3/2016 - Inprekorr

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3/2016 - Inprekorr
inprekorr
Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ
INTERNATIONALE
SOLIDARITÄT
STATT ABSCHOTTUNG
Mai/Juni
3/2016
Ausgabe 3/2016
Kurdistan
Irland
Dossier: Imperialismus
DEN KREISLAUF
DURCHBRECHEN!
UNTERSTÜTZUNG
FÜR DEN KAMPF
DES KURDISCHEN
VOLKES
IMPERIALISMUS
UND
GLOBALISIERUNG
JAMES CONNOLLY
– IRLANDS
BEDEUTENDSTER
REVOLUTIONÄR
„Für uns, die Türkei, ist die Flüchtlingsfrage nicht die Frage eines Geschäfts, sondern eine Frage der Werte, der humanitären
Werte und der europäischen Werte.“ Premier
Davutoglu, 18.3.2016
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Der größte Hersteller für Wasserwerfer, die Firma Katmerciler, verkündete Ende vergangener Woche einen
neuen Rekordgewinn für
2015. Um mehr als 100%
soll der Profit gestiegen
sein.“, SZ vom 15.3.16.
19
„Das Transpazifische Handelsabkommen erlaubt es
Amerika, die Regeln
für das 21. Jahrhundert
zu schreiben - und nicht
Ländern wie China.“
(US-Präsident Barack
Obama)
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Der Osteraufstand
von 1916 wird in
Irland eher vermarktet
und zum sterilen
Nationalmythos
verbrämt, statt die
Lehren daraus auf die
aktuellen Verhältnisse
zu übertragen.
„Frankreich muss
auf die Jugend
hören“, heuchelt
Premier Valls und
versucht, mit vagen
Zugeständnissen
an Studierende und
Azubis der Jugend den
Widerstand abzukaufen.
Ein Dossier mit
2 Beiträgen
Büro der
IV. Internationale
Ein Dossier mit
4 Beiträgen
Von Harkin Shaun
Ein Dossier mit
3 Beiträgen
Dossier: Migration
4
Dossier: Frankreich
DER ZORN BLEIBT
WACH
39
I N H A LT
Dossier: Ökologie
die Internationale
ÖKOLOGIE IM
KORSETT DES
GLOBALISIERTEN
KAPITALISMUS
ÖKOSOZIALISMUS AUS
MARXISTISCHER
SICHT
ÖKOLOGIE ALS
KLASSENFRAGE
BEGREIFEN
44
Selbst die
Bourgeoisie
begreift, dass etwas
getan werden muss, z. B.
gegen den Klimawandel.
Die Größe ihres
Einsatzes ist aber wie
immer eine Frage des
Klassenkampfs.
Was ist aus
marxistischer Sicht
Ökosozialismus und gibt
es im Marxismus eine
ökologische Utopie?
Welchen Ansatz vertreten
die Technikkritiker
und die Verfechter der
„ecological society“?
Thesen für die Aufnahme einer ökosozialistisch orientierten
Arbeit gegen die kapitalistischen Verheerungen
der Umwelt. Zu den Ausgangsbedingungen und
einer schlüssigen Aufgabenstellung.
Ein Dossier mit
3 Beiträgen
Von Friedrich Voßkühler
Von Friedrich Voßkühler
und Jakob Schäfer
58
die Internationale
63
D O S S I E R : M I G R AT I O N
DEN KREISLAUF
DURCHBRECHEN!
Der nachfolgende Text diente auf der internationalen Leitungssitzung der
IV. Internationale im Februar 2016 als einleitender Bericht zum Thema
Migration. Auf seiner Grundlage wurde eine Resolution verabschiedet, die wir
ebenfalls dokumentieren.
Mamadou Ba
„
Um zu verhindern, dass weiterhin Menschen auf
der Flucht sterben, müssen die Grenzen fallen
Während in den vergangenen Jahrzehnten ungefähr 1,2
Millionen Flüchtlinge auf dem Land- oder Seeweg nach
Europa gekommen waren, haben allein im Jahr 2014 etwa
600 000 Menschen Asyl innerhalb der EU beantragt. 2015
hat sich diese Zahl nochmals verdoppelt und auch in den
ersten Monaten von 2016 ist der Trend ungebrochen. Seit
Inkrafttreten des Schengen-Abkommens 1985 hat Europa
– angeblich wegen des Wegfalls der Binnengrenzen – ein
riesiges Arsenal politischer, juristischer, polizeilicher und
militärischer Überwachungs-, Kontroll- und Repressionsmechanismen gegen die Flüchtlinge aufgebaut. Immer
neue strategische Instrumente werden – weit über Frontex
hinaus – geschaffen, um die freie Einreise nach Europa zu
behindern, die Außengrenzen abzuschotten und Jagd auf
die Flüchtlinge zu machen.
Beispiele dafür sind das Schengener Informationssystem (SIS), das Europäisches Polizeiamt (EUROPOL),
Zentralregister der verfügbaren technischen Ausrüstung für die Kontrolle und Überwachung (CRATE)
– also Flugzeuge, Hubschrauber, Marine, Satelliten
und Drohnen – oder die Soforteinsatzteams für
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Grenzsicherungszwecke (RABIT). Weiterhin das
beschleunigte Verfahren zur Registrierung der Flüchtlinge und der elektronischen Erfassung der Flüchtlingsströme mittels FAST TRACK bzw. ICONET, das
elektronische Reisegenehmigungssystem (ESTA), das
Visa-Informationssystem (VIS), die paramilitärische
Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an
den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union (FRONTEX) oder als jüngste und ausgefeilteste
Errungenschaft zur Flüchtlingsbekämpfung das Grenzüberwachungssystem EUROSUR.
Die Abwärtsspirale des Asylrechts
Mit dem Tampere-Programm von 1999 hatte Europa
beschlossen, die Flüchtlingspolitik auf bis dahin nicht
erreichten schärferen Standards zu vereinheitlichen. Diese
zunehmende Verschärfung der Flüchtlingspolitik blickt
inzwischen auf eine mindestens 30-jährige Tradition
zurück, die vom ersten Schengener Abkommen über das
Den Haag-Programm bis zum Stockholm-Programm
reicht. Stationen dabei waren der Gipfel von Sevilla 2002
mit der Schaffung eines Netzes von nationalen Verbindungsbeamten und die Dublin-II-Verordnung von 2003
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mit der Einrichtung einer europäischen Datenbank
(EURODAC) zur Erfassung der biometrischen Parameter.
Infolge steigender Flüchtlingszahlen wurde in Abstimmung mit dem UNHCR auf dem Haager Abkommen von
2004 die Politik der „sicheren Herkunftsländer“ bekräftigt
und das bereits genannte VIS eingeführt, wonach die Konsulate der europäischen Länder in den Herkunftsstaaten
sehr viel restriktiver Visa ausgeben sollten, um so angeblich
die illegale Einwanderung zu bekämpfen.
Ein zweites Ergebnis von Den Haag war die Schaffung
der FRONTEX mit Sitz in Warschau zum „Schutz der
europäischen Außengrenzen“, deren erster Großeinsatz
2006 bei den Kanarischen Inseln stattfand. Seither haben
Hunderte von offiziellen und verdeckten Einsätzen
stattgefunden, bei denen auf allen Wegen Jagd auf Flüchtlinge gemacht wurde, hauptsächlich an den südlichen und
östlichen Außengrenzen und gelegentlich in Zusammenarbeit mit der NATO. Betrug 2005 das Budget dafür
knapp über sechs Millionen Euro, so sind es inzwischen
ein paar Hundert Millionen. Unterhalten werden damit
über hundert Schiffe, jeweils zwei Dutzend Flugzeuge und
Hubschrauber sowie Drohnen, Satelliten und Radar- und
Erkennungssysteme. Neben den vielen Einsatzkräften gibt
es fast 300 Beamte.
Im Jahr 2010 wurden die Kompetenzen und Aufgabenbereiche von FRONTEX erweitert, die fortan nicht
nur für die Beschaffung der militärischen Ausrüstung
zuständig war, sondern auch für Charterflüge zur Massenabschiebung. Durch die Entwicklung des Überwachungssystems EUROSUR und den Einsatz der o. g.
Elektroniksysteme (v. a. FAST TRACK) ist FRONTEX
zum mächtigsten und ausgereiftesten Militär- und
Polizeiapparat geworden, der seit dem Zweiten Weltkrieg
in Europa erfunden wurde – mit dem Ziel, die Jagd auf
Menschen zu perfektionieren, deren einziger Fehler darin
besteht, Flüchtlinge zu sein. Das zur Verfügung stehende
Kriegsarsenal liegt höher als in vielen Ländern. Dadurch
und durch die EU-Flüchtlingspolitik an sich sind die
Risiken und Probleme für alle, die nach Europa wollen,
erheblich gestiegen, da mit jeder Verschärfung der
Einreisebedingungen eine tödliche Odyssee wahrscheinlicher wird.
Neben FRONTEX sind die Auffanglager und die
dortigen Bedingungen ein weiterer Bestandteil der
Beschneidung des Rechts auf Freizügigkeit und der
Menschenwürde und stehen ganz in der Tradition der
Kolonialära, mit der Europa weite Teile der Erde überzogen hat. Europas Grenzen sind dadurch zu wahren
Friedhöfen unter offenem Himmel geworden und der
Mord an Flüchtlingen zu einer unleugbaren Realität.
Immigration ist inzwischen nicht mehr nur ein gewinnbringendes Geschäft, sondern eine mörderische Politik, die
nicht nur in Form von Abschreckung und Erpressung
denen gegenüber betrieben wird, die nach Europa wollen,
sondern auch gegenüber den Herkunfts- und Durchreiseländern.
Um zu verhindern, dass noch mehr Tragödien an
Europas Küsten passieren, besonders im Mittelmeer und v.
a. in der Ägäis, wo die bisherige Bilanz bereits bei Zehntausenden in den letzten 20 Jahren liegt und mit dem
Syrienkrieg dramatisch ansteigt, brauchen wir dringend
eine politische Alternative zur heutigen Flüchtlingspolitik
und ihren verheerenden Folgen. Dabei werden wir vor
allem auf die zahlreichen und unterschiedlichen Erfahrungen zurückgreifen müssen, die die verschiedenen Initiativen und Verbände etc. in ihrem Engagement gegen die
herrschende und für eine andere Flüchtlingspolitik
gemacht haben.
Angesichts der Entpolitisierung der sozialen Bewegungen und dem programmatischen Verfall der traditionellen
politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in
dieser Frage muss das Thema grundlegend und offensiv
angegangen werden. Es muss eine Bewegung geschaffen
werden, die nicht nur die gängigen Paradigmen der
Flüchtlingspolitik angreift, sondern mit dem ganzen
herrschenden Politikmodell bricht, das der EU-Flüchtlingspolitik zugrunde liegt. Wenn man diese mörderische
Politik beenden will, muss man zwangsläufig den Kapitalismus beenden. Wenn man die Flüchtlinge retten und ihr
Recht auf Asyl bewahren will, muss man gegen das Europa
in seiner bestehenden Form kämpfen, gegen Ausgrenzung,
Kriminalisierung und Rassismus, Sexismus und Machismus, gegen das Geschäft mit der Not der Flüchtlinge,
gegen Auffanglager außerhalb der Grenzen, gegen die
Schließung und militärische Sicherung der Grenzen und
für die Auflösung der FRONTEX. Flüchtlingspolitik in
Europa steht leider in der schlechten imperialistischen
Tradition eines kapitalistischen Systems, das aus der
Freizügigkeit eine Ware und ein geopolitisches Geschacher
macht.
Die Grenzen müssen weltweit fallen!
Nach dem Ende der Sklaverei und des Holocaust sowie der
klassischen Kolonialära und der nationalen Befreiungskämpfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien
es zunächst, dass das Recht der Menschheit auf freies
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D O S S I E R : M I G R AT I O N
Kommen und Gehen als unanfechtbare Errungenschaft
der Zivilisation in Reichweite läge. Und lange wurden wir
glauben gemacht, dass die einfache und bequeme Bewerkstelligung von Reisen unumkehrbare Zeichen des Fortschritts und der Zivilisation seien, weil es nämlich Kontakte und Annäherung massiv erleichtert und dadurch – in
der Theorie zumindest – die symbolischen und realen
Grenzen zwischen den Menschen fallen könnten. Überall
auf einfache und bequeme Weise von einem Ort zum
anderen reisen zu können, ohne irgendwelchen Zwängen
ausgesetzt zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil der
Bewegungsfreiheit. Und weil es als „modern“ und
„fortschrittlich“ galt, sind quasi einhellig zahlreiche
soziale, juristische und politische Vereinbarungen über die
Reisefreiheit erzielt worden.
Aus all diesen Abkommen – seien sie aus einem
eingestandenen geschichtlichen Trauma wie dem Holocaust oder aus verdrängten Traumata wie Sklaverei und
Kolonialismus heraus entstanden – lässt sich erkennen: Das
Recht ist ein politisches Instrument und Ergebnis des
Kräfteverhältnisses und zu schützender und verteidigender
Interessen. Auch das internationale Recht, das eigentlich
auf dem Prinzip universeller Gleichheit beruhen sollte,
kommt durch diese realen Verhältnisse zustande, in denen
der bürgerliche Staat definiert, wer zur jeweiligen politischen Gemeinschaft, also zum Staat, gehört und welche
Freiheiten damit verbunden sind.
Des Weiteren sind die politischen und juristischen
Normen, die weltweit gelten sollen, ein Teil des zu
lösenden Problems, denn hinter diesen steckt eine eurozentristische, imperialistische und kapitalistische Sichtweise; diese Normen sind viel zu abstrakt und deklamatorisch
und widerspiegeln das zivilisatorische Sendungsbewusstsein Europas, ausgerechnet also des Kontinents, der im
Namen seiner „moralischen Überlegenheit“ versklavt und
kolonialisiert hat.
Jahrhunderte sind vergangen, seitdem Millionen von
Menschen zwangsumgesiedelt wurden – nicht als Menschen, sondern als Waren – und nach Jahren, wo sich
Millionen von Menschen auf fast der gesamten Erde wegen
des dort herrschenden Kolonialimperialismus innerhalb
ihres Landes nur in den vom Kolonialherrn erlaubten
Grenzen bewegen konnten. Zwischenzeitlich haben die
„Nationen“ infolge des Zweiten Weltkriegs ein Abkommen gefunden, wonach es eines politischen Kompromisses
bedürfe, in dem u. a. die Freizügigkeit unter Berufung auf
die „Allgemeine Erklärung der Menschrechte“ im Gefolge
der Französischen Revolution geregelt ist. Jetzt aber findet
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ein politisches Umschwenken statt, wo Freizügigkeit
wieder zur Ware wird.
Tatsächlich war dieser universelle Anspruch eine
Missgeburt, weil er aus einer Menschheit hervorgegangen
ist, die sich willkürlich eines bedeutenden Teils von ihr
entledigt hat und zu einer Zeit entstanden ist, wo der
größte Teil der Menschheit als minderwertig oder nicht
einmal als Teil der menschlichen Gemeinschaft betrachtet
worden ist. Die weltweite Gültigkeit der politischen und
juristischen Normen, die das heutige System ausmachen,
hat den Rassismus als Geburtsfehler und ist noch immer
rassistisch.
Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist ein
juristisches Konstrukt und als ein Instrument entstanden,
womit die Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft und
zwischen den Gemeinschaften geregelt sind. Für das
Rechtssystem im bürgerlichen Staat ist die Frage der
Staatszugehörigkeit schon immer entscheidend gewesen,
ist es noch und wird es immer sein. Anders gesagt, ob
mensch dazugehört oder nicht. Dem universellen Anspruch nach wurde den Menschen das Menschsein
zuerkannt, sie aber zugleich in oft strikt getrennte Kategorien aufgeteilt, bspw. in Staatsbürger und Ausländer. Damit
waren für immer die Beschränkungen und die Reichweite
dessen festgelegt, wie die Freizügigkeit politisch gehandhabt wird.
