Dagegen bedeutet Kapitalbeteili- schaften jedoch eine breitere Perspek- gung, dass der Arbeitnehmer bzw. die tive einnehmen und alle Fälle betrach- Arbeitnehmerin eigenes Kapital in ein ten. Es wäre daher sehr genau zu Unternehmen investiert, dadurch Mit- überlegen, wie aus den bisherigen posi- eigentümer wird und so am unterneh- tiven Erfahrungen geeignete Ableitun- merischen Erfolg direkt beteiligt ist. gen für andere Betriebe und die dort Stiegler stimmte der Feststellung von Beschäftigten getroffen werden könnten. Karl-Georg Loritz zu, dass die Gewinne Ziel müsse es sein, allen Arbeitnehmern aus Unternehmertätigkeit in den letzten eine Beteiligungsmöglichkeit an gesell- Jahren sehr viel stärker gestiegen sind schaftlichem Kapital zu eröffnen. als die Arbeitseinkommen. Man müsse Auch Ludwig Stiegler, Stellvertreten- sich aber immer darüber im Klaren sein, der Fraktionsvorsitzender der SPD-Bun- dass Kapitalerträge auch sinken kön- destagsfraktion, befürwortete grund- nen. 124 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Stiegler betrachtet die Kapitalbetei- bei Kapitalbeteiligungen wären sie aber ligung von Arbeitnehmerinnen und dazu verpflichtet. Viele Unternehmer Arbeitnehmern grundsätzlich als rich- würden es deshalb vorziehen, ihren tigen Weg, doch sei diese Beteiligungs- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern form bisher vor allem bei großen Ak- gegebenenfalls eine einmalige Leistung tiengesellschaften mit großen Aktien- auszuzahlen, z. B. als Prämie bei erfolg- programmen gut realisierbar, während reichem Abschluss eines großen Pro- sich die Umsetzung in mittelständi- jekts. schen Unternehmen sehr viel schwieriger gestalte. Lezius stellte ein Best-Practice-Beispiel ausführlicher vor: das Beteili- Ein wichtiger Grund für die geringe gungsmodell des Handwerksbetriebs Umsetzung in vielen kleinen und mitt- „Schreinerei Werner AG“ in Laufach leren Betrieben liegt nach Prof. Loritz bei Aschaffenburg.14 Angesichts der ho- an mangelndem Know-how und den hen Verschuldung seines Unterneh- geringen finanziellen Ressourcen dieser mens hatte sich ein Schreinermeister Unternehmer: So verfüge z.B. ein Hand- Ende der 1990er-Jahre zur Umsetzung werksmeister in der Regel nicht über eines Beteiligungsmodells entschlos- die erforderlichen Kenntnisse zur Um- sen, um den Fortbestand des Betriebes setzung von Beteiligungsmodellen und zu sichern. Er gründete eine Aktienge- könne sich auch keinen Berater leisten. sellschaft und gab Aktien aus, so dass Zudem seien viele Unternehmer nicht Mitarbeiter, Kunden und Partner durch dazu bereit, den Beschäftigten kontinu- Anteile direkt am Unternehmen betei- ierlich ihre Entscheidungen zu erklären, ligt wurden. Lezius hob die damit ver- da sie sich dadurch in ihrer unterneh- bundenen positiven Effekte hervor: Die merischen Aktivität gehindert sehen – Schreinerei habe heute eine vergleichs- 14 Das Beteiligungsmodell der Schreinerei Werner AG besteht seit 1998, als der Einzelunternehmer Toni Werner seine Schreinerei an die neu gegründete Werner AG veräußerte (Gründungskapital 600.000 DM: 12.000 Namensaktien im Nennwert von jeweils 50 DM). Die Gründungsgesellschafter sind neben Toni Werner (Einlage 100.000 DM) noch sieben Mitarbeiter (jeweils 50.000 DM) und 20 „Kleinaktionäre“ aus dem Kunden- und Partnerkreis (insgesamt 150.000 DM). Die Mehrheit des Stammkapitals befindet sich somit im Eigentum von Mitarbeitern. Toni Werner führt zwar als Vorstandsvorsitzender die Geschäfte, besitzt aber keine Aktienmehrheit. Bei dieser Beteiligungsform tragen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur Verantwortung für die eigenen Aufgabenbereiche, sondern auch finanzielle Mitverantwortung; sie werden zu „Mitunternehmern“. (Beschreibung siehe Website der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft; http://www.agpev.de/mitarbeiterbeteiligung/praxisbeispiele/index.html). P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N weise hohe Eigenkapitalquote von 40 Prozent und hoch motivierte Beschäftigte, die Geschäfte liefen gut. An diesem 125 Welche Probleme zeigen sich bei der Umsetzung von Mitarbeiterbeteiligung? Betrieb könne als eine Art Vorreiter in Deutschland sehr gut nachvollzogen Stiegler befürwortet grundsätzlich eine werden, dass auch in kleineren Hand- Ausweitung von Kapitalbeteiligungs- werksunternehmen Mitarbeiterbetei- modellen, sieht aber aufgrund der ligung erfolgreich realisiert werden Lohnentwicklung in Deutschland ab- kann. sehbare Probleme bei der Umsetzung: Auch für Elsholz ist es vorstellbar, Da die Löhne und Gehälter in den dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter letzten fünf Jahren inflationsbereinigt in kleineren Betrieben Kapital einbrin- stagnierten oder sogar – teilweise deut- gen, um das Unternehmen wirtschaft- lich – zurückgegangen sind, seien die lich zu stützen und letztlich Nutz- Arbeitnehmer gegenwärtig vor allem nießer zu werden. Doch müsse man sich an einer spürbaren Erhöhung des aus- bewusst machen, dass die Umsetzung gezahlten Reallohnes interessiert. In- von Beteiligungsmodellen zur Lösung vestitionen von Einkommensanteilen von Notsituationen auch sehr proble- in ihr Unternehmen würden dem Kon- matisch sein kann: Wenn durch wirt- sum entzogen und könnten so schnell schaftliche Schwierigkeiten eines Un- als „Zwangssparen“ empfunden wer- ternehmens die Arbeitnehmerinnen den. und Arbeitnehmer von Arbeitsplatzver- Zudem sei ja mit verschiedenen lust bedroht sind, stünden sie unter Instrumenten (wie Riester- und Rürup- starkem Druck, eigene Rücklagen in das Rente etc.) damit begonnen worden, Unternehmen zu investieren, um so die private Altersvorsorge zu stärken, so ihren Arbeitsplatz zu sichern. Wenn – dass inzwischen mehr Lohn- und Ge- wie leider schon häufiger geschehen – haltsanteile in diese Bereiche fließen. die Insolvenz des Unternehmens dann Schon daraus ergibt sich nach Stieglers doch nicht mehr verhindert werden Ansicht eine Konkurrenz um die Ver- kann, sind die Arbeitnehmer „doppelte wendung des verfügbaren Einkom- Verlierer“, die mit dem Arbeitsplatz mens. sowohl ihr zukünftiges Arbeitsein- Wenn man nun Kapitalbeteiligun- kommen als auch ihr bisher angespartes gen in Unternehmen für Arbeitneh- Vermögen verlieren. merinnen und Arbeitnehmer attraktiv 126 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G gestalten wolle, müsse man auch eine vestment mit daraus folgenden, steuer- Gehaltsumwandlung in Erwägung zie- pflichtigen Erträgen ist, so dass die hen. Solche Modelle würden aber vo- Steuereinnahmen des Staates letztlich raussichtlich sowohl vom Finanzmi- doch steigen würden. Wissenschaftliche nister – wegen erwarteter Steuerausfäl- Untersuchungen hätten gezeigt, dass le – als auch vom Arbeits- und Sozial- sich die Steuerzahlungen von Betrieben minister – wegen entgangener Renten- mit Kapitalbeteiligungen erhöhen. versicherungsbeiträge – rigoros abge- Stiegler entgegnete, dass der Finanz- lehnt werden. Das Konzept einer minister zunächst einmal weniger Ein- Lohnumwandlung sei derzeit schlicht kommenssteuer einnimmt, wenn Ge- nicht durchsetzbar. Stiegler hält es auch haltsanteile in Kapitalbeteiligungen für unwahrscheinlich, dass Kapitalbe- umgewandelt werden. Zwar würden teiligungen ähnlich wie manche Be- irgendwann einmal die laufenden Er- triebsrenten hinsichtlich der Sozialab- träge dieser Investition besteuert, aber gaben privilegiert werden könnten, weil für die Haushaltsbilanz des Finanzmi- auch damit der Kranken-, Renten- oder nisters sei eben das Aufkommensjahr, Pflegeversicherung Beiträge entzogen also das erste Jahr, entscheidend. Grund- würden. sätzlich unterstützt Stiegler eine ver- Als ein weiteres Problem von Kapi- stärkte Kapitalbeteiligung der Mitarbei- talbeteiligungen machte Stiegler auf die terinnen und Mitarbeiter, doch sieht er meist geringe Mitteleffizienz aufmerk- in der Verwendungskonkurrenz der nur sam: Das verbreiteste Beteiligungsmo- begrenzt vorhandenen Mittel ein großes dell zur Eigenkapitalverbesserung ist Hindernis. Man müsse deshalb einen nach aktuellem Recht wenig attraktiv, Weg finden, Arbeitnehmerbeteiligung da nach allen Abzügen nur weniger als zuverlässig gegen Insolvenz zu schützen die Hälfte des Einsatzes in eine Unter- und mit Altersvorsorge zu verbinden, nehmensbeteiligung umgewandelt und dabei auch noch eine Lösung für wird. Auch deshalb liegt nach Ansicht den Öffentlichen Dienst, also für die Stieglers der durchschnittliche Eigen- Nicht-Privatwirtschaft, finden. kapitalanteil in mittelständischen Un- Nach Stiegler sind also noch eine ternehmen nach wie vor unter zehn Menge Fragen zu klären, bevor es mög- Prozent. lich ist, Umsetzungsstrategien zu erar- Lezius wandte dagegen ein, dass Mitarbeiterkapitalbeteiligung ein In- beiten und schließlich eine entsprechende Gesetzgebung zu verabschieden. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 127 Prof. Loritz bezeichnete es als wenig teiligung, die seit Jahren erfolgreich hilfreich, nach einem Idealmodell der umgesetzt werden. Neben der ungeklär- Kapitalbeteiligung zu suchen – denn ten Risikoabsicherung sei ein wesentli- dann käme man niemals weiter. Auch ches Problem, dass Geringverdiener von könne er keinen Gegensatz zur Alters- Kapitalbeteiligungsangeboten nicht vorsorge erkennen: Schon nach heute profitieren können: Da sie ihr Einkom- geltendem Recht könnten Arbeitneh- men komplett für den Lebensunterhalt mer ein Mitarbeiter-Arbeitszeitgutha- benötigen, bleibt ihnen kein Über- ben in Anspruch nehmen, das künftig schuss, den sie in das arbeitgebende vermutlich auch in Altersvorsorgebei- Unternehmen investieren können. Die träge umgewandelt werden kann. Auch Gewerkschaften seien sich deshalb unter den gegebenen Bedingungen wäre darin einig, dass Kapitalbeteiligungen es in Deutschland heute schon möglich, in der Regel nur als Zusatzleistungen sehr viel mehr Beteiligungsmodelle der Arbeitgeber zu realisieren sind. umzusetzen. Besonders skeptisch werden Investiv- Nach Auffassung von Elsholz sind lohn-Modelle gesehen, die einen Teil die grundsätzlichen Probleme bei Ka- des Lohns direkt in Kapitalbeteiligun- pitalbeteiligungen gegenwärtig noch gen umwandeln. Als weiteres Problem nicht zufriedenstellend gelöst – im Un- kommt hinzu, dass Beschäftigte mit terschied zu Belegschaftsaktien und schlechteren Tarifverträgen, in kleine- Modellen der Gewinn- bzw. Erfolgsbe- ren und mittleren Unternehmen sowie 128 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G im Öffentlichen Dienst von den meis- den Gewinnen der Unternehmen ori- ten Beteiligungsmodellen gar nicht entieren. Die IG BCE arbeite zudem profitieren können. schon seit Jahren mit Instrumenten wie Aus Sicht der Arbeitnehmerinnen Einkommens- oder Arbeitszeitkorri- und Arbeitnehmer müssten noch eini- doren als Möglichkeiten der Mitent- ge wichtige Fragen geklärt werden: scheidung und Mitgestaltung. Welche Informationsrechte und Ein- Loritz äußerte Verständnis für die flussmöglichkeiten auf die Geschäfts- gewerkschaftliche Position, die Interes- politik werden mit einer Beteiligung sen aller Arbeitnehmerinnen und Ar- verbunden? Wie kann ich mich gegen beitnehmer vertreten zu wollen. Er gab Insolvenz schützen? Was passiert mit jedoch zu bedenken, dass die Suche meiner Investition nach Beendigung nach der für alle optimalen Maximal- meines Beschäftigungsverhältnisses? lösung am Ende keinem nützt. Wenn Kann ich meine Einlagen notfalls ab- gegenwärtig noch nicht alle Arbeitneh- ziehen? Gilt meine Einlage unter Hartz mer berücksichtigt werden könnten, IV-Bedingungen als verfügbares Ver- dann sollten doch wenigstens die gut mögen oder als geschützte Altersvor- Verdienenden schon heute vom Wohl- sorge? stand profitieren können, der künftig Auch die Gewerkschaften müssten vor allem aus Kapital sowie aus unter- noch einiges klären, bevor gesetzliche nehmerischen und kreativen Leistun- Regelungen getroffen werden können. gen komme. Dazu gehört nach Ansicht von Elsholz, wie in diesem Zusammenhang Tarifverträge gestaltet werden sollten, welche Rahmenbedingungen Kapitalbeteili- Wie können Risiken abgesichert werden? gungen brauchen und welche Mitentscheidungsmöglichkeiten der Arbeit- Dr. Büttner sprach noch einmal einen nehmerschaft eingeräumt werden soll- wesentlichen Problempunkt von Kapi- ten. talbeteiligungen an, die Insolvenzsiche- Die Gewerkschaften seien bereit, in rung: Wie kann die vom Arbeitnehmer Tarifverhandlungen neue Wege einzu- investierte Einlage gegen Verlust gesi- schlagen: So werde schon heute nicht chert werden? nur über Einkommenserhöhungen Zunächst stellte Stiegler klar: Wenn verhandelt, sondern auch über zusätz- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liche Einjahreszahlungen, die sich an über Kapitalbeteiligungen zu Mitun- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 129 ternehmern gemacht werden, dann ist eben nicht an diesem Unternehmen das natürlich auch mit Risiken verbun- beteiligen. den. Die Insolvenzsicherung könnte Lezius plädierte dagegen für eine z.B. über ein Fondsmodell erreicht differenzierte Absicherung von Risiken, werden, in dem die Risiken der einzel- die von der Beteiligungsform abhängen nen Unternehmen breiter verteilt wer- sollte: Mitarbeiterguthaben, Wertgutha- den. In einem solchen Modell hätten ben und Mitarbeiterdarlehen werden die Beschäftigten zwar einen Vermö- (wie die eigentlichen Lohnzahlungen) genstitel, aber keine direkte Unterneh- vorrangig gegen Insolvenz abgesichert. mensbeteiligung. Das wäre nach Stieg- Stille Beteiligungen und Genussrechte lers Auffassung auch deshalb sinnvoll, ohne Mitspracherechte sollten – wie weil viele Unternehmer die Anforde- von der Laumann-Kommission vorge- rungen, die mit jeder direkten Betei- schlagen – zur Hälfte vor Insolvenz ligung verbunden sind (wie z.B. den abgesichert werden, während GmbH-, Quartalsbericht) ablehnen, weil sie be- Genossenschaftsanteile und Aktien als fürchten, ihre unternehmerischen Ent- echtes Risikokapital keinerlei Insol- scheidungen nicht mehr selbstständig venzsicherung unterliegen. treffen zu können. Nach Darstellung von Prof. Loritz Dagegen favorisiert Prof. Loritz ein gibt es auf dem Kapitalmarkt in Deutsch- direktes Beteiligungsmodell: Die Kapi- land bereits einige Modelle zur Absiche- talbeteiligung am Gewinn eines Unter- rung, z.B. Insolvenzschutz- oder Safe- nehmens muss demnach mit der Über- Invest-Modelle. Es wäre in seinen Augen nahme eines gewissen Risikos einher- aber sinnvoll, wenn die staatliche KfW- gehen. Loritz appellierte, Vertrauen in Förderbank oder die Wirtschaftsbanken den Markt zu haben: In einer Markt- ein breit abgesichertes Konzept erstel- wirtschaft sei es nicht möglich, dass der len, wie Mitarbeiterkapital im Unter- Staat den Unternehmen absolute Si- nehmen gegen Insolvenz abgesichert cherheit vor Insolvenz gewährleistet werden könnte. Aus Wettbewerbsgrün- und damit dem Unternehmer seine den ist für ihn jedoch entscheidend, unternehmerische Verantwortung ab- dass Unternehmen und Mitarbeiter die nimmt. Insolvenzschutz kann deshalb Risikoprämie zur Absicherung ihres seiner Ansicht nach nur über den Markt Kapitals selber bezahlen. Bei einer Ei- geregelt werden: Wenn Kapitalbeteili- genkapitalrendite von üblicherweise gung für einen Mitarbeiter ein unzu- zehn bis zwölf Prozent seien Kosten von mutbares Risiko darstellt, darf er sich ein bis drei Prozent für die Absicherung 130 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G durchaus angemessen. Kritisch merkte men einzubinden. Geeignet wären da- er an, dass das „Absicherungssyndrom“ für Fondsmodelle: Arbeitnehmer und eigentlich nur in Deutschland so aus- Arbeitnehmerinnen erhalten z.B. in geprägt sei, während diese Frage in guten Jahren Gewinnbeteiligungen, die anderen europäischen Ländern – und in Fonds angelegt werden, die dann insbesondere in den USA trotz spekta- wiederum – regional gegliedert – sich kulärer Insolvenzen wie z.B. im Fall an Unternehmen beteiligen. Diese in- ENRON – keine so große Rolle spiele. direkte Form der Kapitalbeteiligung könnte nach Stiegler einen Weg eröffnen, die Mittelkonkurrenz mit der Al- Welche Modelle der Mitarbeiterbeteiligung sind umsetzbar, welche nächsten Schritte wären sinnvoll? tersversorgung zu vermeiden und Vermögensbildung mit Altersvorsorge zu verknüpfen. Gemeinsam mit Banken, Sparkassen und den Genossenschaftsbanken könnten regionale Kapitalbe- Dr. Büttner stellte die Frage, weshalb die teiligungsmodelle realisiert Umsetzung der Mitarbeiterbeteiligung die verbriefte, stille Beteiligungen aus- eigentlich so lange dauere, wenn doch geben. Auf diese Weise wäre die Kapi- Konsens darüber bestehe, dass die Be- talbeteiligung nicht mehr auf ein ein- teiligung der Arbeitnehmerinnen und zelnes Unternehmen bezogen und somit Arbeitnehmer am Kapital eines Unter- auch ein gewisser Schutz gegen Insol- nehmens grundsätzlich richtig sei. Die venz eingebaut. Das vom SPD-Partei- pauschale Aussage, die Deutschen seien vorsitzenden Kurt Beck als Minister- immer nur Bedenkenträger, wirke sich präsident von Rheinland-Pfalz initi- letztlich nur kontraproduktiv aus. Ent- ierte Fondsmodell ist für Stiegler ein scheidend sei doch, welche konkreten vielversprechendes Modell, das weiter- Hindernisse einer Umsetzung entge- entwickelt werden sollte, weil es neben genstehen. Welche nächsten Schritte der Lösung des Insolvenzrisikos auch wären also sinnvoll? einen Anreiz für die Beteiligung der Stiegler arbeitet an Beteiligungs- werden, Arbeitgeber enthalte. konzepten, in denen Mitarbeiterbetei- Für Loritz ist die von Stiegler dar- ligung mit Altersversorgung verbunden gestellte Verwendungskonkurrenz von werden kann und die es ermöglichen, Mitteln – insbesondere in Bezug auf die Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes Altersversorgung – kein schlagendes sowie kleiner und mittlerer Unterneh- Argument gegen eine breite Umsetzung P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 131 von direkten Mitarbeiterkapitalbetei- auch Arbeitnehmerinnen und Arbeit- ligungen. Er hält vielmehr die Konzepte nehmer einen Teil ihrer Bezüge wie der Riester- und Rürup-Rente für viel zu einen Teil der Unternehmensgewinne kompliziert und sieht sie mit zahl- als thesaurierten Gewinn im Unter- reichen Mängeln behaftet. Die Schaf- nehmen „belassen“. Der Vorteil wäre fung eines „verständlichen“ Modells nach Loritz, dass das Geld im Unter- von Anfang an wäre erheblich besser nehmen verbleibt und erst bei Aus- gewesen: Auf der einen Seite hätte man zahlung zu einem normalen Ausschüt- eine strikt geregelte Altersversorgung tungsbetrag herausgeht. Die Arbeit- mit staatlich geförderten Einzahlun- nehmer könnten also auf einen Teil gen in private Rentenversicherungen ihres Gehalts verzichten, um ihn sozu- aufbauen sollen, die das ersetzt, was die sagen wie Unternehmensgewinn ste- gesetzliche Rente nicht mehr bieten henzulassen. Der Gesetzgeber könnte kann. Auf der anderen Seite hätte man den Maximalbetrag festlegen, damit die weitere Konkurrenzmodelle zulassen jeweiligen Steuerausfälle kalkulierbar sollen, die auf dem freien Kapitalmarkt sind. Mit diesem leicht umsetzbaren agieren und die der Staat steuerlich Beteiligungsmodell sollte man begin- unterstützt – das müsse nicht unbe- nen, das viele Unternehmer ihren Mit- dingt die „nachgelagerte Besteuerung“15 arbeiterinnen und Mitarbeitern si- sein. cherlich gerne anbieten würden. Loritz würde ein einfaches Modell Loritz plädierte auch für eine steu- bevorzugen, das er im Folgenden skiz- erliche Entlastung von Kapitalbeteili- zierte: Der Unternehmer versteuert gungen: Wenn ein Arbeitnehmer einen 16 etwa zu 30 Teil seines Gehalts in das Unternehmen Prozent, das heißt, es blieben noch 70 investiert, sollte er so gestellt werden, Prozent übrig. Es sollte dem Unterneh- als wenn der Unternehmer selbst Geld mer deshalb ermöglicht werden, dass im Unternehmen belässt: Bei einem thesaurierten Gewinn 15 Das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung hätte im Bereich der Mitarbeiterkapitalbeteiligung u.a. folgende Auswirkungen: Geld, das der Arbeitnehmer ins Unternehmen investiert bzw. dort belässt, müsste erst dann versteuert werden, wenn der Zufluss des Geldes (Gewinnausschüttung oder Rückzahlung) erfolgt. Dadurch sinkt die gegenwärtige Steuerbelastung des Arbeitnehmers und es wird möglich, dass zu einem späteren Auszahlungszeitpunkt ein geringerer Steuersatz gilt (z.B. als Rentner). 16 Thesaurierte Gewinne sind die von einem Unternehmen (Personen-, Aktiengesellschaft) erwirtschafteten Gewinne, die weder ausgegeben noch an die Anteilseigner ausgeschüttet werden, sondern als Rücklagen im Unternehmen verbleiben (z.B. zur Finanzierung von späteren Investitionen). 