Leben und Sterben mit der Bibel Sterberituale im lutherischen
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Leben und Sterben mit der Bibel Sterberituale im lutherischen
Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882 Deutsches Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes 2384 Leben und Sterben mit der Bibel Sterberituale im lutherischen Protestantismus1 von Ulrich Bubenheimer 1. Sterberituale im Luthertum Liest man die Sterbeberichte früherer Jahrhunderte, so fällt - verglichen mit heutigen Verhaltensweisen - eine starke Ritualisierung des Sterbens auf. Man starb nicht nur in vertrauter Umgebung unter vertrauten Menschen, sondern auch in vertrauten, eingeübten Ritualen. Das Ritual bot Sterbenden und Trauernden Verhaltenssicherheit. Es half, die Krise des Sterbens in den letzten Tagen oder Stunden eines Lebens durchzustehen. Im Luthertum hat sich zwar kein uniformes, für alle verbindliches Ritual des Sterbens entwickelt. Dennoch gab es wiederkehrende Grundelemente der Gestaltung des Sterbens. Wir erfahren darüber vor allem aus den gedruckten Leichenpredigten. Diesen ist in der Regel eine Lebensgeschichte des Verstorbenen mit einer oft breiten Schilderung des Krankheits- und Sterbeprozesses beigegeben. Ich habe für diesen Vortrag Leichenpredigten aus dem 17. und 18. Jahrhundert herangezogen. Da viele Sterberituale früherer Jahrhunderte sehr langlebig waren und sich manche bis in die Gegenwart gehalten haben, werde ich Erinnerungen aus meiner Kindheit und Erlebnisse aus dem Umgang mit der Generation meiner Großeltern mit aufnehmen.. Zu den wiederkehrenden Grundformen des Sterberituals gehörten die Spendung des Abendmahls mit Beichte und Glaubensbekenntnis; wiederholte Gebete des Sterbenden und der Anwesenden; die biblischen Trostsprüche, die sich der Sterbende selbst vorsagte oder die ihm von anderen zugesprochen wurden; das Singen oder Sprechen von Liedern; das letzte Wort des Sterbenden, oft ein schon vertrauter und für diese Stunde gelernter religiöser Stoßseufzer, z. B. "Herr Jesu, nimm meinen Geist auf"2; im Augenblick des Sterbens der Zuspruch und das Gebet oder Lied der Umstehenden. Ein Teil der zum Sterberitual gehörenden Elemente ist aus vorreformatorischer Zeit übernommen, z. B. das Sprechen von Gebeten oder die Sakramentsspendung durch den Geistlichen. Anderes wiederum hat eine zentrale Bedeutung erst im Verlauf der Ausbildung lutherischer Sterberituale bekommen wie z. B. das Ablegen eines Glaubensbekenntnisses. Typisch protestantisch ist die zentrale Bedeutung der Bibel im Kontext des Sterbens. 2. Bibelsprüche und Gebetbücher als Begleiter im Leben und Sterben In einer Leichenpredigt, die der Pfarrer Christoph Enßlin 1631 in der Reichsstadt Reutlingen hielt, wird von der verstorbenen Agnes geb. Fitzion, einer Ratsherrnwitwe, Folgendes erzählt: "In dem sie [nämlich Agnes] auch jhre Stuben/ Kammer/ BethLaden/ mahlen lassen/ hat sie alle Wänd mit schönen Sprüchen H. Schrifft/ oder sonst feinen Lehrhafften Reimen angefüllet/ ihr selbsten/ nicht weniger dann den jhrigen zu einem stetswehrenden Gedächtniß/ wie der Herr durch Mosen/ den Eltern befohlen hat/ jm 5. Buch am 6. Cap.3Diese Wort/ die ich dir heüt gebiete/ soltu zu Hertzen nemmen/ vnd solts deinen Kindern schärpffen/ etc. ... Du sollt sie vber deines Hauses Pfosten schreiben/ vnd an die Thor."4 Die Reutlinger Bürgersfrau lebt nicht nur mit der Bibel, sondern in gewisser Weise räumlich in der Bibel. Die Heilige Schrift, reduziert auf biblische Kernsprüche und entsprechende fromme Reime, spricht zu Frau Agnes tagtäglich von allen Wänden ihrer Wohnstube und ihrer Schlafkammer, ja sogar von ihrer Bettlade, dem mit hochgezogenen Frontseiten ausgestatteten Holzbett. Die Inschriften auf Wänden und Bett sind das "stetswährende Gedächtnis", die beständige Erinnerung an das, was man schon aus der Bibel kennt. Die Bibel war vom 16. bis zum 19. Jahrhundert der protestantische Bestseller schlechthin. Zur Andacht des frommen Bürgers gehörte auch die fortlaufende Lektüre der ganzen Bibel. In den Leichenpredigten wird wiederholt berichtet, wie oft der oder die Verstorbene die Bibel ausgelesen hat. Von der 1757 in Obertürkheim bei Stuttgart 69jährig verstorbenen Pfarrerswitwe Juliana Rosina geb. Hiller wird berichtet: "Bey dem Beschluß des letztverwichenen 1756 Jahrs hatte sie die ganze teutsche Bibel samt denen köstlichen Randglossen des Seel. Lutheri das 56ste mal hinaus gelesen. Sie hatte es ohne Zweifel von ihrem seeligen Herrn Vater gelernet, der die Schrift, nach den einstimmigen Zeugnissen guter Freunde, die ihn näher gekannt haben, allezeit in ihrem hohen Werth gehalten."5 Wir erfahren hier, daß die Jungen von den Alten in diese Bibelfrömmigkeit eingeübt wurden. Agnes geb. Fitzion in Reutlingen hatte sie von einer Base gelernt: "Die Jugend hat sie zugebracht bey einer eyffrigen Frawen/ welche jhre Baase gewesen/ ein fein Exemplarisch Weib/ vnd hat diß Töchterlein in Gottes Forcht vnnd Tugenden aufferzogen/ also das sie Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882mir [nämlich dem Prediger] gesagt/ sie hette auff Freündtliches Zusprechen/ da auch jedes mal ein Lönlin darzu kam/ jhrer gedachten Baasen/ die Heyl. Schrifft oder Bibel 14. mal für vnnd außgelesen/ wie jhr solches auch im Alter wol bekommen: Das sie nicht bald ein Tag hingehen lassen/ darinnen sie nicht/ neben jhrem Gebett/ vnnd feinen Historien/ auch hette jhr Bibel heimgesucht/ ..."6 Die regelmäßige Andacht der Frau Agnes bestand aus Gebet, der Lektüre erbaulicher Geschichten und dem Lesen in der Bibel. Eine der Bibel vergleichbare Funktion hatten die Gebetbücher. Von der 1715 in Ölsnitz in Sachsen verstorbenen Maria Magdalena Engelschall geb. Wild, Witwe eines kurfürstlichen sächsischen