Alle hieraus entstandenen politischen Instrumente und
Mechanismen haben das Prinzip der Gleichheit den
künstlich geschaffenen politischen Kategorien, wie Staat
und Nation, wie Staatsbürger und Ausländer untergeordnet. Grenzen sind weniger eine geografische Realität, sie
sind politisch gesetzt. Buchstaben und Geist der europäischen Flüchtlingspolitik atmen die rassistische Ideologie
der „Festung Europa“, die aus der Immigrantenjagd ein
politisches Programm macht.
Bei der Handhabung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist der Nationalstaat in zentraler Position und macht
aus der Gemeinschaft und der Freizügigkeit eine Grundsatzfrage, während der politische Rahmen so beschaffen
ist, dass der Warenverkehr globalisiert ist und diese
Globalisierung von widerstreitenden wirtschaftlichen und
politischen Interessen beherrscht wird.
Grenzen töten
Die Grenze ist insofern ein politisches Instrument zur
Organisierung der Gesellschaft auf nationaler und globaler
Ebene. Dieses definiert nicht nur die Zugehörigkeit zu
bestimmten Räumen, sondern strukturiert auch in
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ökonomischer und politischer Hinsicht den Zugang zu
ihnen entlang bestimmter Eigenschaften und realer
Gegebenheiten, die aus politischen Zielvorstellungen oder
Konflikten resultieren.
Die wirtschaftliche Entwicklung, die technologische
und wissenschaftliche Fortschritte hervorgebracht hat, und
nicht einmal diejenigen mitgezählt, die bei ihrer Vertreibung oder ihrem Verhör in den Auffanglagern erstickt sind
oder an den militärisch befestigten Grenzen erschossen
wurden oder auf den Fluchtrouten durch Selbstmord,
Hunger, Durst, Kälte oder Hitze gestorben sind. Allein die
Zahl derjenigen, die auf dem Weg nach Europa ertrunken
Nunmehr ist die EU dazu übergegangen, mittels ökonomischer Erpressung die Herkunfts- und Durchgangsländer zu kontrollieren und die Immigration als beliebige
Ware zu behandeln.“
die folgende Vermehrung der weltweit verfügbaren
Reichtümer hat die Grenzen nicht abgebaut, sondern im
Gegenteil oft noch undurchlässiger gemacht. Diese wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte spiegeln die
historischen wie auch aktuellen Beziehungen zwischen den
Völkern wider, in denen ein Teil der Menschheit die
materiellen und wissenschaftlichen Reichtümer angehäuft
hat, indem er zuvor den Rest der Welt versklavt, kolonialisiert und ausgebeutet hat. Diese Reichtümer will er
denjenigen vorenthalten, denen er sie gestohlen hat, und
errichtet deswegen physische und symbolische Grenzen.
Aus dieser ungleichen Beziehung sind die physischen
und symbolischen Grenzen zwischen Arm und Reich
entstanden, zwischen denen, die alles besitzen oder davon
träumen, alles zu besitzen, und denen, die fast nichts
besitzen und nicht einmal davon träumen können,
zwischen denen, die alles können, und denen, die sich
nicht einmal etwas erhoffen können. Also haben die
Länder, die sich durch den Raub an anderen bereichert
haben, beschlossen, sich abzuriegeln und mit dem alleine
zu bleiben, was zuvor allen gehörte. So sieht die Geschichte der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegung aus: Auf allen
Seiten werden Mauern gegen die Flüchtlinge errichtet, die
bloß bessere Lebensbedingungen suchen. Die Menschen
wandern aus, weil sie es müssen und auf etwas Besseres
hoffen als das, was sie haben, oder wenigstens auf das, was
die Bevölkerung in den Ländern hat, von dem sie zuvor
beraubt wurden und noch immer ausgebeutet werden.
Und sie haben alles Recht dazu, nicht nur auf ein besseres
Leben zu hoffen, sondern wirklich besser zu leben.
Verschiedenen NGO zufolge sind in den letzten 20
Jahren über 40 000 Flüchtlinge umgekommen und realiter
wird diese Zahl dreimal so hoch liegen. Dabei sind noch
sind, dürfte bei 70 – 80 000 liegen und damit einen
beträchtlichen Teil der weltweit umgekommenen Flüchtlinge ausmachen.
Die Grenzpolitik in Europa ist mörderisch und die
Alternative hierzu liegt im Recht auf Freizügigkeit,
Solidarität und Menschenwürde. Wir müssen dieser
Ideologie der Abschottung und des Einmauerns eine
internationalistische Sichtweise entgegenstellen und ein
sozialistisches Gesellschaftsmodell, in dem alle Rechte
gelten, besonders das auf Freizügigkeit und darauf, sich ein
besseres Leben im Land der Wahl, wo immer dies ist,
schaffen zu können. Wir müssen politisch dafür kämpfen,
dieses Recht auf Freizügigkeit zu verteidigen, das Recht
auf Kommen und Gehen, auf eine freie Wahl des Aufenthaltsorts und dafür, dass diese Rechte unveräußerlich sind.
Um den Tod an den Grenzen Europas zu beenden, muss
die politische Maxime von der „Festung Europa“ fallen
und kategorisch für das Ende aller Grenzen gekämpft
werde, nicht nur der physischen, sondern auch der sozialen
und kulturellen, der juristischen und politischen.
Grenzpolitik als Mittel zur ökonomischen
Unterwerfung
Seit 1985 verfolgt Europa eine Einwanderungspolitik, bei
der Flucht als Verbrechen gilt und die Grenzen – wie im
Schengener Abkommen vorgesehen – immer weiter nach
außen verlagert werden. Das fortgeschrittenste Ergebnis
dieser Militarisierung der Flüchtlingspolitik ist FRONTEX mit Tod und Vertreibung als unvermeidbaren
„Kollateralschäden“ dieser Politik. Daneben werden aber
auch die bilateralen Handelsbeziehungen als Druckmittel
eingesetzt. Nicht nur die europäischen Staaten schweigen
sich über die tödlichen Folgen dieser Abschottungspolitik
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D O S S I E R : M I G R AT I O N
aus, sondern auch die Herkunftsländer, die durch verschiedene Kooperationsabkommen beauftragt werden,
die Flüchtlingsströme zu begrenzen und eigene Auffanglager zu schaffen, wenn sie nicht finanziell unter Druck
gesetzt werden wollen.
Wenn man die Kosten dieser Flüchtlingspolitik
zusammenrechnet, kommt man auf einen Betrag von fast
13 Milliarden Euro. Der setzt sich zusammen aus
46 Mio. € für Auffanglager in Drittländern, 74 Mio. € für
technische Unterstützung „befreundeter“ Diktaturen, 76
Mio. € für die Verstärkung der Grenzmauern (Spanien,
Griechenland, Bulgarien) und des militärischen Abschreckungspotenzials, 225 Mil. € für die grenzpolizeiliche
Aufrüstung, 230 Mio. € für die Entwicklung von Grenzsicherungs- und „Entwicklungseinrichtungen“, 954 Mio.
für „europäische Koordination“, 669 Mio. € für Frontex,
11,3 Mrd. € für die Abschiebungen.
In diesen Zahlen zeigt sich die wirtschaftliche und
finanzielle Größenordnung, um die es allein bei der
Grenzsicherung der europäischen Flüchtlingspolitik geht.
Demgegenüber nehmen sich die Ausgaben für „Entwicklungshilfe“ dieser Länder (0,42 % des EU-BIP), um die
dortige Bevölkerung zum Bleiben zu bewegen, lächerlich
gering aus. Auf dem EU-Gipfel auf Malta wurden den
afrikanischen Ländern dafür 1,8 Milliarden Euro versprochen. Dem stehen 6 Milliarden € gegenüber, die der
Türkei zur „Bewältigung der Flüchtlingskrise“ zur
Verfügung gestellt werden sollen. Die allein für Abschiebungen anfallenden Kosten von über 11 Milliarden Euro
zeigen, dass es dieser Politik nur um Abschottung und
nicht um Öffnung der Grenzen geht.
Auf der Grundlage ihres Anfang der 2000er Jahre
entwickelten Konzepts einer „Pendelmigration“, sind die
EU-Politiker dazu übergegangen, den zweifach prekären
Status der Flüchtlinge, nämlich im Arbeitsleben und
juristisch, politisch zu legitimieren und somit das Recht
auf Freizügigkeit endgültig von der juristischen auf die
kaufmännische Ebene zu verlagern.
Jahrzehntelang hat Europa gemeinsam mit den
internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank den
Herkunftsländern der Flüchtlinge Strukturanpassungsmaßnahmen aufgezwungen und lokale Konflikte und
Kriege befördert, die wiederum zu Verarmung und
Vertreibung geführt haben. Nunmehr ist die EU dazu
übergegangen, mittels ökonomischer Erpressung die Herkunfts- und Durchgangsländer zu kontrollieren und die
Immigration als beliebige Ware zu behandeln, über die
wie bei Rohstoffen im Rahmen der kapitalistischen
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Beziehungen zwischen Europa und den Herkunftsländern verhandelt wird. Für die Schaffung von Auffanglagern innerhalb ihrer Grenzen erhalten diese Länder ein
paar Almosen, mit denen sie die Sicherung der Grenzen
und die Repression der Ausreisewilligen finanzieren
sollen. Aber auch die Regierungen der dortigen Nachbarländer werden über verschiedene Abkommen als
„Drittländer“ in diese Repression einbezogen.
Beim EU-Afrika-Gipfel in Lissabon 2007 wurde
diese wirtschaftliche Erpressung auf dem Weg über
die „Vereinbarungen über die Wirtschaftspartnerschaft“ (APE) weiter verschärft und die Einwanderungspolitik dazu benutzt, die bilateralen Beziehungen in neokolonialer Manier zu gestalten. Insofern ist
es unsere zentrale Aufgabe, auch diese Herabwürdigung der Flüchtlinge zur Ware und demnach ihre
Kriminalisierung zu bekämpfen. Wir müssen sie als
politische Subjekte wahrnehmen, die dazu beitragen,
die Flüchtlingspolitik grundlegend zu ändern, und
nicht als bloße Zahlengröße in der geopolitischen
Interessenspolitik. Gemeinsam mit ihnen müssen wir
verschiedene Organisationsformen finden, die auch
politische Antworten auf die genannte marktwirtschaftliche Logik liefern und dafür die von der
herrschenden Ideologie geschaffenen Grenzen zwischen Raum und Zeit, zwischen Politik und Geschichte durchbrechen.
Die Geschichte und die geografische Aufteilung in
Vergangenheit und Gegenwart nach sozialen, kulturellen, politischen etc. Gesichtspunkten bedingen die
Wahrnehmung dessen, was wir in Europa als „Bürger“ verstehen und wer dazugehört oder nicht,
wohinter die eindeutige Absicht steckt, die ausländischen BürgerInnen auszuschließen. Wenn wir uns der
Flüchtlingsfrage widmen, müssen wir die Rhetorik
vom „Europa der demokratischen Werte“ entmystifizieren und uns auf eine entsprechende ideologische
Auseinandersetzung einlassen. Die hier gängigen
Mythen beeinflussen die hiesige Vorstellungswelt
genauso wie die Alltagspolitik und die sozialen
Verhältnisse. Die systematisch durch eine gängig
gewordene eurozentristische Sichtweise wahrgenommene Geschichte unterschlägt eine Reihe von Ereignissen, die den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Flüchtlingspolitik verdeutlichen. Dabei
gehen letztlich auch die realen und symbolischen
Zusammenhänge zwischen Gewalt, Ausbeutung, Enteignung und Herrschaft verloren und auch, dass die
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europäische Grenzpolitik Teil der kapitalistischen
Herrschaft über die Herkunftsländer ist.
Neue Probleme, neue Antworten
Der Anstieg nationalistischer, populistischer und v. a.
rechtsextremer Strömungen ist die zweite Seite der
rung“, „Kampf gegen die Mafia“, „Ausbau der Landund Seeüberwachung“, „Ausrüstung zur Überwachung des Luftraums, um Sicherheit und öffentliche
Ordnung zu garantieren“, „Aufdeckung und Prävention des organisierten Verbrechens und des internationalen Terrorismus infolge der zunehmenden Flüchtlings-
Es leben hier über 20 Millionen aus der politischen
Gemeinschaft Ausgeschlossene, die in die Kategorie
von „Drittstaatenbürger“ abgestuft sind.“
aktuellen Krise der bürgerlichen Herrschaft und des
kapitalistischen Systems. Diese Krise gebiert vereinfachende Rhetorik und Schwarz-Weiß-Denken, wonach
leichthin Gute und Böse unterschieden werden. Dabei
handelt es sich es weitgehend um eine Krise der
politischen Alternativen und die Frustration über ihr
Scheitern, die nicht nur unter den „Abgehängten“
dieser Gesellschaft entstanden ist, sondern auch in der
sog. „Mittelklasse“.
Um diese Strömungen zu bekämpfen, müssen wir
mit bestimmten bequemen „Wahrheiten“ brechen und
unsere Theorie und Politik radikal überdenken. Dies
klingt anspruchsvoll, aber die Realitäten und Herausforderungen, die vor uns liegen, sind eben nicht
einfach. In einer Zeit, wo im „alten“ Europa die
ideologischen Gespenster des Nationalismus und
Faschismus wieder aufleben und sich – als Folge der
politischen Strategie einer „Festung Europa“ und der
daraus erwachsenden Paranoia – laufend Tragödien vor
den Pforten und innerhalb Europas abspielen, müssen
wir die Flüchtlingsdebatte neu und an richtiger Stelle
verorten: in einem unnachgiebigen Kampf für Freiheit
und Gleichheit, gegen die auf kommenden nationalistischen, faschistischen und populistischen Strömungen,
gegen wachsende Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
und gegen alle Grenzen.
Immer wenn von Flüchtlingsströmen und deren
politischer Bewältigung die Rede ist, wird auch von
der Bedrohung der Sicherheit und der Bereitschaft zum
Krieg gesprochen. Man muss sich dafür nur das Vokabular vor Augen führen, das in Reden und Rechtsund Verwaltungstexten gebraucht wird und vor
kriegerischer Rhetorik strotzt: „Krieg gegen den
Terrorismus“, „Bekämpfung der illegalen Einwande-
ströme“ etc. Damit soll die Angst vor Flüchtlingen
geschürt werden, um so die Repression ihnen gegenüber und die Ausnahmegesetze zu rechtfertigen, mit
denen sie stigmatisiert und diskriminiert werden.
Wachsender Fremdenhass in Europa
So sehr sich die herrschenden Parteien auch bemühen,
mit ihrer ausgrenzenden Rhetorik gegenüber Flüchtlingen den Rechtsextremen das Wasser abzugraben,
zeigt deren europaweiter Aufschwung, dass sie sozial
und politisch immer mehr Gewicht erlangen, ihre
WählerInnenbasis verbreitern und ihre Reputation
mehren können. Um diesen reaktionären Nationalismus entgegen zu treten, müssen wir umso mehr darauf
bestehen, dass der Aufenthalt das Recht auf Staatsbürgerschaft begründet, und wir müssen dafür kämpfen,
dass die Grenzen fallen, die Flüchtlinge das Wahlrecht
erhalten und der Rassismus keinen Platz hat.
Es entstehen immer mehr Gesetze, die angeblich
dazu dienen sollen, den säkularen Staat, die sozialen
Errungenschaften und die „fortschrittliche“ westliche
Kultur und Zivilisation vor der Bedrohung durch die
Flüchtlinge und deren kulturellen Praktiken zu
schützen, die aber in Wahrheit eine rassistische Ideologie der kulturellen Überlegenheit transportieren und
sich gegen die „Nicht-Europäer“ wenden, auch wenn
viele von ihnen in Europa geboren sind.