132 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Steuersatz von 30 Prozent sollten darauf zogen werde, führe das natürlich auch nicht noch zusätzlich 22 Prozent zu geringeren Sozialversicherungsbei- Lohnsteuer (Arbeitgebersteuersatz) be- trägen, die bei rund 40 Prozent der zahlt werden müssen. Es wäre nach investierten Summe liegen. Ein mil- Loritz’ Auffassung also ein entschei- lionenfacher Wegfall dieser Beiträge dender Fortschritt, wenn der Arbeit- würde sicherlich auf die entschiedene nehmer Lohnanteile mit einem nor- Ablehnung der Gesundheitsministerin malen Steuersatz im Unternehmen und des Arbeits- und Sozialministers belassen und auch wieder mit einem treffen. Schließlich müssten die Sozial- „vernünftigen“ Steuersatz herausho- versicherungen ja auf jeden Fall bedient len könnte. Der nächste kleine Schritt werden und die Beitragssätze müssten wäre demnach, den Gewinn-Transfer dann insgesamt steigen. Damit würden vom Unternehmer auf den Arbeitneh- aber diejenigen stärker belastet, die mer steuerfrei zu stellen. nicht an diesem steuersparenden Modell Stiegler bezeichnete den Gedanken der Steuerfreiheit für bestimmte Lohn- teilnehmen können, z.B. Geringverdiener. anteile zunächst als bestechend: dass Loritz erläuterte sein vorgeschla- nicht nur der Arbeitgeber ein thesau- genes Modell noch einmal an einem riertes Kapitalrücklagekonto bilden Beispiel: Angenommen, ein Unterneh- kann, sondern dass es gewissermaßen men hat einen Gewinn von 500.000 auch ein Arbeitnehmer-Kapitalrück- Euro erwirtschaftet und thesauriert lagekonto gibt, das steuerlich genauso davon 200.000 (d.h. dieser Gewinn behandelt wird. Vermutlich würden sich verbleibt im Unternehmen). Nun sollte bei Steuerfreiheit mehr Menschen für der Unternehmer die Möglichkeit ha- Kapitalbeteiligungsmodelle interessie- ben, von diesen 200.000 Euro einen ren, und möglicherweise könnte auch bestimmten Betrag (z.B. 20.000 Euro) der Finanzminister von solch einem als Beteiligung seinen Mitarbeiterin- Modell überzeugt werden – da es ja zu- nen und Mitarbeitern zuzuschreiben. nächst egal sei, ob die Beteiligung auf In diesem Fall hätten weder der Fi- den Unternehmer, seine Verwandten nanzminister noch die Sozialversiche- oder auf seine Belegschaft geschrieben rungen Beitragsausfälle, weil sich am ist. Wenn das investierte Kapital aber zu versteuernden Einkommen der Be- nicht nur vom zu versteuernden Ein- schäftigten nichts ändert. Das Interesse kommen, sondern vom sozialversiche- des Unternehmers könnte sein, durch rungspflichtigen Lohnvolumen abge- zusätzliche Leistungen die Motivation P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 133 und Zufriedenheit seiner Mitarbei- Unternehmergeneration herangewach- terinnen und Mitarbeiter zu fördern sen, die Zugewinne der Arbeitnehme- oder geringere Lohnsteigerungen ver- rinnen und Arbeitnehmer nicht mehr handeln zu müssen. Im Rahmen dieses automatisch als Reduzierung der eige- Konzepts könnten aber auch Tariflohn- nen Gewinne versteht. erhöhungen gestaffelt werden: Wenn Dieser Unternehmertypus, den ein Unternehmer aus thesaurierten Ge- Loritz in seinem Modell voraussetzt, winnen etwas an seine Mitarbeiter ab- kommt nach Ansicht von Stiegler in gibt, könnte man bei einer entspre- der Realität aber eher selten vor: Tat- chenden tarifvertraglichen Öffnungs- sächlich hätten nur wenige Unterneh- klausel – in Einigung mit dem Betriebs- mer erkannt, dass sie durch Mitar- rat – die Lohnerhöhungen z.B. nicht beiterkapitalbeteiligung ein lohnendes auf 3 Prozent, sondern auf 2,5 Prozent Investment machen können, indem sie plus festlegen. Die Beteiligung wäre ja ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbei- freiwillig. tern Anteile am Kapital geben und durch Nur wenn die Arbeitnehmer größe- bessere Produktivität belohnt werden. re Anteile ihres Lohns in ihrem arbeit- Er halte das von Loritz vorgestellte gebenden Unternehmen belassen wür- Modell durchaus für interessant, wenn den, wären Stieglers Bedenken berech- dadurch keine Gehaltsanteile wegfielen, tigt, dass dadurch Sozialversicherungs- sondern das Unternehmen für seine beiträge entfallen. Wenn man diese Beschäftigten zusätzliche Mittel bereit- Kapitalbeteiligungsform als nicht finan- stelle. zierbar für die Sozialversicherungen Lezius forderte, dass Kapitalbeteili- halte, sollte man eben mit einem ge- gungen steuerlich grundsätzlich genau- deckelten Betrag beginnen (Festlegung so behandelt werden sollten wie ande- gewisser maximaler Gehaltsanteile oder re Altersversorgungsmodelle, z.B. die Festbetrag). Sobald dem Arbeitnehmer Riester-Rente oder die betriebliche Al- dieses angelegte Geld ausbezahlt wird, tersversorgung – und zwar mit nachge- müsste er seine normale Kapitalertrag- lagerter Besteuerung. steuer entrichten. Dann erläuterte er sein favorisiertes Loritz zeigte sich davon überzeugt, Modell: Denkbar wäre eine Begren- dass viele Unternehmer ein solches Be- zung auf 1.200 Euro Kapitalbeteiligung teiligungsmodell umsetzen würden, mit nachgelagerter Besteuerung, d.h. weil sie an einer motivierten Belegschaft jeder Arbeitnehmer bzw. jede Arbeit- interessiert seien. Inzwischen sei eine nehmerin könnte freiwillig pro Jahr 134 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G insgesamt 1.200 Euro (monatlich 100 Deshalb bräuchte man die nachgela- Euro) steuerfrei in das arbeitgebende gerte Besteuerung. Zwei Punkte sind Unternehmen investieren. Vom Arbeit- seines Erachtens für die verstärkte Um- geber würde er dann noch einmal setzung von Kapitalbeteiligungen be- monatlich 100 Euro (nach § 19 a Ein- sonders wichtig: die Integration der kommenssteuergesetz) als staatliche Mitarbeiterkapitalbeteiligung in das Förderung dazubekommen, so dass er Betriebsverfassungsgesetz insgesamt 2.400 Euro jährlich im Be- Neustrukturierung der Tarifautonomie, trieb anlegen kann. Nach Einschätzung damit die Betriebspartner – insbeson- von Lezius würden unter diesen Bedin- dere bei betrieblichen Bündnissen – gungen etwa 40 bis 60 Prozent der Ar- mehr Entscheidungsfreiheit erhalten. beitnehmer im Mittelstand, in der Das Konzept der regionalen Fonds hält Großindustrie etwa 30 Prozent mitma- Lezius dagegen für ungeeignet, da die chen – davon anfangs allerdings über- Diskussion über dieses Modell vor etwa wiegend Besserverdienende und kaum zwanzig Jahren schon einmal die breite Geringverdiener. Einführung der Kapitalbeteiligung ver- und eine Lezius betrachtet die gegenwärtige hindert habe. Deshalb solle man nicht steuerliche Benachteiligung von Kapi- wieder den gleichen Fehler begehen, talbeteiligungen noch als großes Pro- sondern betriebliche Modelle fördern blem: Von 100 Euro gingen 60 Prozent und dort ansetzen, wo es sowohl der durch Abzüge weg, nur 40 Prozent Unternehmer als auch der Arbeitneh- könnten im Unternehmen verbleiben. mer will. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 135 Zudem müsse eine breite Öffentlich- abgesichert und entsprechende Model- keitskampagne initiiert werden: Promi- le in Zusammenarbeit mit Politik und nente Politiker sollten sich öffentlich Arbeitgeberschaft gemeinsam entwi- und intensiv für die Mitarbeiterbeteili- ckelt werden. Für Elsholz sind funktio- gung einsetzen und ein wirtschaftlich nierende Absicherungsmechanismen praktikables Modell propagieren. Nur unverzichtbar, damit die Beschäftigten dann könne erreicht werden, dass Ar- bei Kapitalbeteiligungsmodellen durch beitnehmer und Unternehmer gleicher- Arbeitsplatzverlust und finanziellen maßen mitmachen. Verlust nicht zu Doppelverlierern wer- Elsholz wies darauf hin, dass wäh- den. Absicherungen seien in überbe- rend der Entwicklung neuer Konzepte trieblichen Modellen leichter zu errei- nicht vergessen werden sollte, die bereits chen als in einzelbetrieblichen Rege- vorhandenen, in vielen Bereichen schon lungen. Eine Umsetzung von Kapital- gut funktionierenden Modelle (z.B. Ar- beteiligungen ist nach Elsholz nur auf beitnehmer-Aktien) weiter zu fördern, einem Weg praktikabel: Zunächst müs- insbesondere in Bezug auf steuerrecht- sen auf übergeordneter, tarifvertrag- liche und sozialversicherungsrechtliche licher Ebene die Grundlagen geschaffen Aspekte. Auch sollte nicht vergessen werden, die dann anschließend in den werden, dass die Arbeitnehmerinnen Einzelbetrieben umzusetzen sind. und Arbeitnehmer schon eine Menge Ganz entscheidend sei es, dass bei finanzielle Beiträge stemmen müssen Kapitalbeteiligungsmodellen nicht nur und nicht überlastet werden dürfen. einige Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Schließlich hätten sie nur ein bestimm- nehmer mitmachen können, die gegen- tes Einkommen zur Verfügung und wärtig finanziell dazu in der Lage sind. müssten sich auch um ihre Altersver- Die Gewerkschaften müssten sich des- sorgung kümmern. halb für eine ausreichende Einkom- Die Gewerkschaften würden sich im menshöhe engagieren, damit sich Interesse der Arbeitnehmerinnen und langfristig alle Beschäftigten Kapital- Arbeitnehmer dafür einsetzen, dass beteiligung leisten können. Kapitalbeteiligungen tarifvertraglich 136 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Diskussion mit dem Publikum Wie kann die Politik die Umsetzung der Kapitalbeteiligung fördern? nicht alles auf einmal wollen, sondern Kapitalbeteiligung in reduzierter Form starten – ohne Regelungen für den Öffentlichen Dienst und auch ohne • Ein Teilnehmer kritisierte, dass das nachgelagerte Besteuerung. Dabei Thema Mitarbeiterkapitalbeteiligung sollte man auf die bisherigen Erfah- schon seit 30 Jahren erfolglos disku- rungen aufbauen und mit denjeni- tiert werde. Immer wieder würden gen Gewerkschaften und Betriebsrä- entscheidende Akteure mit denselben ten zusammenarbeiten, die diesem Bedenken die Umsetzung verhin- Modell positiv gegenüber stehen. dern. Da die Aktienentwicklung der • Aus dem Publikum kam Kritik an letzten zwanzig Jahre eine jährliche Stieglers Argumentation: Er habe nur Steigerung zwischen acht und zehn in monetären Größen gesprochen Prozent zeige – im Gegensatz zu und sich hinter möglichen Einwän- Lohnsteigerungen von zwei bis drei den von Finanz- und Sozialminister Prozent – sei es höchste Zeit, für die versteckt. Die Politiker sollten nicht Arbeitnehmer mehr Möglichkeiten immer nur auf die Hindernisse hin- zu schaffen, von dieser Entwicklung weisen, sondern stärker für Kapital- zu profitieren: Kapitalbeteiligung sei beteiligungsmodelle werben und eine eine wichtige Form von Teilhabe. Man intensive Aufklärungsarbeit betrei- sollte pragmatisch herangehen und ben. Die Vorteile für die Arbeitneh- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 137 merinnen und Arbeitnehmer seien Ludwig Stiegler wies darauf hin, sich klar herauszustellen und es müsse persönlich schon länger für Kapitalbe- deutlich werden, dass die Beschäf- teiligungen stark engagiert zu haben tigten durch Kapitalbeteiligungen und in Zukunft weiter dafür werben nicht mehr nur Verlierer, sondern zu wollen. Auch die SPD propagiere auch Gewinner der Globalisierung durchaus schon lange Kapitalbeteili- sein könnten, z.B. indem sie am Ka- gungen. Er erinnerte an den Politiker pital, das deutsche Unternehmen in und Unternehmer Philipp Rosenthal, China investieren, beteiligt sind. für den Mitarbeiterbeteiligung der In- • Auch in anderen Wortbeiträgen kam begriff von „Teilhabe am Haben und zum Ausdruck, dass den Beschäftigten Sagen“ gewesen sei. In der SPD würden glaubhaft vermittelt werden müsse, nur noch wenige aus ideologischen dass sie z.B. durch Belegschaftsaktien Gründen Kapitalbeteiligungen grund- einen höheren Profit erzielen können sätzlich ablehnen. als durch Sparen oder eine Geldanla- Er sei aber davon überzeugt, dass ge in einer Lebensversicherung. Die nur sehr wenige Unternehmer so um- Politik habe die Aufgabe, Möglich- sichtig agieren, wie es Hans-Georg Lo- keiten aufzuzeigen und geeignete ritz als Grundlage seiner Modellbe- Instrumente zu liefern – und dann trachtung beschrieben habe. Stiegler sollten die Menschen selbst entschei- warnte davor, die Risiken von Kapital- den. Die guten Ertragszahlen aus den beteiligungen zu vergessen und sich bisherigen Beispielen würden schon nur an überdurchschnittlichen Ge- für sich wirken. Man müsste sich dann winnversprechen zu orientieren. Als aber auch insbesondere in der SPD Fallbeispiel nannte er die Telekom-Aktie, offen dazu bekennen, dass die Kapi- die nach anfänglich großer Euphorie talbeteiligung von Arbeitnehmerin- wegen der zwischenzeitlichen großen nen und Arbeitnehmern etwas grund- Verluste heute eher abschreckend auf sätzlich Positives ist und sich somit Aktionäre wirke und sehr deutlich die auch von dem alten Gegensatz zwi- Gefahren aufzeige. Beteiligungen am schen Arbeiterklasse und Kapital Eigenkapital von Unternehmen wie z.B. verabschieden. So könnten z. B. posi- durch Aktien seien grundsätzlich nicht tive Beispiele propagiert werden, statt nur mit Gewinnchancen, sondern auch wie bisher immer den Absicherungs- mit Verlustrisiken verbunden. Also gedanken in den Vordergrund zu müsse man Vorsicht walten lassen. stellen. 138 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Zudem machte Stiegler darauf auf- ren alle Benachteiligungen sammeln. merksam, dass 90 Prozent der Beschäf- Stiegler wies darauf hin, dass die Sprei- tigten im ländlichen Raum in Klein- zung in den Lebensverhältnissen der und Mittelbetrieben arbeiten, in denen Arbeiter und Angestellten in Deutsch- man keine Aktienoptionen anbieten land schon heute dramatisch ausein- könne. Stiegler war aktiv an der Ausge- andergeht: Zwölf Millionen Menschen staltung der Regelungen für die „kleine leben in prekären Lohnverhältnissen Aktiengesellschaft“ beteiligt, um dem und eine Million Arbeitnehmer erhalten gehobenen Mittelstand die Gründung Hartz IV als Aufstockungsleistung zum einer Aktiengesellschaft zu erleichtern Arbeitslohn, damit sie überhaupt ihren – doch war diese Möglichkeit kaum Lebensunterhalt bestreiten können. angenommen worden. Es sei aber not- Deshalb müsse man immer das Ganze wendig, auch Arbeitnehmerinnen und sehen und auch in der Frage der Ka- Arbeitnehmern in kleineren und mitt- pitalbeteiligung eine einseitige Vertei- leren Betrieben etwas anbieten zu lung der Vergünstigungen vermeiden. können, wenn Kapitalbeteiligungen auf Für Stiegler steht fest, dass weder breiter Front staatlich unterstützt und Unternehmer noch Arbeitnehmer Ka- gefördert werden. Mit zunehmender pitalbeteiligungsmodelle aus idealis- Sorge beobachte er eine Polarisierung tischen Gründen umsetzen wollen. der Belegschaften in Deutschland: So Vermutlich werde letztlich irgendeine kämen die Stammbelegschaften großer Form der nachgelagerten Besteuerung Konzerne – insbesondere in der Auto- notwendig sein, um die erforderliche mobilindustrie – in den Genuss zahlrei- Anreizwirkung zu erzeugen. Vorstellbar cher Privilegien, während Zeitarbeits- wäre auch eine Kombination des von kräfte oder die Mitarbeiter in den zulie- Loritz vorgestellten Modells mit dem fernden Klein- und Mittelbetrieben oft Beck’schen Fondsmodell in Rheinland- viele Nachteile hinsichtlich Gehalt, Zu- Pfalz. Das wäre dann aber eine stille satzleistungen und Arbeitszeit in Kauf Beteiligung, also eine Art gehobenes nehmen müssten. Darlehen, das Risiko trägt und höher Deshalb muss seiner Ansicht nach verzinst wird. sehr genau darauf geachtet werden, Loritz entgegnete, dass bei einer dass Kapitalbeteiligungen nicht auf Kapitalbeteiligung nicht unbedingt eine Spaltung der Arbeitnehmerschaft Risiko verzinst werden müsse. Es gebe hinauslaufen, und dass sich bei den auch typische stille Beteiligungen im einen alle Vorteile und bei den ande- steuerlichen Sinne, wo ein Arbeitneh- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N mer bis zu einem gewissem Maß an den 139 Prozent (bzw. je nach Tarifvertrag) erhält Wertzuwächsen beteiligt ist, aber den- oder am Unternehmen finanziell betei- noch nicht zum Mitunternehmer wird. ligt wird. Die Arbeitnehmerinnen und Nach Stieglers Erfahrung werden Arbeitnehmer, die das möchten, hätten diese Modelle, die die Arbeitnehmer nur dann Kapital im Unternehmen stehen am Wertzuwachs beteiligen, aber nicht und wären entsprechend an den Ge- praktiziert. winnen beteiligt. Allerdings müsste der Loritz gab Stiegler Recht, dass viele Unternehmer dann auch dazu bereit Millionen Menschen in Deutschland sein, eine garantierte Verzinsung pro wirtschaftliche Schwierigkeiten haben. Jahr festzulegen. Solche Modelle wür- Diese könnten aber nicht dadurch ge- den auch schon umgesetzt. Ein großes löst werden, dass den Gutverdienenden Problem im – auch gehobenen – Mit- keine Angebote gemacht werden. Die telstand sei jedoch, dass für die Unter- skizzierten Probleme kleinerer und nehmen der Lohnkostenblock mit allen mittlerer Unternehmen (wie der Auto- zusätzlichen Auswirkungen in wirt- mobilzulieferer) seien nur mit anderen schaftlich guten und schlechten Zeiten Maßnahmen zu beheben. Deutschland gleich bleibt. Wenn man bei den Bes- könnte sich z.B. Luxemburg als Vorbild serverdienenden eine Flexibilität von nehmen, wo es jetzt vielen Menschen zehn Prozent erreichen könnte, wäre der unteren sozialen Schichten besser das schon ein Vorteil. gehe, nachdem sich die Lebenssituation der breiten Masse verbessert habe. Lezius betonte, dass bei der Umsetzung von Kapitalbeteiligungsmodellen Stiegler schlug Loritz vor, dann doch auf eine gleiche Verteilung der Vorteile gemeinsam um einen Mindestlohn von geachtet werden müsse: Vorteile soll- zwölf Euro zu kämpfen – denn das sei ten sowohl für den Unternehmer wie in Luxemburg Realität. auch für den Arbeitnehmer entstehen. Loritz hält die Einführung eines Es könne nicht darum gehen, auf den Mindestlohns aber für den falschen „guten Unternehmer“ zu bauen, son- Weg. Vielmehr hängt für ihn die Frage dern es müsste eben auch mit dem des Lohns eng mit Kapitalbeteiligungs- „normalen Unternehmer“ funktionie- modellen zusammen. So könnte sich ren, der seinen eigenen Vorteil sieht. z.B. ein Unternehmer mit dem Betriebs- Wenn kleine und mittlere Unterneh- rat und den Arbeitnehmern darauf ei- men davon profitieren könnten, dann nigen, dass ein Arbeitnehmer entweder würden viele mitmachen – hier käme eine Lohnerhöhung von fünf bis sechs mit nachgelagerter Besteuerung sicher 140 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G etwas in Gang. Mit dem von Loritz Nach Ansicht von Loritz nimmt die vorgestellten Modell könnte man be- IG BCE aufgrund ihrer Aufgeschlos- ginnen. senheit gegenüber Kapitalbeteiligun- Zeitweise entstehe in der Diskus- gen jedoch eine Sonderrolle unter den sion der falsche Eindruck, so Elsholz, Gewerkschaften ein. Eine ganz andere als wäre in diesem Bereich noch nichts Auffassung vertrete z.B. die IG Metall, getan worden. Tatsächlich würden in die sich in den letzten Jahrzehnten zu Deutschland bereits zahlreiche Kapi- sehr auf Arbeitskampf konzentriert talbeteiligungsmodelle praktiziert, was und zu wenig das Gespräch mit den Loritz in seinem Vortrag auch dargestellt Unternehmern gesucht habe. Und die habe: Immerhin partizipiert heute unterschiedlich erfolgreiche Entwick- schon jeder dreizehnte Arbeitnehmer lung der beiden Branchen hätte inzwi- an Beteiligungsmodellen. Inzwischen schen deutlich gezeigt, dass der Weg der gebe es 600 Betriebe mit Darlehens- IG BCE eindeutig der bessere war. modellen, fast 1.000 Betriebe mit stillen Beteiligungen, über 500 mit indirekten Beteiligungen und ebenfalls 500 mit Genussrechten. Hinzu kämen einige Hundert GmbH-Modelle und die gro- Wie wirkt sich Kapitalbeteiligung auf Neugründungen von Unternehmen aus? ßen Unternehmen mit Aktienprogrammen. Es sei wichtig, die vorhandenen • Aus dem Publikum wurde darauf Ansätze nicht kleinzureden und so zu hingewiesen, dass bei Neugründun- tun, als hätte man bisher nichts getan. gen von Unternehmen oft Studieren- Die Gewerkschaften kämpften aber de beteiligt sind. Wenn ein Grün- dafür, dass Geringverdiener sowie dungsmitglied aussteigt und im Zuge kleinere und mittlere Betriebe bei Be- dessen ein Unternehmen zu bewerten teiligungsmodellen nicht vergessen ist, müssten alle Mitinhaber Steuern werden. Schon heute ginge es bei Tarif- zahlen – und dazu seien die Jung- verhandlungen nicht mehr nur um eine unternehmer in der Regel nicht in prozentuale Erhöhung monatlicher der Lage. Arbeitsentgelte, sondern auch um An- Lezius verwies auf die Fülle verschie- teile an Rentenfonds, einmalige Zu- dener Untersuchungen zu Gruppen- satzzahlungen oder mehr Ausbildungs- gründungen aus der Universität heraus. plätze. Wenn jemand aussteigt, müsse nicht Auch Kapitalbeteiligungen spielten inzwischen eine Rolle. automatisch die gesamte Gesellschaft P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 141 aufgelöst werden. Allerdings sei der dungs- und Wachstumsunternehmen Vertrag so zu gestalten, dass jemand und Venture Capital nicht zureichend aussteigen und ein anderer problemlos ist. einsteigen kann. Auch die Bewertung sei häufig kein großes Problem, da die meisten Unternehmensgründungen mit zwei GmbH-Gesellschaftern und ein paar stillen Beteiligten beginnen. Können Gewinn- und Kapitalbeteiligungsmodelle kombiniert werden? Und bei der stillen Beteiligung als „Nennwert-Beteiligung“ sei keine Be- • Gefragt wurde, ob das von Loritz wertung erforderlich, weil die Mitar- vorgestellte Kapitalbeteiligungsmo- beiterinnen und Mitarbeiter nicht an dell nicht auch mit einem Gewinn- den stillen Reserven beteiligt sind. beteiligungsmodell kombiniert wer- Ludwig Stiegler sieht aber durchaus den könnte, so dass ein flexiblerer ein Bewertungsproblem, solange ein Lohn eingeschlossen ist. Wie könnte Unternehmen nicht an der Börse ge- in einem solchen Fall eine Absiche- handelt wird. Wenn ein Anteilseigner rung erreicht und der Gewinn berech- aussteigt, müsse ermittelt werden, was net werden? Schließlich wolle man sein Anteil wert ist, wenn dieser ausge- als Arbeitnehmer ja nicht nur vom zahlt werden soll (z.B. Stuttgarter Ver- guten Willen des Unternehmers ab- fahren17). Das könnte in manchen hängig sein, weshalb klare Regelungen Fällen tatsächlich zu einem Problem notwendig seien. werden. Deshalb sei geplant, nach der • Auch wurden Zweifel geäußert, dass Unternehmenssteuerreform auch das das von Loritz gezeichnete Bild des Unternehmensbeteiligungsgesetz zu Unternehmers der Realität entspricht. reformieren. Inhaltlich seien sich alle Es sei keineswegs die Regel, dass der grundsätzlich einig, dass das jetzige Un- „Gutmensch“ Unternehmer den Ar- ternehmenssteuerrecht, z.B. mit Dar- beitnehmern gerne etwas von seinen lehen und Verlustvorträgen, für Grün- thesaurierten Gewinnen abgibt. 17 Das Stuttgarter Verfahren dient dazu, den „gemeinen Wert“ von Anteilen an nicht börsennotierten Kapitalgesellschaften zu ermitteln. Diese Methode wird insbesondere bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer angewendet; berücksichtigt werden dabei das Vermögen und die Ertragsaussichten der Kapitalgesellschaft. 