Rates, heißt es in der Leichenpredigt, daß in ihrem "tägliche(n) Hand- und Gebet-Buch" "die Gebete um Vergebung ihrer Sünden sich am meisten mit Ihren andächtigen Händen durchgriffen befinden".7 Die Formulierung "tägliches Hand- und Gebet-Buch" weist darauf hin, welches Andachtsbuch Maria Magdalena Engelschall durch das Leben begleitet haben dürfte, nämlich das berühmte Starcksche Gebetbuch, das folgenden Titel trägt: "Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen: Aufmunterung, Gebete und Gesänge für Gesunde, Betrübte, Kranke und Sterbende. Sprüche, Seufzer und Gebete, den Sterbenden vorzusprechen; nebst Andachten für die Festzeiten und bei besonderen Gelegenheiten".8 Dieses pietistische Gebetbuch gab der Frankfurter Prediger Johann Friedrich Starck (1680-1756) im Jahr 1727 zum erstenmal heraus und schloß 1731 mit einem Anhang noch eine Lücke, auf die ihn Frauen hingewiesen hatten: "Tägliches Gebetbüchlein für Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen sowie auch für Unfruchtbare". Das Buch wurde ein Bestseller für zwei Jahrhunderte und wird mancherorts vor allem von alten Leuten noch heute gebraucht. In vielen Häusern wurde es neben der Bibel zum zweiten Familienbuch, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Dementsprechend bot das Starcksche Gebetbuch in vielen Ausgaben wie in Familienbibeln vorgebundene Blätter für eine "Familien-Chronik" an, in denen die wichtigen Familienereignisse wie Geburten und Sterbefälle, die Namen der Vorfahren, der Kinder, Patenkinder u. a. eingetragen werden konnten. Ich lernte das Starcksche Gebetbuch noch in lebendigem Gebrauch bei meiner Großmutter väterlicherseits9 kennen. Als Bäuerin aus der Batschka war sie in der kirchlichen evangelisch-lutherischen Frömmigkeit ihrer Familie fest verwurzelt und hatte zudem Sympathien für die "Stundenleute" und die "Nazarener", pietistische bzw. charismatische Minderheiten in ihrem Dorf. Meine Großmutter las ihr Leben lang täglich in diesem Buch, das sie schon von ihren Eltern und Großeltern kannte. Vermutlich hatten bereits die um 1780 aus der Pfalz in die Batschka eingewanderten Vorfahren das Starcksche Gebetbuch ebenso wie ihre Bibeln mitgebracht. Einer der Gründe für den Erfolg dieses Buches war sein geschickter, lebensnaher Aufbau. Für alle Tage und alle wichtigen Ereignisse des Lebens wurden Gebete, Lieder und andächtige Betrachtungen angeboten. Dieses Buch war eine Hilfe, das Leben durch regelmäßige Gebete zu ritualisieren. Die Strukturierung des Lebens durch Gebetsrituale vermittelte die Großmutter schon früh auch mir und meinen Brüdern, ihren Enkelkindern. Sie sprach mit uns morgens am Bett ein Morgengebet, am Abend das Abendgebet. Sie betete mit uns an der Tür, bevor wir das Haus verließen, um in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen. Natürlich fehlten vor und nach jeder Mahlzeit die Tischgebete nicht. Aus dem Starckschen Gebetbuch las die Großmutter meistens allein, täglich mehrere Pausen in ihren Tageslauf einlegend. Zeitweise wurde in der Lesung nach dem Mittagessen aus diesem Buch gelesen. In Gebetbuch der Großmutter sind die Seiten, auf denen sich die Gebete für jeden Wochentag befinden, am stärksten abgegriffen, denn diese Gebete wiederholten sich regelmäßig. Das Starcksche "Tägliche Handbuch" half, die Krisen des Lebens und zuletzt des Sterbens zu bewältigen. Der Vierte Teil des Buches ist den Sterbenden gewidmet. Daraus las ich meiner Großmutter auf ihren Wunsch hin vor, als sie im Sterben lag. Nicht nur der Sterbende bekam in diesem Teil seine Gebete für das Sterbelager an die Hand, sondern den Angehörigen wurde ein Leitfaden für die geistliche Sterbehilfe gegeben. Besonders wichtig war eine Hilfe für das am Krankenbett geübte sogenannte "Zusprechen". Das Starcksche Gebetbuch stellte solche Trostsprüche zusammen unter der Überschrift "Seufzer, Sprüche und Gebete, welche die Umstehenden den Sterbenden vorsprechen können".10 Zwischen Bibel und Gebetbuch bestand eine enge Verbindung. Das Starcksche Gebetbuch bot nicht nur eine Fülle von thematisch geordneten Bibelzitaten, sondern auch die Gebete Starcks sind von biblischen Formulierungen durchtränkt. Bei den Seufzern und Sprüchen, die als Zuspruch für den Sterbenden gedacht waren, ist jeweils ein Bibelzitat mit einer Liedstrophe und einem Gebet verbunden. Ein Beispiel: Zwei "letzten Worten", nämlich demjenigen Jesu - "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist" (Luk 23, 46) - und demjenigen des Märtyrers Stephanus - "Herr Jesu, nimm meinen Geist auf" (Apg 7, 58) - folgt nach einer Liedstrophe folgendes kurze Gebet: "O mein Jesu! ich bete jetzt auch mit dir. Dein letztes Wort am Kreuze soll auch mein letztes Wort in meinem Leben sein. Herr Jesu! dir lebe ich, dir sterbe ich, dein bin ich tot und lebendig."11 Mitunter schrieben sich die Leute bei ihrer Lektüre einen eigenen persönlichen Schatz biblischer und anderer frommer Sprüche und Lieder zusammen, die sie auswendig lernten. Das war ein geistlicher Vorrat, den man lebenslang für die letzten Tage und Stunden des Lebens anlegte. Zu einem solchen Vorrat gehören auch die Bibelsprüche auf der Bettlade der Reutlingerin Frau Agnes, da die Bettlade in der Regel auch das Sterbelager war. Der Sterbende sprach sich, soweit er konnte, die Bibelworte sowie Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882Gesangbuchlieder selbst vor, oder andere sprachen ihm diese Texte als Trostsprüche zu. Die Sterbestunden von Frau Agnes in Reutlingen werden folgendermaßen beschrieben: "Wenig Tag vor jhrem seeligen Ableiben/ sprach sie zu jhrem lieben Tochtermann: Ich gehe jetzt in mein Beth/ daß ich mehr mit meinem allerliebsten Bräutigam Christo gnug sprachen möge/ wie frölich will ich mit jhm darvon