Seit Jahrzehnten schon klopfen abertausende
Menschen an Europas Tür und es leben bereits über
20 Millionen Ausländer hier, denen Europa aus
ideologischen und politischen Gründen die Staatsbürgerschaft verweigert und damit auch die Möglichkeit,
sich zugehörig zu fühlen. Es leben hier also über 20
Millionen aus der politischen Gemeinschaft AusgeInprekorr 3/2016 9
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schlossene, die in die Kategorie von „Drittstaatenbürger“ abgestuft sind. Die „Europäer“ haben bislang gut
damit leben können, dass diese Menschen sozial und
politisch Fremdkörper sind. Dahinter verbirgt sich ein
unverhüllter Rassismus, der sich auch in der Politik
Europas zeigt, wie auch in der wachsenden Zahl von
Ausnahmegesetzen, mit denen letztlich diese Kategorie
der „Nichteuropäer“ zementiert und sozial legitimiert
werden soll.
In London kam es 1981 und 2011 und in Paris 2005
zu Aufständen in den Vorstädten. Roma werden aus
Italien und Frankreich und auch sonst in Europa
abgeschoben. Es finden Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in einfachen Wohngegenden und auf Flüchtlingslager in ganz Europa statt. Und wenn wir dann an
die rassistischen Angriffe 1992 in Rostock, im Februar
2000 in El Ejido und im Januar 2010 in Rosarno
zurückdenken, dann begreifen wir, dass das, was
gegenwärtig in nahezu ganz Europa passiert, keineswegs außergewöhnlich ist und kein isoliertes Phänomen darstellt.
Einundsiebzig Jahre nach der Befreiung der KZHäftlinge von Auschwitz durch die Sowjetarmee ist die
politische Kraft der extremen Rechten in nahezu ganz
Europa noch immer zu spüren. Dieses Europa mag den
Nazi-Faschismus militärisch und moralisch besiegt
haben, den Rassismus in der Politik und den Köpfen
hat es jedoch nie beseitigt. Und es ist dasselbe Europa,
das sich einst mit der unverzichtbaren Hilfe der Vorfahren derselben afrikanischen, asiatischen oder
maghrebinischen Einwanderer und Flüchtlinge des
Nazi-Albtraums entledigt hat, auf die es heute Jagd
macht.
Zur gleichen Zeit, wo feierlich die Niederlage des
Dritten Reichs gefeiert wird, sind es nicht nur dessen
Gespenster, sondern der Nazi-Faschismus selbst, der
über Europa schwebt: Grenzen, die zu offenen Friedhöfen für Zehntausende geworden sind; Flüchtlinge,
die in Wales zum Tragen von leuchtenden Armbändern als Erkennungsmerkmal gezwungen werden;
Konfiszierung von Schmuckstücken der Flüchtlinge in
Dänemark und wahrscheinlich schon bald in anderen
europäischen Ländern; angestrebte Verfassungsänderung in Frankreich zur Ausbürgerung migrantischer
Straftäter und zur leichteren Deklarierung des Ausnahmezustands; Flüchtlinge, die an den europäischen
Ostgrenzen und besonders in Ungarn, Bulgarien und
Mazedonien einen Stempel aufgedrückt bekommen
10 Inprekorr 3/2016
wie zu Zeiten der Verhängung des Ausnahmezustands,
um Flüchtlinge zu bloßen Nummern zu stempeln und
ihnen das Menschsein abzusprechen etc. So wird heute
die Vergangenheit gefeiert, die nicht vergangen ist,
sondern ganz konkrete Realität im Alltag von Zehntausenden ausländischer BürgerInnen in Europa. Diese
Vorgänge werfen ein beunruhigendes Licht auf die
weitere Entwicklung und einen beschleunigten
Faschisierungsprozess.
Zunehmende Hetze und Gewalt gegenüber den
Flüchtlingen und ethnischen Minderheiten sind
natürlich die Folge einer Politik, die die Rückkehr des
Nationalismus aus dem rassistischen Geist der nationalen und im weiteren Sinne europäischen Überlegenheit
befördert. Das Gedenken wird zur politischen Legitimation missbraucht und dient als Basis für eine Politik
und Gesetzgebung, deren Hauptziel darin besteht,
nicht nur soziale und rassische Unterscheidungsmerkmale festzulegen, sondern den Rassismus hoffähig zu
machen – ganz wie zu Zeiten des Kolonialismus, der
Sklaverei, der Unterwerfung der Eingeborenen, des
Holocaust oder der Apartheid.
Die scheinheilige Verteidigung der modernen
Zivilisation gegen Barbarei und kulturelle Rückständigkeit der Einwanderergruppen und der Öffentlichkeit gegen religiösen Fanatismus haben in ganz Europa
dafür herhalten müssen, Ausnahmegesetze zu schaffen,
die entweder auf die Immigration oder auf den Schleier
oder die (glorreiche) Vergangenheit gemünzt waren.
Die ganze Hysterie jakobinisch-fundamentalistischer
Prägung, mit der die politische Debatte um die Vielfalt
in Frankreich durchzogen ist, zeugt davon. In Wahrheit sind all die Ausnahmegesetze der letzten Zeit – ob
sie im Namen der öffentlichen Ordnung oder der
Trennung von Kirche und Staat oder der herrschenden
Zivilisation erlassen wurden – ein eindeutiger Hinweis
darauf, dass der Rassismus als ideologische Waffe
benutzt wird. Europas Vergangenheit als Gesellschaft
von Sklavenhaltern, Kolonialherren und Nazis schwebt
über dieser Politik, die sich auf die Unterschiede beruft,
um ihre Abschottungspolitik zu rechtfertigen, die
selbst nur ein Erbe der Rassenideologie ist. Dieses
Europa, dessen Einwanderungspolitik und Umgang
mit Minderheiten zwischen Kriegstümelei und Ausnahmegesetzen schwankt, hat FRONTEX erfunden,
um Jagd auf Menschen zu machen, bloß weil sie anders
sind und nicht dem geographischen und politischen
Raum Europas angehören – die Flüchtlinge. Wir
D O S S I E R : M I G R AT I O N
müssen uns mit aller Macht wehren gegen diese in den
zahlreichen Ausnahmegesetzen zementierten Grenzziehungen in Europa, ob sie in der Kriegsrhetorik im
Umgang mit Flüchtlingen zum Ausdruck kommen
oder in der politischen Legitimation der Islamophobie
oder in der Diskriminierung von Roma oder Schwarzen, d. h. im Rassismus. Denn die dadurch gezogenen
physischen und symbolischen Barrieren haben v. a.
dazu gedient, Grenzen zwischen „uns“ und den
„Anderen“ zu errichten.
Freiheit bedeutet (auch) Freizügigkeit
Angefangen bei dem Schengener Abkommen 1985
über die Dublin-Abkommen (1990) bis hin zu den
Verträgen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997),
Nizza (2001) und Lissabon (2007) hat sich Europa
immer tiefer in eine schizophrene Logik verstrickt,
indem es sich gegenüber dem Anderen abschottet und
dabei die unverkennbare soziologische Realität ihrer
eigenen Multiethnizität ignoriert. In all diesen Jahren
waren die europäischen Politiker nicht in der Lage,
diese Zustände auf politischem Weg zu ändern und
Europa so zu gestalten, dass es nicht nur Vielfalt und
Unterschiede akzeptiert, sondern sie integriert und v. a.
respektiert. Damit steuerten sie zwangsläufig auf die
sog. Rückführungsrichtlinie von 2008 zu (auch
„Richtlinie der Schande“ genannt), einem der vorläufigen Höhepunkte dieser Politik, der an Gestapo-Me-
hoden erinnert. Damit erhielt der berüchtigte SarkozyPakt zu Einwanderung und Asyl im Herbst desselben
Jahres seine traurige Legitimation. Seither sind alle
Dämme gebrochen und Europa betreibt eine Politik
institutionalisierter Diskriminierung und Verfolgung
von Flüchtlingen.
Die klassische Rechte und die Sozialdemokratie
haben vor der extremen Rechten kapituliert und die
ethnischen Minderheiten zu Sündenböcken der Krise
gemacht. Die Rechte verbündet sich dabei mit den
Rechtsextremen und die Sozialdemokraten eifern
ihnen – angeblich um sie bekämpfen – nach und
legitimieren somit deren rassistischen und fremdenfeindlichen Diskurs und verschaffen ihm obendrein
noch eine breitere soziale und politische Basis. Unsere
Verantwortung als Linke liegt darin, den Faschismus
und Rassismus unterschiedslos zu bekämpfen und
diesen Kampf mit allen anderen gesellschaftlichen
Protesten und Mobilisierungen zu verknüpfen, und
zwar mit mehr Engagement als bisher.
Mamadou Ba ist Mitglied der
portugiesischen Sektion der IV. Internationale
Leicht gekürzte Übersetzung: MiWe
„
INTERNATIONALISMUS
VON UNTEN GEGEN DIE
FESTUNG EUROPA
Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale
Im Laufe des vergangenen Jahres ist eine Million Menschen auf der Flucht vor Hunger und Bomben vor allem
über das östliche Mittelmeer und den Balkan nach Europa
gekommen. Es ist der größte Zustrom von Flüchtlingen
nach Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und, weltweit
gesehen, die höchste Zahl von MigrantInnen und Asylsuchenden seit Jahrzehnten. Die Hälfte von ihnen kommt
aus Syrien, wo fünf Jahre Krieg bereits zu 250 000 Toten
Inprekorr 3/2016 11
D O S S I E R : M I G R AT I O N
und fünf Millionen Flüchtlingen sowie zur Vertreibung
von 50 % der restlichen Bevölkerung im Lande geführt
haben. Viele kommen aber auch aus Afghanistan, dem Irak
sowie afrikanischen und anderen asiatischen Ländern.
Unter ihnen sind viele Frauen, die eine besondere Unterdrückung erleiden und Opfer von besonderer Gewalt sind.
Von den politischen Institutionen und den etablierten
Medien wird uns diese Flüchtlingskrise als menschliche
Flutwelle dargestellt, die von nirgendwo hergekommen
ist. Gerade so, als sei es eine meteorologische Erscheinung,
scheinbar ohne Ursache; die Menschen auf der Suche nach
Asyl werden entweder als Bedrohung oder als Opfer
hingestellt, ihnen gegenüber gibt es angeblich nur zweierlei Antworten: die Schließung der Grenzen oder Notfallhilfe. In dem einen wie in dem anderen Fall werden die
Flüchtenden nicht mehr als Subjekte mit Rechten, mit
Hoffnungen und Forderungen begriffen, sondern schlicht
als zu verwaltende Objekte. Diese Sichtweise ist nicht nur
verengt, sie bedient auch und gerade die Interessen der
verschiedenen politischen Stellen, die mit dieser Situation
konfrontiert sind.
1. Allgemeine Rechtekrise
Die Migrationsströme machen im Gegensatz zum offiziellen Diskurs nicht alleine eine humanitäre Krise aus,
sondern auch und vor allem eine Krise der Rechte im
Allgemeinen und infolgedessen eine politische Krise. Für
diese Krise gibt es konkrete Ursachen und konkrete
Verantwortungen, sie hängt mit anderen, tiefer reichenden
Krisen zusammen, die Teil einer Welt und eines globalisierten kapitalistischen Systems in Krise sind. Die RechteKrise hat drei Facetten: a) Sie hat zu tun mit den systematischen Verletzungen der Grundrechte in den
Herkunftsländern, die der Anlass für die Emigration sind;
b) das System der Aufnahme und des internationalen
Asylrechts, das Haushaltskürzungen und weiteren Verfahren, die nur noch ein Minimum vorsehen, ausgesetzt ist,
befindet sich ebenfalls in Krise; c) es ist eine Krise der
generellen Migrationspolitik, sowohl in den Transitländern wie in den Zielländern.
2. Lokaler Terror und imperialistische Intervention
Es gibt die internen Faktoren für die bewaffneten Konflikte, von denen die Bevölkerungsverschiebungen ausgelöst
werden (im Fall von Syrien sind das die völkermörderische
Repression des Assad-Regimes und der Totalitarismus von
Daesh); darüber hinaus haben die imperialistischen
Interventionen ebenso wie die militärischen und ökono12 Inprekorr 3/2016
mischen Interessen von ausländischen Regierungen,
internationalen Institutionen und multinationalen Unternehmen ihren Teil der Verantwortung für die Instabilität
der Herkunftsländer der MigrantInnen. Die Plünderung
der Ressourcen, die geostrategischen Interessen und die
Freihandelsabkommen bewirken Hunger, Verarmung,
Kriege und Exodus. Im Fall der Europäischen Union und
ihrer Mitgliedsstaaten nehmen die Folgen ihrer Einmischung von außen jetzt die Form von Asylsuchenden an,
die an die Türe klopfen. Erdogan in der Türkei und Assad
in Syrien benutzen die Flüchtlinge als Tauschgegenstand
und Druckmittel, um bei Verhandlungen das Beste für
ihre Interessen herauszuholen. Unterdessen stecken die
Menschen in der Falle der geopolitischen Konflikte und
der Konfrontationen zwischen heimischen und regionalen
Eliten.
3. Die unerträgliche europäische
Verantwortungslosigkeit
Dieselbe Europäische Union, die mit einer erstaunlichen
Leichtigkeit enorme Rettungspläne zugunsten von
Privatbanken auflegt oder Strafmaßnahmen gegen
Regierungen verfolgt, die von der neoliberalen Austeritätspolitik abweichen, beantwortet diese Herausforderung
mit hohlen Erklärungen, Passivität der Institutionen und
dem Ausbau der Festung Europa. Gleichzeitig schieben
sich die europäischen Staaten gegenseitig den Schwarzen
Peter zu und erlassen Gesetze gegen MigrantInnen und
Flüchtlinge. Sie hatten sich verpflichtet bis Ende 2015
160 000 Menschen aufzunehmen, davon sind bislang
gerade einmal 400 in den verschiedenen Mitgliedsstaaten
der EU untergebracht worden. Selbst wenn die genannte
Zahl erreicht würde, wäre das in Anbetracht der wirklichen Bedürfnisse lächerlich wenig (2015 ist eine Million
gekommen, die Voraussagen für 2016 liegen höher); dies
steht im Gegensatz zu Libanon, Jordanien, Ägypten und
der Türkei, wo 4,5 Millionen Syrerinnen und Syrer
aufgenommen worden sind ԟ in Ländern mit einer
niedrigeren Bevölkerungszahl und geringeren wirtschaftlichen Ressourcen als die EU.
4. Nieder mit der Festung Europa und allen Formen
von Fremdenfeindlichkeit
Die europäische Antwort konzentriert sich auf den Bau
von Zäunen, die Verschärfung der Polizeirepression,
systematische Abschiebungen und das Gefangenhalten der
Flüchtlinge in Konzentrationslagern, wo ihnen die
elementarsten Rechte vorenthalten werden. Solche
D O S S I E R : M I G R AT I O N
Maßnahmen werfen zudem noch saftige Profite für private
Firmen ab, die durch das Grenzregime eine neue Marktlücke gefunden haben. Das Niederwalzen der elementaren
Rechte, die zunehmende Stigmatisierung der Flüchtlinge
insgesamt (auch unter Verwendung von feministischen
Formulierungen) und der Versuch, eine Spaltung zwischen
Flüchtlingen mit ein paar Rechten und illegalen Flüchtlingen herbeizuführen, ist eine Strategie institutioneller
Fremdenfeindlichkeit; dadurch wird rassistischer Hass legitimiert und befördert. Rassismus, identitärer Nationalismus und die Schließung der Grenzen sind alte Fantasiebilder, von denen Europa jetzt von Neuem heimgesucht
wird. Bei dem Versuch, den Aufstieg der extremen
Rechten einzudämmen und ihnen das Monopol auf Angst
und Hass streitig zu machen, wenden die Institutionen und
die Parteien des Systems in ganz Europa die gleiche Politik
an. Nach dem Muster der Politik zur sogenannten TerrorBekämpfung dient die Flüchtlingskrise ebenfalls als
Vorwand, um die Rechte und die Freiheiten der gesamten
arbeitenden Klasse zu niederzuwalzen.