142 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Prof. Loritz sieht keinen unüberbrück- wenn diese dann auch mehr leisteten baren Gegensatz zwischen Gewinn- und stärker motiviert seien. Es sei sehr beteiligung und Kapitalbeteiligung. wichtig, die Effektivität der Arbeitneh- Schon heute seien bei einer ganzen merinnen und Arbeitnehmer durch Reihe von Modellen am Kapitalmarkt Motivationsanreize zu steigern – das (auch bei Aktienoptionen) Menschen hätten die meisten Unternehmer er- virtuell am Kapital beteiligt: Einem kannt. Arbeitnehmer wird bestimmtes Kapital zugeschrieben, doch es verbleibt im Unternehmen. Er muss dieses Kapital nicht versteuern, erhält aber entsprechend der Kapitalhöhe eine Gewinnbe- Sollte Mitarbeiterbeteiligung mit Mitbestimmungsrechten verbunden werden? teiligung. Nun stelle sich die Frage, was passiert, wenn ein Arbeitnehmer aus- • Ein Teilnehmer vertrat die Ansicht, scheidet oder dieses Kapital ausgezahlt dass die Position der Gewerkschaften haben möchte. Nach den Erfahrungen bisher zu undifferenziert dargestellt in amerikanischen Unternehmen woll- wurde. Auch wenn es bisher noch ten viele Arbeitnehmerinnen und Ar- keine einheitliche und abschließende beitnehmer das Kapital nach ihrem Position aller Gewerkschaften in Ausscheiden gar nicht haben, weil die dieser Frage gäbe, sei die Praxis und Unternehmen so lukrativ arbeiten, dass Beschlusslage doch recht eindeutig. sie für ihr Geld keine gleich hohe Ver- Demnach würden viele Gewerk- zinsung erzielen schaftsmitglieder ein Add-on unter- könnten; nicht selten kämen die Un- stützen, z.B. eine Erfolgsbeteiligung ternehmen auf Eigenkapitalrenditen zusätzlich zum Tarifeinkommen – was von 15 bis 20 Prozent (auch wenn es auch bereits in vielen Betrieben prak- andere Beispiele wie DaimlerChrysler tiziert werde. Alle Podiumsteilnehmer gäbe). hätten betont, dass sie Kapitalbetei- am Kapitalmarkt Loritz widersprach der Auffassung, ligungen befürworten und es endlich sein Modell setze den „Gutmenschen“ losgehen sollte. Wenn sich alle mehr Unternehmer voraus. Vielmehr seien oder weniger einig darin seien, dass doch alle Arbeitgeber an gut motivierten sich materielle Arbeitnehmerbeteili- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in- gung positiv auf die Motivation und teressiert: Viele Arbeitgeber würden Produktivität auswirkt, dann spräche ihren Arbeitnehmern gern mehr geben, doch nichts gegen zusätzliche Leis- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 143 tungen. Inzwischen hätten aber ver- der Gewerkschaften gerechnet wer- schiedene Studien erwiesen, dass den, da solche Modelle in die falsche nicht Mitarbeiterbeteiligung, Richtung gingen. Schließlich hätten sondern auch gesetzliche Mitbestim- viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit- mung sich sehr positiv auf die Pro- nehmer nur ein begrenztes Budget duktivität eines Unternehmens aus- zur Verfügung, so dass kein Geld für wirke. Deshalb liege es nahe, beides eine Kapitalanlage übrigbleibe. Zu- zu verbinden: Die Mitarbeiter sollten dem sei das „doppelte Risiko“ eine materiell und immateriell stärker Realität und müsse ernst genommen nur beteiligt werden. Erst in dieser Ver- werden. bindung ergäbe sich ein logischer Prof. Loritz kritisierte diese Argumen- Zusammenhang. Wer finanziell betei- tation als viel zu ideologisch. Er habe ligt sei, der wolle auch mitentscheiden ja schon deutlich gesagt, dass Gering- und wissen, in welche Richtung sich verdiener nicht an diesen Modellen das Unternehmen bewegt. Deshalb beteiligt werden dürfen. Bei niedrigem sollte auch die betriebliche Mitbe- Einkommen mache Kapitalbeteiligung stimmung ausgebaut werden. Wenn keinen Sinn. Die Frage der Lohnvaria- materielle Arbeitnehmerbeteiligung bilität stelle sich aber dennoch und mit Investivlohn, variablem Lohn werde auch schon umgesetzt, z.B. in bzw. Lohnflexibilisierung verbunden Form von Arbeitszeitkonten. Unter werden solle, dann müsse mit kriti- Lohnvariabilität dürfe man sich nicht schen Fragen und auch Ablehnung nur vorstellen, dass der Arbeitnehmer 144 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G am Monatsende weniger Geld in der Sobald diese Zusammenarbeit nicht Tasche hat. Das Prinzip sei vielmehr: funktioniere, gehe überhaupt nichts Wenn es in wirtschaftlich schlechten mehr, dann befänden sich die Beteilig- Zeiten weniger Arbeit gibt, dann wird ten nur noch in Einigungsstellenver- etwas weniger Lohn ausbezahlt als in fahren. Auch sei zweifelhaft, ob die guten Zeiten, was aber nicht bedeute, paritätische Mitbestimmung18 immer dass der Arbeitnehmer das Existenz- „ein Segen“ war – er habe sie von Anfang minimum unterschreite. Dass manche an als großen Fehler erachtet – oder sich Unternehmen so geringe Löhne zahlen, dadurch z.B. nicht manchmal auch dass die Beschäftigten nicht mehr davon unfähige Manager nur durch Unterstüt- leben können, sei betrüblich, aber ein zung von Seiten der Arbeitnehmer oder anderes Thema. Auf jeden Fall bringe der Gewerkschaften „halten“ konnten. es große Nachteile mit sich, es tarif- Das solle keinesfalls bedeuten, dass politisch so zu betreiben wie früher z.B. man keine Mitbestimmung bräuchte die IG Metall, die jahrzehntelang Löh- oder positiv Erreichtes rückgängig ma- ne über dem Produktivitätsfortschritt chen sollte – selbst wenn dies manch- erzwungen habe. Es wäre sinnlos, diese mal vorteilhaft wäre, wie er ganz offen Tendenz noch weiter auszubauen. einräumte. Die Frage der Mitbestim- Eindringlich warnte Loritz davor, in mung sollte jedoch in der Diskussion Deutschland wieder eine Diskussion über Kapitalbeteiligung nicht im Fokus über mehr Mitbestimmungsrechte an- stehen, sondern klar davon getrennt zufangen. Sein Standpunkt sei in dieser werden. Die Verknüpfung dieser beiden Frage eindeutig: Die betriebsverfas- Aspekte würde der Sache nicht guttun. sungsrechtlichen Mitbestimmungs- Man sollte an den Realitäten ansetzen, rechte wirkten sich in Unternehmen nur dann könne Mitarbeiterbeteili- nur dann positiv aus, wenn Betriebsrat gung vorangebracht werden. und Arbeitgeber gut zusammenarbeiten. 18 Die paritätische Mitbestimmung wurde 1976 im Mitbestimmungsgesetz für Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Angestellten festgeschrieben: Demnach sind die Aufsichtsräte dieser Unternehmen paritätisch (d.h. zahlenmäßig gleich stark) mit Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu besetzen. Diese Form der Mitbestimmung ist grundsätzlich zu unterscheiden von der betrieblichen Mitbestimmung (Betriebsräte), die im Betriebsverfassungsgesetz geregelt ist. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Was wird in puncto Mitarbeiterbeteiligung in den nächsten zehn Jahren passieren? 145 Stiegler kündigte an, sich dafür einzusetzen, dass die Vision von Michael Lezius Wirklichkeit wird und damit erheblich mehr Arbeitnehme- Lezius geht davon aus, dass in dieser rinnen und Arbeitnehmer an Kapital- Legislaturperiode ein neues Partner- beteiligungsmodellen partizipieren als schafts- und Mitarbeiterbeteiligungs- heute. gesetz verabschiedet wird, das eine Loritz prognostizierte, dass in den „bescheidene steuerliche Verbesserung“ nächsten Jahren betriebliche Beteili- mit sich bringt; in zehn Jahren würden gungen mehr und mehr ausgebaut vermutlich 30 Prozent der Arbeitneh- werden. Daneben werde sich eine Kul- merinnen und Arbeitnehmer eine Er- tur der Mitarbeiterbeteiligung an Un- folgs- und Vermögensbeteiligung in ternehmen entwickeln – sowohl Kapi- deutschen Unternehmen haben (heute talbeteiligungen als auch Gewinnbe- sind es 15 Prozent). teiligungen. Bei Arbeitnehmern, Ge- Auch Elsholz hält diese Größenord- werkschaften und Arbeitgebern werde nung für realistisch. In den nächsten das Bewusstsein dafür wachsen, dass zehn Jahren würden die ausgehandel- der große Teil der Nichtselbstständigen ten Tarifverträge die Kapitalbeteiligung an den wirtschaftlichen Chancen der stärker als früher einschließen. Es wer- Unternehmen beteiligt werden muss. de weiterhin Bereiche geben, in denen Loritz zeigte sich zuversichtlich: Wenn Kapitalbeteiligungen nicht möglich man in Deutschland nun schnell han- sind, insbesondere in kleineren Betrie- delt, könnte bereits in zehn Jahren ein ben. Wahrscheinlich würden wieder gutes Modell verbreitete Realität sein. zunächst die großen Unternehmen Wichtig sei, dass die Unternehmens- profitieren und dann werde man ver- steuerreform auch einen Einstieg zur suchen, den Arbeitnehmerinnen und Mitarbeiterbeteiligung enthalte. Arbeitnehmern in kleinen Unternehmen ebenfalls Kapitalbeteiligungen zu ermöglichen. 146 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G 4 Gesellschaftliche Teilhabe Zukunftskonzepte in der Diskussion – das bedingungslose Grundeinkommen Dr. Angela Borgwardt, Politologin Das Thema Grundeinkommen hat Dieter Althaus (CDU)4, die stellver- Konjunktur1 und ist inzwischen auch tretende Vorsitzende der Partei DIE in den großen politischen Talkshows LINKE, Katja Kipping5, sowie Reinhard des deutschen Fernsehens angekom- Loske, stellvertretender Fraktionsvor- 2 men. Breite öffentliche Aufmerksam- sitzender von Bündnis 90/Die Grünen.6 keit erhielt das Konzept des Unterneh- Aber auch zahlreiche Wissenschaftler 3 mers Götz W. Werner , doch kommen sowie Initiativen gegen Arbeitslosigkeit Befürworter eines bedingungslosen und Armut engagieren sich für ein sol- Grundeinkommens aus unterschied- ches Modell. 2004 wurde ein bundes- lichsten politischen Richtungen, darun- weites, parteiunabhängiges „Netzwerk ter der thüringische Ministerpräsident Grundeinkommen“7 gegründet. 1 2 3 4 5 6 7 Kolja Rudzio: Nie wieder Hartz IV. Schluss mit Arbeitszwang und Sozialbürokratie. Unternehmer und Ökonomen, Rechte und Linke träumen vom Grundeinkommen für alle. Ist das machbar – und wünschenswert?. In: Die Zeit, Nr. 16, 12. April 2007, S. 21–23. Z.B. Revolution: Nie mehr arbeiten! Geld für alle!, ARD-Talkshow „Menschen bei Maischberger“, 2. Mai 2006; Maybrit Illner: Geld fürs Nichtstun – Wie gerecht ist ein Grundeinkommen für alle?, ZDF-Talkshow, 3. Mai 2007. Prof. Dr. Götz Werner, Institut für Entrepreneurship an der Uni Karlsruhe, Vorsitzender der Geschäftsführung der dm-Drogeriekette; vgl. auch Interview von Michael Kröger mit Götz Werner: Wir würden gewaltig reicher werden, Spiegel-Online, 30.11.2005 Dieter Althaus plädiert für ein „Solidarisches Bürgergeld“, das auf Ideen des Direktors des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts und Ökonomieprofessors Thomas Straubhaar beruht; http://www.dalthaus.de/52.html. Katja Kipping und Juso-Chef Björn Böhning: Streitgespräch über das Grundeinkommen, SternOnline, 26.6.2007. Reinhard Loske: Den Sozialstaat vom Kopf auf die Füße stellen. Warum ein Grundeinkommen unserer Gesellschaft guttun würde. In: Die Zeit, Nr. 18, 26. April 2007, S. 34. Das Netzwerk wurde 2004 in Berlin von Wissenschaftlern, Studierenden, Vertretern von Erwerbslosen- und Armutsbewegungen, kirchlichen Verbänden und Mitgliedern verschiedener Parteien und Gewerkschaften gegründet. Es hat sich auf vier Kriterien zur Definition eines bedingungslosen Grundeinkommens verständigt: 1. existenzsichernd (i.S. einer gesellschaftlichen Mindestteilhabe); 2. individueller Rechtsanspruch; 3. keine Bedürftigkeitsprüfung; 4. kein Zwang zur Arbeit, vgl. www. grundeinkommen.de. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 147 Grundgedanke eines bedingungs- das absolute Arbeitsvolumen immer losen Grundeinkommens ist, dass jeder mehr abnimmt, so dass Vollbeschäfti- Bürger und jede Bürgerin einen gesetz- gung nicht mehr erreicht werden kann lichen Anspruch auf finanzielle Grund- und strukturelle Arbeitslosigkeit als absicherung durch den Staat hat – un- Problem bestehen bleibt. Wenn aber abhängig von Bedürftigkeit, Lebensalter das persönliche Einkommen großer oder Arbeitsbereitschaft. Die inhaltli- Bevölkerungsteile nicht mehr dauerhaft che Vielfalt der Konzepte ist jedoch über Erwerbsarbeit sichergestellt werden enorm groß: Nicht nur die Argumente kann, müsse die Existenz durch ein zur Einführung eines Grundeinkom- garantiertes Grundeinkommen abge- mens, sondern auch die Vorstellungen sichert werden.8 Das Recht jedes Men- über die Ausgestaltung des jeweiligen schen auf ein bedingungsloses Grund- Konzepts, seine Finanzierung und die einkommen wurde auch vom Grund- Höhe des Auszahlungsbetrags differie- recht eines menschenwürdigen Lebens ren erheblich. abgeleitet, wobei ein umfassender Um- Fast alle Befürworter des Grundein- bau der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik kommens betonen den großen Zuge- eine demokratische und menschen- winn an Freiheit, die dem Menschen rechtsgemäße Umverteilung der öffent- persönliche Entfaltung und Selbstbe- lichen Gelder einschließen sollte.9 stimmung ermöglichen würde. Einige Die Entkopplung von Einkommen sehen in diesem Modell aber auch eine und Arbeit setzt auch einen neuen notwendige Reaktion auf die Folgen des Arbeitsbegriff voraus: Arbeit ist nicht sozialen und ökonomischen Wandels, mehr auf gewinnbringende Erwerbs- auf die hohe Arbeitslosigkeit und die arbeit beschränkt, sondern wird mit Erosion der sozialen Sicherungssysteme: einer Neubestimmung der gesellschaft- Aufgrund weiterhin wachsender Pro- lich notwendigen und sinnvollen Tä- duktivität sei davon auszugehen, dass tigkeiten verbunden. Viele Vertreter der 8 9 Vgl. die Konzepte der beiden Soziologieprofessoren Georg Vobruba und Ulrich Oevermann. Siehe dazu z. B. die Videoaufzeichnung der Podiumsdiskussion „Bedingungsloses Grundeinkommen als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft. Diskussion über Chancen, Risiken und Folgeprobleme.“ Öffentliche Diskussionsveranstaltung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 14. Juli 2006, http://www.bedingungsloses-grundeinkommen.de. Vgl. das Statement der Professoren für Politikwissenschaft Peter Grottian/Wolf-Dieter Narr/Roland Roth: Es gibt Alternativen zur Repressanda 2010 (Papier des Komitees für Grundrechte, Berlin 2003), www.sozialforum-berlin.de. 148 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Grundeinkommensidee sehen im Weg- Zu unterscheiden ist dabei zwischen fall des Zwangs zur Erwerbsarbeit die Reformansätzen, die das bedingungslose Chance, dass sich die Menschen dann Grundeinkommen in das bestehende gesellschaftlich nützlichen Aufgaben Sozialversicherungssystem integrieren zuwenden können, die sie auch selbst möchten, und radikaleren Konzepten, für wichtig halten. Es werde dann mehr die sozialpolitisch auf einen komplet- Arbeit im sozialen Bereich, bei Erzie- ten Systemwechsel zielen, indem das hung und Pflege, im Kunst-, Kultur- und Grundeinkommen alle staatlichen So- Bildungssektor geleistet und zudem zialleistungen ersetzen soll. Auch die würde sich die politische Partizipation Finanzierungsmodelle sind sehr unter- erhöhen. Das damit verbundene Men- schiedlich: Sie reichen von einer Ge- schenbild basiert auf der Annahme, dass genfinanzierung durch die eingesparten die Menschen auch ohne Erwerbszwang Kosten in der Sozialverwaltung über arbeiten und für das Gemeinwesen tätig den Wegfall der bisherigen Sozialleis- sein wollen. tungen bis zu sehr verschiedenen Steu- Den meisten Konzepten eines be- ermodellen, die mit Vorschlägen der dingungslosen Grundeinkommens liegt Vereinfachung und Neuordnung des ein gewandeltes Verständnis von der Steuersystems einhergehen.10 Rolle des Staates zugrunde: Der Staat Nicht nur die Befürworter des be- soll als neutrale Instanz die Verteilung dingungslosen Grundeinkommens sind des Vorhandenen übernehmen, um die vielfältig und zahlreich, sondern auch Existenzsicherung der Menschen sicher- die Kritiker. Ein großer Teil hält ein zustellen – und nicht mehr, wie es in solches Modell schlichtweg für unfi- dieser Perspektive der gegenwärtige nanzierbar. Andere haben errechnet, Sozialstaat tut, seine Bürger umfassend dass mit einer soliden Finanzierung kontrollieren und in einem entwür- lediglich ein Grundeinkommen mög- digenden Verfahren Almosen an die lich wäre, dessen Höhe beim jetzigen nachweisbar Bedürftigen verteilen. Hartz IV-Niveau oder sogar deutlich darunter liegen würde.11 10 So ist im radikalen Konzept des Unternehmers Götz W. Werner vorgesehen, im Gegenzug zum Grundeinkommen nicht nur alle Sozialleistungen abzuschaffen, sondern auch sämtliche heutigen Steuerarten durch eine „Konsumsteuer“ von etwa 50 Prozent zu ersetzen, also Waren und Dienstleistungen mit einem hohen Steuersatz zu belegen. 11 Dieser Einwand wird häufig gegen das von Dieter Althaus vorgestellte Modell des „Solidarischen Bürgergelds“ vorgebracht. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 149 Einige verweisen auch darauf, dass Bundesminister für Arbeit und Sozial- ein bedingungsloses Grundeinkom- ordnung, im Konzept des Bürgergelds men sich letztlich als staatlich finan- eine Abschaffung des leistungsgerech- zierte, flächendeckende Lohnsubven- ten Sozialstaates zugunsten eines nivel- tion auswirken könne, was zu tenden- lierenden „Fürsorgestaates“: Das Modell ziell sinkenden Erwerbseinkommen sei ungerecht, weil es Leistungsschwa- führe. Unternehmer würden dieses che und -starke nach schematischem Modell häufig nur deshalb propagieren, Muster gleich behandle, und führe zu- um die Kosten der Ware Arbeitskraft dem aufgrund mangelnder Arbeits- und (Löhne und Sozialversicherungsbeiträ- Leistungsanreize dazu, dass die Men- ge) drastisch senken und ihre Kapital- schen weniger oder überhaupt nicht 12 renditen steigern zu können. mehr arbeiten würden.13 Auch der haus- Für viele Kritiker wäre die Einfüh- haltspolitische Sprecher der SPD-Frak- rung eines bedingungslosen Grundein- tion, Carsten Schneider, hält das Grund- kommens aber auch aus Gründen ihres einkommen für „unfinanzierbar, kaum Verständnisses von Staat und Gesell- umsetzbar – und zutiefst unsozial“.14 schaft prinzipiell nicht wünschenswert: Aufgabe des Staates sei es nicht, jedem Die Rechts- und Gesellschaftsordnung Bürger ein Grundgehalt zu zahlen und basiere auf dem Grundprinzip von sich dann aus der Verantwortung zu Geben und Nehmen, auf einer Verbin- ziehen, sondern er müsse als „vorsor- dung von Rechten und Pflichten, was gender Sozialstaat“ die Familien-, Bil- durch ein Recht auf Grundeinkommen dungs-, Arbeitsmarkt- und Wirtschafts- ohne Gegenleistung unterhöhlt wer- politik so intelligent miteinander ver- den würde. Der Staat würde zudem aus zahnen, dass darüber soziale Gerech- seiner beschäftigungspolitischen Ver- tigkeit hergestellt werden kann. antwortung entlassen. Einige Kritiker des Konzepts wider- Auch diese Kritik kommt aus den sprechen auch der Prognose, dass das Reihen verschiedener Parteien. So sieht Erwerbsarbeitsvolumen weiterhin stetig Norbert Blüm (CDU), der ehemalige abnehmen wird und Vollbeschäftigung 12 So z.B. der Professor für Sozialwissenschaften Rainer Roth in seinem Buch: Zur Kritik eines bedingungslosen Grundeinkommens, Frankfurt a. M. 2006. 13 Vgl. Norbert Blüm: Wahnsinn mit Methode. Ein Grundeinkommen für alle ist ungerecht und bläht den Staat auf. In: Die Zeit Nr. 17, 19. April 2007, S. 28. 14 Carsten Schneider: Grundeinkommen – ein gefährlicher Traum. In: Spiegel Online, 22.4.2007; http:// www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,478741,00.html. 150 nicht mehr erreicht werden kann. Viel- F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G gement steigt, je höher das Bildungs- mehr würde durch die Folgen des de- niveau und die berufliche Position, je mografischen Wandels – durch den besser die soziale Integration eines Men- Bevölkerungsrückgang und die Alterung schen ist.15 der Gesellschaft – mittelfristig ein De- Befürworter und Kritiker sind sich fizit an Arbeitskräften entstehen, insbe- aber in einem Punkt einig – letztlich sondere an Fachkräften in bestimmten bleibt es Spekulation, wie sich die Men- Branchen und Berufen. Zusammen mit schen nach Einführung eines bedin- einer geeigneten Bildungs-, Arbeits- gungslosen Einkommens verhalten markt- und Sozialpolitik könne die werden: Wie entwickeln sich Persön- strukturelle Arbeitslosigkeit somit auf lichkeit und Motivation der Menschen, längere Sicht überwunden werden. wenn der gewohnte Erwerbszwang Auch bestehen große Zweifel, ob verschwunden ist? Würden sie dann sich die Bürgerinnen und Bürger mit noch in volkswirtschaftlich ausreichen- einem staatlichen Grundeinkommen dem Umfang arbeiten und die zum tatsächlich mehr politisch oder sozial Erhalt der Gesellschaft notwendigen engagieren würden. So haben die Er- Werte schaffen? Droht dann womög- gebnisse des Freiwilligensurveys ge- lich nicht mehr eine Arbeitsgesellschaft zeigt, dass sich Erwerbstätige generell ohne Arbeit, sondern eine Freizeitge- deutlich mehr sozial engagieren als sellschaft, der die Berufstätigen ausge- Arbeitslose: Die Bereitschaft zum Enga- hen? 15 Vgl. Thomas Gensicke/Sibylle Picot/Sabine Geiß: Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004. Repräsentative Erhebung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. TNS Infratest Sozialforschung München 2006, Wiesbaden 2006. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 151 Sozial und gerecht!? Bedingungsloses Grundeinkommen, Bürgergeld und Grundsicherung in der Debatte Für eine bedarfsorientierte Grundsicherung Rolf Stöckel, MdB Sprecher der AG Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration der SPD-Bundestagsfraktion Ich freue mich, hier für die Arbeitsgrup- aber auch in anderen Arbeitsgruppen, pe Verteilungsgerechtigkeit und soziale die mit Themen wie Armutsbekämp- Integration in der SPD-Bundestagsfrak- fung, Schaffung gleicher Lebenschan- tion einige einführende Worte sprechen cen und vor allem sozialer Integration zu können. Es ist ein langer Titel, aber befasst sind. Unsere Aufgabe ist es, die- ich glaube, dass er inhaltlich eben genau se vielfältige Arbeit in den verschiede- ein Spannungsverhältnis – nämlich das nen Bereichen mit Fragen der Vertei- zwischen Verteilungsgerechtigkeit und lungsgerechtigkeit und der sozialen sozialer Integration – bezeichnet. Früher Integration zu begleiten: Wie soll un- hieß diese Arbeitsgruppe in der Bun- sere Gesellschaft zukünftig aussehen? destagsfraktion AG Armut. Wie können die Armutsrisiken mini- Die Fachpolitikerinnen und Fach- miert werden? Wie können wir bessere politiker unserer Fraktion arbeiten auf Lebenschancen für alle, aber insbeson- verschiedenen Gebieten: im Gesund- dere für die benachteiligten Gruppen heitsausschuss, in der Bildungspolitik, schaffen? im Bereich Bauen, Wohnen, Städtepla- Die SPD favorisiert bereits seit vielen nung, im Bereich Arbeit und Soziales, Jahren – schon in der Oppositionszeit 152 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G unter Helmut Kohl – das Grundsiche- leider mit sich, dass die Forschung in rungskonzept. Und in ihren fast zehn diesen Bereichen noch nicht so quali- Jahren Regierungsverantwortung hat fiziert ist, wie wir uns das in der SPD- sie viele wichtige Schritte getan, um Fraktion vorstellen. Wir arbeiten ständig diesem Ziel näherzukommen, z.B. durch an Verbesserungen und ich glaube, dass eine bedarfsabhängige Grundsicherung, der Dritte Armuts- und Reichtumsbe- aber auch durch eine Erhöhung des richt einen qualitativen Fortschritt zu Steuerfreibetrages und eine Reduzie- den ersten beiden Berichten darstellen rung der Steuereingangssätze. Das alles wird. hängt miteinander zusammen. Wenn Sie wissen, dass aktuell eine Debatte wir heute über Grundsicherung dis- über Kinderarmut geführt wird, die sich kutieren, sprechen wir in der Regel über in der Regel aber auf das Thema „Hartz soziale Transferleistungen – früher So- IV“ und die Frage der Höhe der Regel- zialhilfe, heute überwiegend Arbeits- sätze beschränkt. In unserer Arbeits- losengeld II –, aber es sind damit viele gruppe haben wir uns deshalb selbst die andere Fragen verbunden, wie z.B. Aufgabe gestellt, über Armutslagen zu Pfändungsgrenzen, die wiederum mit sprechen, die nicht nur vom finanziel- dem steuerfreien Existenzminimum len Einkommen abhängen. Gerade bei zusammenhängen. der Frage der Kinderarmut ist es so, dass Im Ersten und Zweiten Armuts- und die Kinder nicht direkt Geld vom Staat Reichtumsbericht der Bundesregierung, bekommen. Vielmehr müssen sie in den die Sozialdemokraten als kontinu- sehr unterschiedlichen Lebenslagen ierliche Einrichtung durchgesetzt ha- hoffen, dass ihre Eltern die finanzielle ben, ist die soziale und wirtschaftliche Verteilung auch im Sinne ihrer Kinder Entwicklung in den letzten Jahren un- organisieren. Das gelingt nicht immer. ter der Kohl-Regierung, aber auch die Deshalb ist es umso wichtiger, das The- ersten Jahre der rot-grünen Regierungs- ma Armut weiter zu fassen, als das in koalition beschrieben worden. Wir er- der Regel über finanzielle Leistungen, warten 2008 den nächsten Armuts- und über Einkommensgrenzen oder die Reichtumsbericht, der uns über die Höhe der staatlichen Transferleistungen Entwicklungen der Einkommen, aber passiert. Die Armutslagen in unserer auch der Armuts- und Reichtumslagen Gesellschaft gehen weit über diese As- in diesem Land Aufschluss geben soll. pekte hinaus. Diese Form der Berichterstattung gibt In meinem früher ausgeübten Beruf es erst seit relativ kurzer Zeit. Das bringt als Sozialarbeiter war ich von Mitte der P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 153 80er bis Ende der 90er Jahre auch in können. Uns fehlt schlichtweg die Mög- der Schuldenberatung tätig. Schon lichkeit einer genauen Messung. Wir damals war die Entwicklung der über- sind der Meinung, dass die vorhande- schuldeten Haushalte in der Bundes- nen Grundsicherungssysteme, die na- republik fortschreitend. Heute gibt es türlich ausbau- und entwicklungsfähig in Deutschland etwa 3 Millionen über- sind, absolute Armut verhindern sollen. schuldete Haushalte – eine hohe Zahl. Das tun sie auch. Sie sollen ebenfalls Dabei handelt es sich keineswegs nur Armutsrisiken mindern, wozu viel mehr um Langzeitarbeitslose bzw. ALG-II- gehört, als nur die Höhe der Grundsi- Empfänger. Schon bei meiner damaligen cherung festzulegen. Tätigkeit stellte ich fest, dass nur etwa Deshalb ist es gut, dass wir heute ein Drittel der armen Haushalte von darüber diskutieren, wie eine zukünftige Arbeitslosigkeit betroffen war. Auch Grundsicherung aussehen könnte. Es heute haben ganz viele Arbeitnehme- wurden ja bereits verschiedene Model- rinnen und Arbeitnehmer zwar ein le eines bedingungslosen Grundein- Einkommen, müssen aufgrund nied- kommens entwickelt, darunter befinden riger Löhne aber dennoch an der Pfän- sich auch Vorschläge aus den Parteien dungsgrenze leben. Zudem gibt es Er- – selbst der CDU und der FDP – sowie werbstätige, die ein durchschnittliches von den Gewerkschaften und den Einkommen erzielen, aber aufgrund Wirtschaftsverbänden. Und es gibt na- von diversen Verpflichtungen – zum türlich aus der Wissenschaft jede Men- Beispiel Hypotheken für ein Eigenheim ge Anregungen und Kommentare zu oder Ratenzahlungen für ein Auto – diesem Thema. Ein bedingungsloses faktisch nur über ein Einkommen ver- Grundeinkommen scheint also durch- fügen können, das etwa in der Höhe aus eine gewisse Attraktivität zu ha- des ALG II liegt. In Deutschland leben ben. auch Menschen, die sich hier illegal Wir favorisieren ein Modell der aufhalten und die wir nicht erreichen Grundsicherung, das bedarfsabhängig bzw. nicht einmal statistisch erfassen ist – aber möglichst auch Bedarfe abde- können, weil sie sich naturgemäß eben ckend und befriedigend sein soll. Das nicht über die Beantragung staatlicher ist nicht immer einfach. Denn je indi- Transferleistungen bemerkbar machen. vidueller man die Bedarfe befriedigen Die Zahl der armen Menschen in will, umso größer ist die Gefahr, dass Deutschland ist also sehr viel höher als der bürokratische Aufwand übertrieben jene Zahl, die wir definitiv belegen ansteigt. Der Kombilohn ist ein Modell, 154 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G das gegenwärtig von einer Mehrheit in nur dann auf Dauer zukunftsfähig und der Union befürwortet und auch schon nachhaltig gestaltet werden kann, wenn umgesetzt wird – zumindest, was die wir auch Regelungen über ein Min- Etikettierung bestimmter Maßnahmen desteinkommen, über einen Mindest- angeht. Mit dem ALG II wurde faktisch lohn einführen. Ansonsten erweisen ein flächendeckender Kombilohn ein- sich solche Modelle als Fass ohne Boden, geführt. Diese Maßnahme hilft nicht als eine Einladung an Arbeitgeber, die- nur in bestimmten Fällen, Armut zu se staatlichen Transferleistungen in vermeiden. Man sollte auch offen da- ihrem Sinne zur Profitmaximierung zu rüber reden, dass manche Arbeitgeber missbrauchen. – betrachtet man etwa die Bereiche Aus diesem Grund ist es wichtig, Nahrungsmittel oder Gaststätten – die- dass wir als Arbeitsgruppe Verteilungs- se Möglichkeit dazu nutzen, um eigene gerechtigkeit und soziale Integration Kosten zu senken bzw. Löhne zu drü- diese beiden Fragen stellen, wenn es um cken. Deshalb sind wir der Meinung, Modelle der Grundsicherung geht: Ist dass ein Grundsicherungssystem für das Modell verteilungsgerecht? Wirkt erwerbsfähige Personen in Deutschland es sozial integrativ? P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 155 Grundeinkommen und Gerechtigkeit – Ein Plädoyer für mehr soziale Demokratie Prof. Dr. Michael Opielka Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule Jena Im Folgenden werde ich einige kurso- leicht besser nicht entscheide, nicht rische Überlegungen anstellen, die Ih- einmal virtuell, genauso wenig, wie ich nen verständlich machen sollen, warum entscheiden darf, wer sich an Wahlen ich seit mehr als zwei Jahrzehnten, trotz beteiligen kann. wiederkehrender Zweifel, noch immer Ich werde zu drei Dimensionen der Befürworter eines Grundeinkommens Idee des Grundeinkommens sprechen: bin. Die Zweifel haben einen schlichten • zur gesellschaftspolitischen, Grund: Ich kenne Menschen, denen ich • zur ökonomischen und spontan kein Grundeinkommen gönne. • zur sozialpolitischen Dimension. Doch etwas Nachdenken belehrt mich Zunächst zur gesellschaftspolitischen dann stets darüber, dass ich das viel- Dimension. Gesellschaftliche Formationen und Leitideen Gesellschaftliche Formationen Politische Philosophien Steuerungsideen Weltgesellschaft Garantismus Menschenrechte Sozialstaat Sozialdemokratie Staat Kapitalismus Liberalismus Markt Feudalismus Konservativismus Familie 156 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G In dem Schaubild habe ich eine und politische Philosophien auf den Übersicht der Abfolge von vier gesell- Sachverhalt der Globalisierung, auf die schaftlichen Formationen erstellt, de- Formation einer Weltgesellschaft ein- nen ich die jeweils dominierenden gehen können und sollen. Ich verwende politischen Philosophien und Steue- dafür den Begriff „Garantismus“ und rungsideen zuordne. Das Modell ist vertrete zusammen mit einigen anderen vereinfachend, kann aber zur Struktu- Kollegen die Auffassung, dass die So- rierung und zur Beantwortung der zialpolitik der Zukunft stark von men- Frage hilfreich sein, worin die histo- schenrechtlichen Erwägungen geprägt rische Bedeutung der Grundeinkom- sein wird – aus einer ganzen Reihe von mensidee liegen könnte. Gründen, die ich hier nicht im Einzel- Die bis zum 18. Jahrhundert domi- nen darstellen kann. Für diese Behaup- nante Formation des Feudalismus war tung sprechen aber einige Überlegun- von der Steuerungsidee der Familie gen.16 geprägt. Konservative politische Philo- Eine wichtige Frage ist zunächst: Wie sophien fokussieren daher denkend sind eigentlich die Erwerbsarbeitsgesell- auch heute auf Familie und Gemein- schaft und der Sozialstaat gegenwärtig schaft. Das 19. Jahrhundert wurde vom zu verstehen? sich durchsetzenden Kapitalismus ge- Eine mögliche Antwort finden wir zeichnet, der Markt ist seine Steue- bei dem französischen Soziologen Ro- rungsidee, liberale Philosophien sehen bert Castel. Er hat in seinem Buch „Die in ihm ihr Steuerungscredo. Der So- Stärkung des Sozialen“17 die These auf- ziologe Ralf Dahrendorf hat das 20. gestellt, dass die Erwerbsarbeitsgesell- Jahrhundert als „sozialdemokratisches schaft fortbestehen wird, dass die da- Jahrhundert“ bezeichnet. Der Sozial- raus resultierenden Ansprüche auf das staat ist dessen Formation, der Staat die soziale Eigentum – die über den lohn- Steuerungsidee, bisweilen Steuerungs- arbeitszentrierten Sozialstaat vermittelt utopie. Die Frage ist nun, ob es für das sind – ein Eigentum zur Existenzsi- 21. Jahrhundert auch eine Signatur gibt, cherung bieten und damit in einer ge- die deutlich macht, wie Sozialpolitik wissen Weise eine „Gesellschaft der 16 Ausführlicher: Vgl. Michael Opielka: Werte im Wohlfahrtsstaat. Soziologische Analyse politischer Kultur, Wiesbaden 2008 (i.E.). 17 Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 157 Ähnlichen“ bilden können. Eine Über- einkommens über den Sozialstaat be- legung, die meines Erachtens sehr ernst ziehen. Das ist nicht wenig. Der Wohl- zu nehmen ist. fahrtsstaat trägt offensichtlich dazu bei, Die Frage ist aber, ob diese – opti- dass ein immer größerer Anteil der Be- mistische – Annahme über das Fort- völkerung von staatlichen Transferleis- bestehen des lohnarbeitszentrierten tungen abhängig ist – und gerade nicht Sozialstaats nicht unter einem anderen weniger, wie es viele optimistische Den- Gesichtspunkt doch wieder kritisch zu ker der oben skizzierten Analyserich- werten bleibt. Hier beziehe ich mich tung hoffen. Sie gehen ja davon aus, auf Hans-Peter Müller, der in seinem dass der Anteil der „Versorgungsklassen“ Aufsatz „Zur Zukunft der Klassengesell- immer kleiner wird. 18 Max Webers Überlegungen Meines Erachtens handelt es sich zur Klassengesellschaft aktualisiert hat dabei um eine ganz grundsätzliche ge- und zu einem beachtlichen Befund sellschaftspolitische Frage, bei der man kam. Er unterscheidet drei große Klas- Position beziehen muss. Wie steht man sen in einer Gesellschaft: Die „Besitz- zu einem Sachverhalt, der existiert? klassen“ bilden die Vermögenden und Sieht man es wie Hegel – „Alles Wirkli- die kleine Gruppe der Spitzeneinkom- che ist vernünftig, alles Vernünftige ist mensbezieher, die „Erwerbsklassen“ die wirklich?“ Diese Auffassung teilen vie- Unternehmer und Arbeitnehmer – mit- le Menschen nicht. Wenn ihnen die hin die Statusgruppen, die man früher Wirklichkeit nicht passt, suchen sie sich als alten und neuen Mittelstand be- eine andere Wirklichkeit. Ich halte das zeichnet hat –, und am unteren Ende für keine gute Strategie. Das zeigt sich befinden sich die „Versorgungsklassen“. an den neuesten Befunden über die Letztere umfassen all jene Menschen, subjektive Einschätzung der Bevölke- deren Lebenschancen eben gerade nicht rung zu Aufstiegsmobilität und Auf- primär durch den Arbeitsmarkt, son- stiegsorientierung. Sie sehen hier neu- dern durch den Sozialstaat geprägt sind ere Ergebnisse aus dem Datenreport des und die Transfereinkommen beziehen. Statistischen Bundesamtes auf die Fra- schaft“ Ich habe überschlägig berechnet, dass etwa 40 Prozent der Bevölkerung ge, zu welcher sozialen Schicht sich die Bevölkerung selbst zuordnet. mehr als die Hälfte ihres Haushalts- 18 Hans-Peter Müller: Zur Zukunft der Klassengesellschaft, in: Merkur, Nr. 695, März 2007. 158 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Subjektive Schichteinstufung 1993, 2002 und 2004 1993 2002 2004 Ostdeutschland Obere Mittel-, Oberschicht 2 7 3 Mittelschicht 40 51 39 Arbeiterschicht 59 42 57 Obere Mittel-, Oberschicht 14 14 10 Mittelschicht 58 61 54 Arbeiterschicht 29 25 37 Westdeutschland Quelle: Statistisches Bundesamt, Datenreport 2004, S. 612 und Datenreport 2006, S. 594. Diese Zahlen bergen eine Dramatik. schen seitdem immer stärker. Es domi- Bis zum Jahr 2002 ist bei der subjek- niert nun nicht mehr das subjektive tiven Schichteinstufung der Bevölke- Erleben einer Aufwärtsmobilität, son- rung eine kontinuierliche Aufwärtsbe- dern eine stark empfundene Gefahr des wegung festzustellen. Im Jahr 2004 Abrutschens – diese Entwicklung sollte zeigt sich plötzlich ein dramatischer man ernst nehmen, denn es geht um Einbruch: Die subjektive Schichtein- fundamentale Fragen der gesellschaft- stufung fällt nun deutlich geringer aus. lichen Integration. Immer mehr Men- Doch was ist zwischen 2002 und 2004 schen haben das Gefühl, dass sie nicht passiert? Ungefähr in dieser Zeit gab es mehr in die Gesellschaft integriert eine gesellschaftspolitische Dynamik werden. Sozialpsychologisch ist dieses – mit dem Höhepunkt der „Agenda Phänomen von größter Bedeutung. 2010“ der damals rot-grünen Bundes- Denn wenn man Deutschland und regierung –, die auch durch die Medien Amerika in Bezug auf die Armutspolitik und die Meinungselite in Deutschland vergleicht, dann sind die objektiven induziert wurde und deutlich machte, Aufstiegschancen in Amerika zwar dass das ‚Ende der Fahnenstange’ er- schlechter, aber die subjektiven Auf- reicht sei. So empfinden es die Men- stiegserwartungen größer. Die Folge P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 159 ist: Je höher die Aufstiegserwartungen, Das eindrucksvollste Ergebnis er- desto mehr investieren die Menschen brachte folgende Frage: Sind die wirt- in Bildung, vor allem für die nächste schaftlichen Verhältnisse in Deutsch- Generation, und desto größer ist ihre land – was die Menschen besitzen und Risikobereitschaft. was sie verdienen – im Großen und Warum das so ist, zeigen auch die Ganzen gerecht oder nicht? Von den Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann- Mandatsträgern sagten 60 Prozent, sie Stiftung, die auf einer Repräsentativ- seien gerecht, 28 Prozent meinten, sie befragung der wahlberechtigten Bevöl- seien nicht gerecht. Bei der Bevölke- kerung zum Thema soziale Gerechtig- rung zeigt sich ein ganz anderes Bild: keit beruht. Ein repräsentatives Sample 28 Prozent halten die Verhältnisse für der deutschen Parlamentarier auf Lan- gerecht, 56 Prozent für nicht gerecht. Diese Diskrepanz ist Ausdruck des- des-, Bundes- und Europaebene wurde zum gleichen Thema befragt. sen, dass die Bevölkerung und die poli- Einschätzung der Verteilungsgerechtigkeit durch Mandatsträger und Bevölkerung im Vergleich: Mandatsträger sind ungleich stärker von einer gerechten Verteilung überzeugt Frage: „Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse bei uns in Deutschland – ich meine, was die Menschen besitzen und was sie verdienen – im Großen und Ganzen gerecht oder nicht gerecht? 28% Gerecht 60% 56% Nicht gerecht Unentschieden 28% 12% 16% Mandatsträger Bevölkerung ab 16 Jahre (Okt./Nov. 2006) (Februar 2006) Quelle: Robert B. Vehrkamp/Andreas Kleinsteuber: Soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter deutschen Parlamentariern, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2006, S. 6. 160 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G tische Elite in ihrer Einschätzung der ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne gegenwärtigen Situation nicht über- Gegenleistung individuell ausgezahlt einstimmen. Wenn die Bürgerinnen wird. So hat es z.B. der belgische Philo- und Bürger das Gefühl haben, sie wer- soph Philippe Van Parijs beschrieben; den von den Eliten nicht mehr ver- er ist Mitbegründer des Basic Income treten, dann besteht die Gefahr, dass European Network (BIEN). Man kann populistische Kräfte diese Unzufrieden- die Definition auch weiter fassen: Das heit für sich nutzen. Diese Wirklichkeit Grundeinkommen ist ein bedingungs- sollte man wahrnehmen und daraus loses soziales Grundrecht, das die poli- lernen. tische Teilhabe in einer Demokratie um Ich wende mich nun dem Grund- die Teilhabe am Warenkonsum er- einkommen zu. Die Befürworter eines weitert. Es ist ein primäres Einkom- Grundeinkommens vertreten eher eine men, keine subsidiäre Hilfeleistung Weltsicht, die sich an Hölderlin orien- des Staates. tiert: „Wo Gefahr ist, wächst das Ret- Nun könnten Kritiker sagen, dass es tende auch.“ Aber ist ein Grundeinkom- sozialpolitisch doch nicht nur um rei- men tatsächlich so eine Art Rettendes? nen Warenkonsum gehen könne. Ich Trägt diese Idee wirklich eine neue Zeit empfehle bei diesem Argument gerne, in sich? Ich meine: Ja. Ich habe das doch einmal zu beurteilen, wie viel von Grundeinkommen mit dem Begriff der Kleidung und Nahrung, die wir „garantistisch“ verknüpft und gehe tagtäglich benötigen, von uns selbst davon aus, dass es nicht ein Ersatz, son- hergestellt wurde – das ist nicht sehr dern eine dynamische, evolutionäre viel. Denn wir leben jenseits aller Sub- Weiterentwicklung des Sozialstaats dar- sistenzökonomien und sind in unserer stellt. Die Begriffe Grundeinkommen Gesellschaft vollständig vom Waren- und Bürgergeld verwende ich im Üb- kreislauf abhängig. rigen synonym, auch weil sie in der Das ist das Neue, das spätestens mit politischen Diskussion nicht mehr der dramatischen Transformation der unterschieden werden. Gesellschaft weg vom primären Sektor Es gibt verschiedene Definitionen der Landwirtschaft, hin zu einer In- des Grundeinkommens. Weitgehender dustrie- und vor allem Dienstleistungs- Konsens herrscht bei der Auffassung, ökonomie der Fall ist. Wir haben seit- dass es sich dabei um ein Einkommen dem auch andere Anforderungen an handelt, das in einem politischen Ge- Verteilungssysteme. Teilhabe am öko- meinwesen an alle seine Mitglieder nomischen Verteilungskreislauf ist Be- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 161 standteil einer grundrechtlich ver- kann, vom Ergebnis identisch, wenn bürgten Existenz. Ein Mensch kann in das Grundeinkommen über eine Ein- unserer Gesellschaft ohne Geld gar nicht kommensteuer finanziert wird. Sie sind existieren. aber nicht gleich, wenn sie über Ver- Auch bei der Finanzierung des brauchssteuern finanziert werden, was Grundeinkommens gibt es verschiede- zum Beispiel der Unternehmer Götz ne Modelle. In der Literatur zum Thema Werner vorschlägt. Wird das Grund- werden bisher vor allem zwei genannt: einkommen also nicht über Einkom- • Negative Einkommensteuer, mensteuer finanziert, dann ist die So- • Sozialdividende. zialdividende ein eigenes Modell. Die ersten beiden Finanzierungsmodel- Ein drittes Modell zur Finanzierung, le sind, wie folgende Abbildung zeigen das ich vorgeschlagen habe, ist die netto Schematische Darstellung eines Bürgergeldes als Sozialdividende, das durch eine lineare Einkommensteuer (flat tax) finanziert wird (Bürgergeld: 800 €, Steuersatz: 50%) 3200 2800 2400 2000 1600 1200 800 400 0 0 400 800 Nettoeinkommen Sozialdividende brutto 1200 1600 2000 2400 2800 3200 brutto 162 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Grundeinkommensversicherung. Dabei die um 25 Grad ansteigende, durchge- wird das Schweizer Modell der Alters- zogene Linie das Nettoeinkommen. Bei und Hinterlassenenversorgung (AHV) der Sozialdividende erhält jeder ein – der dortigen Rentenversicherung für Grundeinkommen, darauf aufruhende alle Bürger – auf alle Geldleistungssys- Einkommen werden versteuert. Aus teme übertragen. Die Finanzierung läuft darstellungstechnischen Gründen ver- über eine Sozialsteuer. Doch sehen wir wendet man oft zur Plausibilisierung uns zunächst das klassische Grundmo- eine pauschale 50-Prozent-Steuer und dell der Negativen Einkommensteuer 800 Euro als Niveau. Aber auch die an. negative Einkommensteuer kann proDie waagrechte durchgezogene Linie gressiv oder degressiv gestaltet werden. markiert das Grundeinkommensniveau, netto Schematische Darstellung einer negativen Einkommensteuer (Bürgergeld: 800 €, Steuersatz 50%) 3200 2800 2400 2000 1600 1200 800 400 0 0 400 800 1200 Steuer Grundeinkommen brutto netto 1600 2000 2400 2800 3200 brutto P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 163 Das ist nur eine vereinfachte Sche- letzterer noch viel zuzahlen muss und matik, um die verschiedenen Grund- anderes mehr. Schließlich enthält das modelle zu verdeutlichen. Sozialdivi- Modell der Grundeinkommensversi- dende und negative Einkommensteuer cherung noch eine weitere Einstiegsre- haben, wie die Abbildung zeigt, den gel: Alle Personen, die sich dem Arbeits- gleichen Netto-Effekt bei Finanzierung markt zur Verfügung stellen, kleine aus der Einkommensteuer. Der Finanz- Kinder erziehen, behindert oder alt sind, wissenschaftler Joachim Mitschke und erhalten immer mindestens das Grund- viele andere haben darauf in ihren einkommen, maximal den doppelten Schriften seit Jahren hingewiesen. Betrag. Wer jedoch studiert bzw. in Aus- Das von mir vorgeschlagene Modell bildung ist und derjenige, der sich dem einer Grundeinkommenversicherung Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stel- unterscheidet sich von den Modellen len will und die anderen genannten einer Negativen Einkommensteuer vor Kriterien nicht erfüllt, erhält die Hälfte allem dadurch, dass es nicht aus der des Grundeinkommens als Darlehen, Einkommensteuer finanziert wird, son- sozusagen ein „Bafög für Alle“. Der dern über eine spezifische Sozialsteuer, Darlehensanteil kann aber durch frei- einen steuerähnlichen Beitrag auf alle williges Engagement, durch „Bürger- Einkommensarten. Die Konstruktion arbeit“ aufgehoben werden. dieses Modells ist ziemlich einfach: Der Grundgedanke der Grundein- Ansprüche aus dem sozialen Siche- kommensversicherung dürfte den Ge- rungssystem sind mindestens ein siche- rechtigkeitsempfindungen weiter Teile res Grundeinkommen, maximal das der Bevölkerung in westlichen Gesell- Doppelte. Aus rechnerischen Gründen schaften entsprechen, was die Schweizer habe ich das Hartz-IV-Niveau ange- mittlerweile in zwölf Referenden zur nommen, das allerdings noch etwas AHV bekräftigt haben: Jeder hat sicher erhöht werden müsste: Das Grundein- mindestens ein Grundeinkommen, kommensminimum sollte bei 700 Euro maximal das Doppelte. Für alles darüber liegen. Aber natürlich kann man über Hinausgehende muss man selbst privat die Höhe streiten. Ich bin in dieser vorsorgen, oder es muss kollektiv dafür Frage nicht dogmatisch, denn die Fest- gesorgt werden, z.B. durch die Gewerk- setzung hängt davon ab, was in diesem schaften, durch die Tarifparteien. Das Betrag tatsächlich enthalten ist, wie das ist der Kern dieses Modells. Wohngeld oder die Krankenversiche- Auf diese Weise ist ein Finanzierungs- rung geregelt ist, ob der Einzelne bei spielraum gegeben, der viel größer ist, 164 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G als wenn ich die Sicherung des Lebens- ger garantiert werden. Das zeigt sich standards zum Grundprogramm des z.B. an unserem Rentensystem: In spä- gesamten Sozialstaats erhebe. Für die testens zwanzig Jahren werden sich Politik ergibt sich erheblich mehr Stress vermutlich 40 Prozent der Rentnerbe- bei der Lebensstandardsicherung als völkerung auf Sozialhilfeniveau be- Programm, denn sie kann immer weni- finden. Für diese Menschen lohnt es Modell Grundeinkommensversicherung (GEV) – Leistungen/Beiträge (Stand 2004) Leistungsbereich Renten Leistung 768–1.536 € Übergangszuschlag Renten Beitrag in Prozent (auf alle Einkommen) 10 2 Arbeitslosengeld 640–1.280 € 1,5 Erziehungsgeld 640–1.280 € 0,5 je Kind 160 € (zusätzl. bis 160 € Zuschlag) 2 640–1.280 € 0,2 Ausbildungsgeld 640 € (davon 50% Darlehen) 0,3 Grundsicherung (partielles Grundeinkommen, „Bafög für alle“) 640 € (davon 50% Darlehen) 1 Kindergeld Krankengeld Beitrag GEV insgesamt (auf Einkommen lt. ESt., ohne Beitragsbemessungsgrenze/ „Sozialsteuer“) 17,5 Quelle: Michael Opielka: Sozialpolitik Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek: Rowohlt 2004, S. 258– Anmerkung: Rechnerischer Grundbetrag 640 € = ALG II, sinnvoll: 700 €. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 165 sich nicht zu sparen. Aus Großbritan- und Arbeitslosenhilfe – die Vermitt- nien wissen wir, dass sich für die Be- lungserfolge nicht erhöht. Festzustel- zieher der Mindestrente das Sparen len sind jedoch stärkere Vermittlungs- nicht lohnt. Das ist in der Schweiz bemühungen, und zwar aufgrund der anders. Dort ist Sparen auch für die erfolgten oder erwarteten Einkom- Einkommensschwächeren sinnvoll, menseinbußen. Wenn das der Fall ist, weil die angesparten Beträge nicht auf liegt eine soziologische und politische ihre Grundrente angerechnet werden. Frage nahe: Warum steuert man nicht Die Schweiz ist kein Sozialhilfestaat, gleich über die Einkommensseite? sondern ein Bürgerstaat, ein Bürgerversicherungsstaat. Genau das ist die grundsätzliche Idee der Negativsteuer oder der entspre- Zum Schluss noch ein paar kurze chenden Grundeinkommensmodelle: Anmerkungen zur gegenwärtigen Ar- Motivation zur Einkommenserzielung beitsmarkt- und Sozialpolitik und den und nicht primär Bestrafung. Meiner damit verbundenen Herausforderun- Meinung nach ist diese veränderte gen. Schwerpunktsetzung sehr wichtig, Wie sieht die Wirklichkeit der Ar- wenn man die unsicheren und unsteten beitsmarktpolitik aus? Ein Resümee von Erwerbsbiografien der Zukunft betrach- Hartz I bis IV aus dem Bericht der Bun- tet. Hier stellt sich die entscheidende desregierung zu „modernen Dienst- Frage, wie das soziale Sicherungssys- leistungen am Arbeitsmarkt“ hat eine tem adäquat auf diese Entwicklung folgenreiche Trennung von „Marktkun- reagieren kann. den“, „Beratungskunden“ und „Betreu- Meine erste Schlussfolgerung: Wir ungskunden“ gezeigt. Fast ein Drittel brauchen auf jeden Fall Betreuung durch der Neuzugänge in Hartz IV besteht aus soziale Arbeit und das Bildungssystem. „Betreuungskunden“, bei denen „grund- Wir brauchen ökonomische Motivation sätzlich keine Förderung“ mehr erfol- durch Einkommensanreize und auf gen soll. Mit der jetzigen Regelung keinen Fall ein übertriebenes Mindest- „Fördern und fordern“ ist also ein Pro- sicherungsniveau. Es sollte also keine blem der Segregation verbunden, da sie Illusion mit einer dauerhaften Auskopplung Grundeinkommensniveau erweckt wer- eines Teils der Arbeitslosen einher- den. geht. über ein unrealistisches Zweiter Punkt: Wir müssen auf die Generell haben sich gegenüber der Gefahr einer gesellschaftlichen Spal- vorherigen Regelung – Arbeitslosengeld tung und Exklusion reagieren. Sozial- 166 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G politik muss die Existenz von „Versor- gration in die Sozialpolitik verknüpfen. gungsklassen“ anerkennen. Diese sozi- Vor kurzem hat Reinhard Bütikofer, alpolitische Akzeptanz erfordert eine Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Integration von „Arbeiter-“ und „Ar- Grünen, in der sozialdemokratischen menpolitik“, eine Politik der Bürgersi- Zeitschrift „Berliner Republik“ ge- cherung, innerhalb derer Hartz IV schrieben, ein Grundeinkommen wür- durchaus als ein richtiger Schritt er- de verhindern, dass der Staat in soziale scheint. Denn mit Hartz IV wurde die Dienste investiert. Das kann so sein, Spaltung von „Arbeiter-“ und „Armen- muss aber nicht so sein. Dieser Irrtum politik“ auf einen Streich aufgehoben; ist in der Debatte weit verbreitet. Wenn die Reformen hatten zwar negative man eine realistische Größenordnung Nebenfolgen, aber der Schritt war wählt, kann man selbstverständlich ein grundsätzlich richtig. Grundeinkommen mit einer umfas- Ziel ist eine Politik relativer Gleich- senden Sozialpolitik kombinieren. heit und damit eine Teilhabe über Grundeinkommen ist kein Allheil-, Grundrechte. Doch Grundrechte sind aber durchaus ein Heilmittel. In mei- bedingungslos. Ihren extremen Ge- nem Konzept ist das Grundeinkom- brauch, selbst Missbrauch, müssen wir men in eine weitere gesellschaftspoliti- als Demokraten in Kauf nehmen – sche Grundüberlegung eingebettet. Die auch dann, wenn jemand rechtsextrem sozialpolitische Garantie beruht auf den wählt, sexuell pervers ist oder legale Menschenrechten und die Gerechtig- Drogen nimmt. Natürlich gibt es Gren- keitsvorstellung orientiert sich an der zen, über die nicht hinausgegangen Idee der Teilhabe. Das Wohlfahrtsre- werden darf. Aber man muss sich klar gime „Garantismus“, eine garantistische machen, dass auch ein Grundeinkom- Sozialpolitik unterscheidet sich von den men missbraucht werden wird. So wird hergebrachten drei Regimetypen liberal- es z.B. Leute geben, die mit ihrem sozialdemokratisch-konservativ in der Grundeinkommen ungesunde Nah- Art, wie sozialpolitische Garantien orga- rungsmittel einkaufen. Daraus folgt: nisiert werden. In der folgenden Abbil- Das Grundeinkommen ist ein Projekt dung wird deutlich, dass diese auch in gesellschaftlicher Inklusion. den drei hergebrachten Sozialpolitik- Dritter Punkt: Wir müssen ein modellen existieren: Liberale wollen Grundeinkommen mit einer Politik so- Marktzugänge garantieren, deregulierte zialer Dienstleistungen und einer Inte- Lohnarbeit, und sie sperren sich heute P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 167 nicht mehr gegen Sozialhilfe, nicht we- wiederum orientieren sich an den Men- nige plädieren auch für ein, freilich schenrechten, vertreten einen erwei- niedriges, Grundeinkommen in Form terten Arbeitsbegriff und fordern ein einer Negativsteuer; Sozialdemokraten unbedingtes Grundeinkommen. verfolgen die Idee einer um die Arbeit- Sozialdemokraten mögen darüber nehmerrolle aufgerichteten Bürger- nachdenken, ob sie nicht über ihre bis- gleichheit, wollen Lohnarbeit regulie- herige Fokussierung auf den Arbeit- ren und das Recht auf Arbeit via Voll- nehmerstatus hinausgehen können und beschäftigung; Konservative wollen ob es nicht sinnvoll wäre, bewusst an- hergebrachten Status garantieren, ei- zunehmen, dass eine bürgerrechtliche nerseits die Familienarbeit höher be- Absicherung Bestandteil ihres, eines werten, andererseits die Lohnarbeit zukunftsorientierten Programms sein korporatistisch einhegen; Garantisten kann. Wohfahrtsregime-Typen und sozialpolitische Garantien Sozialstaatsmodell Sozialpolitische Garantie Gerechtigkeitskonzept Grundeinkommenssicherung Friedman Marktzugang (Fürsorge) Leistung Sozialhilfe/ Negative Einkommenssteuer Liberalismus Sozialdemokratie Beveridge Bürgergleichheit (Solidarität) Verteilung Recht auf Arbeit/ Grundsicherung Konservatismus Bismarck Statussicherung (Versicherung) Bedarf Workfare/ Familienunterhalt Sozialhilfe Paine Menschenrechte (Gerechtigkeit) Teilhabe Grundeinkommen Wohlfahrtsregime Garantismus Quelle: Michael Opielka: Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek: Rowohlt, S. 295, 2004 (Abb. 52, Auszug) und 191 (Abb. 36, Auszug). 168 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Zugang zum Erwerbsleben und soziale Gerechtigkeit – statt Stilllegungsprämien für Arbeitslose Dr. Hans-Joachim Schabedoth Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen des DGB, Berlin Ich stelle Ihnen heute fünfzehn Thesen behandeln. Aber weitere Beispiele für zum bedingungslosen Grundeinkom- bedingungslose Inanspruchnahme von men vor. Leistungen sind, wie ich finde, nur Am Beginn stand für mich die Frage: schwer vorstellbar. In welchem Zusammenhang spricht Zweiter Aspekt: Dass jeder Mensch man eigentlich von „bedingungslos“? – von der Wiege bis zur Bahre – einen Mir sind zunächst negativ besetzte Be- Anspruch auf ein bedingungsloses Ein- griffe eingefallen: bedingungslose Über- kommen und damit Anspruch auf Leis- gabe; bedingungslose Kapitulation; tungen anderer haben sollte, das hat bedingungslose Unterwerfung. Gibt es doch etwas von Schlaraffenland, was ja dazu eigentlich auch positive Begriff- nicht unsympathisch ist. Denn wie bei lichkeiten? vielen anderen Sozialutopien auch, ist Mein erster Punkt: Nach genauerer es natürlich nicht unehrenhaft, solche Überlegung habe ich festgestellt, dass Vorstellungen grundsätzlich sympa- es durchaus positive Vorstellungen von thisch zu finden und dafür zu werben. bedingungslos, voraussetzungslos gibt. Doch es geht bei dieser Diskussion Der Anspruch auf den Respekt der noch um etwas anderes. Menschenrechte – der ist bedingungs- Drittens: Der dauerhafte Ausschluss los, voraussetzungslos. Kinder haben von Menschen aus dem Erwerbsleben – zumindest so lange sie noch unmün- ist ein schwerer Verstoß gegen die Men- dig sind – Anspruch auf die bedingungs- schenwürde. lose Liebe ihrer Eltern oder des Eltern- Viertens: Es ist ein gewerkschaft- ersatzes. Die theologischen Dimensio- liches Kernanliegen, den dauerhaften nen dieser Frage möchte ich hier nicht Ausschluss von Menschen aus dem P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 169 Erwerbsleben zu verhindern. Gegen hat ihre Regeln. Und es ist gut, dass man Menschenrechtsverletzungen anzuge- sich gegenseitig darauf verlassen kann, hen ist zudem ein klarer Verfassungs- dass diese Regeln erfüllt werden: dass auftrag. eingekauft wird, dass gekocht wird, dass Daraus folgt fünftens: Der men- alle satt werden und dass aufgeräumt schenrechtsverletzende Charakter des wird, damit es in der Wohnung auch dauerhaften Ausschlusses aus dem Er- ein bisschen gemütlich ist. werbsleben kann nicht dadurch ge- Achtens: Nur wer unfreiwillig – das mindert werden, dass der Staat eine heißt aufgrund von Krankheit, Inva- existenzsichernde Alimentierung ga- lidität, Alter oder geringen Zugangs- rantiert. Um es volkstümlich zu sagen: chancen zum Erwerbsleben – nicht Kohle ist nicht alles. selber erwerbstätig ist, nicht mehr ist Sechstens: Die Teilhabe am Er- oder nicht sein kann, der hat Anspruch werbsleben bedeutet mehr als nur die auf Unterstützung aller anderen. Es ist Voraussetzung für die Existenzsiche- eine – übrigens sehr gute – anthropo- rung. Sie ist die Voraussetzung zur Teil- logische Grundkonstante, dass Men- habe an der Gesellschaft. Sie ist für den schen anderen Menschen, die in Not Einzelnen die Quelle für Bestätigung sind, helfen. durch andere, die Quelle für Lebenszu- Neuntens: Das Propagieren voraus- friedenheit und für den Zugang zu Le- setzungsloser oder bedingungsloser Un- bensgenüssen. Das muss ganz deutlich terstützungsleistungen abstrahiert von gesagt werden. konkreten sozialen Ungleichheiten in Siebtens: Wer für sich selbst die der Gesellschaft. Wenn man dem Loser Freiheit realisieren möchte, am Er- Donald Duck helfen will, warum sollte werbsleben nicht teilzunehmen, kann man auch noch den reichen Onkel legitimerweise nicht erwarten, dass ihm Dagobert unterstützen? Dem geht es dieser Wunsch zu Lasten aller anderen doch gut. auch noch honoriert wird. Selbstver- Zehntens: Die pauschale Unterstüt- wirklichungsspielräume der einen sind zung von Nichthilfsbedürftigen geht stets begrenzt durch die ebensolchen prinzipiell immer zu Lasten jener, die der anderen. Jede Wohngemeinschaft aufgrund ihrer individuellen Bedarfs- mutiert zur Vorhölle, wenn es nach dem und Lebenslage einer abgestimmten Lustprinzip ums Einkaufen, Kochen, Unterstützung bedürfen. Wäre es nicht Bad sauber machen oder Abfall runter- so, würde ich sagen: Machen wir das bringen geht. Jede soziale Gemeinschaft doch einfach! Wenn wir Geld zu ver- 170 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G schenken haben, warum sollte Krause, keine Besserstellung. Und das nenne der etwas kriegt, nicht in Kauf nehmen, ich tatsächlich „dreist getarnten So- dass Krupp auch etwas kriegt? Aber es zialabbau“. Wenn Götz Werner sich ist leider anders: Wenn alle etwas be- Sorgen darüber macht, wie Lohnne- kommen, auch jene, die nicht bedürftig benkosten gedrückt werden können – er sind, nimmt man jenen etwas weg, die ist im Nebenjob ja auch noch Leiter es dringend brauchen. und Besitzer einer großen Drogerieket- Elftens: Es ist doch völlig widersin- te, dann ist das in Ordnung, völlig le- nig, Hungernde wie Satte und selbst gitim. Wenn aber Politiker wie Dieter den schon Überfressenen gleicherma- Althaus und Guido Westerwelle solche ßen mit Nahrungsmittel zu versorgen. Modelle propagieren – da glaube ich, Nicht weniger widersinnig ist es, dass haben Gewerkschafter schon einen die Bedürftigen die prinzipiell immer Grund, nachdenklich zu werden. Ich knappen Ressourcen für soziale Unter- vermisse bei diesen Vorschlägen eines stützungsleistungen mit jenen teilen bedingungslosen Grundeinkommens sollen, die darauf überhaupt nicht an- den Gedanken, die Ausgegrenzten die- gewiesen sind. Oder ist das die Um- ser Gesellschaft wieder zu integrieren. kehrung der Zielsetzung: Gleichbe- Dreizehntens: Die Vorstellung, zu- handlung von Millionen mit den Mil- sätzliche lionären? Wieso sollte der Vorstands- über eine starke Erhöhung der Ver- chef der Deutschen Bank Josef Acker- brauchssteuern einzunehmen, verrät mann eine Grundsicherung erhalten? unschwer die Absicht neuerlicher Um- Zwölftens: Die verbreitetsten Vari- verteilung zu Lasten aller, die den anten bedingungsloser Grundeinkom- größten Teil ihres Einkommens für den men werden als Alternative zu allen Konsum ausgeben müssen. Grundein- sonstigen Transferleistungen verstan- kommenskonzepte, wie das von Götz den. Wenn das bedingungslose Grund- Werner kalkulierte, mit drastisch er- einkommen das Gegenfinanzierungsmittel Existenzminimum höhten Verbrauchssteuern bei drastisch absichern sollte, dann müsste ja die reduzierten direkten Steuern und einem Summe aller eingesparten staatlichen Verzicht auf Abgaben, um diese Patent- Transferleistungen überschritten wer- rezepte irgendwie noch finanzierbar zu den – oder alle bekommen weniger. halten, können nicht überzeugen. Im Ein Grundeinkommen unterhalb der eigentlichen Sinne sind es aber auch Schwelle des Existenzminimums wäre Nebenprodukte der Debatte um eine gegenüber dem Status quo überhaupt neue Steuersystematik. Darüber kann P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 171 man reden, aber man muss dann auch heit, bei Invalidität, bei Arbeitslosig- klar sagen, dass es um dieses Thema keit – das alles lässt sich über bedarfs- geht. orientierte Grundsicherung lösen. In all Vierzehntens: So notwendig es ist, diesen Fällen ist begründbar, warum ein fallweise und situativ die Finanzarchi- Mensch zur einen oder anderen Kate- tektur des deutschen Sozialstaats an die gorie gehört und deshalb Unterstüt- mehr steuer- als beitragsfinanzierten er- zungsleistungen der Gesellschaft benö- folgreicheren westeuropäischen Nach- tigt. Wir haben die Grundsicherung barländer anzupassen, so beschränkt sind über tarifliche und gesetzlich gesicher- im Rahmen der Europäischen Union te Mindesteinkommen in petto. Diesen die Möglichkeiten eines völligen Sys- Ansatz haben wir – die Gewerkschaften temwechsels. Das dürfen wir nicht und die Sozialdemokratie – gerade in vergessen. die Tagespolitik eingebracht, und er ist Fünfzehntens: „Draufsattelei“ ist die im Übrigen auch leichter und zielsi- nicht minder üble Zwillingsschwester cherer zu realisieren als Stilllegungs- der Dumping-Strategie. In unserem prämien an Arbeitslose auszuteilen und Diskussionszusammenhang erschwert Geschenke an gar nicht Bedürftige zu das Propagieren eines bedingungslo- geben. sen Grundeinkommens jede realistische Fazit: Das vorerst letzte gesellschaft- Reformstrategie, die auf bedarfsorien- liche Großexperiment, einen gesamten tierte menschenwürdige Grundsiche- Staat als eine Art Beschäftigungsgesell- rung zielt. Über eine bedarfsorientier- schaft zu organisieren, ist bekannter- te menschenwürdige Grundsicherung maßen – und wie ich finde auch ver- kann man mit der Sozialdemokratie dientermaßen – gescheitert. Die Lehre und mit den Gewerkschaften sprechen. daraus kann doch aber nun nicht sein, Dieser Weg wäre der richtige. Es würde jetzt eine Gesellschaft anzustreben, bei sich lohnen, intensiv darüber nachzu- der es zum Nachteil der wirklich Durs- denken, wie die bestehenden Elemente tigen zu einer Verschwendung der dieser Grundsicherung ausgebaut wer- ökonomischen Ressourcen durch „Frei- den können, und zwar so, dass allen bier für alle“ kommt. geholfen ist – vor allen Dingen den Bedürftigen. Das Recht auf eine menschenwürdige Bezahlung und ein gesichertes Leben im Alter und im Risikofall Krank- Deshalb lautet mein Resümee: Ja zu einer bedarfsorientierten Grundsicherung. Nein zum bedingungslosen Grundeinkommen. 172 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Welches Modell fördert gesellschaftliche Teilhabe am besten? Podiumsdiskussion mit Ralph Boes Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen (BbG), Berlin Elke Ferner, MdB Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin Prof. Dr. Michael Opielka Hochschullehrer für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen Dr. Hans-Joachim Schabedoth Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen des DGB, Berlin Prof. Dr. Emmerich Talos Hochschullehrer am Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien Moderation: Dr. Claus Schäfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), Düsseldorf P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Welche Unterschiede bestehen zwischen Modellen des Grundeinkommens und der Grundsicherung? 173 Ralph Boes, Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative Grundeinkommen, übte scharfe Kritik am gegenwärtigen System der Grundsicherung: Immer mehr Menschen, die durch Globalisie- Einleitend erläuterte Dr. Claus Schäfer, rung und Rationalisierung arbeitslos dass hinter den aktuell kursierenden wurden, würden durch die Hartz IV- Begriffen und Regelungen erniedrigt und von Büro- „Grundsicherung“ zwei sehr unter- kraten ausspioniert. Die bedarfsorien- schiedliche Modelle stehen: Das gegen- tierte Unterstützung laufe in der kon- wärtige System in Deutschland ist eine kreten Umsetzung darauf hinaus, ein historisch gewachsene besondere Form umfangreiches System staatlicher Über- der Grundsicherung, die prinzipiell an wachung zu installieren, das mittler- Bedingungen geknüpft und am Bedarf weile ein ungekanntes Ausmaß erreicht des Einzelnen orientiert wird. Ange- habe. Menschen ohne Arbeit würden sichts steigender, dauerhafter Arbeits- bis in die Privatsphäre hinein kontrol- losigkeit und wachsender Armut wird liert, um über eine „Bedürftigkeitsprü- das bestehende soziale Sicherungssys- fung“ ihre Hartz IV-Berechtigung fest- tem wegen etlicher Defizite von vielen zustellen: Dazu gehöre die Überprü- als dringend reformbedürftig betrach- fung mit Telefonanrufen, das Einsehen tet. Andere Kritiker halten es dagegen von Kontoauszügen und selbst das für grundsätzlich nicht reformierbar Zählen von Zahnbürsten im Badezim- bzw. nicht problemgerecht und enga- mer. Betroffen seien von dieser entwür- gieren sich deshalb für die Einführung digenden Überwachung aber auch im eines bedingungslosen Grundeinkom- Niedriglohnsektor Beschäftigte, die auf mens. Es soll das „alte“ System durch zusätzliche staatliche Unterstützungs- ein völlig neues Sozialsystem ersetzen, leistungen zum Lebensunterhalt ange- indem jede Person in Deutschland wiesen sind. In polemischer Zuspitzung unabhängig von Alter, Herkunft, Ver- merkte Boes an: „Die DDR ist zwar mögen oder anderen Merkmalen gene- untergegangen, die Stasi hat aber über- rell einen „existenzsichernden“ Geld- lebt – wenn auch nicht auf politischem, betrag zur freien Verfügung und ohne sondern auf ökonomischem Gebiet.