ziehen/ wann es sein gnädiger Will ist alle Minuten vnd Augenblick bin ich zu diser Rayß gefaßt. Anders soll Niemand gedencken/ da man mich auch deß Morgens todt solte im Beth finden. Weil nun vorigen Abends/ wie sonsten mehr/ die Engbrüstigkeit sie hart gedrücket/ daß sie jhre Sprüchlein vnnd Psalmen zur Hand genommen/ auß tieffer Noth ruff ich zu dir.12 Ich ruff zu dir Herr Jesus Christ13/ etc. Also ist sie offt von der Stuben in jhre Kammer/ vnd wider in die Stuben gangen/ jhre grosse Schmertzen GOtt geklaget/ vnd Gestern vnder wahrer Anruffung Gottes von hinnen gescheiden."14 3. Das Abendmahl - Wegzehrung und Rechtgläubigkeitsbeweis Im Mittelalter gab es zwei Sakramente für die Sterbenden: Zum einen die Krankensalbung, deren letztmaliger Vollzug als "Letzte Ölung" bekannt ist, zum anderen die letzte Kommunion, bei der ein Priester dem Sterbenden die geweihte Hostie als Leib Christi reichte. Während die letzte Ölung in der Volksfrömmigkeit des Spätmittelalters vernachlässigt wurde, wollte man auf die letzte Kommunion nicht verzichten, so daß diese zum wichtigeren Sterbesakrament wurde. Der Priester brachte dieses auf dem sogenannten Versehgang zum Sterbenden. Dieser legte in einer privaten Beichte ein vollständiges Sündenbekenntnis ab und erhielt daraufhin vom Priester die Absolution. Die Hostie nahm man so spät wie möglich, teils legte der Priester sie dem Sterbenden im Augenblick des Sterbens in den Mund. Denn die Hostie galt als "viaticum", d. h. Wegzehrung für die letzte Reise, der man auch die Kraft zuschrieb, vor den der Seele auflauernden Dämonen schützen zu können.15 Im Protestantismus gab es unterschiedliche Entwicklungen in der Frage des Sterbesakraments. Die letzte Ölung fiel nach der Reduktion der sieben Sakramente der katholischen Kirche auf zwei - Taufe und Abendmahl - als Element des Sterberituals rasch weg. Da die Wortverkündigung und der Glaube an das Wort in das Zentrum des lutherischen Gottesdienstes gerückt wurden, war trotz der bleibenden Wertschätzung des Abendmahls im Luthertum der Empfang des Abendmahls auf dem Sterbebett nicht heilsnotwendig. Martin Luther selbst hat auf dem Sterbebett nicht kommuniziert; es reichte ihm, das Sakrament in den drei davorliegenden Wochen im Rahmen von Gottesdiensten zweimal genommen zu haben.16 Trotzdem setzte sich der Abendmahlsempfang auf dem Sterbebett im Luthertum wieder stark durch. Das lag einmal an der Volksfrömmigkeit, in der die Vorstellung vom "viaticum", der Wegzehrung für die letzte Reise, festgehalten wurde. Das Magische, das man mehr gefühlsmäßig als theoretisch mit dem Sakrament verband, ist noch Jahrhunderte zu spüren. Das wird besonders in den Fällen sichtbar, in denen den Sterbenden das Abendmahl nicht nur einmal gereicht wurde, sondern wiederholt, falls sich der Todeseintritt wider Erwarten verzögerte. Hier kann man erkennen, daß man - wie in der mittelalterlichen Tradition - mit dem Essen der "Wegzehrung" so nahe wie möglich an den letzten Atemzug herankommen wollte. Die 1757 verstorbene Juliana Rosina geb. Hiller in Obertürkheim nahm das Abendmahl einen Tag vor ihrem Tod, und der Prediger berichtete darüber: "Sonntags früh nahme sie sich vor, das heilige Abendmahl, das Angedenken des Todes unsers HErrn JEsu Christi, durch welchen wir mit GOtte versühnet sind, zu geniessen: und zwar aus dieser dringenden Ursache, daß sie nicht verkürzet werde. Es geschah solches auch gleich nach der Mittagskirch mit vieler Begierde, Reue, Demuth, Glauben und Verlangen nach dem Ewigen."17 Die Sterbende hatte die Sorge, bei fehlendem Abendmahlsempfang in der Gefahr zu stehen, "verkürzt" zu werden, d. h. einen geistlichen Nachteil bei Gott zu erleiden, der allerdings nicht näher benannt ist. Die Vorstellung von der "Wegzehrung" förderte das Bedürfnis bei den Sterbenden, das Abendmahl zu empfangen. Die Theologen und Prediger ihrerseits schrieben dem Abendmahl theologisch korrekt die Funktion zu, das Gewissen des Sterbenden zu trösten und ihn der Teilhabe an der ewigen Seligkeit zu versichern. Sie verbanden allerdings mit dem sogenannten Krankenabendmahl, das genauer ein Abendmahl für Sterbende war, noch ein anderes Motiv, nämlich das der Kontrolle und Durchsetzung der Rechtgläubigkeit des Sterbenden. Denn die Überwachung der Rechtgläubigkeit reichte in der Zeit des lutherischen Konfessionalismus bis ans Sterbebett.18 Insofern war der Prediger am Sterbebett nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Vertreter der staatskirchlichen Öffentlichkeit anwesend. Das Abendmahl war nicht nur mit Sündenbekenntnis und Absolution, sondern auch mit einem Glaubensbekenntnis verbunden. Das Ablegen des richtigen Glaubensbekenntnisses auf dem Sterbebett wurde von den Überlebenden auch als Beweis dafür gewertet, daß der Verstorbene keinen Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit hinterlassen hat. In der Frühzeit der Reformation war die Kommunion unter beiden Gestalten, d. h. der Genuß von Brot und Wein, zunächst ein Bekenntnis für die evangelische Bewegung und gegen die römische Kirche, in der den Laien der Empfang des Kelches verboten war. Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, der Luther Zeit seines Lebens heimlich gedeckt hatte, bekannte sich erst 1524 auf dem Sterbebett mit der Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882Kommunion unter beiden Gestalten öffentlich zu Luther. Später haben die Lutheraner das Abendmahl mehr zur Abgrenzung gegenüber den sogenannten Sakramentierern, vor allem den Schweizer Zwinglianern und den Calvinisten, genutzt. Diese lehnten Luthers Lehre, im Abendmahl sei Leib und Blut Christi real gegenwärtig, ab. Im Luthertum mußten sich die Kommunikanten bei ihrem Pfarrer zum Abendmahl anmelden und wurden vor der Abendmahlsfeier nach ihrem Abendmahlsverständnis befragt. Dies war eines der Mittel, heimliche Dissidenten aufzuspüren und Glaubenskonformität durchzusetzen. Das Glaubensexamen wurde mitunter auch am Sterbebett durchgeführt. Die Calvinisten lehnten das Krankenabendmahl und die Vorstellung von der "Wegzehrung" als Aberglauben ab. Deshalb konnte bei den Lutheranern der Empfang des Sterbesakraments den Charakter einer Abgrenzung gegenüber den Calvinisten gewinnen. Über den 1610 verstorbenen Tübinger Professor der Rechte Johann Valentin Neuffer sagte der Theologieprofessor Matthias Hafenreffer († 1619) im Lebenslauf: "Solchen seinen Glauben/ hat er [nämlich Neuffer] bey gesundem Leib/ vielmalen in der Gemein/ wie auch letztlich in wehrender Kranckheit/ mit Empfahung des heiligen Abendmals bestettiget. Vnd darbey sich mit grossem Eiffer gegen dem Allmächtigen Gott bedanckt/ das er jn vor allerley secten vnd Ketzereyen/ sonderlichen aber vor den erschröcklichen Calvinischen jrrthummen/ väterlichen behütet/ vnd mit seinem reinen/ allein seligmachenden wort des H. Evangeliums erleuchtet habe ..."19 Sterbende religiöse Dissidenten versuchte man im letzten Moment wieder in die Gemeinschaft der Kirche einzubinden. Der bekannte und im Pietismus geschätzte Mystiker Jakob Böhme (1575-1624), der zu Lebzeiten vom lutherischen Klerus seiner Heimatstadt Görlitz heftig verfolgt wurde, bat 1624 auf dem Sterbebett um das Abendmahl. Es wurde ihm vom Oberpfarrer erst gereicht, nachdem er in einem theologischen Examen die Formeln gebraucht hatte, die die orthodoxen Theologen hören wollten. Ein erschütterndes Beispiel für diesen Mißbrauch seelsorgerlicher Sterbebegleitung ereignete sich in Danzig 166220. Der Lehrer Heinrich Nicolai hatte dort 1645 für einen versöhnlichen Umgang der Religionsparteien plädiert und gefordert, die Theologen sollten sich in ihren Lehrformeln auf die Worte der Heiligen Schrift und die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse beschränken. Der Pfarrer Nathanael Dilger, der gegen Nicolai geschrieben hatte, ergriff den Wunsch des sterbenden Nicolai nach dem Abendmahl als Gelegenheit, ihm den Widerruf seiner früheren Überzeugungen abzupressen. Dabei gaben sich Dilger und ein ihn unterstützender Amtskollege nicht einmal mit dem schriftlichen Widerruf Nicolais zufrieden, sondern verlangten, daß der schwache Mann vor ihnen noch sichtbare Reue zeige. Nach stundenlangem Machtkampf hatten die Pfarrer Nicolai so weit. Dilger berichtet selbst in seiner Leichenpredigt auf den "bekehrten" Nicolai: "Er [nämlich Nicolai] aber richtete sich im Bette auff/ und mit sehr kläglichen Worten und Geberden sprach er: Wollen mir den die Herren das heilige Viaticum versagen? Wir antworteten/ Nein; wenn er es in wahrer Buß und wahrem Glauben an Christum ... begehrete/ solle es ihm keines wegs versaget werden ...." Als Pfarrer Dilger die Worte zitierte "Das ist gewißlich war und ein theures werthes Wort/ das Christus JEsus in die Welt gekommen ist/ die Sünder selig zu machen", fuhr Nicolai fort: "... unter welchen Ich der gröste bin [1 Tim 1, 15]/ ein recht grober/ schrecklicher und ungeschlieffener Sünder/ wand sich im Bett hin und wieder/ sprach: Ich armer Hund/ bin nicht werth das ich ein Sohn heisse: Aber ich werffe alle meine Sünd in den Abgrund infintiae [!] misericordiae Dei21." Erst nach dieser Selbstdemütigung des Sterbenden erteilte Pfarrer Dilger dem Todkranken die Absolution und reichte ihm das Abendmahl22. Deutlich ist zu erkennen, daß es den Seelsorgern nicht vorrangig um das Bedürfnis des Sterbenden ging, sondern um ihre eigene Selbstbestätigung durch den Widerruf des Sterbenden. 4. Sterbebegleitung und Erziehung zum Sterben Zum Sterberitual gehörten auch der Besuch von Verwandten und Freunden sowie die Anwesenheit von Angehörigen, teils auch von Freunden und Kollegen am Sterbebett. Oft war der Pfarrer anwesend, wie gesagt, nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Vertreter der Öffentlichkeit. Das Sterbezimmer war kein gegenüber der Öffentlichkeit abgeschirmter Intimbereich. Das Sterben hatte einen halböffentlichen Charakter. Über die Drucklegung der Leichenpredigten, die im Adel und im gehobenen Bürgertum üblich war, wurde der Sterbevorgang noch weiter öffentlich gemacht. Den Sterbenden war das bewußt und dieser Umstand beeinflußte auch sein Verhalten im Sterben. In der Regel starb man im eigenen, vertrauten Bett. Ein Bewußtsein für die Bedeutung körperlicher Nähe und Berührung für den Sterbenden wird gelegentlich ausgedrückt. Der 56jährige herzogliche Oberjustizrat Felix Wilhelm Breitschwert ist 1680 in Stuttgart, nachdem er schon "Gesicht und Gehör" verloren hatte, "unter dem Zuspruch der lieben Seinigen und Anverwandten/ in seinem Erlöser JESU Christo in den Armen seines Herrn Sohns seeliglich einschlaffen"23. Biblisches Muster dieser Geste körperlicher Nähe war das Bild vom verstorbenen Lazarus in Abrahams Schoß (Luk 16, 23). Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882Wenn wir von "Sterbebegleitung" sprechen, denken wir vor allem an das, was Angehörige, Seelsorger und Helfer für den Sterbenden tun. Überraschend ist das hohe Maß an Aktivität der Sterbenden selbst, mit der sie die Situation nach den Sterbeberichten früherer Jahrhunderte mitgestalteten. Von Juliana Rosina geb. Hiller in Obertürkheim wird 1757 berichtet: "Die Nacht vom Sonntag auf den Montag [d. h. die letzte Nacht vor ihrem Tod] brachte sie mit Singen und Lob Gottes zu, und gab dazu denen Umstehenden die Lieder selbst an Hand: Sie sprach sich selbst zu, und ließ sich zusprechen."24 Starck hat in seinem Gebetbuch am Anfang der "Seufzer, Sprüche und Gebete, welche die Umstehenden den Sterbenden vorsprechen können" die Anmerkung gemacht: "Fromme Christen thun auch wohl, wenn sie selbige bei gesunden Tagen sich bekannt machen, damit sie in dem Sterben, wenn durch die Krankheit das Gehör vergehen sollte, sich selbst in Gott ermuntern können."25 Man könnte den Verdacht haben, daß hier ein wirklichkeitsferner Anspruch erhoben wurde. Doch gibt es ein Sterben, in dem der Sterbende selbst die Regie führt, in einer ritualisierten Sterbekultur tatsächlich. Ich konnte das beim Sterben meiner Großmutter selbst miterleben. Sie starb 1984 im Alter von 94 Jahren. Sie war in ihrem hohen Alter, wie sie selbst sagte, lebenssatt und bereit zu sterben. Nach einem Schlaganfall wünschte sie keine Krankenhausbehandlung mehr und starb nach zweiwöchigem Krankenlager zu Hause, wo sie zusammen mit einer verwitweten Tochter, meiner Tante, wohnte. Während meiner Tante die Situation am Sterbebett nicht fremd war, erlebte ich damals - im Alter von 42 Jahren - zum erstenmal das Sterben eines Menschen unmittelbar am Sterbebett bis zum Eintritt des Todes mit. Entsprechend unsicher war ich in meinem Verhalten. Doch es war die sterbende Großmutter, die wußte, wie man stirbt, und die sagte oder durch Gesten zeigte, was zu tun war. Nachdem sie nicht lange vor ihrer Erkrankung das Abendmahl im Hause empfangen hatte, verzichtete sie darauf, den Dorfpfarrer ans Sterbebett zu rufen. Solange sie sich noch verständlich machen konnte, sagte sie mir, was ich ihr aus dem Starckschen Gebetbuch oder dem Gesangbuch vorlesen sollte. In der Sterbestunde selbst war es die Tante, die von früheren Erfahrungen her Bescheid wußte. Sie hatte auch ein letztes Wort bereit, das sie der Sterbenden ins Ohr rief: "Es geht heim, es geht heim." Die Eigenaktivität des Sterbenden hatte für diesen eine wichtige psychische Funktion. Er hatte Aufgaben, die die letzte Lebensphase ausfüllten und ihr einen Sinn gaben. Sie reichten von den letztwilligen Verfügungen über die Auswahl des Leichentextes, über den beim Begräbnis gepredigt werden sollte, bis hin zum Selbstzuspruch der vertrauten Trosttexte. Die Verantwortung des Sterbenden ging jedoch noch weiter. Er hatte im Generationenvertrag die Verantwortung, den nachwachsenden Generationen durch das eigene Sterben weiterzuvermitteln, wie man das Sterben bewältigen kann. Der Sterbende wurde nicht nur begleitet, er begleitete seinerseits auch seine Angehörigen. Am Sterbebett vollzog sich eine natürliche Form der Erziehung zum Sterben, deren Inhalt man in früherer Zeit "Sterbekunst", d. h. Kenntnis vom Sterben, nannte. In früheren Jahrhunderten war am Sterbebett in der Regel die ganze Familie einschließlich der Kinder anwesend. Jeder Mensch konnte von Kindheit an das Sterben anderer Menschen unmittelbar miterleben. Angesichts der hohen Sterblichkeitsrate wurden auch Kinder frühzeitig mit der Kunst des Sterbens vertraut gemacht. Die Trostsprüche lernten die Kinder in einem Alter auswendig, in dem sie deren Inhalt nur zum Teil verstehen konnten. Dieses Auswendiglernen vollzog sich zum Teil in den Familien, zum Teil in der kirchlichen Unterweisung. Später enthielten auch die Spruchbücher des Religionsunterrichts die Sprüche und Lieder, "welche lehren getrost sterben". Ein mir vorliegender Druck des württembergischen Spruch- und Liederbuchs von 1884 enthält schon für das zweite und dritte Schuljahr 20 solcher Sprüche, die die Kinder auswendig lernen mußten26, darunter z. B. folgenden: "Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein. Phil. 1, 21. 23."27 Dazu paßt das für das zweite Schuljahr verpflichtende Lernlied: "Christus, der ist mein Leben, und Sterben mein Gewinn ..."28 Die Kinder wurden frühzeitig mit den Sterbe- und Trauerritualen bekannt. Tendenzen, die Kinder davon fernzuhalten, sind erst eine moderne Erscheinung, die ein Teil der Tabuisierung des Todes ist. 5. Begräbnis- und Trauerrituale Der württembergische Theologe Johann Valentin Andreae (1586-1654) hat in seiner 1619 erschienenen utopischen Schilderung einer Idealstadt "Christianopolis" das Begräbnisritual der Christianopolitaner geschildert. Andreae nimmt hier einerseits auf, was in seiner Zeit Üblich war, zum anderen weicht er doch an einigen interessanten Punkten von der herrschenden Praxis ab und gibt damit zu Erkennen, welche Punkte nicht unumstritten waren. Ich zitiere Andreaes Ausführungen, die das Schlußkapitel der "Christianopolis" bilden: "Den entseelten Körper kleiden sie in ein weißes Gewand und tragen ihn am Tag nach dem Tod mit unbedecktem Gesicht fort; eine große Menge begleitet den Zug. Die jungen Leute singen Hymnen des Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882Prudentius29 und andere fromme Lieder. Die nächsten Verwandten folgen mit meist heiterem Gesicht und keiner anderen Kleidung als sonst. Sie sagen nämlich, den verstorbenen Christen müsse man beglückwünschen, nicht betrauern, und all jenes Gepränge bewirke nichts anderes, als uns zu entmutigen. Wenn er ins Grab gelegt und von seiner Mutter bedeckt ist, hören sie das Wort Gottes, das ihnen zum Sterben Mut macht und für das Leben belehrt. Eine Gedächtnisrede gibt es hier so gut wie gar nicht, da sie sagen, das könne man wohl kaum unverfälscht tun. Was für ein Mensch der Tote gewesen ist, weiß Gott, und die Hinterbliebenen erzählen es. Das ist sicherer als eine gekaufte oder erzwungene, bestimmt aber erdichtete Lobrede. Das Angedenken der Belobten wird in den Annalen festgehalten und spricht später für sich selbst. Bei uns dagegen ist die allzu große Menge der Helden verdächtig. Der Friedhof ist sehr weit und schön angelegt, aber außerhalb der Stadt, weil sie meinen, daß diese den Lebenden gehört. Rings an den Mauern sah ich einen Totentanz, der alle Gattungen der Menschen zum Grab führte, kunstvoll und sehr sinnreich gemalt. Niemand hat ein anderes