5. Flüchtling oder Migrantin – kein Mensch ist
illegal
Die Garantien internationaler Rechte und Abkommen, die
es einem Teil der MigrantInnen ermöglichen, politisches
Asyl zu verlangen und zu erhalten, dürfen nicht das einzige
Argument sein, um für ihre Aufnahme und die Einhaltung
ihrer Rechte einzutreten. Die von einem wirtschaftsliberalen Geist geprägten internationalen Standards beschränken
die Möglichkeiten Asyl zu beantragen durch den Ausschluss
sozialer, wirtschaftlicher und klimatischer Gründe auf die
Liste der „offiziell anerkannten“ politischen Konflikte.
Hunger, Elend und Mangel töten ebenso viel, wenn nicht
mehr als Bomben. Durch die Wirtschaftskriege des
globalisierten Kapitals werden Jahr für Jahr Millionen von
Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Wirtschaftsund die Klimaflüchtlinge müssen als Asylberechtigte
anerkannt werden. Auch unabhängig davon ist das Recht
auf Migration auch ohne politische oder wirtschaftliche
Gründe ein Recht, das es zu verteidigen gilt.
6. Internationalistische Antwort
Keine verpflichtende internationale Vereinbarung, keine
von mehreren Staaten geteilte Verantwortung kann jemals
die internationalistische Pflicht, die Solidarität der Völker
untereinander und die Loyalität der unteren Klassen
gegenüber denen, die vor den Folgen des Terrors, des
Klimawandels und des globalisierten Kapitalismus auf der
Flucht sind, ersetzen. Die Würde und das Leben der
Menschen sind mehr wert als irgendein privater Gewinn,
als irgendwelches Kalkül im Zusammenhang mit einer
Wahl oder als die Anwendung irgendeines Gesetzes.
Aus diesen Gründen beschließt das Internationale
Komitee auf seiner Tagung am 27. Februar – 2. März 2016
Aktivitäten und Mobilisierungen sowie Unterstützung für
die Selbstorganisierung der Flüchtenden und der MigrantInnen, die die Grenzen durchbrechen, und für solidarische
gesellschaftliche Mobilisierung; sie sollte Teil einer Dynamik des politischen Kampfs für folgende Punkte sein:
1 Die Ursachen für die massiven Vertreibungen und Fluchtbewegungen sind anzuprangern, indem Mobilisierungen
und politische Initiativen gegen Imperialismus und Krieg
auf der Straße gestartet werden.
2 Wir fördern und beteiligen uns an Mobilisierungen zur
Solidarität und zum Aufbau kämpferischer politischer
Alternativen gegen die restriktiven Immigrationspolitiken.
3 Wir fordern mehr Mittel für die Aufnahme von Flüchtlingen statt diese Mittel für repressive Maßnahmen auszugeben, vor allem statt der weiteren Aufrüstung zur Schließung der Grenzen.
4 Wir verlangen, dass mit allen Instrumentarien zur Jagd
auf MigrantInnen Schluss gemacht wird, insbesondere mit
SIS, CRATE, RABIT, FAST TRACK, ICONet, VIS,
EURODAC sowie EUROSUR.
5 Wir fordern, dass Dublin III außer Kraft gesetzt und die
Genfer Konvention revidiert wird, sodass sie der heutigen
Zeit und den heutigen Bedingungen besser gerecht wird.
6 Wir treten ein für ein Ende von Frontex und die Schaffung einer Einrichtung für Rettungsmaßnahmen und
humanitäre Hilfe.
7 Wir treten für die Öffnung von speziellen Korridoren
und die Ausgabe von speziellen Einreisevisa für die Flüchtlinge ein, die sich in den „Hotspots“ an den Grenzen und in
den Transitländern aufhalten.
8 Wir treten für die Schaffung von Mechanismen bilateraler Kooperation zwischen den Mitgliedsländern ein, damit
die institutionelle Blockade der Europäischen Union beim
Umgang mit den Migrationsströmen überwunden wird.
9 Wir treten für die „Regularisierung“ aller Menschen
ohne Papiere und für die Außerkraftsetzung der Richtlinie
über die Familienzusammenführung ein.
10 Wir werden den Kampf gegen den Rassismus und gegen
den Faschismus jeder Art als Querschnittsthemen in alle
unsere politischen Aktivitäten integrieren.
11 Wir müssen den politischen, ideologischen und kulturellen Kampf gegen die extreme Rechte frontal angehen. Es
Inprekorr 3/2016 13
D O S S I E R : M I G R AT I O N
gilt, den Aufstieg der extremen Rechten mit einem
Programm hegemonischer Gegenkultur gegen den
Konservatismus und mit interkulturellen Interventionen zu
begegnen, indem über Kampagnen und Initiativen zur
Mobilisierung mit den Opfern des Rassismus die Besetzung
des öffentlichen Raums erstritten wird.
12 Wir kämpfen für das Recht der MigrantInnen auf
Beteiligung an allen Wahlen, damit die Bürgerrechte zu
verwirk lichen, denn die Demokratie wird erst dann vollständig sein, wenn sich alle daran beteiligen und alle vertreten
sind.
13 Wir kämpfen für das Recht des Bodens (Geburtsortprinzip) und die Abschaffung des Rechts des Blutes (Abstammungsprinzips) bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft.
14 Wir verlangen im Namen der Einhaltung der Menschenrechte und der Würde derjenigen, die alleine wegen
ihres Status als MigrantInnen festgehalten werden, die
Beendigung der Abschiebungen und die Schließung der
Auffangzentren in Europa und an seiner Peripherie.
15 Wir kämpfen dafür, dass die Richtlinie zur Rückkehr
und die zur Familienzusammenführung aufgehoben
werden, die Richtlinien zur Arbeitserlaubnis und zur
Abstammung („Rasse“) müssen geändert werden.
16 Wir wollen durch Debatten und mit kritischem Denken
die Gesellschaft allgemein und die akademischen Einrichtungen im Besonderen vor die Herausforderung stellen, die
Produktion von Wissen und von Kenntnissen zu „entkolonisieren“, vor allem mithilfe von postkolonialen und
„dekolonialen“ Untersuchungen. Und wir wollen verstärkt
die verschiedenen Ausdrucksweisen des Rassismus untersuchen – besonders, was die Feindschaft gegenüber Roma,
AfrikanerInnen und Muslime angeht.
17 Wir fordern eine Überprüfung der Lehrprogramme und
der Schulbücher, sodass sich darin die kulturelle Unterschiedlichkeit reflektiert und die Unterschiede positiv
gewertet und die Interkulturalität und ihre zahlreichen
Beiträge in Schulfächern und universitären Disziplinen
gefördert werden.
18 Schließlich werden wir für den Unterricht in den
Herkunftssprachen aktiv. Dies ist nicht nur ein Instrument
zum Erhalt der Sprachen und Kulturen, sondern auch ein
Werkzeug zum Interagieren und dem Bekanntmachen der
Unterschiede innerhalb der Schulgemeinschaften.
Bei diesen Mobilisierungen sollte der Selbstorganisation
der MigrantInnen eine zentrale Rolle gegeben werden, so
dass sie ihre Rechte einfordern können, und sie sollten von
einer solidarischen gesellschaftlichen Mobilisierung
14 Inprekorr 3/2016
unterstützt werden, so wie sie in einigen europäischen
Ländern zu schon zu sehen war.
Für die Waren und für das Kapital fallen die Grenzen,
während für die Menschen immer höhere Mauern errichtet
werden. Marktfundamentalismus und fremdenfeindlicher
Nationalismus verbünden sich zum Ausbau der Festung
Europa mit vielen Grenzen, massenhafter Zerstörung von
Bürgerrechten und Brutkästen des Rassenhasses. Aber es
gibt weiterhin Widerstand und Solidarität mit denen ganz
unten; damit wird einmal mehr belegt, dass nur die
Bevölkerung sich selbst retten kann und dass ein anderes
Europa möglich ist.
Vom Internationalen Komitee am 1. März 2016 einstimmig
beschlossen.
Aus dem Englischen und Französischen übersetzt von
„
Wilfried Dubois
K U R D I S TA N
UNTERSTÜTZUNG
FÜR DEN KAMPF DES
KURDISCHEN VOLKES
Gemäß einem Beschluss des Internationalen Komitees vom 2. März veröffentlicht das Büro der
IV. Internationale folgende Erklärung.
1. Nach zwei Jahren der Verhandlungen mit dem
Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)
Abdullah Öcalan hat das islamistische, neoliberal-autoritäre Regime Erdo÷ans im Sommer 2015 beschlossen, wieder
einen blutigen Krieg gegen das kurdische Volk aufzunehmen.
Dabei hatte dieser Sommer 2015 mit den Wahlergebnissen vom 7. Juni zunächst den Hoffnungen im Volk
gewaltigen Auftrieb gegeben. Der außergewöhnliche
Wahlerfolg der HDP (Demokratische Partei der Völker –
eine linksreformistische, aus der kurdischen Bewegung
hervorgegangene Sammlungspartei) zwang mit der
Verdoppelung ihres Stimmenanteils die AKP, eine
Koalitionsregierung zu bilden, was die Möglichkeit
eröffnete, dass damit deren Beherrschung bestimmter
Sphären des Staatsapparates gebrochen würde. Außerdem
bekam mit diesem Ergebnis die AKP nicht genügend
Sitze, um eine Verfassungsänderung zu beschließen und
das von R. T. Erdo÷an gewünschte autoritäre Präsidialregime durchzusetzen, dessen Sultan er sein will.
Schon im März 2015 hatte Erdo÷an erste Anhaltspunkte für seine Wende hin zu einem harten
nationalistischen Kurs geliefert. Dies betrieb er als Reaktion auf die zu erwartenden Stärkung der nationalistischen
Rechten bei den Wahlen, vor allem, aber weil er erschrocken war über die Unruhen zur Unterstützung des
Widerstands im vom Daesh/IS belagerten Kobanê. Dieser
Wutausbruch der kurdischen Massen war die Folge einer
langen Reihe von Enttäuschungen, hervorgerufen durch
die Weigerung der AKP, im Rahmen der „Friedensverhandlungen“ konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Hinzu
kam die Empörung, die aus der weitverbreiteten Überzeu-
2. gung erwuchs, dass die AKP den Daesh/IS unterstützt.
Dies beruht auf der Tatsache, dass die Dschihadisten des
„Islamischen Staats“ lange Zeit die türkisch-syrische
Grenze in beiden Richtungen ohne jegliche Kontrolle
überqueren konnten und in den grenznahen türkischen
Krankenhäusern behandelt wurden. Und wir wissen, dass
das türkische Regime lieber den Daesh als die Kurden zu
Nachbarn hat. „Es gibt keine kurdische Frage“, hat
Erdo÷an schlussendlich erklärt, als er jeglichen Besuch
Öcalans verbot und damit de facto die im März 2013
begonnenen Verhandlungen beendete.
3. Mit dem Wahlergebnis unzufrieden und angeleitet von Erdo÷an sprach sich die AKP für Neuwahlen aus. Dabei war die Schwächung der HDP für die AKP
die unumgängliche Voraussetzung dafür, bei den nächsten
Wahlen als Siegerin hervorzugehen. So wurden auf sehr
fragwürdige Weise das dem Daesh zugeordnete Attentat
von Suruç und die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen „lokaler PKK-Einheiten“, bei denen zwei Polizisten
starben, zum Anlass genommen, den Krieg gegen die
Kurden wieder aufzunehmen und die HDP zu kriminalisieren, die als der legale Arm der „terroristischen Organisation“ bezeichnet wurde. Das Klima des Bürgerkriegs,
begleitet von heftiger Repression jeglicher sozialer und
politischer Proteste sowie von einer Kriminalisierung
oppositioneller Zeitungen und einer Stärkung des Nationalismus – der sich in anti-kurdischen Pogromen niederschlug – hat schließlich seine Ergebnisse gezeitigt. Die
AKP hat die Wahlen vom 1. November haushoch gewonnen.
Inprekorr 3/2016 15
K U R D I S TA N
Seitdem herrscht ein Massaker-Regime. Erdo÷ans
Staatspartei mobilisiert (mit der Polizei und der
Gendarmerie verbundene) offen faschistische und islamistische „Anti-Terror“-Brigaden, um jeglichen Protest und
Widerstand in Türkisch-Kurdistan niederzuschlagen. Die
Stadtviertel in Diyarbakır, Mardin, ùırnak, Hakkari, wo
junge kurdische städtische Milizen, die der PKK nahestehen (aber nicht direkt von ihr kontrolliert werden) eine
„demokratische Autonomie“ deklariert haben (ähnlich
dem Modell in Rojava), leiden seit Monaten unter der
Ausgangssperre. Ihnen droht eine Hungersnot. Diese
Stadtviertel werden belagert und von Panzern und
gepanzerten Militärfahrzeugen zerstört. Hunderte von
Leichen, darunter auch solche, die bis zur Unkenntlichkeit
verbrannt sind, liegen unter den Trümmern, mehr als
hunderttausend EinwohnerInnen mussten fliehen. Nach
Angaben der türkischen „Stiftung Menschenrechte“ haben
zwischen August 2015 und Februar d. J. 224 Zivilisten
(darunter 42 Kinder), 414 AktivistInnen der kurdischen
Bewegung und 198 Polizisten und Soldaten ihr Leben
verloren.
4. 5. Die Entscheidung, die die PKK und die städtischen
Milizen der YDG-H (Bewegung der patriotischen
revolutionären Jugend) getroffen haben, die Auseinandersetzungen von den Bergen in die Städte zu verlagern – übrigens im Gegensatz zu den früheren Empfehlungen Öcalans
–, kann sicherlich Diskussionen auf taktischer Ebene
hervorrufen. Die von dem bewaffneten Konflikt geprägte
Atmosphäre hat offensichtlich die Möglichkeiten eingeschränkt, die demokratische, kämpferische und auf Frieden
ausgerichtete Botschaft der HDP aufzunehmen, der es
gelungen war, sich als hegemonialer Pol in breiten Teilen
der Bevölkerung zu etablieren, die sich den diktatorischen
Bestrebungen Erdo÷ans und den staatlichen Maßnahmen
zur Islamisierung der Gesellschaft widersetzen, und dies
nicht nur in der kurdischen Bevölkerung.
Aber ganz zweifellos sind das Erdo÷an-Regime sowie
die Instrumentalisierung seiner verschiedenen Vorgehensweisen gegenüber dem kurdischen Volk – im Bestreben,
damit seine Präsidialmacht auszubauen – für diese Tragödie
verantwortlich, was die nationalistischen Gefühle auf
beiden Seiten anstachelt und die Möglichkeiten eines
friedlichen Zusammenlebens beider Völker stark beschädigt.
Wir verurteilen die kriegerische Politik des Erdo÷anRegimes und der AKP. Wir fordern, dass der türkische
Staat die Massaker einstellt und die Ausgangssperre und
16 Inprekorr 3/2016
die Blockaden in den kurdischen Städten aufhebt. Und wir
fordern die Identifizierung und Verurteilung der für die
Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen.
Wir fordern vom türkischen Staat, die Isolierung
Öcalans aufzuheben und Verhandlungen mit den verschiedenen Teilen der kurdischen Bewegung aufzunehmen, um
die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden zu
schaffen, der nur zustande kommen kann, wenn die
demokratischen und sozialen Forderungen des kurdischen
Volkes erfüllt werden.
Und wir verurteilen die Komplizenschaft der westlichen Imperialismen, besonders der EU, die – von den
Flüchtlingsströmen aufgeschreckt, für die sie allerdings
mitverantwortlich ist – sich offenbar mit dem repressiven
und mörderischen Regime der Türkei arrangiert, wenn
diese sich nur bereit erklärt, zu einem riesigen Internierungslager für MigrantInnen zu werden, und zwar
außerhalb der EU-Grenzen. Wir fordern die Beendigung
von Unterdrückung und Verfolgung der kurdischen
Bewegung in Europa. Die PKK muss von der Liste
terroristischer Organisationen gestrichen werden.
Wir erklären unsere Unterstützung für das kurdische
Volk und seinen Kampf für ein Leben in Würde, für die
HDP, die einer beispiellosen Kriminalisierung durch den
Staatsapparat ausgesetzt ist, für die AktivistInnen der
radikalen Linken, für die FriedensaktivistInnen und die
VerteidigerInnen der Menschenrechte wie auch für die
Studierenden und Lehrenden an den Universitäten und die
JournalistInnen, die von dem konfessionell-nationalistischen und autoritären Regime Erdo÷ans verfolgt werden.