“ „Grundeinkommen“ Gegenleistung erhält. Schäfer plädierte Die SPD-Bundestagsabgeordnete dafür, die Vor- und Nachteile beider Elke Ferner verteidigte die Zusammen- Systeme sehr genau zu analysieren. legung von Sozialhilfe und Arbeitslo- 174 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G senhilfe zum Arbeitslosengeld II im den schließlich auch durch Beiträge von Zuge der Hartz IV-Reformen, die eine Erwerbstätigen mit geringen Einkom- verstärkte individuelle Bedürftigkeits- men und ohne Vermögen finanziert; es prüfung mit sich gebracht hat: Auch könne deshalb nicht gerecht sein, wenn die Arbeitslosenhilfe im alten System ein Vermögen des Leistungsbeziehers sei nicht bedingungslos, sondern nach (über einem festgelegten Freibetrag) – allerdings weniger strengen – Anrech- verschont bleibe. Die zusätzlich existie- nungskriterien gewährt worden. Zu- rende Sozialhilfe (SGB XII) sei zwar auch dem seien durch die Zusammenlegung eine Art Grundsicherung, habe jedoch vorher benachteiligte Gruppen ent- deutlich strengere Anrechnungskrite- scheidend bessergestellt worden. So rien als ALG II. Sie wird heute nur noch hätten alleinerziehende Mütter früher an Personen ausbezahlt, die nicht mehr nur Sozialhilfe bekommen; heute ha- voll erwerbsfähig sind, d.h. weniger als ben sie mit ALG II neben dem Anrecht drei Stunden pro Tag arbeiten können. auf finanzielle Unterstützung auch Auch Dr. Hans-Joachim Schabedoth, Anspruch auf Vermittlungsleistungen Leiter der Abteilung Gesellschaftspoli- und könnten somit durch aktivierende tik/Grundsatzfragen des DGB, befür- Maßnahmen der ARGEn und Options- wortet grundsätzlich das gegenwärtige kommunen ihre Chancen auf einen soziale Sicherungssystem, sieht aber die Arbeitsplatz erhöhen. Notwendigkeit von Reformen. In den Elke Ferner verwies auf die zwei For- letzten Jahren habe eine Entwicklung men einer bedarfsorientierten Grund- von der Lebensstandardsicherung hin sicherung im gegenwärtigen System: zur Existenzsicherung stattgefunden. zum einen die Grundsicherung bei Doch um ein menschenwürdiges Leben Alter und Invalidität, zum anderen die auch wirklich gewährleisten zu können, Grundsicherung für Arbeitsuchende müsse der ALG II-Regelsatz entspre- (ALG II), die unter bestimmten Bedin- chend der allgemeinen Preis- und gungen ausbezahlt wird. Da es sich bei Lohnentwicklung dynamisiert werden. ALG II um steuerfinanzierte Transfer- Menschen ohne Arbeit dürften ihre leistungen handle, müsse z.B. bei der Situation nicht als demütigend erleben Auszahlung berücksichtigt werden, ob und müssten eine realistische Perspek- der Antragsteller über eigenes Vermö- tive auf Arbeit bekommen. gen verfügt. Die Transferleistungen wür- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Welche Höhe von Sozialleistungen ermöglicht eine menschenwürdige Existenz? 175 den jeweils vorgeschlagenen Grundeinkommensmodellen wegfielen. Erst nach genauer Abwägung könne dann entschieden werden, was beim jewei- Dr. Claus Schäfer verwies auf verschie- ligen System für den Einzelnen unterm dene Studien (z.B. AWO-ISS) mit der Strich herauskommt. Beim Althaus- Grundaussage, dass der Hartz IV-Regel- Modell würden z.B. von 800 Euro satz eindeutig zu niedrig sei und Armut Grundeinkommen pro Kopf 200 Euro nicht wirksam verhindern könne. Im Gesundheitsprämie von vornherein ab- Gegenteil würden in Hartz IV-Haushal- gezogen. Das bedeute, dass bei einer ten aufgewachsene Kinder z.B. gravie- vierköpfigen Familie insgesamt 800 Eu- rende soziale, gesundheitliche und ro abgehen, was viel mehr sei als im bildungsmäßige Defizite davontragen, bisherigen Gesundheitssystem, das ge- die später auch bei umfangreicher Hil- staffelte Beiträge und Familienversiche- fe kaum mehr kompensiert werden rung vorsieht. Häufig werde in der könnten. Diskussion von Einpersonenhaushalten Natürlich könne man über die an- gesprochen. Doch bei einer Vier-Per- gemessene Höhe der Regelsätze streiten, sonen-Bedarfsgemeinschaft könnten so Elke Ferner. Sie warne aber davor, bei ALG II durchaus 1.500 bis 1.600 einen höheren Pauschalbetrag (wie bei Euro netto im Monat zusammenkom- vielen Modellen des Grundeinkom- men. Manche Arbeitnehmer müssten mens) für grundsätzlich besser zu halten einen Monat lang arbeiten und hätten als den gegenwärtigen Hartz IV-Re- dann – bei Steuerklasse 3 – mit Kinder- gelsatz, der sich an individuellen Bedar- geld kaum mehr Geld zur Verfügung. fen orientiert. Beim Grundeinkommensmodell von Althaus würden z.B. das Wohngeld und andere Zusatzleistungen zugunsten eines Pauschalbetrags wegfallen. Könnte das Modell einer Mindestsicherung in Österreich Vorbild für Deutschland sein? Dagegen könnten bei den Hartz IVRegelungen – je nach individuellem Prof. Emmerich Talos skizzierte, wie in Fall (z.B. abhängig von Stadt, Familien- Österreich die Debatte um eine Grund- stand) Zusatzleistungen beantragt wer- sicherung 2006 wieder auf die politi- den. Es sei also sehr genau zu prüfen, sche Agenda kam: Die österreichischen welche Sach- und Sozialleistungen bei Sozialdemokraten waren im Wahlkampf 176 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G mit dem Ziel angetreten, den Sozialstaat markt zu integrieren. Das Armutspro- durch die Einführung einer bedarfsori- blem, das in Deutschland eher noch entierten Grundsicherung zu ergänzen. stärker ausgeprägt sei als in Österreich, Mit dem späteren Regierungspartner könne mit dem Hartz IV-Modell aber ÖVP einigte sie sich im Regierungspro- gerade nicht gelöst werden. Deshalb gramm dann auf eine spezifische Form hält er die „bedarfsorientierte Mindest- der Grundsicherung, die sogenannte sicherung“ in Österreich für das grund- bedarfsorientierte Mindestsicherung, sätzlich bessere Modell, wenn auch hier die im Laufe des Jahres 2008 beschlos- noch einige Details geklärt werden sen werden soll. Geplant ist ein monat- müssten, z.B. der Anrechnungsmodus licher Transferbetrag von etwa 830 Euro von Zusatzeinkommen und Vermögen netto pro Monat für Alleinlebende. Die auf den Transferbetrag. Höhe der Leistung bemisst sich am Talos’ Hauptkritik an der „bedarfs- Ausgleichszulagenrichtsatz, der Bezugs- orientierten Mindestsicherung“ in Ös- größe für die Armutsgefährdungsgren- terreich richtet sich auf die vorgesehene ze in Österreich. Höhe von 830 Euro, die deutlich unter Wichtige Ziele sind bei dieser Maß- der Armutsschwelle nach EU-Kriterien nahme, die bisher in den Bundeslän- (60 Prozent des Medianeinkommens) dern unterschiedlichen Sicherungssys- liegt. Bei Berücksichtigung dieses Krite- teme zu harmonisieren und zugleich riums wurde für das Einkommensjahr einen Mindestlohn einzuführen. Im 2004 die Armutsschwelle in Österreich Kern zielt die österreichische Regierung bei 900 Euro eruiert und wird im Jahr auf eine offensive Armutspolitik, nach- 2009, wenn das Gesetz voraussichtlich dem wissenschaftliche Untersuchungen in Kraft tritt, bei 950 bis 970 Euro liegen. der letzten zehn Jahre ergeben hatten, Diese Diskrepanz passe mit dem Ziel der dass in Österreich 12 bis 13 Prozent der Armutsbekämpfung nicht zusammen. Menschen armutsgefährdet sind. Ein großes Problem sei auch, dass im Im Ziel der Armutsvermeidung sieht Auszahlungsbetrag 25 Prozent Wohn- Prof. Talos einen wesentlichen Unter- kosten enthalten sind, die in vielen schied zu den Hartz IV-Reformen in Städten (wie Innsbruck) definitiv nicht Deutschland, die nicht auf Armutsbe- ausreichen würden, um eine vernünf- kämpfung ausgerichtet seien, sondern tige Wohnung zu finden. Dieses Defizit darauf, Menschen ohne Arbeit – auch sei in Deutschland noch viel stärker unter Zwang – wieder in den Arbeits- ausgeprägt: Der Hartz IV-Regelsatz von P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 177 650 Euro (inklusive Wohngeld) befin- deststandards einzuführen, die sich in det sich etwa 300 Euro unter der Ar- der Höhe dem Wert annähern, der in mutsschwelle. der Das gleiche Problem zeige sich bei dem durch die Wirtschaftskammer und wissenschaftlichen Armutsfor- schung als Armutsschwelle ausgewiesen ist. den Österreichischen Gewerkschaftsbund vereinbarten Mindestlohn von 1.000 Euro brutto, da der Nettobetrag in Höhe von etwa 850 Euro ebenfalls deutlich unter der Armutsschwelle Aus welchen Gründen könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen sinnvoll sein? liegen wird. Dadurch sei auch die Differenz zwischen Lohn- und Transfer- Ralph Boes betonte noch einmal, dass einkommen nicht groß genug. das gegenwärtige System ein unmensch- Aus diesen Gründen hält Talos die liches Überwachungssystem geschaffen geplante Einführung der Mindestsi- habe und die Menschen massiv unter cherung in Österreich zwar für einen Druck setze, schlecht bezahlte Jobs wichtigen Schritt, doch er reicht seiner anzunehmen. Mit der Einführung eines Ansicht nicht aus, um den österreichi- bedingungslosen Grundeinkommens schen Sozialstaat armutsfest zu machen. könne der Staat aufhören, seine Bür- Deshalb wäre es nun wichtig, in die gerinnen und Bürger auf unwürdige Transfersysteme aller EU-Staaten Min- Weise zu kontrollieren und damit nicht 178 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G nur grundsätzlich Armut beseitigen, Boes widersprach vehement der sondern das Verhältnis von Staat und Auffassung Schabedoths, das bedin- Bürger entscheidend zum Positiven gungslose Grundeinkommen sei eine verändern. Art „Stilllegungsprämie“. Vielmehr Ein Grundeinkommen hätte nach führe es zu einer Stärkung der Arbeit- Boes’ Ansicht aber noch weitere positive nehmerposition, indem die Arbeitgeber Auswirkungen. Wenn jeder Bürger bzw. den Arbeitnehmern sinnvolle, ange- jede Bürgerin einen festen Betrag (von nehme oder lukrative Arbeiten anbieten etwa 800 Euro) ohne Bedingungen er- müssten. Vermutlich würde niemand halte, wäre damit die individuelle Exis- mehr bereit sein, einen Putzjob für 1,50 tenz gesichert und Erwerbsarbeit er- Euro pro Stunde anzunehmen, wohl hielte einen anderen Stellenwert. Unter aber für 7,50 Euro. Immer wieder werde diesen Voraussetzungen würde Arbeit das Argument angeführt, dass die Men- nicht mehr der Existenzsicherung, schen bei einem bedingungslosen sondern der Steigerung der Lebensqua- Grundeinkommen keinen Anreiz zum lität dienen. Dadurch könne sich das Arbeiten mehr hätten. Tatsächlich sei Arbeitsklima sowie das Verhältnis zwi- aber jeder Mensch an einem besseren schen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Leben interessiert und somit auch an radikal ändern. Die Arbeitgeber könn- Möglichkeiten, etwas zum Grundein- ten die Arbeitnehmer nun nicht mehr kommen dazuzuverdienen. Jeder ar- zu irgendetwas zwingen, sondern müss- beite doch gerne weiter, wenn seine ten um sie werben: Bei Verhandlungen Arbeitnehmerrechte gestärkt sind. befänden sich die beiden Parteien auf Nach Auffassung von Claus Schäfer Augenhöhe und die Möglichkeit zur sind Boes’ Argumente inzwischen von „Ausbeutung“ wäre abgeschafft. Unan- der Empirie widerlegt. Er nannte als genehme, schwere Arbeit, die heute Beispiel die ergänzenden Transferleis- häufig nur schlecht bezahlt werde, tungen: Bereits heute akzeptierten 1,3 müsste dann teuer bezahlt werden, da Millionen Menschen eine geringe Be- beliebte Arbeit tendenziell billiger, un- zahlung, weil sie zusätzlich zu ihrem beliebte teurer werden würde. Damit Lohn einen staatlichen Aufstockungs- erübrigten sich auch alle arbeitsmarkt- betrag im Rahmen von Hartz IV er- und sozialpolitischen Programme des hielten. Solche faktischen Kombi-Lohn- Staates, da diese Aufgaben nun die Ar- Modelle seien letztlich vor allem mit beitgeber übernehmen würden. Vorteilen für die Seite der Arbeitgeber P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 179 verbunden, die deshalb die Löhne stark verstehen, der seiner Rolle als Gewerk- drücken können, während die Kosten schafter gerecht werden müsse, doch für die existenzsichernde Kompensa- dürfe dies nicht dazu führen, sämt- tion von der Gemeinschaft übernom- liche Grundeinkommensmodelle in men werden. Wenn das bedingungslose Bausch und Bogen zu verwerfen. Grundeinkommen auch als eine Art Natürlich müssten die Modelle eines Kombi-Lohn-Modell wirke, dann sei bedingungslosen Grundeinkommens äußerst zweifelhaft, ob damit wirklich kritisch geprüft werden. So bestehe z.B. die Rechte der Arbeitnehmer und nicht das Problem, dass ein menschenwürdig vielmehr die Interessen der Arbeitgeber existenzsicherndes Grundeinkommen gestärkt werden. in Deutschland bei größeren Haus- Auch Elke Ferner bezweifelte, dass haltsgemeinschaften das mittlere Lohn- ein Grundeinkommen dazu führt, dass niveau erreichen würde. Wichtig sei ihm die Arbeitgeber die Arbeitnehmer um- jedoch, verbreitete Irrtümer zu ent- werben und schlechte, anstrengende kräften. Opielka ging auf das von Scha- Jobs besser bezahlen. Unklar sei außer- bedoth genannte Beispiel der Wohn- dem, wie bei einem solchen Modell gemeinschaft ein, das verdeutlichten sichergestellt werden könne, dass un- sollte, dass man in einer Gemeinschaft angenehme Jobs – die es ja weiterhin nicht nur nehmen, sondern auch geben gebe – tatsächlich erledigt werden. Nach müsse, und dass es nicht gerecht sei, Ferners Ansicht funktioniert jede Ge- ohne eigenen Beitrag nur auf Kosten sellschaft nur auf Gegenseitigkeit: Wenn der anderen zu leben. Opielka sieht aber die Bürgerinnen und Bürger Rechte in einen wesentlichen Unterschied darin, Anspruch nehmen, müssten sie auch dass eine Wohngemeinschaft eine sehr Pflichten und einen Teil der Verantwor- viel kleinere Einheit darstellt als eine tung übernehmen. Gesellschaft, die aufgrund ihrer Größe Prof. Opielka appellierte, dieses und Komplexität ganz anders zu orga- Thema nicht isoliert, sondern im ge- nisieren ist. So gebe es z.B. in einer WG samtgesellschaftlichen Zusammenhang keine verbindlichen rechtlichen Rege- zu diskutieren: Gegenwärtig gebe es in lungen – wohl aber in der Gesellschaft Deutschland Verteilungseffekte, die Grundrechte bzw. eine Verfassung. nicht mehr mit der Idee einer sozialen Zudem habe Schabedoth in seinem Marktwirtschaft vereinbar seien. Er Plädoyer gegen ein bedingungsloses könne die Bedenken Schabedoths zwar Grundeinkommen angeführt, man 180 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G würde damit Menschen Unterstützung he in den letzten Jahren den Umbau geben, die gar keine brauchen. Entschei- des Sozialstaats, womit sich eine Ten- dend ist jedoch nach Opielka, welches denz weg vom universalistischen Den- Grundeinkommensmodell man wählt ken hin zur Übernahme eines sozial- und wie es konkret ausgestaltet wird, liberalen Denkmodells zeige – was z. B. welche steuerlichen Regelungen Opielka sowohl politisch-soziologisch damit verbunden werden. Sicherlich als auch philosophisch für völlig falsch könne dieser Effekt entstehen, doch er hält. ergebe sich nicht zwangsläufig. So könn- Auch nach Ansicht von Prof. Em- te ein Grundeinkommens-Modell steu- merich Talos ist es dringend notwendig, erlich progressiv angelegt werden, so- dass sich reiche Gesellschaften wie dass höhere Einkommen stärker belas- Deutschland mit Modellen eines Grund- tet werden als niedrige. Das Grundein- einkommens ernsthaft auseinander- kommen könnte auch – nach Vorbild setzen. Die Vorstellung, ein stärker des heutigen Kindergelds – als eine Art selbstbestimmtes, eigenständiges Leben Primäreinkommen aufgefasst und als führen zu können, sei äußerst reizvoll, Steuerfreibetrag wirksam werden. müsse aber genau durchdacht werden. Prof. Opielka meinte bei der Diskus- Man solle diesen Konzepten nicht sion über dieses Thema ein grundsätz- gleich im Vorfeld mit Vorbehalten be- liches Dilemma der Sozialdemokratie gegnen – neue Visionen würden immer zu erkennen. Seit den 1990er-Jahren mehr fordern, als zunächst machbar hätten die Sozialdemokraten, ange- erscheint. stoßen durch Debatten in der Wissen- Gegen die baldige Umsetzung eines schaft, zunehmend die Tendenz, den bedingungslosen Grundeinkommens Sozialstaat alter Prägung in einen Für- spreche jedoch, dass es gesellschaftlich sorgestaat umzubauen – Hartz IV sei der in keinem Land der EU ausreichend deutlichste Ausdruck dieser Entwick- akzeptiert ist. In Demokratien sei es aber lung. Die sozialen Sicherungssysteme unverzichtbar, dass solche Modelle von würden nach dem Prinzip der indivi- breiter gesellschaftlicher Akzeptanz und duellen Bedarfsorientierung umgestal- politischer Zustimmung in der Bevöl- tet, meist mit dem Argument, man kerung getragen werden. Umso wichti- dürfe das Geld nicht Menschen geben, ger sei es, parallel zu den Diskussionen die gar keine Unterstützungsleistun- über das Grundeinkommen schneller gen brauchen. Dieser Diskurs durchzie- realisierbare Reformschritte in Angriff P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 181 zu nehmen. Schließlich hätten die rei- Beschäftigungsverhältnisse (z.B. befris- chen Wohlfahrtsstaaten wie Deutsch- tete Jobs, Leiharbeit, geringfügige Be- land und Österreich angesichts hoher schäftigung, neue Selbstständige, freie Arbeitslosigkeit und beträchtlicher Ar- Dienstverträge), die in den letzten mut gegenwärtig große Herausforde- Jahren stark angestiegen sind, müssten rungen zu bewältigen. politisch gestaltet werden. Ansatzpunk- Talos machte auf den grundlegen- te dazu sind neben der prinzipiellen den Wandel der Arbeitsgesellschaft Gleichstellung auf Ebene der einschlä- aufmerksam. Im 20. Jahrhundert galt, gigen Gesetze, der Tarifverträge und der dass Arbeit die Existenz sichert. Im 21. betrieblichen Vereinbarungen sowie der Jahrhundert sei das aber nicht mehr der verpflichtenden Einbeziehung in das Fall: Immer mehr Menschen könnten System sozialer Sicherung vor allem der nicht mehr über Erwerbsarbeit ihre Ausbau der Grundsicherung. Da sich Existenz sichern – sei es aufgrund von auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft Pha- Arbeitslosigkeit oder Niedriglöhnen. sen der Erwerbstätigkeit mit Phasen der Deshalb könne man auf die heutigen Nichterwerbstätigkeit stärker abwech- Probleme auch nicht mehr mit den seln werden, müsse dafür gesorgt wer- alten Rastern und Denkmodellen des den, dass in beiden Fällen eine ausrei- 20. Jahrhunderts angemessen reagieren. chende Existenzsicherung gegeben ist. Exemplarisch verwies er auf den Die neuen Entwicklungen auf dem Wandel der Arbeitsbiografien: So sei in Arbeitsmarkt seien also in entsprechen- Österreich de Reformen der sozialen Sicherungs- das Sozialversicherungs- grundgesetz, das Allgemeine Sozialver- systeme umzusetzen. sicherungsgesetz von 1955 auf der Elke Ferner wehrte sich energisch Vorstellung gegründet, dass Menschen gegen die Auffassung, dass Arbeit im dann im Alter lebensstandardgesichert 21. Jahrhundert nicht mehr die Existenz sind, wenn sie 45 Versicherungsjahre der Menschen sichern könne. Man Vollzeit und kontinuierlich gearbeitet dürfe sich keinesfalls damit abfinden und Beiträge gezahlt haben. Solche und sich in dieser Situation einrichten! Arbeitsbiografien ohne Unterbrechun- Sie werde sich als Politikerin weiterhin gen seien heute aber nur noch selten für eine Gesellschaft engagieren, in der möglich. Entsprechend müssten die jeder Mensch mit seiner Erwerbsarbeit Systeme an diese Veränderungen an- – unabhängig von staatlicher Unter- gepasst werden. Auch die atypischen stützung – seine Existenz sichern und 182 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G mit seinem Lohn vernünftig leben kann. Schabedoth unterstützte Ferners Schließlich diene Erwerbsarbeit nicht Position, dass es Ziel der Politik bleiben nur der Einkommenserzielung, sondern müsse, Arbeit zu schaffen und dafür zu biete auch Anerkennung, Selbstver- sorgen, dass arbeitslose Menschen wie- wirklichung sowie Möglichkeiten der der in den Arbeitsmarkt integriert wer- persönlichen Weiterentwicklung. Eine den. Auch er widersprach vehement existenzsichernde Erwerbsarbeit ist Talos’ Aussage, Arbeit könne im 21. nach Ferners Ansicht auch die beste Jahrhundert nicht mehr existenzsi- Möglichkeit zur Armutsbekämpfung. chernd sein. Die zentrale Frage sei doch, welchen Prof. Talos reagierte auf die Gegen- Stellenwert man der Erwerbsarbeit rede von Ferner und Schabedoth: Es sei grundsätzlich einräume. Sicherlich wer- unbestreitbar, dass in modernen In- de es im 21. Jahrhundert zunehmend dustriegesellschaften die vorhandene mehr Auszeiten oder Unterbrechungs- Erwerbsarbeit gegenwärtig nicht für phasen im Erwerbsleben geben, doch alle Erwerbsfähigen ausreiche und dass es könne nicht Ziel sein, das ganze deshalb auch nicht alle Menschen ihre Leben ohne Erwerbsarbeit zu verbrin- Existenz über Erwerbsarbeit sichern gen – und damit von staatlichen Trans- könnten. Zudem zeige die Zunahme der ferleistungen abhängig zu sein und auf Zahl von Working Poor, dass auch Er- Kosten der Solidargemeinschaft zu werbsarbeit selbst nicht ausreichend leben. Unbestritten sei, dass die Soli- sichere. Diese nüchterne Beschreibung dargemeinschaft in Fällen großer Le- zur Kenntnis zu nehmen sei der erste bensrisiken (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Schritt, um anschließend angemessen Pflegebedürftigkeit) für den Einzelnen reagieren zu können. Die Sozialdemo- einzustehen habe. Die sozialen Siche- kratie und die Gewerkschaften hätten rungssysteme müssten aber wirklich es trotz ihres Engagements weder in solidarisch, d.h. nach individueller Deutschland noch in Österreich ge- Leistungsfähigkeit finanziert werden. schafft, so hohe Löhne durchzusetzen, Elke Ferner gab Talos Recht, dass die dass alle vollzeiterwerbstätigen Men- neuen Beschäftigungsverhältnisse und schen ein ausreichendes Einkommen Erwerbsbiografien in den gegenwärti- haben. Wenn also auf diese Weise keine gen sozialen Sicherungssystemen stär- auskömmlichen Löhne mehr erstritten ker berücksichtigt werden müssen, da werden könnten, dann müsse eben nach diese tatsächlich nicht mehr zu den anderen Lösungen gesucht werden. gewandelten Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt passen würden. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Was spricht gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen? 183 Ferner nannte weitere Probleme und offene Fragen. Wer erwirtschaftet dann das Brutto- Dr. Hans-Joachim Schabedoth sprach sozialprodukt? Wenn jeder mit einem sich klar gegen ein bedingungsloses bedingungslosen Grundeinkommen Grundeinkommen aus. Er könne auch genug zum Leben hat, müsste doch nicht verstehen, warum man – ange- keiner mehr arbeiten. Unter diesen Be- sichts der großen Herausforderungen dingungen wäre völlig offen, wer dann – eine unrealistische Utopie verfolge, die notwendigen Gelder erwirtschaftet, statt das konkret Machbare in Angriff die über das Grundeinkommen verteilt zu nehmen. Das gegenwärtige bedarfs- werden sollen. orientierte System sei viel besser, da es Wie würde sich ein bedingungsloses für jeden Einzelfall – nicht nur bei Ar- Grundeinkommen auf das Lohnni- beitslosigkeit, sondern auch im Alter veau auswirken? Vorrangiges Ziel sollte und in Notsituationen – Sicherungen doch sein, dass Vollzeiterwerbstätige biete, die dem Einzelnen ein menschen- einen Monatslohn bekommen, von dem würdiges Leben in der Gesellschaft er- sie leben können, ohne auf zusätzliche möglichen. Selbstverständlich könnten staatliche Transferleistungen angewie- die bestehenden Systeme noch opti- sen zu sein. Damit ein Arbeitsanreiz miert werden, und es existierten ja auch entsteht, müsste der Abstand zwischen schon Reformvorschläge, für die man einem Grundeinkommen und einem nun nach politischen Mehrheiten su- erzielbaren Netto-Arbeitseinkommen chen müsse. hoch genug sein. Auch für Elke Ferner ist das Grund- Was würde das bedingungslose prinzip der Hartz IV-Reformen – eine Grundeinkommen für bestehende bedarfsorientierte Grundsicherung – Rentenanwartschaften bedeuten? Es sei prinzipiell richtig. Sie blieb dabei: Ein doch kaum möglich, einen Bürger, der bedingungsloses Grundeinkommen z.B. einen Rentenanspruch von 1.200 würde dazu führen, dass viele Men- Euro erworben hat, mit einem Grund- schen, die gar keine Unterstützung einkommen von 800 Euro abzuspeisen. brauchen, von einem solchen System Die Umstellung der beiden Systeme profitieren würden und dieses Un- wäre viel zu kompliziert und zu teuer. gleichgewicht ginge dann zu Lasten Wäre ein bedingungsloses Grund- jener, die auf dieses Geld dringend einkommen überhaupt sozial gerecht? angewiesen sind. Das Althaus-Modell ist nach Ferners 184 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Meinung zum Beispiel mit starken Un- auf eine Integration der Erwerbsfähigen gerechtigkeiten verbunden, wenn alle in den Arbeitsmarkt zielen. den gleichen Steuersatz und die gleiche Prof. Emmerich Talos befürwortet Gesundheitsprämie bezahlen, unab- ebenfalls eine bedarfsorientierte Grund- hängig von der individuellen Leis- sicherung, die da ansetzt, wo Menschen tungsfähigkeit. auf Hilfe angewiesen sind. Entschei- Elke Ferner teilte Schabedoths Auffassung, dass ein dend sei jedoch eine angemessene Hö- bedingungsloses he: Eine armutsfeste Grundsicherung Grundeinkommen wie eine Stillle- sollte sich an der EU-Definition der gungsprämie wirke, die verhindere, dass Armutsschwelle orientieren. Zudem Menschen ohne Arbeit aktiv am Er- müsse die Politik die Benachteiligung werbsleben oder an der Gesellschaft der Frauen im bestehenden System teilhaben. Die Einführung eines bedin- beseitigen: In der Regel verdienen Män- gungslosen Grundeinkommens käme ner noch immer mehr als Frauen. Viele ihrer Ansicht nach einem Umbau der Frauen, die nur niedrige Löhne bezie- Erwerbsgesellschaft in eine reine Trans- hen, haben dann aufgrund der Anrech- fergesellschaft gleich, was sie prinzipiell nung des Partner- bzw. Haushaltsein- ablehnt. Deshalb präferiert Ferner die kommens kein Anrecht auf Grundsi- Weiterentwicklung der bestehenden cherung. Der Blick sollte somit verstärkt sozialen Sicherungssysteme, die sich an auf geschlechtsspezifische Ungleich- individuellen Bedarfen orientieren und heiten und das einzelne Individuum P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 185 gerichtet werden – und nicht nur auf den Augen zu verlieren: Schließlich den gesamten Haushalt. nütze den arbeitslosen jungen Men- Angesichts einer hohen Arbeitslo- schen von 2007 die eventuelle Einfüh- sigkeits- und Armutsquote könne eine rung eines bedingungslosen Grund- bedarfsorientierte Grundsicherung die einkommens im Jahr 2070 überhaupt Teilhabe der betroffenen Bürgerinnen nichts. Da sie heute leben, müsse ihnen und Bürger momentan besser gewähr- Politik auch heute eine Antwort auf leisten – längerfristig könnte sie auch akute Probleme geben und eine realis- ein Weg zu einem bedingungslosen tische Perspektive aufzeigen. Es sei Grundeinkommen ohne Arbeit sein. Aufgabe der Politik, aktuell dafür zu Talos warnte davor, durch unrealis- sorgen, dass die Menschen ein men- tische Utopien die Bearbeitung der schenwürdiges Leben in unserer Ge- gegenwärtigen Herausforderungen aus sellschaft führen können. 186 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Diskussion mit dem Publikum Wie verändert sich die Erwerbsarbeitsgesellschaft? Bereich eine Menge gesellschaftlich wichtiger und sinnvoller Arbeit vorhanden, die aber ohne Bezahlung oft • Von mehreren Teilnehmern wurde nicht geleistet werde, solange man darauf hingewiesen, dass Arbeit nicht von einem Erwerbseinkommen ab- nur Erwerbsarbeit ist – und dass Ge- hängig ist. werkschaften und SPD ihre überhol- • Ein Teilnehmer meinte festzustellen, te Vorstellung von Arbeit überdenken dass die Erwerbsarbeit immer mehr sollten. In einer Diskussion über die „fetischisiert“ werde. Er sehe darin Zukunft der Arbeit müsse man sich eine Verherrlichung der Erwerbsar- einem veränderten Begriff von Arbeit beit, die aber auch ein Instrument zur stellen, auch dem Wandel der Erwerbs- Unterdrückung des Menschen sei. gesellschaft und ihren Folgen. • Kritisiert wurde Schabedoths Aussage, • Betont wurde auch, dass neben der ein bedingungsloses Grundeinkom- Erwerbsarbeit eine Vielzahl freiwilli- men sei eine Stilllegungsprämie, die ger und ehrenamtlicher Tätigkeiten zu einem dauerhaften Ausschluss vom existierten, z.B. die unentgeltliche Arbeitsmarkt führe. Dieses Argument Familienarbeit. Diese Tätigkeiten wer- sei interessenbestimmt und schüre den tatsächlich immer wichtiger, nur Angst, wodurch ein differenziertes seien aber nach wie vor nicht aus- Nachdenken über neue Konzepte und reichend gesellschaftlich anerkannt. einen neuen Arbeitsbegriff verhindert Zudem sei vor allem im sozialen werde. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Schabedoth wehrte sich gegen die Aussage, Erwerbsarbeit werde zunehmend 187 Was ist am gegenwärtigen System von Hartz IV zu kritisieren? „fetischisiert“. Natürlich habe Arbeit in Zeiten knapper Arbeitsplätze eine ganz • Kritisiert wurde, dass der Hartz IV- andere Bedeutung als in Zeiten geringer Regelsatz kein menschenwürdiges Arbeitslosigkeit. Wichtig sei die Tatsa- Leben in unserer Gesellschaft ermög- che, dass insgesamt genug gesellschaft- liche. Ziehe man notwendige Rück- lich notwendige Arbeit vorhanden ist. lagen (wie z.B. für die Anschaffung Doch sei das gegenwärtige System an einer Waschmaschine) ab, blieben einigen Stellen noch nicht gut organi- lediglich sechs Euro pro Tag und siert, so dass (bezahlte) Arbeit schlecht Person, was schlichtweg zu wenig verteilt ist. Auf Erwerbsarbeit zu setzen, sei. Ein Vorschlag lautete, sich bei sei mitnichten ein veraltetes Konzept der Höhe der Transferleistung an der – denn nur die Teilhabe der Erwerbsfä- Pfändungsfreigrenze zu orientieren, higen am Arbeitsmarkt ermögliche es, die gegenwärtig bei knapp 1.000 Eu- dass alle Menschen am gesellschaftli- ro und somit beträchtlich über dem chen Wohlstand partizipieren können. Hartz IV-Regelsatz liegt. Er sei davon überzeugt, dass durch • Auch wurde die Meinung vertreten, eine bessere Verteilung der gesellschaft- dass die Lohnabhängigen durch das lich nützlichen Arbeit grundsätzlich gegenwärtige System von Hartz IV erreicht werden könnte, dass alle Men- immer erpressbarer würden. Der da- schen ein auskömmliches Einkommen mit verbundene Arbeitszwang habe haben. Allerdings wäre dies unter den dazu geführt, dass die Bereitschaft der derzeitigen Entlohnungsbedingungen Arbeitnehmer unwürdige Arbeitsbe- in Deutschland kaum möglich, das in dingungen, schlechte Löhne und an- Europa als Lohndumpingland gelte: strengende Jobs zu akzeptieren, stark Überall in Europa seien die Löhne und gestiegen ist. die Produktivitätsfortschritte gerechter • Als weiterer negativer Aspekt wurde verteilt. Erst nach der Beseitigung dieser angeführt, dass die Bedarfsorientie- Ungerechtigkeiten könne man über die rung der Grundsicherung bzw. die Einführung von Grundeinkommens- Bedürfnisprüfung im Einzelfall un- Modellen nachdenken. Primäres Ziel glaublich viel Bürokratie erfordere. müsse es gegenwärtig sein, alle Men- Aus volkswirtschaftlicher Perspektive schen am erarbeiteten Fortschritt ge- wäre der Wegfall dieser unproduk- recht zu beteiligen. tiven Arbeitsplätze ein Vorteil. 188 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G • Abgelehnt wurde am System der losen Grundeinkommen höre sich zwar bedarfsorientierten Grundsicherung zunächst egalitär an, aber es sei eine Hartz IV auch der negativ empfun- ganz andere Frage, ob diese Gleichbe- dene emotionale Aspekt der Bedürf- handlung ohne Berücksichtigung des tigkeit, da niemand als „Bedürftiger“ individuellen Einzelfalls auch tatsäch- abgestempelt werden wolle. Die Be- lich gerecht sei. dürftigkeitsprüfung sei mit einer Zudem habe das neue System – selbst Stigmatisierung von Menschen ver- bei Langzeitarbeitslosen – schon zu bunden. Vermittlungserfolgen geführt, wenn • Schließlich wurde beklagt, dass die auch bisher noch zu langsam und nicht Bedürftigkeitsprüfungen extrem weit ausreichend. Ferner verwies auf die in die Intimsphäre der Betroffenen Einrichtung verschiedener Programme, eingriffen; die umfassenden Kontrol- z.B. in Regionen ab einer Arbeitslosen- len durch die Behörden seien eine quote von 15 Prozent der sogenannte Zumutung für jeden Bürger. Kommunal-Kombi, bei dem zusätzliche sozialversicherungspflichtige Arbeits- Darauf erwiderte Elke Ferner, dass mit plätze mit einem Kombi-Lohn öffent- den Hartz IV-Reformen die Scham- lich gefördert werden. Menschen ohne schwelle, Sozialleistungen zu beantra- Arbeit könnten dann sinnvolle, gesell- gen, keinesfalls größer geworden, son- schaftlich wichtige Tätigkeiten über- dern im Gegenteil gesunken sei. Denn nehmen, um ihre Chancen auf dem im Unterschied zur früheren Sozialhil- Arbeitsmarkt zu verbessern. Priorität fe bestehe jetzt ein eindeutiger Rechts- müsse immer haben, arbeitslose Men- anspruch, ohne Rückgriff auf Eltern und schen in Arbeit zu bringen. Kinder und mit deutlich günstigeren Anrechnungskriterien. So bekämen z. B. • Ein Teilnehmer verwies demgegen- Frauen ohne ausreichende Rentenan- über darauf, dass doch – trotz arbeits- sprüche nun im Alter eine Grundsiche- marktpolitischer Anstrengungen – rung, ohne dass ihre Kinder finanziell nach wie vor zu wenig Arbeitsplätze in die Verantwortung genommen wer- vorhanden seien. Die Politik müsse den. Die bedarfsorientierte Grund- auf das Phänomen der Massenar- sicherung habe viele Ungerechtigkeiten beitslosigkeit endlich angemessen des alten Systems beseitigt. Das Motto reagieren. Wenn Hartz IV das Ziel „Jedem das Gleiche“ beim bedingungs- verfolge, die Menschen ohne Arbeit P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 189 wieder in den Arbeitsmarkt zu inte- geschrumpft, was zu einem Arbeitsplatz- grieren, sei das letztlich zum Scheitern abbau geführt habe. Doch der Wegfall verurteilt, da insgesamt zu wenig von Arbeitsplätzen im industriellen Arbeitsplätze vorhanden sind. Wenn Sektor sei inzwischen so gut wie abge- Elke Ferner und Hans-Joachim Scha- schlossen. Dagegen würden im wach- bedoth am Ziel der Vollbeschäftigung senden Dienstleistungsbereich in den festhielten, dann müssten sie auch nächsten Jahren immer mehr Arbeits- eine konkrete Antwort auf die Frage plätze entstehen. Wenn die geburten- geben, wie Arbeitsplätze geschaffen starken Jahrgänge in Rente gehen, werden können. werde sich der – zum Teil gegenwärtig schon bestehende – Fachkräftemangel Schabedoth machte noch einmal deut- in manchen Bereichen und Regionen lich, dass aus seiner Sicht genug gesell- stark verschärfen. In absehbarer Zeit schaftlich notwendige Arbeit vorhan- würden sich somit ganz andere Heraus- den ist – das zeige z.B. der Blick auf forderungen auf dem Arbeitsmarkt er- Schulen und Universitäten. Diese Arbeit geben. Dann werde nicht nur Vollbe- müsse nur besser verteilt und auch schäftigung herrschen, sondern es bezahlt werden, was über Steuern finan- werde geregelte Zuwanderung notwen- ziert werden könnte. Bei der Schaffung dig sein, um den Arbeitskräftebedarf von neuen Arbeitsplätzen dürfe man decken zu können. sich nicht nur auf private Investoren verlassen, sondern die öffentliche Hand müsste in die Lage versetzt werden, mit gerechten Steuereinnahmen öffentliche Arbeit zu finanzieren. Eine Investition Welche Vorteile wären mit einem bedingungslosen Grundeinkommen verbunden? in öffentliche Arbeitsplätze sei somit dringend notwendig. • Angesichts der Probleme, die mit dem Zur weiteren Entwicklung des Ar- Wandel der Arbeitswelt einhergehen, beitsmarktes merkte Elke Ferner an, betrachteten einige Teilnehmer ein dass der Mangel an Arbeitsplätzen – und bedingungsloses Grundeinkommen somit auch die Massenarbeitslosigkeit als gute Lösung. Es herrschte die – in 10 bis 15 Jahren vermutlich been- Meinung vor, ein solches Modell det sei. Einige Beschäftigungsbereiche hätte verschiedene positive Auswir- seien zwar in den letzten Jahrzehnten kungen auf die Gesellschaft. 190 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G • Betont wurde das freiheitliche Mo- Werde der Betrag allerdings zu hoch ment, das mit der Einführung eines angesetzt, komme vielleicht tatsächlich bedingungslosen Grundeinkommens das „Schlaraffenland“ und niemand verbunden wäre: Die Menschen könn- wolle mehr arbeiten. Wichtig sei der ten ihr Leben freier gestalten, und sie Gedanke, dass Erwerbsarbeit nach Ein- hätten mehr Möglichkeiten, ihren führung des Grundeinkommens nicht persönlichen Neigungen und Wün- mehr schen nachzugehen. Es wurde ange- Dann könnten die Menschen Tätigkei- nommen, dass der Wegfall des Zwangs ten übernehmen, die ihnen wichtig zur Erwerbsarbeit zu einer deutlichen erscheinen, unabhängig davon, ob Zunahme von unternehmerischen andere sie auch für richtig oder wichtig Tätigkeiten, aber auch von freiwilli- halten, z.B. in den Bereichen Natur- gen und ehrenamtlichen Tätigkeiten schutz, Familie, Kultur, Bildung und führen würde. Pflege. existenzsichernd sein muss. • Das bedingungslose Grundeinkommen wurde als enormer Fortschritt • In einer Wortmeldung wurde vorge- auf dem Weg zu einer selbstbestimm- schlagen, das bedingungslose Grund- ten bürgerlichen Gesellschaft betrach- einkommen durch ein neues System tet. der Teilzeitarbeit zu ergänzen, damit • Wenn die Existenzsicherung durch jeder die Chance hat, am Erwerbsle- ein Grundeinkommen sichergestellt ben teilzunehmen und seinen Le- sei, würde sich die Verhandlungspo- bensstandard zu erhöhen. sition der Arbeitnehmerinnen und • Zudem wurde mit dem bedingungs- Arbeitnehmer bei Erwerbsarbeit stark losen Grundeinkommen eine positi- verbessern, da sie zu schlechten Jobs ve emotionale Komponente verbun- auch Nein sagen könnten, ohne von den: Da es alle Bürgerinnen und Armut bedroht zu sein. Dadurch Bürger erhalten, biete es die Chance, könnten die Arbeitnehmerrechte ge- das zum Leben Notwendige zu be- stärkt werden. kommen, ohne sich – wie im gegenwärtigen System – bedürftig fühlen Ralph Boes merkte dazu an, dass die zu müssen. Rechte der Arbeitnehmer nur dann gestärkt werden, wenn das Grundein- Prof. Opielka sah sich durch die große kommen hoch genug ist, so dass wirk- Zustimmung des Publikums zum Grund- lich kein Arbeitszwang mehr existiert. einkommen in seiner Auffassung bestä- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N tigt, dass es einen „natürlichen Impuls nach Gleichheit“ unter den Menschen 191 Welche nächsten Schritte sind politisch sinnvoll? gebe. Das Grundeinkommen sei in größeren politischen Zusammenhängen Elke Ferner hält das gegenwärtige Sys- zu sehen. Zentral sei die Frage: In wel- tem der bedarfsorientierten Grundsi- cher Gesellschaft wollen wir künftig cherung für das richtige Modell, auch leben, welchen Gestaltungsimpuls wol- wenn sie manche Punkte als durchaus len wir geben? verbesserungswürdig betrachtet. So In der Sozialdemokratie sei aber lei- sollte man z.B. darüber diskutieren, der ein Hang zur „Sozialhilfe-isierung“ inwiefern gesamtgesellschaftliche Auf- festzustellen, der eine erhebliche Dra- gaben, die bisher über die sozialen Si- matik berge. Zunächst wirke das be- cherungssysteme finanziert werden, in darfsorientierte Konzept, dass nur die Zukunft mehr über Steuern oder über wirklich Bedürftigen etwas bekommen eine Verbreiterung der Bemessungs- sollten, recht plausibel. Doch bei der grundlage finanziert werden könnten. Umsetzung sei ein hoher Preis zu zahlen: Sie betonte, dass die Bekämpfung Es bedürfe einer starken Kontrolle der von Armut nicht primär über staatliche Bürgerinnen und Bürger, man müsse Transferleistungen, sondern am besten die Exklusion eines großen Teils der über eine existenzsichernde Erwerbs- Bevölkerung akzeptieren, und man arbeit möglich sei. Die Politik habe die vertraue fälschlicherweise auf die Tech- Aufgabe, die hierfür notwendigen Rah- nik der bürokratischen Regulierung. menbedingungen zu schaffen, z.B. in Denn angesichts der Verschiedenheit Bezug auf Bildung, Ausbildung und der Menschen und der Ausdifferenzie- Kinderbetreuung. rung der Gesellschaft sei es heute nicht Prof. Opielka plädierte für universa- mehr möglich, durch bürokratische listische Regelungen, die gezielte Steu- Regelungen Gerechtigkeit herzustel- erelemente enthalten, wie z.B. im Ge- len. Gerade dadurch gäbe es im aktuellen sundheitssystem. Er sei kein Befürwor- System viele Unschärfen und Ungerech- ter des Althaus-Modells, in dem jeder tigkeiten. Zudem verletze die Denkfi- das gleiche Grundeinkommen erhalten gur der „Bedürftigkeit“ das Anrecht der soll. Vielmehr favorisiere er Übergangs- Menschen auf Gleichheit. Insgesamt lösungen wie die – in seinem Vortrag gehe es bei dieser Debatte also um ein erläuterte – „Grundeinkommensversi- tieferes philosophisches, politisches und cherung“, die zwar jedem Bürger ein zeitgeschichtliches Problem. Grundeinkommen garantieren soll, 192 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G doch mit Abstufungen. So könnten im tieren. Einerseits spreche vieles für ein ersten Schritt all jene, die keiner Er- Grundeinkommen, doch letztlich sei werbsarbeit nachgehen möchten – und entscheidend, wie ein solches Modell in dieser Zeit z.B. auch keine Kinder ausgestaltet wird, ob es finanziell um- erziehen oder studieren – nur ein teil- gesetzt werden kann und auf Akzeptanz weises Grundeinkommen erhalten, eine in der Bevölkerung stößt. Neoliberale Art „BAföG für Alle“, bei dem die Hälf- Konzepte, die nur den Markt im Blick te des Beitrags als Darlehen ausgezahlt hätten und den Einzelnen mit einem wird. Entscheidend sei die Frage der Pauschalbetrag abspeisten, lehnt er Grundrechte; Opielka appellierte an die strikt ab. Denn dadurch würden manche Sozialdemokraten, über eine grund- Menschen ins Abseits, an den Rand der rechtliche Ausrichtung der gesamten Gesellschaft gestellt – und der Staat Sozialpolitik werde aus seiner Verantwortung entlas- nachzudenken – ein Grundeinkommen würde in ein solches sen. Konzept gut hineinpassen. Über die In der gegenwärtigen Situation hält Ausgestaltung im Detail könne man er es für sinnvoll, auf einen Strategie- dann noch sprechen. Mix zu setzen. Bisher gebe es keinen Prof. Talos hält es gesellschaftspoli- Beleg dafür, dass Menschen mit einem tisch nicht für zielführend, Grundsi- Grundeinkommen nicht mehr arbeiten cherung und Grundeinkommen als sich würden – gerade weil Arbeit viel mehr ausschließende Alternativen zu disku- biete als nur ein Einkommen zur Exis- P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 193 tenzsicherung, sondern z.B. auch mit recht, in einer Wohlstandsgesellschaft Anerkennung und Selbstverwirklichung menschenwürdig leben zu können. Das verbunden sei. Am besten wäre aus bedürfe nicht nur materieller Transfer- seiner Sicht eine Kombination aus Pau- leistungen wie Geld, sondern einem schalbetrag einerseits und am indivi- Mix von Maßnahmen auf verschie- duellen Bedarf orientierten Zusatzleis- denen Politikfeldern, wie der Bildungs-, tungen andererseits. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Talos betonte die große Bedeutung Dr. Claus Schäfer schloss die Diskus- der Aufklärung beim Thema Grundein- sion mit dem Hinweis, dass man die kommen, das sehr stark mit Vorbehalten Debatte um ein bedingungsloses Grund- behaftet sei, die durch die Medien häu- einkommen prinzipiell begrüßen müs- fig noch verstärkt werden. Zukünftig se – unabhängig davon, ob man die könnten die gesellschaftlichen Teilha- Umsetzung eines solchen Modells be- bechancen aller Bürgerinnen und Bür- fürworte oder nicht. Denn Konzepte ger nur dann gesichert werden, wenn eines Grundeinkommens würden den in einem Aufklärungsprozess deutlich Finger auf die Wunden in den gegen- gemacht wird, in welcher Situation sich wärtigen sozialen Sicherungssystemen unsere Gesellschaft befindet, wo Pro- legen, die angesichts der gesellschaft- bleme liegen und wie die bestehenden lichen Entwicklungen dringend reform- Systeme reformiert werden müssen. bedürftig seien. Letztlich gehe es um das Menschen- 194 5 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Personenverzeichnis Rudolf Anzinger Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (z.Zt. der Veranstaltung), Berlin Studium der Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main. Nach der Zweiten Juristischen Staatsprüfung Eintritt in das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, dort u.a. Leiter des Leitungsstabes und des Ministerbüros (1998–2001) sowie der Abteilung „Leitung und Strategie, Presse und Öffentlichkeitsarbeit“. Von 2002 bis 2005 Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, von 2005 bis 2008 Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Achim Battenberg Geschäftsführer der VHS Ennepe-Ruhr-Kreis Süd Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Pädagogik in Bonn und Köln. Mitarbeit im Informationszentrum Sozialwissenschaften Bonn in der Statistikabteilung (1980–1983), anschließend beim Forschungsprojekt „Alters- und Familienforschung“ an der Universität Bonn (1984–1986). Von 1987 bis 1995 Fachbereichsleiter für Politische Bildung an der VHS Ennepe-Ruhrkreis-Süd, seit 1995 deren Direktor. Seit 2006 Geschäftsführer der VHS-Tochtergesellschaft DIA gGmbH (= Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt). Ein Arbeitsschwerpunkt ist u.a. der Aufbau von regionalen und bundesweiten Netzwerken in der beruflichen Bildung. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Ralf Boes Vorstandsmitglied der Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen, Berlin Studium der Philosophie und Kunstgeschichte. (Ergo-)Therapeut und Leiter der „Arbeitsgemeinschaft für Geistesschulung“ in Berlin. Vorstandsmitglied der „Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen“ in Berlin und Autor des Buches „Gedanken vom Kosmos – Die Welt im Lichte idealischer Naturwissenschaft. Betrachtungen und Korrekturen zum naturwissenschaftlichen Weltbild unserer Tage“ (1998). Kurse und Vorträge zum Thema Anthroposophie. Dr. Angela Borgwardt Politologin, Autorin und Redakteurin, Berlin Studium der Politologie, Germanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin, Promotion am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften zum Thema Selbstbehauptungsstrategien in einem autoritären Herrschaftssystem („Im Umgang mit der Macht“, 2003). Autorin für Politik-Lehrbücher (Duden/Paetec), sowie freie Moderatorin, Redakteurin und Lektorin für Politikwissenschaft (Stiftung Wissenschaft und Politik, Friedrich-Ebert-Stiftung), Literatur/Kultur (Suhrkamp Verlag, Akademie-Verlag). Ehrenamtliche Tätigkeit als Geschäftsführerin des Fördervereins der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF) in Berlin. PD Dr. Stefan Büttner Privatdozent für Philosophie, Firma „denkInform“, Potsdam Studium der Philosophie, Griechische Philologie und Genetik an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und München. Nach der Habilitation Privatdozent für Philosophie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, seit 2006 an der Universität Potsdam. Von 2000 bis 2002 Referent im Referat Presse und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums für Justiz, von 2004 bis 2006 Referent für Grundsatzfragen und Leiter der „Sozialakademie Haus Silberbach“ beim Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk-Lazarus. Seit 2006 selbstständige Tätigkeit als Teamentwickler und Projektmanager sowie als Referent, Moderator und Bildungsorganisator mit der Firma „denkInform“. 195 196 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Gabi van Dyk Mitgesellschafterin jobkontakt GmbH (z.Zt. der Veranstaltung), Vorstand „Lebensunternehmer eG“, Köln Von 1987 bis 1994 Fachangestellte beim Arbeitsamt Coesfeld und Gronau im Bereich Arbeitsvermittlung und Beratung. Anschließend Regionalleiterin Arbeitnehmerüberlassung der Start Zeitarbeit NRW GmbH Gronau und Duisburg. 1997 Projektleiterin für die Vermittlung von Sozialhilfebeziehern bei einer niederländischen Arbeitsvermittlung. Im Rahmen einer Tätigkeit bei der agentur mark GmbH Beraterin des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie der Regionalagentur Märkische Region (2001 bis 2005). Von 2006 bis 2008 Mitgesellschafterin und Leiterin der Arbeitsmarktprojekte bei der jobkontakt GmbH, zudem Vorstandsmitglied der Lebensunternehmer eG. Alfred Eichhorn Rundfunkjournalist, Inforadio Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) Ausbildung als Chemiefacharbeiter, anschließend Studium der Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Ab 1967 Tätigkeit beim Rundfunk der DDR und 1989/90 letzter Chefredakteur von Radio DDR. Als Autor des Programms von Radio DDR 2 dokumentierte er das künstlerische und politische Wirken prominenter Kulturschaffender (u. a. Peter Härtling, Rolf Hochhuth, Günter Wallraff). Nach der Wende 1989/90 Mitarbeiter beim Sender Freies Berlin (SFB), dem heutigen Rundfunk Berlin-Brandenburg RBB (nach Fusion mit dem ORB). Gegenwärtig Moderator und Redakteur der Sendereihe „FORUM – Die Debatte im Inforadio“ beim Inforadio Berlin-Brandenburg. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Joachim Elsholz Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Berlin Ausbildung und Tätigkeit als Schaufenstergestalter, gleichzeitig Jugendvertreter in der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV). Von 1990 bis 2007 in verschiedenen Funktionen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) tätig, ab 1997 als Bezirksleiter in Berlin-Mark Brandenburg. 2001 Wahl zum Vorsitzenden und Leiter der parlamentarischen Verbindungsstelle Berlin der IG BCE, hier verantwortlich für die Koordinierung der Arbeit zwischen Politik und Gewerkschaft. Seit dem Vorruhestand 2007 weiterhin ehrenamtliche Gewerkschaftsarbeit. Dr. Dietrich Engels Geschäftsführer des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG), Köln Soziologe und seit 1998 geschäftsführender Gesellschafter des ISG. Seit 1992 Berater der für Sozialhilfe zuständigen Abteilungen der Bundesministerien. In diesem Rahmen Verfasser mehrerer Gutachten zur quantitativen Entwicklung der Sozialhilfe und zur Schnittstelle zwischen Sozialhilfebezug und Arbeitsmarkt. Beteiligt an der Vorbereitung und Begleitung des Prozesses der Armuts- und Reichtumsberichterstattung und Mitwirkung bei der Erstellung der beiden Armutsund Reichtumsberichte der Bundesregierung sowie des Nationalen Aktionsplans zur sozialen Eingliederung. Empirische Untersuchungen u.a. zu den Themen „Hilfe zur Arbeit“ und „Lohnabstandsgebot“. 197 198 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Eric Feise Projektleiter von gEMiDe, Modellprojekt zu Förderung des gesellschaftlichen Engagements von MigrantInnen und eingebürgerten Deutschen, Hannover Ausbildung zum Schriftsetzer, anschließend Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Ruhr-Universität in Bochum sowie Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule in Hannover. Gemeinsam mit Hülya Feise Aufbau des Modellprojekts zur Förderung des gesellschaftlichen Engagements von MigrantInnen und eingebürgerten Deutschen (gEMiDe), das durch bürgerschaftliches Engagement von MigrantInnen und Deutschen auf die Beförderung der Integration zielt. Gegenwärtig Projektleiter von gEMiDe. Elke Ferner, MdB Stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin Ausbildung zur EDV-Kauffrau, dann Arbeit als Programmiererin in Saarbrücken. Von 1990 bis 1998 und seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 1983 Mitglied der SPD, dort verschiedene Funktionen im Vorstand auf Kreis-/Stadt- und Landesebene, u.a. stellvertretende Vorsitzende des SPD Ortsvereins St. Johann, der SPD Saarbrücken, der SPD Saarland. Seit November 2005 stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. Von 1991 bis 1999 Vorsitzende der Arbeitsgruppe Sozialdemokratischer Frauen (ASF) in Saarbrücken und seit 2004 Bundesvorsitzende der ASF. Darüber hinaus Mitglied bei ver.di, der Arbeiterwohlfahrt, des Vereins Miteinander Leben und Lernen e.V. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Ferdos Forudastan Freie Journalistin und Moderatorin, Köln Studium der Rechtswissenschaften und der Politischen Wissenschaften in Freiburg/i.Br. Tätigkeit als freie Journalistin für verschiedene Zeitungen, ab 1989 drei Jahre für die „tageszeitung“ (taz), sechs Jahre für die „Frankfurter Rundschau“. Seit 1999 vorwiegend Moderatorin und Autorin für den WDR und den Deutschlandfunk sowie Dozentin an der Universität Dortmund und an der Akademie für Publizistik in Hamburg. Themenschwerpunkte ihrer journalistischen Arbeit sind Migration und Integration. Burgunde Grosse Gewerkschaftssekretärin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Landesbezirk Berlin-Brandenburg, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Ausbildung an der Höheren Wirtschaftsschule des Lette Vereins, anschließend Arbeit als kaufmännische Angestellte (bis 1992). Von 1992 bis 1997 Kreisvorsitzende des DGB-Kreises Berlin-Nord, seit 1997 Organisationssekretärin beim DGB Landesbezirk Berlin-Brandenburg. Von 1995 bis 2001 Bezirksverordnete im Bezirk Spandau, zuletzt stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Seit 2001 Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin, seit 2006 arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Berliner SPD-Fraktion und Tätigkeit im Ausschuss für Integration, Arbeit, berufliche Bildung und Soziales. Cordula Hartrampf-Hirschberg Vertreterin der Geschäftsführung, Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit, Chemnitz Studium der Rechtswissenschaften. Nach Referendariat und zweiter Staatsprüfung Beginn des Dienstes bei der Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg, später Wechsel in die Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit. Dort Referatsleiterin und Vertreterin des Abteilungsleiters im Leistungsbereich während seiner Aufbauphase. Im Zuge der Umorganisation im Jahre 2004 Übernahme der Hauptverantwortung für den operativen Bereich und somit auch für die Bereiche Vermittlung und Beratung. Seit Ende 2005 Vertreterin des Vorsitzenden der Geschäftsführung. Tätigkeitsschwerpunkt ist das operative Geschäft des Rechtskreises SGB II. 199 200 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Susanne Huth Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), INBAS Sozialforschung, Frankfurt am Main Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Politologie. Anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seit 2003 wissenschaftliche Angestellte und Projektleiterin bei INBAS-Sozialforschung GmbH. Darüber hinaus aktives Mitglied im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und hier Sprecherin der Arbeitsgruppe Migration/ Integration, die darauf zielt, der Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements von Migrantinnen und Migranten als Integrationsfaktor Geltung zu verschaffen. Verfasserin wissenschaftlicher Beiträge zu diesem Thema. Dr. Harald Klimenta Autor und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac, Regensburg Studium der Physik und VWL in München und Regensburg, Promotion 1999. 1987 Beitritt zum Bund Naturschutz und zur Partei „Die Grünen“. Verfasser der Bücher „Die 10 Globalisierungslügen – Alternativen zur Allmacht der Märkte“ (zus. mit Gerald Boxberger, 1998) sowie „Was Börsengurus verschweigen“ (2001/2002). Austritt aus der Partei „Die Grünen“. Seit 2001 Mitarbeit bei Attac. Mitbegründer von Attac Regensburg und gegenwärtig Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac und für diesen im Attac-Rat. 2006 erschien sein Buch „Das Gesellschaftswunder – Wie wir Gewinner des Wandels werden“, mit dem er Menschen Mut machen möchte, sich politisch zu engagieren. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Sylvia Kühnel Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit, Projektgruppe Bürgerarbeit, Halle (Saale) Abschluss als Diplomingenieurökonomin, dann Planerin und Produktionsleiterin in einem Bekleidungsbetrieb in Halle (1991). Anschließend Tätigkeit im Förderreferat des Regionalbüros SachsenAnhalt-Thüringen. Nach der Umstrukturierung der Regionaldirektion im Jahre 2004 Programmberaterin im Bereich Arbeitnehmerintegration, zur Zeit stellvertretende Leiterin des Programmbereichs Leistung und Leiterin des Projekts „Bürgerarbeit“ der Bundesagentur für Arbeit Sachsen-Anhalt-Thüringen. Peter Laudenbach Theaterkritiker und Journalist, Berlin Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft. Journalist für die „Süddeutsche Zeitung“, den „Tagesspiegel“, die Zeitschrift „theater heute“ und das Berliner Stadtmagazin „Tip“ sowie für das Wirtschaftsmagazin „brand eins“. Themenschwerpunkte: Theater, Kultur und Wirtschaft. Michael Lezius Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft e.V. (AGP), Kassel Diplomkaufmann, Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1975 Zweite Staatsprüfung für das Lehramt an berufsbildenden Schulen. Seit 1971 Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft e.V. (AGP). Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied der Stiftung „Sozialer Wandel in der unternehmerischen Wirtschaft“ (seit 1979). Referent und Autor zum Thema Mitarbeiterbeteiligung. 201 202 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Prof. Dr. Karl-Georg Loritz Hochschullehrer an der Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Studium der Rechtswissenschaften. 1983 Habilitation an der Universität Konstanz in Bürgerlichem Recht, Handelsrecht, Arbeitsrecht, Steuerrecht sowie Zivilprozessrecht. Von 1983 bis 1984 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht. Von 1984 bis 1998 Inhaber von Lehrstühlen an der TU Berlin, an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg sowie an der Universität Mainz. Seit 1998 Lehrstuhl für Zivilrecht, Steuerrecht und Arbeitsrecht an der Universität Bayreuth, dort Leiter der Forschungsstelle für deutsches und internationales Unternehmensteuer- und Kapitalanlagerecht. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsrecht, Steuerrecht, mit Schwerpunkt Unternehmensteuerrecht sowie Steuerrecht der Kapitalanlagen. Prof. Dr. Michael Opielka Hochschullehrer für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen Studium der Rechtswissenschaften, Erziehungswissenschaften an der Universität Tübingen, Ethnologie und Philosophie an der Universität Bonn. Promotion im Fach Soziologie, Habilitation an der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Seit 1991 wissenschaftlicher Angestellter und Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten. Von 1997 bis 2000 Rektor und Geschäftsführer der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft bei Bonn. Seitdem Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena und ehrenamtliche Tätigkeit als Geschäftsführer des Instituts für Sozialökologie in Königswinter bei Bonn. Publikationen u.a.: „Grundrente in Deutschland“ (Hrsg., 2004), „Wohlstand durch Gerechtigkeit. Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich“ (Mit-Hrsg., 2006). Weitere Publikationen zu Sozialpolitik und -reformen. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Reiner Rabe Geschäftsführer des Zentrums Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde (ZAL) Ausbildung als Spitzendreher, dann Studium der Ingenieurwissenschaften. Von 1991 bis 1998 Betriebsleiter und Geschäftsführer der privaten Bildungseinrichtung ZAL – Zentrum Aus- und Weiterbildung Babelsberg. Seit 1998 Geschäftsführer des Zentrums für Aus- und Weiterbildung Ludwigsfelde GmbH (ZAL) sowie geschäftsführender Gesellschafter einer privaten Unternehmensgruppe (Familienbetrieb). Darüber hinaus geschäftsführender Gesellschafter der ZAA ZeitArbeitsAgentur GmbH sowie der LHG Ludwigsfelder Handwerks- und Gewerbehof GmbH. Dr. Hans-Joachim Schabedoth Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Berlin Ausbildung zum Elektromechaniker, danach Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, Erziehungswissenschaften und Kunstgeschichte für das Lehramt an Gymnasien in Marburg. Anschließend Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall in Stuttgart, dann Wechsel in die DGB-Abteilung Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen, deren Leiter er seit 2001 ist. Tätigkeit an der Nahtstelle zwischen Gewerkschaften, Regierung und Parteien. Veröffentlichung zahlreicher Artikel, in denen er sich kritisch mit dem Konzept des Grundeinkommens auseinandersetzt. Dr. Claus Schäfer Referatsleiter am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), Düsseldorf Studium der Volkswirtschaft in Münster, Promotion in Bremen. Seit 1972 wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Neuere Veröffentlichungen: „Mindestlöhne in Europa“ (Sammelband zus. mit Bispinck, R./Schulten, Th., 2006), „Einkommen zum Auskommen. Von bedingungslosem Grundeinkommen, gesetzlichen Mindestlöhnen und anderen Verteilungsfragen“ (Sammelband zus. mit Gerntke, A./Rätz, W., 2004). 203 204 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Dr. Rolf Schmachtenberg Leiter der Unterabteilung Arbeitsförderung, Arbeitslosenversicherung, Grundsicherung für Arbeitsuchende und Arbeitsmarktstatistik, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin Studium der Mathematik in Heidelberg und Paris, Promotion im Fach Volkswirtschaftslehre. Nach einer Lehrtätigkeit an den Universitäten Mannheim und Bonn von 1991 bis 2001 Leiter der Abteilung „Arbeit“ im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg. 2002 Wechsel ins Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Im Rahmen seiner jetzigen Tätigkeit als Leiter der Unterabteilung „Arbeitsförderung, Arbeitslosenversicherung, Grundsicherung für Arbeitssuchende und Arbeitsmarktstatistik“ im Bundesministerium für Arbeit und Soziales zuständig für die Umsetzung der Empfehlungen der sog. „Hartz-Kommission“. Ludwig Stiegler, MdB Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion für die Bereiche Wirtschaft und Technologie, Arbeit, Tourismus, Berlin Studium der Rechtswissenschaften, Soziologie und Politik an den Universitäten München und Bonn. Anschließend Tätigkeit als Rechtsanwalt. Von 1962 bis 1973 Mitglied der IG Bergbau und Energie, seit 1973 Mitglied der ÖTV/heute ver.di. 1964 Eintritt in die SPD. Seit 1980 Mitglied des Bundestages. Von 1987 bis 1992 und 1994 bis 2006 Vorsitzender der Bayerischen SPD-Landesgruppe, 1998 bis 2002 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Gegenwärtig stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, dort für die Bereiche Wirtschaft und Technologie, Arbeit und Tourismus zuständig. Darüber hinaus Tätigkeiten in verschiedenen Ausschüssen des Bundestages (u.a. für Arbeit und Soziales) und Arbeitsgruppen (u.a. Mitarbeiterbeteiligung und Existenzsichernde Löhne). P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N Rolf Stöckel, MdB Sprecher der AG Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin Studium der Sozialarbeit an den Fachhochschulen in Düsseldorf und Dortmund. Von 1985 bis 1998 als Sozialarbeiter der Gemeinde Bönen mit dem Schwerpunkt Schuldnerberatung tätig. Seit 1975 Mitglied der SPD, seitdem auch Vorsitzender der SPD im Kreis Unna und beratendes Mitglied der SPD-Kreistagsfraktion. Seit Oktober 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. In verschiedenen Funktionen tätig, u.a. Mitglied im Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion, Vorsitzender der NRW-Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion, Mitglied im „Ausschuss für Arbeit und Soziales“. Darüber hinaus Sprecher der Arbeitsgruppe „Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration“ der SPDBundestagsfraktion. PD Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Hochschullehrer an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Studium der Volkwirtschaftslehre in Bielefeld, Promotion und Habilitation in Frankfurt am Main. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld, Professur für Sozialpolitik an der Universität Frankfurt am Main sowie am Institut für Haushaltökonomie und Gender Economics der Universität Hohenheim. Gegenwärtig Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Goethe-Universität Frankfurt, freiberuflicher Gutachter und Politikberater. Zahlreiche Gutachten und Veröffentlichungen zur empirischen Armutsforschung und zur Reform der sozialen Sicherung. 205 206 F R I E D R I C H - E B E RT- S T I F T U N G Prof. Dr. Emmerich Talos Hochschullehrer am Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien Studium der katholischen Theologie in Wien und Tübingen sowie Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien in Wien. Von 1971/1972 Verlagslektor in Mainz. Habilitation 1980. Seit 1983 Professor für Politikwissenschaft am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Themen Sozialstaat, Wohlfahrtsvergleich und Sozialpartnerschaft. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören „Bedarfsorientierte Grundsicherung“ (Hrsg., 2003), „Sozialstaat. Probleme, Veränderungen, Herausforderungen“ (Hrsg., 2003) und „Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945–2005“ (2005). Andrea Wicklein, MdB Vorsitzende der Arbeitsgruppe Aufbau Ost der SPD-Bundestagsfraktion, Berlin Ausbildung zur Fachverkäuferin, anschließend Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule Leipzig. Von 2000 bis 2002 Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg. Seit 2002 Abgeordnete des Deutschen Bundestages, hier stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der SPD-Bundestagsfraktion. Seit November 2005 stellvertretende Sprecherin der Landesgruppe Brandenburg, seit Februar 2006 Sprecherin der Fraktionsarbeitsgruppe „Aufbau Ost“. Darüber hinaus Obfrau der SPD-Fraktion im Unterausschuss Regionale Wirtschaftspolitik des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Technologie. P R O J E K T G E S E L L S C H A F T L I C H E I N T E G R AT I O N 207 Informationen zum Projekt „Gesellschaftliche Integration“ im Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung Ansprechpartnerin: Franziska Richter Forum Berlin Hiroshimastr. 17 10785 Berlin Telefon: 030 26 93 58 41 Telefax: 030 26 93 58 57 E-Mail: [email protected] Internet: www.fes.de/integration PRO PR OJJEK EK T GESELLSCHAFTLICHE INTEGRATION ISBN 978-3-89892-946-2 2020 Deutschland im Jahr 2020: Eine freie, solidarische und kinderfreundliche Gesellschaft mit gleichen Chancen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Teilhabe unabhängig von Geschlecht und Herkunft; eine lebendige Demokratie; eine nachhaltig wachsende Wirtschaft mit guter Arbeit für alle; ein vorsorgender Sozialstaat, der mehr Bildung und Gesundheit ermöglicht; ein Land, das in Europa und der Welt Verantwortung für Frieden und sozialen Fortschritt übernimmt. Für dieses soziale Deutschland arbeiten wir. • Wir wollen Wege in eine soziale und nachhaltige Zukunft für Deutschland aufzeigen und dazu passende Strategien und Politiken erarbeiten und vorstellen. • Unsere Analysen und Konzepte werden wir zum Gegenstand eines breiten gesellschaftlichen Diskurses mit Politik, Gewerkschaften, Wirtschaft, mit Fachleuten und Öffentlichkeit machen. Mehr Informationen finden Sie unter www.fes.de/zukunft2020 Ansprechpartner: Dr. Michael Dauderstädt Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik E-Mail: [email protected] w w w. f e s . d e / z u k u n f t 2 0 2 0 Analysen, Konzepte, Diskurse für ein soziales Deutschland