Grabmal als ein Eisenkreuz, in das der Name des Verstorbenen gegraben ist, und so zählen die Nachkommen ihre Vorväter. Wenn das Kreuz verwittert ist, entfernen sie es und schreiben die Namen in ein Sterberegister, wo man sie leichter finden kann. Daß diese Dinge bei ihnen nicht sehr wichtig genommen werden, muß nicht verwundern, da sie dieses Leben sehr gering schätzen und auf das zukünftige Leben hoffen. Daher brauchen auch weder diese noch andere Unterschiede zu unseren Bräuchen seltsam erscheinen. ..."30 Die Friedhofsmauern von Christianopolis sind mit einem Totentanz ausgemalt. Der Totentanz war ein mittelalterliches Motiv. Der Tod holt Glieder aller Stände, Geschlechter und Altersklassen zum Tanz, d. h. zum Sterben. Der Reigen reicht vom Papst bis zum Bettler, vom Alten bis zum Kleinkind. Andreae hatte solche Totentanzdarstellungen in Basel und Bern gesehen31. Ihn interessierte an dem vom Protestantismus bis dahin nicht rezipierten Totentanzmotiv eine Aussage: Im Tod sind alle Menschen gleich. Dieser Sachverhalt ist für Andreae ein Symbol für die von Gott gewollte ursprüngliche soziale Gleichheit aller Menschen, wie er sie in dem Staat "Christianopolis" literarisch in Szene setzt. Er protestierte mit seinem Begräbniskapitel dagegen, daß sich in den Trauerritualen die Unterschiede der ständische Gesellschaft fortsetzten. Das ging los mit dem Totengeläut: Für den höheren Stand läuteten mehr Glocken als für den niedrigen. Einen Sarg konnten sich nur die reicheren Familien leisten. Für die ärmeren gab es gemeindeeigene Transportsärge, die nur gegen Gebühr für die Überführung von der Wohnung des Toten, wo er bis zur Beerdigung aufgebahrt war, bis zum Grab entliehen wurde. Die Leichname waren in ein Tuch eingenäht und wurden so ins Grab gelegt. Kraft Amtes hatte der Pfarrer nur die Aussegnung am Grabe zu leisten. Eine Leichenpredigt in der Kirche gab es gegen Bezahlung. Große Standesunterschiede gab es bei den Grabstätten. Die Adligen und Familien der Ehrbarkeit legten Wert auf Denkmäler, sogenannte Epitaphe, an oder in der Kirche, in der sich auch einige Familiengruften befanden, je näher dem Altar als dem Zentrum des Heiligen desto besser. Andreae wünscht, daß sich die Gleichheit des Menschen vor Gott auch in der Gleichheit der Begräbnisrituale ausdrücken möge. Jeder Mensch ist gleichermaßen ein Abbild Gottes, und da das Gesicht des Menschen der Inbegriff dieses göttlichen Bildes ist, werden die Menschen in Christianopolis mit unbedecktem Gesicht bestattet. Sie sind in ein weißes Gewand gekleidet32. Weiß ist die Farbe der himmlischen Freude und das Gegenstück zur schwarzen Trauerfarbe. Schon im Spätmittelalter sind weiße Grabtücher belegt, in die die Leichname eingenäht wurden33. Die Christianopolitaner erhalten alle dasselbe eiserne Grabkreuz34, das bis zu seiner Verwitterung stehen bleibt. Eine Leichenpredigt wird nicht gehalten. Am Grab werden Texte aus der Bibel gelesen. Gedächtnisreden mit der Vita des Verstorbenen lehnt Andreae ab aus der Erfahrung, daß über die Toten desto mehr Gutes gesagt wurde, je besser diese Reden bezahlt wurden. Für seine Ablehnung aller Begräbnisreden hatte Andreae ein Vorbild: Die Haltung Andreaes zu den Begräbnisreden entsprach dem, was im 17. Jahrhundert in Nürnberg üblich war, wo weder Leichenpredigten noch Nachrufe gehalten wurden. 1661 starb in Nürnberg der aus Württemberg stammende Advokat Christoph Welling. Einer seiner württembergischen Freunde, Johann Jakob Mochel, Pfarrer zu Plötzingen bei Rottweil und Superintendent des Amtes Balingen, unterlief die Nürnberger Praxis, indem er in Tübingen einen gereimten Lebenslauf auf Welling zusammen mit Trauergedichten, sogenannten Epicedien, einer Schwester35 und eines weiteren Verwandten Wellings36 veröffentlichte. Zur Rechtfertigung schrieb Mochel im Vorwort: "DIses Teutchse [!] Panagyricon, günstiger lieber Leser/ ist von den Freunden deß Seeligen Herrn Christoff Wellings der Vrsach also/ seinen gottseeligen Lebens-Lauff und fridliche Hinfahrt begreiffend zur billichen Ehre publiciret worden/ weil nach Gebrauch der Stadt Nürnberg bey Leichbegängnussen/ und Begrabung auch vornehmer Leuth keine Leichpredigten/ Personalia, sermones funerales, etc. nicht gebraucht werden. Demnach damit der seelige Herr/ gleichwie auch sein Vatter seeliger/ abgeforderte liebste Eheweiber und getrewe Verwandten insgemein, den Nachgelassenen zu desto besseren Angedencken recommendirt wären/ ist jhme zu billichem Nachklang seines eyffrigen Christenthums dise Gedächtnis-Säule auffgerichtet. Solchs wollestu nicht übel verstehen/ sondern hierinnen sein löbliches Exempel in einem und dem andern thun für dich nemmen/ ..."37 Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882Die Württemberger wollten es also nicht lassen, an Christoph Welling eine öffentliche Ehrung zu versäumen, die bei den Wellings schon zur Familientradition gehörte und auch dessen Vater, seinen Ehefrauen und weiteren Verwandten zuteil geworden war. Das Standesbewußtsein der Ehrbarkeit siegte über geistliche Bedenken. Die christliche Lehre, daß Sterben kein Verlust, sondern ein Gewinn sei, und die beständige Ermunterung zur Sterbesehnsucht warf das Problem auf, ob denn Trauer beim Tod eines Menschen eine dem Christen angemessene Haltung sei. Müßte man nicht vielmehr Freude über den Eingang einer Seele in die himmlische Seligkeit zeigen? Andreaes Christianopolitaner beglückwünschen den Verstorbenen dazu, daß er nun das himmlische Ziel erreicht hat. Selbst die nächsten Angehörigen zeigen beim Leichenzug meist ein heiteres Gesicht, und Trauerkleidung ist verpönt. Andreae scheint, veranlaßt durch seinen Biblizismus und den für ihn typischen Asketismus, den Sachverhalt zu verdrängen, daß Trauer eine natürliche