6. Der vom türkischen Staat gegen die kurdische
Bewegung geführte Krieg wie auch die Strategie
der PKK werden heute vor allem durch die Ereignisse in
Syrien bestimmt. Die Festigung und Ausweitung der
Verwaltungseinheiten – gestützt auf die Schwesterpartei
PYD (Partei der demokratischen Einheit) – im Norden
Syriens (Rojava) ist für die PKK viel bedeutsamer als das,
was sie in Verhandlungen mit dem türkischen Staat
durchsetzen kann, vor allem was die historische Konkurrenz mit dem feudalen und US-hörigen Regime Barzanis
angeht, und zwar in Bezug auf die Durchsetzung ihrer
Hegemonie im kurdischen Volk, das auf vier Länder (Iran,
Türkei, Irak und Syrien) aufgeteilt ist.
Das Erdo÷an-Regime versucht, die Hegemonialmacht
des Mittleren Ostens zu werden und hatte dafür in den
ersten Monate des Volksaufstands in Syrien auf ein
Arrangement zwischen dem Regime und den Moslembrü-
K U R D I S TA N
dern gesetzt. Danach setzte es auf eine aktivere Einmischung und einen schnellen Sturz Assads. Dazu hat die
Türkei zunächst den von den Moslembrüdern und der
(neo)liberalen Opposition beherrschten Syrischen Nationalrat unterstützt. Mit der Militarisierung des Aufstands –
eine Reaktion auf die brutale Repression seitens des
Assad-Regimes – hat die Türkei nicht gezögert, mit
verschiedenen Mitteln (politisch, finanziell, logistisch,
militärisch, medizinisch) verschiedene bewaffnete dschihadistische Gruppen, darunter den Daesh, direkt und/oder
indirekt zu unterstützen.
Einer der Hauptgründe für das Erdo÷an-Regime,
in den Kampf zum Sturz Assads einzugreifen, war
die starke kurdische Besiedlung an der syrisch-türkischen
Grenze. Die Bildung einer kurdischen Regionalverwaltung im Norden Iraks im Gefolge der imperialistischen
Intervention von 2003 hatte zweifellos bereits ein schweres
Trauma für den türkischen Staat hervorgerufen. Offenbar
hat also die Angst, ein solches Szenario noch einmal zu
erleben, das türkische Regime bewogen, sich aktiv in den
syrischen Konflikt einzuschalten. Die Lage ist dann noch
kritischer geworden, als nach dem Abzug der Truppen des
Assad-Regimes aus einem Teil Syrisch-Kurdistans im Juli
2012 die PYD die Kontrolle über diese Grenzregion
erringen konnte und dort eine Autonomie ausrief.
Heute hat die türkische Regierung an der Grenze zu
Syrien eine Blockade errichtet und behindert damit die in
der Türkei und im Ausland organisierten Solidaritätsanstrengungen mit Rojava. Wir verurteilen diese Grenzkontrollen der Regierungen, mit denen die zivilen Initiativen
gegen die Unterdrückung verhindert werden und unterstützen die Kampagnen gegen diese Blockaden.
7. 8. Ein Ergebnis der 2003 beschlossenen Dezentralisierung der PKK ist die weiterhin bestehende
Anerkennung der ideologischen und politischen Führung
Öcalans durch die PYD. Im Gefolge der Revolution von
Rojava stellt die Verwaltung der drei Kantone Cizre
(Cizîr), Afrin und Kobanê den Versuch dar, Öcalans
Strategie der „demokratischen Autonomie“ (oder des
„demokratischen Föderalismus“) umzusetzen, die an die
Stelle des Marxismus-Leninismus getreten ist, der Anfang
der 1990er Jahre aufgegeben worden war. Die im Januar
2013 deklarierte Charta von Rojava basiert auf demokratischen, laizistischen und multikulturellen Prinzipien und ist
von einer ökologischen Sensibilität geprägt. Die besondere
Betonung, die auf die Rechte der Frauen und der ethni-
schen wie religiösen Minderheiten gelegt wird, ist – vor
allem angesichts des syrischen Chaos – beeindruckend.
Und trotz der Instabilität, die in der Region herrscht, sind
diese Verpflichtungen keine leeren Worte geblieben, auch
wenn sie sicherlich noch vertieft werden müssen. Allerdings gibt es in dieser originellen und fortschrittlichen
Erfahrung der Selbstverwaltung – mittels verschiedener
Räte und Vollversammlungen – praktisch keinen politischen Pluralismus. Die PYD hat keine gewichtige historische Verankerung in Rojava und konnte nach ihrer
Rückkehr aus dem irakischen Exil 2011 ihre Hegemonie
nur aufgrund ihrer militärischen Macht durchsetzen
(mithilfe der YPG, Einheiten zur Verteidigung des Volkes). Sie
hat nicht gezögert, diese Macht einzusetzen, um die
verschiedenen lokalen kurdisch nationalistischen Strömungen zu unterdrücken, genauso wie die demokratischen Netzwerke junger kurdischer AktivistInnen, die in
der revolutionären Erhebung engagiert waren. Wir müssen
zudem festhalten, dass in einigen Städten wie Hassake und
Qamischli auch nach der Autonomieerklärung das
Assad-Regime immer noch vertreten ist.
9. Heute genießen PYD und YPG dank ihres
heroischen Widerstands gegen die Barbarei des
Daesh in Kobanê (an dem auch revolutionäre Organisationen der Türkei sowie Gruppen der Freien Syrischen
Armee und Peschmergas aus Irakisch-Kurdistan beteiligt
waren) mit Recht internationales Prestige. Die Stellung
der PYD vor Ort und ihre Wirksamkeit im bewaffneten
Kampf machen aus ihr paradoxerweise einen privilegierten
Partner sowohl der USA, die sich nicht allzu weit in das
syrische Chaos hineinziehen lassen wollen (für das sie aber
zu einem großen Teil selbst verantwortlich sind), als auch
Russlands, das seit dem 30. September 2015 militärisch
aufseiten des blutrünstigen Assad-Regimes, des Irans und
der libanesischen Hizbollah eingreift, um seine Machtposition in der Region zu stärken. Erdo÷an indes versucht um
jeden Preis zu verhindern, dass die Region von Azaz bis
Dscharabulus (die heute noch weitgehend vom Daesh
kontrolliert wird) in die Hände der PKK-PYD fällt, denn
dies ist heute die einzige Grenzregion zur Türkei, die nicht
von kurdischen Kräften kontrolliert wird.
Heute kämpfen die „Demokratischen Kräfte Syriens“1,
deren wichtigster Teil die YPG sind, mit russischer
Luftunterstützung effektiv gegen die verschiedenen
dschihadistischen Gruppen des Daesh, der al-Nusra oder
des Ahrar al-Scham und gegen andere angeblich gemäßigt
salafistische Gruppen, die von Saudi-Arabien, der Türkei
Inprekorr 3/2016 17
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und Katar unterstützt und bewaffnet werden. Diese
Geländegewinne und Siege der Demokratischen Kräfte
Syriens legen jedoch auch Widersprüche an den Tag, und
zwar aufgrund des Pragmatismus der vor Ort praktizierten
Bündnispolitik. Sie können sich Seite an Seite mit den
Streitkräften des Regimes befinden oder aber auch in Konkurrenz mit ihnen, um als Erste gegnerisches Terrain zu
besetzen. Darüber hinaus führen sowohl die Vorherrschaft
salafistisch-dschihadistischer Kräfte in den Gebieten, die
dem Regime entrissenen wurden, wie auch die Tatsache,
dass diese Kräfte sich bisweilen mit denen der Freien
Syrischen Armee vermischen, zu der Konsequenz, dass die
Demokratischen Kräfte Syriens (und damit die YPG) in
Konflikt mit der Freien Syrischen Armee und den lokalen,
sehr heterogenen Rebellengruppen geraten. Das wiederum erhöht die Gefahr, von der ansässigen Bevölkerung als
Bündnispartner des Regimes zu erscheinen. Außerdem
verstärken Anschuldigungen (beruhend auf mehreren
Berichten und Zeugenaussagen), dass die PYD in bestimmten Regionen arabische Bevölkerungsteile umsiedele, das Misstrauen gegenüber der PYD, das auf jahrzehntealten ethnischen Spannungen in einigen Regionen des
Nordens zwischen Kurden und Arabern beruht. Hinzu
kommt, dass die dominanten, von der Türkei und den
Golfstaaten unterstützten neoliberalen und mit den
Moslembrüdern verbundenen Kräfte in der Syrischen
Nationalen Koalition die Repression der PKK durch das
türkische Regime unterstützen, arabisch chauvinistische
Propaganda betreiben und keine Garantie für die nationalen Rechte der Kurden geben, was das Misstrauen der
PYD gegenüber dieser Opposition erklärt.
10. Die Vierte Internationale bekräftigt ihre
Ablehnung jeglicher militärischer Intervention und aller imperialistischen Pläne zur Zerstückelung
Syriens. Diese Interventionen imperialistischer und
subimperialistischer Mächte haben einzig und allein zum
Ziel, ihre eigenen Interessen und die der Regionalmächte
zu stärken, und sind nur eine weitere Katastrophe für die
Völker Syriens. Wir fordern den sofortigen Stopp russischer wie auch aller anderen Bombardements und den
Abzug aller ausländischen Streitkräfte. Auf der anderen
Seite vertreten wir den Standpunkt, dass die syrische
Bevölkerung das Recht hat, sich gegen die Barbarei der
Dschihadisten und des Regimes wie auch gegen jede Form
der Unterdrückung mit den Mitteln zur Wehr zu setzen,
die sie sich beschaffen kann.
Unabhängig von der Kritik, die wir gegenüber
18 Inprekorr 3/2016
bestimmten Praktiken der PYD und der Demokratischen
Kräfte Syriens haben, begrüßen wir ihren Kampf gegen die
reaktionären und dschihadistischen Kräfte, die einen Pol
der Konterrevolution in Syrien darstellen. Wir drücken
unsere Solidarität mit dem Kampf des kurdischen Volkes
für seine Selbstbestimmung aus. Wir betonen ausdrücklich, dass das Schicksal der Selbstbestimmung des kurdischen Volkes und das der syrischen Revolution eng miteinander verknüpft sind. Die Emanzipation der Völker der
Region wird nur gelingen auf dem Weg des Sturzes der
autoritären Regimes und der Befreiung vom Einfluss der
Großmächte und der multinationalen Konzerne durch ein
Bündnis der unterdrückten Klassen dieser Völker.
Büro der IV. Internationale, Paris, 9. März 2016
Übersetzung: Jakob Schäfer
„
1 Die Demokratischen Kräfte Syriens sind ein am
10. Oktober 2015 gebildetes Militärbündnis. Außer der YPG
gehören ihr im Wesentlichen an: die sunnitisch-arabische
Armee der Revolutionäre, die sunnitisch-arabische Schammar-Stammesmiliz Quwat as-Sanadid und der assyrischaramäische Militärrat der Suryoye (MFS) [Anm. d. Übers.].
DOSSIER: IMPERIALISMUS
IMPERIALISMUS UND
GLOBALISIERUNG
„Das Transpazifische Handelsabkommen erlaubt es Amerika, die Regeln für
das 21. Jahrhundert zu schreiben - und nicht Ländern wie China.“ (US-Präsident
Barack Obama)
Ein Dossier mit 4 Beiträgen
Imperialismus und
Globalisierung
Zurück zu alter
Stärke?
Der chinesische
Imperialismus
SEITE 20
SEITE 25
SEITE 28
Zieht China die
Weltwirtschaft in
den Abgrund?
SEITE 32
Inprekorr 3/2016 19
DOSSIER: IMPERIALISMUS
IMPERIALISMUS
UND
GLOBALISIERUNG
„…[es] wurde argumentiert, man exportiere
Maschinen und stelle dem Fernen Osten den
gesamten technischen Apparat des Westens
einschließlich stattlicher Ausbilderstäbe zur
Verfügung und werde infolgedessen bald die
übermächtige, weil mit billigeren Arbeitskräften
arbeitende überseeische Konkurrenz zu spüren
bekommen, und zwar in solchem Maße,
daß ein wirtschaftlicher Ruin Europas im
Bereich des Möglichen liege.“, so zitiert H.
Gollwitzer in seinem Buch Die gelbe Gefahr die
Diskussion Anfang des 20. Jahrhunderts über
die „Bedrohung des weißen Mannes durch die
Asiaten“. Yann Cézard
Seither hat sich die Welt gedreht, aber das Hirngespinst hat
sich gehalten. Bloß dass damals China das Objekt der
rivalisierenden imperialistischen Mächte war und heute
die „Werkbank des Westens“ darstellt. Bei der damaligen
„ersten Globalisierungswelle“ des Kapitalismus triumphierte der Westen. Erlebt er diesmal seinen Abstieg? Und
lässt sich heute überhaupt noch von Imperialismus reden?
Darüber herrscht gegenwärtig äußerste Konfusion in den
Köpfen, die politisch verheerende Folgen hat.
Von allen Herangehensweisen ist die isolierte Betrachtung einzelner Phänomene ohne Weitblick auf das Ganze
die schlechteste. Sie ermöglicht es den Einen mühelos, vom
Ende des Imperialismus zu schwadronieren (und warum
nicht gleich von einem „Imperialismus mit umgekehrten
Vorzeichen: Überschwemmt schließlich nicht China den
Westen mit industriellen Produkten?), und den Anderen,
darauf zu beharren, dass der von Lenin 1916 beschriebene
Imperialismus noch immer haargenau derselbe geblieben ist
(Betreibt der Westen nicht weiterhin seine ständigen
militärischen Interventionen in jedem Winkel der Erde?).
Stattdessen sollte man sich besser direkt dem Kern der Sache
20 Inprekorr 3/2016
zuwenden: Wenn der klassische Imperialismus die Form
war, die damals die erste kapitalistische Globalisierungswelle
angenommen hat, wie sieht dann der Imperialismus unter
der heutigen Globalisierung aus?
Von der ersten zur zweiten Welle der Globalisierung
Die kapitalistische Wirtschaft erlebte Ende des 19. Jahrhunderts eine erste Welle der internationalen Expansion. Nach
dem I. Weltkrieg zerschlugen sich die internationalen
wirtschaftlichen Beziehungen auf lange Sicht, um nach
1945 allmählich wieder aufzuleben. Wie langsam dieser
Internationalisierungsprozess vonstatten ging, zeigt, dass
der Außenhandel erst 1973 wieder den Stellenwert von
1913 am weltweiten BIP erreichte. Anschließend vollzog
sich die Entwicklung allerdings rasant.
Dennoch ist das, was wir seit 30 Jahren erleben, nicht
eine bloße Rückkehr zur Globalisierung von 1900, nur auf
einer höheren Stufe, sondern ein ganz unterschiedlicher
Prozess. Vor etwas mehr als 100 Jahren schickte sich das
industrialisierte Europa an, massenhaft Kapital zu exportieren, einerseits in die „Neue Welt“ (USA, Kanada etc.),
andererseits in die Kolonien und Halbkolonien. In erstere
exportierte Europa auch seine Menschen (60 Millionen
EuropäerInnen verließen im 19. Jahrhundert den „Alten
Kontinent“) und knüpfte damit zugleich – für damalige
Verhältnisse modernste – kapitalistische Beziehungen. In
den anderen – agrarischen und armen – Ländern jedoch
ging es in erster Linie darum, Infrastrukturen zu schaffen,
um dort die Rohstoffe zu plündern, die Märkte mit
Industrieprodukten aus dem Westen (oder Japan) zu
überfluten oder diese Staaten mit endlosen Schulden zu
knebeln.
Diese geknechteten und finanziell ausgebluteten
Länder wurden angehalten, sich auf eine sog. „win-winSituation“ einzulassen, d. h. auf einen Freihandel mit den
Kolonialherren. Indien bspw. musste dafür teuer bezahlen:
Das heimische Textilhandwerk wurde durch englische
Manufakturen zu Tode konkurriert und das vorindustrielle Land wurde „angespornt“, sich auf seine „Wettbewerbsvorteile“ zu spezialisieren, z. B. Opium für den Tausch
gegen Tee aus China zu produzieren, was beiden Völkern
zum höchsten Nachteil gereichte und England Profite
bescherte. Die durchschnittliche Einkommenskluft
zwischen Indien und England, die 1820 noch eins zu zwei
betragen hatte, lag Ende des 19. Jahrhunderts bereits bei
eins zu vier.
Damit lässt sich nachvollziehen, warum diese Länder,
nachdem sie nach 1945 eine reale Unabhängigkeit erlangt
DOSSIER: IMPERIALISMUS
hatten, oft flugs ihre Grenzen abschotteten und ihren
eigenen Industrialisierungsprozess in die Wege leiteten.
Dies war allerdings ein weitgehender Fehlschlag. Fast alle
Regierungen dieser Länder kehrten in der Zeit zwischen
dem Tod Mao Zedongs und dem Fall der Berliner Mauer
an die Tafel des Weltmarkts zurück, da der eigenständige
Industrialisierungsprozess stagnierte und zugleich die
kapitalistischen Weltmächte (Europa, USA, Japan), aber
auch die „asiatischen Tiger“, ein über 20 Jahre langes
starkes Wirtschaftswachstum erlebten. Sehr schnell konnte
sich das globale Kapital darauf hin riesige Portionen der
Weltkugel wieder einverleiben, wo doch die Kapitalisten
nach immer neuen Anlagemöglichkeiten außerhalb ihrer
Heimatstaaten Ausschau hielten und ihre Geschäfte
zunehmend international ausrichteten, weil in der
„Heimat“ der Schwung der Wirtschaftswunderjahre
erlahmt war. Zweifellos handelten die Regierungen der
„Entwicklungsländer“ aus äußerster Not heraus, zugleich
jedoch oftmals aus dem Bestreben, für sie selbst einträgliche Geschäfte mit den multinationalen Konzernen (TNK)
auf dem Rücken der eigenen Bevölkerung zu knüpfen.
Aber das Kapital und die Regierungen der reichen Länder
hatten auch für manche von ihnen anderes anzubieten als
die bloße Spezialisierung auf Bananen und Bambusholzmöbel oder die unumwundene finanzielle Ausplünderung.
Die Produktion wird weltweit organisiert
Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre betrieben die
Regierungen mancher Länder (Reagan, Thatcher …) eine
regelrechte politische Offensive, die als Neoliberalismus
bekannt wurde und einherging mit einem breiten Spektrum wirtschaftsstrategischer Maßnahmen seitens verschiedenster kapitalistischer Akteure. Binnen zweier Jahrzehnte
fand ein radikaler Wandel auf der Welt statt: Die weltweite
Durchdringung des Finanzkapitals ermöglichte eine
nahezu allgegenwärtige Kapitalzirkulation und setzte de
facto auf der gesamten Erde die Lohnabhängigen, die
Nationalstaaten und die Sozialsysteme in Konkurrenz
zueinander.
Hand in Hand mit dem wieder ungehindert zirkulierenden Finanzkapital nahmen die TNK massive Investitionen in den Ländern vor, die ihnen als potentielle Absatzmärkte attraktiv genug erschienen und zugleich arm
genug, um billige Arbeitskräfte zu liefern (China, Mexiko
etc.). Die Produktionsabläufe wurden zergliedert und
passend über den ganzen Erdball verteilt, um jeweils die
größtmöglichen Vorteile aus den einzelnen Ländern
abzuschöpfen: Niedriglöhne in China, Zwischenprodukte
in Taiwan, Forschung in den USA etc. Diese neue weltweite Arbeitsteilung wurde erst möglich, weil die reichen
Länder ihre Grenzen geöffnet, ihre Großkonzerne zur
Auslagerung ihrer Produktionskapazitäten animiert und
das heimische Kapital in etlichen armen Ländern dazu
bewegt haben, Exportgüter zu produzieren.
In der Folge kam es zu einer massiven Verlagerung der
weltweiten Industrieproduktion weg von den OECDStaaten und hin zu den großen Schwellenländern mit
China an der Spitze. Über Jahrzehnte hinweg verzeichneten die Schwellenländer höhere Wachstumsraten als die
Industrieländer. Dadurch ist – nach IWF-Angaben – der
Anteil der BRIC-Staaten am weltweiten BIP (in Dollar
gemessen) zwischen 1992 und 2013 von 5 % auf 21 %
gestiegen, während er in den USA von 27 % auf 23 % und
in der EU von 33 % auf 23 % zurückgegangen ist.
Cui bono [zu wessen Nutzen]? In China haben die aus
der bürokratischen Nomenklatura hervorgegangene
Bourgeoisie und auch Andere reichlich davon profitiert.
Ob in Rio oder Shanghai – wir sind weit entfernt von der
Kompradorenbourgeoisie der Kolonialzeiten, diesen
Mittelsmännern der Ausbeutung ihrer Landsleute durch
die westlichen oder japanischen Kapitalisten, die ihnen
dafür eine beiläufige Provision zukommen ließen.
Aber darüber hinaus erhofften sich Hunderte von
Millionen Menschen eine neue Zukunft aus dieser
einmalig drangvollen Industrialisierungswelle. In etlichen
dieser Schwellenländer ist die Armut erheblich zurückgegangen. Auf der anderen Seite kamen natürlich all die
schrecklichen Seiten des Kapitalismus: die verschärfte
Ausbeutung der Lohnabhängigen, die bestürzende
Ungleichheit und die Zerstörung der Umwelt, da der
Westen und Japan mit ihren Fabriken auch großteils ihre
Schornsteine ausgelagert haben.
Chinamerika
Wir leben also nicht mehr in der Epoche des Imperialismus,
wie sie von Lenin oder Luxemburg beschrieben worden
war. Die Industrieländer sind nicht mehr unbedingt
Waren- und noch nicht einmal Kapitalexporteure, sondern
oft Nettoimporteure. Das erstaunlichste Beispiel liefert
„Chinamerika“, also das Zentrum der Weltwirtschaft: Die
in China gefertigten Konsumgüter, die den US-Markt
überschwemmen, steigern dort das Handelsdefizit, das zu
einem guten Teil von der chinesischen Zentralbank
finanziert wird, indem sie US-amerikanische Staatsanleihen kauft.
Inprekorr 3/2016 21
DOSSIER: IMPERIALISMUS
Die nebenstehende Grafik illustriert die verblüffenden
Seiten dieses ungleichen Paares.
Wenn man sich den Imperialismus bisher so vorgestellt hat, dass die Agrarländer notwendigerweise durch
die kapitalistischen Industriemetropolen geplündert
werden, indem erst Waren und nachfolgend Kapital aus
dem „Norden“ in den „Süden“ exportiert werden (für
Lenin das zentrale Kriterium des modernen Imperialismus), dann würde man jetzt gar nichts mehr verstehen …
Die multinationalen Konzerne regieren …
…es sei denn, man bedenkt, dass die multinationalen
Konzerne der Industrieländer es sind, die diese neue
Globalisierungswelle losgetreten haben. Sie haben die
Produktion auf internationaler Ebene organisiert, um
ihre Profite zu mehren, hier billigere Arbeitskräfte zu
finden, dort weniger Steuern zu bezahlen und woanders
von besser qualifiziertem Personal und den modernsten
Technologien zu profitieren. In diesem Zusammenhang
wirft es ein Schlaglicht, wenn man die internationalen
Handelsgewinne in den Kategorien der Wertschöpfung
berechnet. Die USA, die all ihre iPhones aus China
importieren, wiesen 2009 gegenüber China ein Handelsdefizit von 1,9 Mrd. Dollar auf, [aufgrund der komparativen Produktionskostenvorteile] liegt das Wertschöpfungssaldo jedoch bloß bei 79 Millionen, (während es
gegenüber Japan 680 Millionen und gegenüber Deutschland 300 Millionen sind). Die Profite schließlich flossen
ganz überwiegend in die Taschen der US-Aktionäre.
Von dem Paar Nike-Turnschuhe, das in den USA für 75
Dollar verkauft wird, fließen durchschnittlich nur drei
Dollar an die indonesischen ArbeiterInnen, die sie
herstellen. Zudem liefert diese Globalisierung einen
trefflichen Hebel, um die Staaten und die Sozialsysteme
in den reichen wie in den armen Ländern unter Druck zu
setzen, indem man sie gegeneinander ausspielt.
Mehr denn je leben wir in der Ära der großen
Oligopole, selbst wenn sie sich immer wieder aufs Neue
einen Konkurrenzkampf liefern. Alle TNK [transnationale Konzerne] versuchen eine dominierende Position zu
erlangen, um zu verhindern, dass neue Konkurrenten
erwachsen: durch größenbedingte Kostenvorteile,
Spezialisierung im Produktionsablauf oder die Erzielung
von Extraprofiten durch technologischen Vorsprung,
Patente oder das Monopol auf Markenzeichen. Sie
symbolisieren das Prinzip des Monopolismus „the
winner takes it all“, wie es im Poker heißt, egal ob sie
Google, Nike oder Barbie heißen: Die synthetischen
22 Inprekorr 3/2016
LEISTUNGSBILANZ IN MRD. US-DOLLAR
NACH ANGABEN DER WELTBANK
Schwellenländer
Industrieländer
China
USA
Haare stammen aus Japan, das Plastik von den Philippinen und montiert wird in Indonesien. Nur das Markenzeichen der Plastikblondine stammt aus den USA.
…und die Staaten liefern die Politik dazu.
Die Industrienationen, die ihrerseits ebenfalls unter Druck
gestanden waren, haben sich nachdrücklich dafür eingesetzt, die Grenzen für den Waren- und Kapitalverkehr zu
öffnen. Ohne sie wäre das nicht passiert. Kein Wunder,
denn gilt den Marxisten nicht die Allianz der politischen
„Eliten“ mit den Industrie- und Finanzkonzernen als eines
der Wesensmerkmale des Imperialismus seit Beginn des
20. Jahrhunderts?
Unser Blick muss jedoch darüber hinaus gehen: Die
westlichen und japanischen Regierungen stehen nicht
allein den TNK zu Diensten, sondern sind ganz generell
der Dynamik des Gesamtkapitalismus in ihrem Land und
allen Vermögenden und Unternehmern gegenüber
verpflichtet – selbst denen, die bloß einen Friseursalon
oder eine Autowerkstatt betreiben. Die massenhafte
Einfuhr billigerer Waren, die in den Regalen von
Wal-Mart landen, ermöglicht es, die Löhne in den USA
gering zu halten und somit die Arbeitskosten zu senken
und die Ausbeutungsrate auf eigenem Boden zu erhöhen.
Zugleich mehrt der Staat [seine Ausgaben und] sein
Defizit und heizt somit den Binnenkonsum und die Konjunktur an. Die USA sind insofern das beste Beispiel für
das, was in den Industrienationen passiert ist.
Auch wenn wir nicht in der Epoche des Imperialismus
leben wie zu Zeiten Lenins, da der Imperialismus die
Formen und mitunter auch die Richtung der Waren- und
Kapitalströme geändert hat, sind wir doch weit von einer
DOSSIER: IMPERIALISMUS
hierarchisch flachen Welt entfernt, in der es keine
herrschenden und beherrschten Nationen mehr gibt, wo
die Bevölkerung der armen Länder nicht mehr durch das
Kapital der reichen Länder ausgebeutet wird und wo die
Großkonzerne nicht mehr die Weltwirtschaft dominieren.
Genauso müssen wir uns von bestimmten Formen
der Dritte-Welt-Ideologie verabschieden, die ihre
Hochzeit hatte, als es noch eine „Dritte Welt“ gab: ein
Ensemble von Ländern, in denen die Mehrheit der
Weltbevölkerung lebte und die weder dem industrialisierten Ostblock noch dem kapitalistischen Westen
angehörten. Diese Ideologie hatte immerhin das Verdienst, in Anlehnung an die verschiedenen marxistischen
Strömungen nach 1945 die Ausbeutung und Unterdrückung der armen Völker durch das Kapital der reichen
Länder zu kritisieren.
Bestandteil dieser Ideologie war in den 60er und 70er
Jahren jedoch nicht nur die Solidaritätsarbeit, sondern
auch die Auffassung, dass sich die damals armen Länder
niemals in einem kapitalistischen Rahmen entwickeln
könnten und dass nur die sozialistische Revolution sie aus
ihrer äußersten Armut rausholen und die Weltordnung
stürzen könnte. Diese Prognosen haben sich inzwischen
mit der (wenn auch keineswegs linear verlaufenden)
Entstehung der großen „Schwellenländer“, die noch
einmal das Schreckensszenario des Manchester-Kapitalismus durchlaufen, und dem Aufschwung des kapitalistischen Chinas zur politischen und wirtschaftlichen
„Großmacht zweiter Ordnung“ relativiert. Ähnliches gilt
für die Theorie, dass die Lohnabhängigen im Norden von
der Ausbeutung des Proletariats im Süden so profitieren,
dass sie als Klasse definitiv nicht mehr zum erhofften
„revolutionären Subjekt“ taugen würden. Denn auch
wenn sie sich dank der Unterdrückung der Entwicklungsländer billig mit Kakao und Textilien versorgen
können, führen die Mechanismen der gegenwärtigen
Globalisierung trotz allem dazu, dass auch unter ihnen
die Löhne gesenkt und die Ausbeutung verschärft
werden.
Auf der anderen Seite erleben wir die Solidarität unter
der Bourgeoisie (fast) aller Länder. Deren Einvernehmen
ist sicher brüchig, aber friedlicher als in den Kolonialzeiten. Sie konkurrieren gegeneinander und es gibt Konfrontationen, aber sie bekriegen sich nicht mehr um die
Rohstoffe und Absatzmärkte. Und alle Reichen und
Superreichen, auch – und mitunter gar besonders – in den
wirtschaftlich peripheren Ländern, essen alle mehr oder
minder vom gemeinsamen Topf der globalen Finanzwirtschaft.
Instabilität und Gewalt
Die relativ friedliche Koexistenz der kapitalistischen
Mächte sorgt allerdings nicht für stabile Verhältnisse auf
der Welt. Denn das freie Spiel des Kapitalismus stürzt
ganze Regionen ins Elend, gebiert eine gigantische
Umweltkrise und schafft keineswegs harmonische
Wirtschafts- und Lebensverhältnisse. Es vertieft sogar die
Gegensätze: Mag das Durchschnittseinkommen vieler
Asiaten etwas näher an westliche Verhältnisse herangerückt sein, so leben doch Milliarden Menschen dort
mittlerweile in Slums, sind die ärmsten Länder noch
ärmer geworden und schießt überall die Ungleichheit in
die Höhe. Der Kapitalismus entfaltet so noch immer seine
Zentrifugalkraft.
Dies trifft umso mehr zu, als der Globalisierungsprozess sehr ambivalent ist. Darin vermischen sich ganz neue
Phänomene, wie die Standortverlagerung der weltweiten
Industrie, mit ganz alten, wie der imperialistischen
Ausplünderung, die keineswegs verschwunden ist. Die
Schuldenfalle stranguliert weiterhin ganze Nationen.
Viele Staaten und ihre kriminellen Führungsschichten
haben die Strukturanpassungspläne des IWF hingenommen, die Staatsunternehmen verschleudert und die
Rohstoffe des Landes an ausländische Konzerne verhökert. Durch derlei räuberische Maßnahmen sind Dutzende Länder ruiniert worden, was sich in dem Begriff des
„verlorenen Jahrzehnts“ für die 80er Jahre in Lateinamerika widerspiegelt und momentan vorwiegend Afrika
mit immer mehr „gescheiterten Staaten“ und Bürgerkriegen betrifft – neuerdings aber auch die Peripherie
von Europa.