Reaktion auf den Verlust eines nahestehenden Menschen ist. Anthropologische und psychologische Forschung haben die heilsame Funktion der Trauerriten aufgezeigt, die man in nahezu allen Kulturen antrifft. Allerdings gibt es auch festliche und freudige Riten im Zusammenhang mit Todesfällen bis hin zum ausgelassenen Tanz. In unserer Kultur findet sich ein Element davon im Leichenschmaus. Diese Riten helfen dazu, das durch den Verlust eines Menschen beschädigte soziale Netz einer Gemeinschaft durch gemeinsame positive Erlebnisse wieder zu festigen. Aus meiner Kindheit sind mir die Beerdigungsrituale beim Tod eines Nachbarn im Gedächtnis geblieben, Rituale, die heute zu einem großen Teil abgestorben sind. Ich mag damals, als der Nachbar Res starb, etwa sieben Jahre alt gewesen sein. Ich möchte zum Schluß diese meine erste Erinnerung an das Sterben in der Gestalt einer Erzählung wiedergeben, in der ich die Sterberituale aus meinem Erleben als Kind zu beschreiben versuche: Die Holzbank vor der gelben Wand gehörte zu Meiers Haus. Die Dachziegel waren bemoost, und der Putz schälte sich von den Wänden. Durch die Fenster unserer Wohnstube fiel der Blick auf dieses Haus, den Brunnen davor, aus dem Kühe und Pferde tranken, und auf die Bank. Eigentlich gehörte diese Bank dem Res, der dort zwischen der grauen Haustür und dem hölzernen Gartenzaun seinen Lieblingsplatz hatte. Ich kannte die Bank nicht ohne den Res. Wenn der Res redete, verstand ich nicht jedes Wort. Er hatte eine schwere Zunge. "Der ist nicht ganz richtig im Kopf", sagte unsere Mutter. Res war ein Bruder des alten Bauern Meier, dem er bei der einen oder anderen Arbeit zur Hand ging. Vor allem aber saß der Res auf der Bank. Er hatte Zeit, mit uns zu spielen und uns von seiner Bank aus zuzuhören. Wir durften ihn sogar naß spritzen, wenn wir das vom Brunnen aus schafften. Dann hob Res die Hand, als drohte er uns. Wir mußten flüchten. Doch bald saßen wir wieder beim Res. An einem Nachmittag schien die Sonne auf die Bank, zur gewohnten Zeit. Das rohe, nackte Holz der Bank warf seinen Schatten auf die rückwärtige gelbe Wand. Die Leute auf der Straße sagten leise: "Der Res ist gestorben." Wir Kinder trugen es weiter: "Der Res ist gestorben." Ein bißchen Stolz war dabei, wenn wir jemandem eine Neuigkeit bieten konnten in unserem kleinen Dorf. Zwei Tage später zogen zwei Pferde den Leichenwagen in Meiers Hof. Er hielt vor dem Brunnen und der Bank. Der schwarze Wagen hatte ein Dach wie einen Baldachin, an dessen Rändern Quasten baumelten, aus schwarzen und silbrigen Fäden geflochten. Der hölzerne Steg, der unterhalb des Daches rings um den Wagen führte, war mit Silberfarbe bemalt: Gekreuzte Palmzweige wechselten mit Sprüchen aus der Bibel. Die "Krone des Lebens" gab mir Rätsel auf. Feierlich wie der Wagen waren die schwarzen Pferde geschmückt mit den weißen Bändern über der Stirn und mit den kostbaren Decken. Die graue Haustür in ihrem steinernen Rahmen öffnete sich weit, weiter als sonst, und gab den Sarg frei. Vier Bauern des Dorfes trugen ihn vorbei an der Bank und schoben ihn auf den Wagen. Die Glocken läuteten vom Kirchdorf herunter in das enge Tal. Mit einem Lied setzte sich der Zug in Bewegung, voran das Kreuz, das bislang in der Kirche an der hintersten Bank stand. Dann folgten die Pferde, der Wagen mit Kutscher und Sarg, dahinter die Träger mit ihren schwarzen Zylindern, der Pfarrer mit dem runden Käppchen, die alten Meiers und die jungen, die Bauern, zuletzt die Bäuerinnen - fast das ganze Dorf in einem schwarzen Festzug zu Ehren von Res. Wir Kinder schlossen uns neugierig an. Auf dem halbstündigen Weg hinauf ins Kirchdorf wurden Lieder gesungen, bis der Wagen vor der alten Friedhofsmauer hielt. Wir Kinder blieben vor dem Friedhof, denn wir hatten keine Sonntagskleider an. Wir kletterten auf die Mauer, obwohl das verboten war. An Seilen so dick wie Glockenseile wurde der Sarg in die Grube hinuntergelassen, neben der sich die frische Erde türmte. Ab und zu wehte der Wind ein paar Worte des Pfarrers herüber: "Erde zur Erde, Staub zum Staube ..." Die Männer warfen dem Res Zweige nach, die Frauen Blümchen, die sie aus ihren Gärten mitgebracht hatten. Ich hätte auch gern ein Blümchen dazugeworfen, oder dem Res vielleicht mit einer Pusteblume nachgepustet. Wir Kinder wählten den vertrauten Fußweg bergab, den wir täglich nach Hause gingen, früher nach dem Kindergarten, jetzt nach der Schule, Sonntag für Sonntag nach der Kinderkirche. In den gemähten Wiesen blühten die Herbstblumen. Von hier oben konnte ich alle Häuser unseres Dorfes zählen. Es blieben immer gleich viel: vierundzwanzig. In der Mitte stand Meiers Haus mit dem Brunnen und der Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882leeren Bank. -----------------------------------------------------------------------Anm1 Abkürzungen: D Drucker; EKG Evangelisches Kirchengesangbuch; LP Leichenpredigt; EPS Evangelisches Predigerseminar; V Verleger; WLB Württembergische Landesbibliothek.zurueck Anm2 Philipp David Burk: Lob- und Dank-Predigt über 1 Mos. 32,10. Welche bey christlicher Leichbega (e)ngniß Frauen Juliana Rosina, geb. Hillerin, Weil. Herrn M. Johann Gottfried Neuheusers, Pfarrers zu Obertürckheim hinterlassener Wittib, den 20sten Jenner 1757 in der Kirche zu Obertu(e)rkheim gehalten,...Eßlingen: Gottlieb Mäntler (D), 1757, 43 (Universitätsbibliothek Tübingen: L XVI 75).zurück Anm3 Deut 6,6-9 zurück Anm4 Christoph Enßlin: Christliche Leichpredigt Vund Erkla(e)rung deß 71. Psalmens Davids v. 17. vund 18. Bey der Begra(e)bniß Der Ehrn vnd Tugendtsamen Frawen/ AGNES Geborner Fitzionin: Beeder H.H. Matthaei Baegers S vund Erhardt Spenglers S. Viljährigen RathFreundts/ hinterlassener Ehe geliebter Haußfrawen/ Wittiben:... Tübingen: Dietrich Werlin (D), 1632,26 (Stadbibliothek Reutlingen: 3276). zurück Anm5 LP Juliana Rosina geb. Hiller, 1757 (wie Anm. 2), 42 zurück Anm6 LP Agnes geb. Fitzion, 1632 (wie Anm. 4), 25.zurück Anm7 Georg Christoph Meyer: Ein Engels-Weib/ stellete bey dem seeligsten Ableben Der ...Fr. Marien Magdalenen Engelschallin gebohrner Wildin/ ... In einer schlechten Leichen-Rede/ ... M. Georg Christoph Meyer, ... Leipzig: Christoph Zunkel (D), [1715], 5 (EPS Wittenberg: Fun 657). zurück Anm8 Ich benütze eine Ausgabe Konstanz: Christliche Verlagsanstalt, o. J. [um 1950]. Hier S. 148-154 der Abschnitt: "Der gläubige Christ bittet seine Sünde ab". zurück Anm9 Margarete Bubenheimer, geb. Burbach, *1890 in Szajkas Sentivan in der Batschka (heute Jugoslawien), † 1984 in Walddorfhäslach Kreis Reutlingen, Baden-Württemberg. zurück Anm10 Johann Christoph Starck, Tägliches Handbuch, Konstanz o.J. (wie Anm. 8), 430-449. zurück Anm11 Ebd., 448. zurück Anm12 Gesangbuchlied von Martin Luther (1524): "Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein Rufen" (EKG, Ausgabe 1953, Nr 195).zurück Anm13 Gesangbuchlied des Wittenberger Theologen Johann Agricola (1526): " Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, ich bitt, erhör mein Klagen" (EKG 244). zurück Anm14 LP Agnes geb. Fitzion, 1632 (wie Anm. 4), 27 f. zurück Anm15 Himmel, Hölle, Fegefeuer: das Jenseits im Mittelalter; eine Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums .../Katalog von Peter Jezler. Zürich 1994, S. 266 f.zurück Anm16 D. Martin Luthers Werke: kritische Gesamtausgabe, Bd 54, Weimar 1928, 488, 3-8. zurück Anm17 LP Juliana Rosina geb. Hiller, 1757 (wie Anm. 2), 43.zurück Anm18 Ulrich Bubenheimer, Beobachten - Einbinden - Ausbuergern: Kultur der Anpassung in der Tradition der evangelischen Kirche, in: Auf dem Weg zur Einheit: Aspekte einer neuen Identität/ hrsg. von Herberg Raisch, Idstein 1994, 62-75; 66-71.zurück Anm19 Matthias Hafenreffer: Passional vnd Leuchtpredigt: Vom Creutze vnd Tod Christi. Bey der Begräbnus Des Herrn/ Johann Valentin Neuffers/ ... Tübingen: Dietrich Werlin (D), 1610, 74 (WLB Stuttgart: Fam.Pr.oct.K. 12485).zurück Anm20 Ausführlicher habe ich den Fall in Bubenheimer 1994 (wie Anm. 18), 69 f. geschildert. zurück Dieser Text aus der Datenbank von Inforel ist nur für den internen Gebrauch und darf nicht weiterverbreitet werden! 2882 Anm21 der unendlichen Barmherzigkeit Gotteszurück Anm22 Nathanael Dilger: Christliche Predigt/ In der Pharr Kirchen zu Dantzig gehalten Als... Herr M. HEINRICUS NICOLAI, ... daselbst zur Erden bestätigt worden ist/ ... Lübeck: Valentin Schmalhertz Erben (D); Michael Volck (V), 1662, 67 f. (EPS Wittenberg: Fun 590/17). zurück Anm23 Johann Jakob Müller: Christliche Leich-Predig, ... als Der ... Herr Felix Wilhelm Breitschwert von Eningen/ (et)c. ... zu seiner ... Ruh-Kammer getragen/ und daselbsten eingesencket wurde/ ... Stuttgart; Johann Weyrich Rößlin (D), 1680, 34 (WLB Stuttgart: Fam.Pr.fol. 46). zurück Anm24 LP Juliana Rosina geb. Hiller, 1757 (wie Anm. 2), 43.zurück Anm25 Starck, Tägliches Handbuch, 430. zurück Anm26 Spruch- und Liederbuch oder Sammlung von Bibelspruechen und Gesangbuchliedern zum Auswendiglernen in den evangelischen Schulen des Königreichs Württemberg. Nebst Katechismus und Gebeten. Ausgabe von 1884. Reutlingen: Fleischhauer und Spohn (D/V), 1896, 31-33. zurück Anm27 Ebd., 32. zurück Anm28 Ebd., 75 f. Ein Gesangbuchlied aus Jena 1609 zurück Anm29 Aurelius Clemens Prudentius (348 bis um 405). zurück Anm30 Johann Valentin Andreae: Reipublicae Christianopolitanae descriptio, Straßburg: Lazarus Zetzners Erben (V), 1619, 213 f. (WLB Stuttgart: R 17 And 3). Folgende Übersetzung habe ich zugrunde gelegt und nach dem lateinischen Text verändert: Johann Valentin Andreae: Christianopolis/ aus dem Lateinischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort hrsg. von Wolfgang Biesterfeld, Stuttgart 1975, 138 f. zurück Anm31 Andreae hatte 1611/12 eine Reise in die Schweiz und nach Frankreich unternommen. Über seinen Aufenthalt in Basel schrieb er in seiner Autobiographie: " Ich lernte den Theologen und Polyhistor Johann Jakob Grasser und den berühmten Anatomen Kaspar Bauhin kennen, die unter wenigen überlebt hatten, als eine gewaltige Volksseuche wütete und alle Friedhöfe füllte. Auf einem dieser Friedhöfe sieht man im Umgang einen Totentanz von dem edlen Johann Holbein, dem ersten Maler seiner Zeit. Ich erinnere mich, auch in Bern einen solchen, nicht weniger kunstvollen, gesehen zu haben." Johann Valentin Andreae: Vita, ab ipso conscripta. .../ ed. F.H. Rheinwald, Berlin 1849, 25. Zum Basler und Berner Totentanz vgl. Himmel, Hölle, Fegefeuer (wie Anm. 15), 253 und Gion Condrau: Der Mensch und sein Tod: certa moriendi condicio, Zürich; Einsiedeln 1984, 304-307. zurück Anm32 In Himmel, Hölle, Fegefeuer, 1994 (wie Anm. 15), S. 268 ist auf einer Kölner Miniatur aus dem Jahr 1299 ein Mönch dargestellt, der in seiner Kutte begraben wird, allerdings ist die Kapuze über dem Gesicht zugenäht. zurück Anm33 Ebd. S. 271f. ist in zwei französischen Miniaturen, beide um 1480, der Tote jeweils in ein weißes Tuch eingenäht, in beiden Fällen mit bedecktem Gesicht. zurück Anm34 Ich konnte für die Zeit Andreaes eiserne Grabkreuze bislang nicht nachweisen. Spätere Belege bei Barbara Happe: Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870. Tübingen 1991, 202-204 zurück Anm35 Sabina Kromppein geb. Welling. zurück Anm36 Wolfgang Sigmund Geß, Substitutus in der Stadt- und Amtsschreiberei Balingen. zurück Anm37 Johann Jakob Mochel: ... Wellingische Geda(e)chtnuß-Saul [!]/ Oder Der Lebens-Lauff/ Deß ... Herrn: CHRISTOPF WELLINGS, Beeder Rechten Licentiaten/ (et)c. ... Tübingen: Johann Heinrich Reiß (D), 1662, 2. zurück