Durch den Freihandel sind Hunderte von Millionen
Bauern in den ärmsten Ländern der Welt ins Elend
gestürzt worden. Die angeblichen „Chancen“, die der
Weltmarkt bieten sollte, haben sich immer wieder als
Tragödie herausgestellt. Durch die explodierenden
Agrarpreise auf dem Weltmarkt konnte 2008 die Bevölkerung der afrikanischen Großstädte nicht mehr ihren
Reis aus Thailand oder den USA kaufen, während die
einheimischen Produzenten traditioneller, heimischer
Getreidesorten in diesen Städten schon längst durch
billigere Importwaren aus den Ländern mit höherer
Produktivität und/oder mehr Subventionen vom Markt
verdrängt worden waren.
Verschärfte Konkurrenz, monströse Ungleichheit,
Inprekorr 3/2016 23
DOSSIER: IMPERIALISMUS
geopolitisches „Niemandsland“, immer weitere Krisen …
Wie lässt sich dieses weltweite Chaos regieren?
Empire? Nationalstaaten!
Die Nationalstaaten spielen eine größere Rolle als je
zuvor. Sie sind die bewaffneten Interessensvertreter ihrer
Kapitalisten und für die Reichsten und Mächtigsten die
Garanten eines für den Kapitalismus unerlässlichen
intakten Finanzsystems. Dies hat erst die Krise von 2008
wieder gezeigt und dasselbe gilt auch für die Schwellenländer. Es sind nicht die schwachen und dem Neoliberalismus auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Staaten, die
sich am besten in die neue kapitalistische Weltordnung
integrieren konnten. Sondern es ist bspw. der chinesische
Staat, Erbe der maoistischen Revolution – vereinigt,
nationalistisch und gerüstet. Er war in der Lage, über
Marktöffnung, Ansiedlung von Produktionskapazitäten
und Technologietransfer zu verhandeln, indem er seine
Partner und die Investoren gegeneinander ausgespielt hat.
Von dem „Empire“, das Hardt und Negri prophezeit
haben – eine hierarchisch „flache Erde“, die der Schrankenlosigkeit eines transnationalen und vom Staat unabhängigen Kapitals ausgeliefert ist, welches allein und ohne
politische Vermittlung der „Multitude“ gegenüber tritt,
sind wir weit entfernt Der Imperialismus von heute
bedeutet vielmehr, dass die Welt zwar von den Geschäften der TNK und des Finanzkapitals dominiert, jedoch
durch ein System von Staaten, die miteinander konkurrieren und kooperieren, strukturiert wird. Es gibt
gewissermaßen einen „kollektiven Imperialismus“, der
sich schlecht und recht verständigt und dafür einsteht,
dass Handel, Investitionen und Rohstoff- und Energieversorgung sicher ablaufen, und sei es gelegentlich mit
brutalster Gewalt.
Dieses System ist strikt hierarchisch: An der Spitze
stehen die reichsten und – nicht nur für ihre eigene
Bourgeoisie, sondern für alle Reichen der Welt – verlässlichsten kapitalistischen Staaten. Und ganz oben der
US-amerikanische Staat. Seine Hegemonie misst sich
nicht in Weltmarktanteilen. Er ist der Schlussstein des
ganzen Systems: Seine Macht garantiert, dass die Kapitalund Materialflüsse frei vonstatten gehen, und sein
„starker und liquider“ Finanzmarkt bildet die Zuflucht
für all das beunruhigte Kapital und über seine Währung
laufen alle Zahlungen. Natürlich lässt sich der US-Imperialismus seinen Aufwand bezahlen, indem er sich durch
seine Währungs- und Finanzpolitik sein Monopol zum
Gelddrucken entgelten lässt und indem er seine Militär24 Inprekorr 3/2016
macht für „egoistische“ Interessen missbraucht. Aber
weder Japan noch Europa – das so gar nicht existiert –
wollen es ihm streitig machen. Und Moskau und Peking
können es nur im Ansatz. Dabei schrecken sie natürlich
alle nicht davor zurück, für ihre Politik auch ihr grausamstes Waffenarsenal einzusetzen.
Das Kapital zählt auf den Staat, misstraut ihm aber
zugleich. Denn die Demokratie kann für das Finanzkapital und die TNK gefährlich sein. Genauso die Diktatur:
Unkontrollierte Cliquen könnten auf den Gedanken
kommen, nur zu ihrem eigenen Vorteil oder „populistisch“ zu handeln. Gute Verfassungen sind so beschaffen,
dass sie die Demokratie nur Scheingebilde sein lassen und
das Volk im Zaum halten. Starker Staat? Bitte sehr! Aber
der Rubel muss weiter rollen!
Dasselbe gilt für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Die Kapitalisten mögen keinerlei Reglementierung durch sozial-, umwelt- gesundheitspolitische oder
sonstige Auflagen, die bloß ihre Freiheit beschränken, zu
produzieren, zu investieren und auszubeuten. Vom Staat
jedoch fordern sie, dass er ihre Investitionen im Ausland
absichert, offene Grenzen und das Recht auf Gewinnrückführung garantiert, die Steuern niedrig hält und das
Patentrecht durchsetzt. Daher bestehen die TNK auch so
hartnäckig auf internationale Gerichtsbarkeit und Rechtssicherheit, wie sie in internationalen Organisationen wie
bspw. der WTO oder beim Aushandeln von Freihandelsverträgen wie dem TTIP zum Ausdruck kommen. Dieses
zielt darauf ab, die Normen auf beiden Seiten des Atlantiks
nach unten zu nivellieren und die Staaten internationalen
Schiedsgerichten zu unterwerfen, die von den Konzernen
angerufen werden können. Wohin dies führen kann,
haben die Pharmakonzerne Ende der 90er Jahre demonstriert, als sie im Rahmen der WTO gegen die Herstellung
pharmazeutischer Generika durch die Entwicklungsländer
kämpften, um somit die gängige Methode der trivalenten
Therapie für die zig Millionen AIDS-Kranken in diesen
Ländern zu unterbinden.
Dies zeigt, dass selbst unter dem Siegel der Rechtsstaatlichkeit die imperialistische Barbarei unsere Welt
zerstört.
aus l‘Anticapitaliste - la revue mensuelle, Nr. 73, Februar
2016
Übersetzung: MiWe
„
DOSSIER: IMPERIALISMUS
ZURÜCK ZU
ALTER STÄRKE?
Die USA sind eindeutig weiterhin die stärkste
Großmacht der Welt und kein anderer Staat
kann ihnen diese Position streitig machen. Aber
trotzdem befindet sich die Vormachtstellung des
US-Kapitals in der Krise, sowohl inner- als auch
außerhalb der Grenzen … Yvan Lemaitre
„Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die mächtigste
Nation der Welt. Punkt!“, erklärte Obama in seiner letzten
Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress, um dann
fortzufahren: „Wenn es zu einer wichtigen internationalen
Krise kommt, dann wendet sich niemand an Peking oder
Moskau, sondern an uns. […] Wer glaubt, dass die USA
oder ich selbst sich nicht verpflichtet fühlen, Gerechtigkeit
zu üben, der soll Osama Bin Laden fragen. Wenn Amerika
angegriffen wird, dann antworten wir. Manchmal dauert
dies etwas, aber wir haben einen langen Atem und unsere
Arme reichen weit.“
Während die erste Aussage unbestritten wahr ist,
kommt der Umstand, dass sich Obama verpflichtet fühlt,
indirekt auf Donald Trump zu antworten, der wiederum
Amerikas Niedergang anprangert, einem Eingeständnis
von Schwäche gleich, erst recht, wenn er dann anschließend den Krieg erklärt. Dies unterstreicht eher, dass
Obama darin gescheitert ist, die Ära Bush politisch
beenden zu wollen, und zeugt vielmehr vom Gegenteil.
Darin zeigt sich, wie sich entlang der Transformation
des Kapitalismus als solcher die Rolle und Position der
USA innerhalb der kapitalistischen Welt geändert haben.
Die Epoche des Imperialismus, wie ihn Lenin vor 100
Jahren definiert hat, ist nach zwei Weltkriegen und den
Kolonialkriegen in ein neues Stadium eingetreten. Was
dies für Auswirkungen in Bezug auf die Klassenkämpfe
hat und welche neuen Chancen und Perspektiven sich
daraus ergeben, diese Frage muss ergründet werden. Dies
ist ein weites Aufgabenfeld, aber unerlässlich, um nicht
einfach alte Formeln nachzubeten, die den heutigen
Realitäten nicht mehr gerecht werden. Dazu gehört auch
die Einschätzung, welche Position und Rolle die USA im
globalisierten Kapitalismus einnehmen.
Das manichäische Weltbild aus den Zeiten des Kalten
Krieges und der antiimperialistischen Kämpfe und das
Lagerdenken, das darin besteht, sich kritiklos auf die Seite
der Gegner der Yankee-Imperialisten zu schlagen und
dabei den Maßstab des Klassenkampfes außer Acht zu
lassen, verleiten heutzutage zu noch karikaturistischeren
Positionen. Wir müssen die neue Weltordnung in all ihrer
Komplexität begreifen, ohne dabei unser Orientierung auf
die Arbeiterklasse, ihre politische Unabhängigkeit und
ihre Kämpfe aus den Augen zu lassen. Wir müssen darlegen, wo sich neue Widersprüche aufgetan haben, die zu
einer Schwächung der USA auf internationaler Ebene und
im Herzen dieser Hochburg des Kapitalismus führen, ohne
dass freilich der Status als Weltmacht Nr. 1 infrage gestellt
wäre.
Vom siegreichen US-Imperialismus …
Im Laufe der ersten Globalisierungswelle Ende des 19.,
Anfang des 20. Jahrhunderts, als die USA eine junge,
aufstrebende Nation waren, ist aus dem Kapitalismus der
freien Konkurrenz der Imperialismus entstanden. Damals
galt die Monroe-Doktrin der „splendid isolation“, was
jedoch keineswegs ausschloss, durch eine aggressive
Außenpolitik dem US-Kapital Märkte zu erschließen, da
der Binnenmarkt allein – so riesig und in vollem Wachstum er auch war – ihm nicht ausreichte.
Dieser Expansionismus wurde als göttlicher Auftrag
gerechtfertigt. „Gottes Hand hat uns diesen Weg gewiesen“, verkündete Woodrow Wilson, ein glühender
Verfechter dieser Ideologie, in der Religion, Kapitalismus,
Demokratie, Frieden, Freiheit und die Macht der USA
eins sind. Bis hin zu Bush und noch heute Obama blieb
diese Ideologie das Maß aller Dinge in den Reden der
US-Politiker.
Schluss mit ihrer Isolationspolitik machten die USA
1917, inmitten des Ersten Weltkriegs, bei dem es um die
Aufteilung der Welt ging und die Völker Europas gegeneinander gehetzt wurden. Damals vollzogen sie den ersten
Schritt zum Aufstieg als weltweite kapitalistische Führungsmacht. Dabei stießen sie jedoch […] einerseits auf die
Welle der revolutionären Erhebungen und andererseits auf
die alten Kolonialmächte, die die Welt mit Grenzen
zerrissen und unter Protektion gestellt hatten. Der rasante
Aufstieg der USA endete mit der Weltwirtschaftskrise von
1929.
Die Welle der revolutionären Erhebungen, die von der
faschistischen und stalinistischen Reaktion besiegt und
gebrochen worden ist, konnte nicht verhindern, dass ein
Inprekorr 3/2016 25
DOSSIER: IMPERIALISMUS
zweites Mal um die Aufteilung der Welt ein barbarischer
Krieg geführt wurde – der Zweite Weltkrieg, der dazu
führte, dass die USA zur alleinigen Macht aufstiegen, die
die kapitalistische Weltordnung aufrecht erhalten konnte.
Als neue Hegemonialmacht schufen sie die Instrumente, um auf Erden ihren messianischen Anspruch zu
verwirklichen: die Verträge von Bretton Woods, den
IWF, die UNO, die NATO etc. Aber noch war der
Moment für den weltweiten Triumph der Marktwirtschaft nicht gekommen. Dem standen die Sowjetunion
und die Aufstände der Kolonialvölker entgegen, besonders
in Vietnam. Damals herrschte der Kalte Krieg und die
Botschaft von Frieden und Demokratie auf dem Boden
der Marktwirtschaft hatte die hässliche Fratze von
Napalmbomben.
Der Sieg des vietnamesischen Volkes 1975 beendete
diesen Zeitabschnitt, auch wenn es noch 40 Jahre
dauerte, bis die USA wieder diplomatische Beziehungen
mit Kuba aufgenommen haben. Ende der 70er Jahre
begann die neoliberale Offensive unter der Ägide der
USA und ihres Adepten Großbritannien und somit die
zweite Globalisierungswelle, die dem Fall der Profitrate
begegnen sollte und in deren Verlauf sich der Kapitalismus als weltweite Produktionsweise bis in den letzten
Winkel der Erde durchsetzte. Am Ende dieser auf die
Wirtschaftswunderjahre folgenden neoliberalen Offensive standen das Aus der Sowjetunion und der Zerfall der
dahinterstehenden Bürokratie. Diese hatte wohl die
nationalen Befreiungskämpfe unterstützt, aber zugleich
– im Namen der Friedlichen Koexistenz – zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltordnung beigetragen.
…zum imperialistischen Neoliberalismus
Nach dem Ende der Kolonialreiche und der ComeconStaaten kamen die imperialistischen Mächte im Rahmen
der weltweit freien Konkurrenz zur freien Entfaltung.
Dem weiteren Aufstieg der USA stand nichts mehr im
Wege und die neoliberale und imperialistische Euphorie
trug sie unter den Regierungen von Bush sen. und jun.
immer weiter bis zur weltweiten Durchsetzung des
Kapitalismus. Die USA beherrschten nunmehr die Welt,
aber der Mythos vom „Ende der Geschichte“ hielt den
Realitäten nicht lange stand. Der erste Irak-Krieg eröffnete eine lange Periode, in der den Völkern die neoliberale
Globalisierung mit Nachdruck aufgezwungen wurde und
wo die „Strategie des gelenkten Chaos“ zu einer neuen
instabilen Weltordnung führte und zu immer neuen
Kriegen – in Afghanistan, Libyen, Syrien etc.
26 Inprekorr 3/2016
Schließlich zerbrach der Mythos, dass dank des freien
Kapital- und Warenverkehrs Demokratie und Frieden
Einzug halten würden. Diese Freizügigkeit, die Verallgemeinerung der Ausbeutungsverhältnisse und die Durchdringung des gesamten Soziallebens durch das Kapital
haben sowohl die sozialen Beziehungen als auch die
Beziehungen zwischen den Staaten zersetzt.
Seit der Finanzkrise von 2008 versuchen die Auguren
der neoliberalen Globalisierung wohl die internationalen
Verhältnisse neu zu ordnen, aber die globalisierte Wirtschaft entzieht sich jeder Regulierung, da es keine Macht
gibt, die über die dazu notwendigen Mittel verfügt.
Stattdessen wächst die Diskrepanz zwischen der durch die
globalisierte Konkurrenz bedingten Instabilität und der
Erfordernis, den Kapitalismus gemeinsam in geordnete
Verhältnisse zu lenken, um somit das Funktionieren von
Produktion und Handel zu gewährleisten. In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Kräfteverhältnisse umgewälzt: Nach wie vor sind die USA auf allen Gebieten die
unangefochtene Supermacht, aber sie sind gezwungen,
sich zu arrangieren und Verbündete zu finden. Der
Widerspruch zwischen Nationalstaat und der Internationalisierung von Produktion und Handel war noch nie so
groß, wobei keine der Großmächte gegenwärtig in der
Lage ist, die internationalen Verhältnisse zu regulieren.
Stattdessen nimmt die Instabilität aus diesen beiden
Gründen zu.
Die internationale Arbeitsteilung wird neu aufgestellt, indem die ehemaligen Kolonial- oder abhängigen
Länder und besonders die Schwellenländer eine wirtschaftliche Weiterentwicklung im Rahmen der Globalisierung der Produktion durchlaufen, die nicht bloß eine
Internationalisierung oder „eine integrierte Weltwirtschaft“ – wie M. Husson es nennt – darstellt. Statt der
althergebrachten Teilung der Welt regiert nun der Kampf
um die Kontrolle der Handelskreisläufe, der Produktionsstätten, der Energieversorgung etc. Kapitalistische
Funktionsweise und territoriale Kontrolle ordnen sich in
neuen Formen, um einen Begriff von David Harvey
aufzugreifen.
Die daraus folgende zunehmende Instabilität der Welt
führt zu immer mehr Militarisierung und Spannungen, so
dass die USA ihre militärische Präsenz ausbauen müssen
und dabei eine Allianz mit den anderen Großmächten
Europa und Japan sowie mit den Schwellenländern
anstreben, um so die Weltordnung aufrecht zu erhalten.
Ein Beispiel dafür ist die Wiederaufwertung der NATO.
Durch diese Politik nehmen die Ungleichgewichtigkeiten
DOSSIER: IMPERIALISMUS
zu, zerfallen ganze Staaten und wächst der religiöse
Fundamentalismus, der in seiner terroristischen Form für
permanentes Chaos sorgt.
Supermacht und Führung
Die Zeitschrift Alternatives économiques schreibt im Editorial
ihrer Spezial-Ausgabe (N°107) zum Thema „Wie sieht die
Welt von 2016 aus?“ mit dem Titel „Eine Welt ohne Plan“:
„Es herrscht heute eine tiefgreifende Unordnung im
internationalen System. Durch die unipolaren Verhältnisse
zwischen 1990 und 2000, als die USA die internationale
Szene beherrschten, sind unverzeihliche Fehler gemacht
worden, wie bspw. die Anmaßung, den Nahen Osten neu
gestalten zu wollen, was diese Region völlig aus dem
Gleichgewicht geworfen hat. Jetzt, wo diese unipolare
Dominanz einer „Apolarität“ gewichen ist, sind die
Gefahren nicht kleiner geworden, weil dadurch eine
destabilisierende Anarchie unterhalten wird, wo überall
auf der Welt interveniert wird, ohne dass eine übergeordnete Strategie besteht, wie man in Syrien oder im Jemen
sieht. Es ist höchste Zeit, dynamische, multipolare Verhältnisse – auch unter Einschluss der Schwellenländer – zu
schaffen, um so wieder Ausgewogenheit zwischen den
Ländern herzustellen. Sicherlich ein großes Vorhaben …
das wohl nicht so schnell umgesetzt werden wird.“
Dieses „große Vorhaben“ ist v. a. eine reine Kopfgeburt. Die Grenzen, die durch die erweiterte und auf
exponentiell wachsenden Kreditvergaben und Verschuldung beruhende Akkumulation des Finanzkapitals erreicht
sind, führen dazu, dass sich eine „Akkumulation durch
Enteignung“ (Harvey1) entwickelt. Da der Kapitalismus
außerstande ist, durch wirtschaftliche Weiterentwicklung
die Mehrwertmenge zur Zufriedenheit des Kapitals zu
steigern, sucht er seinen Ausweg aus diesen Problemen bei
der Kapitalakkumulation in einer kombinierten Offensive
gegen die Lohnabhängigen und gegen die Völker, um
beiden eine Umverteilung der Reichtümer aufzuerlegen,
die immer mehr zu deren Lasten geht.
Dies führt zu einem erbitterten Kampf um die Kontrolle der Territorien, der Energiequellen, der Rohstoffe
und der Handelswege etc. Der globalisierte freie Wettbewerb führt zum Kampf über die Kontrolle der Reichtümer
und damit zu einer Neuaufteilung der Welt, allerdings
unter komplett anderen Kräfteverhältnissen als Ende des
19., Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die US-Vorherrschaft wird durch ihre Fähigkeit
bedingt, die Weltordnung, also die „Regierbarkeit der
Welt“ zu garantieren. Dies setzt voraus, dass sie als Super-
macht ihrem Anspruch gerecht werden kann, im Allgemeininteresse zu handeln, da wirtschaftliche und militärische Dominanz allein nicht ausreichen, um einen Konsens
herzustellen. Die Entstehung neuer Großmächte oder
Regionalmächte mit imperialistischem Anspruch lässt die
Führerschaft der USA zunehmend brüchig und die
internationale Lage immer chaotischer werden.
Wohin können diese Spannungen und Ungleichgewichtigkeiten führen? Langfristig lässt sich keine Hypothese hierüber ausschließen, und wenn die herrschenden
Klassen den Lauf der Dinge nicht umkehren können, auch
die allerschlimmste nicht, nämlich dass es zu einer weltweiten Eskalation der lokalen Konflikte kommt, bis hin zu
einem Weltenbrand oder einem neuen Weltkrieg, der die
ganze Erde involviert.
Der amerikanische Traum ist vorbei
Im Gefolge dieser Veränderung der internationalen
Kräfteverhältnisse ändern sich auch die Verhältnisse
zwischen den Klassen. Durch die weltweite Proletarisierung der Massen können die herrschenden Kapitalisten
– bes. in den USA – in die Offensive gehen, um die
Profitrate zugunsten einer immer größeren Kapitalmenge
aufrechtzuerhalten. Zwar war die US-Bourgeoisie – ohne
freilich das Rassenproblem mit den Schwarzen in den USA
lösen zu können – imstande, den Zusammenhalt des Imperiums mehr oder weniger zu gewährleisten, nämlich dank
der Extraprofite infolge ihrer Dominanz und besonders
der Funktion des Dollars, aber inzwischen beginnt die
Hochburg des Kapitalismus zu bröckeln.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts war die Ungleichheit in
den USA nie so groß wie heute. Für weite Teile der
Bevölkerung ist der „amerikanische Traum“ ein unerreichbarer Mythos geworden. 51 % der US-Lohnabhängigen verdienen weniger als 30 000 Dollar im Jahr. Drei
Viertel der Bevölkerung nehmen soziale Beihilfe in
Anspruch und 47 Millionen Menschen leben in Armut.
Die 0,1 % Reichsten besitzen genauso viel wie die 90 % am
anderen Ende der Vermögensskala zusammen. Sowohl
diese zunehmende Verschlechterung der sozialen Lage im
Innern als auch die genannten Probleme des Landes auf
internationaler Ebene sind bedingt durch die zweifache
Offensive der US-Bourgeoisie, die sich um der Profite und
der Vormachtstellung willen gegen die Lohnabhängigen
und die Völker richtet.
Aus dieser Konstellation bezieht ein reaktionärer
Rassist wie der Milliardär Donald Trump seinen Rückenwind bei den Vorwahlen. Kunterbunt zieht er über
Inprekorr 3/2016 27
DOSSIER: IMPERIALISMUS
die höheren Beamten, die Hedgefonds-Manager und
anderen superreichen Spekulanten her und macht das
System für den Abstieg der Nation verantwortlich. Dabei
schürt er den Hass und die Vorurteile unter weiten
Teilen des Kleinbürgertums und der weißen Durchschnittsbevölkerung angesichts des ausgeträumten
„amerikanischen Traums“ und des Endes des „american
way of life“, was in Wirklichkeit deren Angst vor den
eigenen Problemen, dem Verfall ihres Lebensstandards
und ihrer ungewissen Zukunft widerspiegelt. Er zieht
über die parasitären Exzesse des Finanzkapitalismus her,
um dem Volk besser Sündenböcke, namentlich die
ImmigrantInnen, zum Fraß vorwerfen zu können und
beschwört dabei „das Amerika der Gewinner“. Er beruft
sich auf das Scheitern Obamas, dessen Rhetorik nicht
den Realitäten der kapitalistischen Entwicklung und
ihrer Krise, die die Supermacht mit voller Wucht
erwischt, hat standhalten können.
Dieses Scheitern öffnet die Tür für die reaktionäre
Offensive von Trump, die auf ein reales Echo trifft. Bei
den Vorwahlen zeigt sich, wieweit die reaktionären
Kräfte, die rechten Hardliner und die extreme Rechte
unter den Republikanern in den USA vorgedrungen
sind. Und sie zeigt, in welche Richtung sich die Politik
der weltweit größten Supermacht entwickeln wird. Der
US-Bourgeoisie fällt es zunehmend schwerer, die eigene
Nation zusammen zu schweißen, um ihre Großmachtansprüche und ihr messianisch beseeltes Dominanzstreben
im Namen der „Demokratie“ besser durchsetzen zu
können. Zwangsläufig wird eine größere Aggressivität
nach außen mit mehr Aggressivität im Klassenkampf im
eigenen Land einhergehen.
Wohin dies führt, lässt sich nicht sagen, aber die
Resonanz eines Donald Trump klingt wie eine Warnung. „It can happen here“, schrieb Sinclair Lewis 1935,
als er die Gefahr eines faschistischen Amerika herauf beschwor. Noch sind wir weit davon entfernt, aber das
Land wird seine weltweite Dominanz nicht aufrecht
erhalten können, ohne sowohl die internationalen als
auch die zwischen den Klassen herrschenden Spannungen zu verschärfen und ohne auf entsprechende polizeiliche und militärische Mittel zurückzugreifen, die es
braucht, um die sozialen und internationalen Verwerfungen infolge der kapitalistischen Logik in Zaum zu
halten.
Die Legitimationskrise der herrschenden Klassen und
Staaten eröffnet eine Periode der Instabilität, die zugleich
aber auch den Lohnabhängigen und der Jugend viele
28 Inprekorr 3/2016
Interventionsmöglichkeiten bietet, die einzige Chance, das
Schlimmste zu verhindern und der Krise zu entkommen.
Übersetzung: MiWe
„
1 David Harvey Der ‚neue‘ Imperialismus: Akkumulation durch
Enteignung, VSA, 2003
DER
CHINESISCHE
IMPERIALISMUS
China hat in den letzten Jahren seine Rolle als
imperialistische Macht auf ökonomischer, diplomatischer der militärischer Ebene sowohl in der
Region als auch auf dem Globus zunehmend
ausgedehnt. Steht nun durch die Gegenoffensive
der USA und die Wirtschaftskrise ein Rückschlag bevor? Pierre Rousset
Chinas Aufstieg zu einer Weltmacht begann auf einem – in
vielerlei Hinsicht – bescheidenen Niveau und durchlief
einen dornenreichen Weg, der stets durch Gegenschläge
aus Washington und auch Zwistigkeiten und Schwachstellen im eigenen Land bis hin zu einer potenziellen Führungskrise gezeichnet ist. Zwar steht die Position der USA
als alleinige Supermacht noch immer außer Frage, trotzdem kann sich Peking vor Ort meist frei entfalten und
immerhin hat sich das Land zur zweitstärksten Weltmacht
entwickelt.
Tabula rasa mit der Vergangenheit
Wie in vielen anderen Bereichen auch hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) außenpolitisch radikal mit
ihrer Vergangenheit gebrochen und hegt weltweite
Expansionsgelüste und Großmachtambitionen – ganz im
Gegensatz zu der vorwiegend defensiven „Grundhaltung“
der maoistischen Epoche.
Nach der Ausrufung der Volksrepublik im Oktober
DOSSIER: IMPERIALISMUS
1949 ging es der maoistischen Führung vorrangig um die
Konsolidierung ihres neuen Regimes und den Wiederaufbau eines durch den Krieg verwüsteten Landes. Dabei
blieb es ihr jedoch nicht erspart, höchst widerwillig in den
Koreakrieg eingreifen zu müssen, wobei sie immerhin die
US-Armee dabei bis zum 38. Breitengrad zurückdrängen
konnte. Washington verfolgte damals die Strategie, die
chinesische Revolution „einzudämmen und zurückzudrängen“ und dafür einen „Sicherheitsgürtel“ zu errichten, der noch breiter war als an den Grenzen zu Osteuropa.
Das damals entstandene Arsenal besteht noch immer: die
US-Basen in Südkorea, Japan (Okinawa), auf den Philippinen (inzwischen als „permanentes Besuchsrecht“ in deren
Häfen), die Siebte US-Flotte im westlichen Pazifik und
Indischen Ozean etc.
Zu dieser Zeit war das Kuomintang-Regime in Taiwan
als alleinige Vertretung ganz Chinas mit einem Sitz im
UN-Sicherheitsrat vertreten. Die USA lösten damals
Frankreich als Kolonialmacht in Vietnam ab, unterstützten
Suhartos Staatsstreich und das folgende antikommunistische Blutbad in Indonesien und leiteten die Aufstandsbekämpfung in Malaysia, den Philippinen und Thailand.
Peking reagierte darauf, indem es Vietnam im Krieg
gegen die französische Besatzung half, die maoistische
Guerilla in der Region (Thailand und Malaysia) – eher
zurückhaltend – unterstützte und eine breite diplomatische
Gegenoffensive startete, um seine Einkreisung zu durchbrechen. Maßgeblich war daran Zhou Enlai beteiligt, eine
der prägenden Persönlichkeiten auf der Konferenz von
Bandung in Indonesien 1955, aus der die Bewegung der
Blockfreien Staaten hervorging.
Mit Beginn der 60er Jahre nahm der Konflikt zwischen
China und der UdSSR Gestalt an: Beim Grenzkrieg
zwischen China und Indien 1963 bezog Moskau Position
auf Seiten von Neu Delhi und Chruschtschow handelte
mit den USA ein Atomabkommen aus, ohne Peking zu
Rate zu ziehen. Die chinesische Führung vollzog daraufhin eine radikale Kehrtwendung in ihrer internationalen
politischen Ausrichtung und erkor die UdSSR zum
„Hauptfeind“. Im Jahr 1969 kam es sogar zu Grenzgefechten am Fluss Ussuri.
In der Folge betrieb die chinesische Führung die
Wiederannäherung an Washington. Ab 1971 ersetzte
Peking Taiwan im UN-Sicherheitsrat und im Jahr darauf
– inmitten der militärischen Eskalation des Indochinakrieges – fand Nixons Staatsbesuch in Peking statt. Damit
veränderte sich auch die Haltung gegenüber Vietnam:
China „riet“ dem Land, nicht mehr den militärischen Sieg
anzustreben sondern einen Kompromiss, ähnlich der
Teilung Koreas oder Deutschlands. Später kam es sogar zu
der ideologisch unheiligen Allianz zwischen den Roten
Khmer in Kambodscha, China und Washington, die
1978–1979 in den chinesisch-vietnamesischen Krieg
einmündete und 1979 zur Wiederaufnahme offizieller
diplomatischer Beziehungen zwischen China und den
USA führte.
Dreißig Jahre nach der Machteroberung konnte Deng
Xiaoping als regelrechter Wiedergänger die „Reformen“
in die Wege leiten, die zur Wiederherstellung des Kapitalismus in China führten. Zu dieser Zeit wies das Land
bereits die Kennzeichen einer internationalen Großmacht
auf: Als offizielle Atommacht war das Land ständiges
Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht. Aus der
maoistischen Periode hat Peking eine Obsession hinübergerettet, nämlich jedweder Einkreisung vorzubeugen.
Dies mag angesichts der Größe des Landes absurd erscheinen, wird aber nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass
zu Lande die Grenzen durch eine indisch-russische Allianz
dicht gemacht werden könnten und der Zugang zum
Ozean durch eine Inselkette begrenzt wird, die in einer
US-dominierten Meereszone liegt.
Die im Eiltempo vollzogene Integration Chinas in die
Weltwirtschaft war und ist nicht ohne Risiken. Die
Aufnahmebedingungen in die WTO sind eindeutig
zugunsten der multinationalen Konzerne gehalten und die
Regierung musste Anfang der 2000er Jahre die wirtschaftliche Entwicklung kontrollieren, um eine innere „Neokolonialisierung“ des Landes zu verhindern. Nach wie vor
waren die Beziehungen zu Washington angespannt, wie
das Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad
1999 während der Jugoslawienkrise zeigte.
Als neue kapitalistische Großmacht ging es für China
darum, sich entweder als imperialistische Macht zu
etablieren oder in den Status eines untergeordneten Landes
zurückzufallen, was sich auf die Einheit des Landes hätte
auswirken können. Diese zweite Obsession, die das
chinesische Regime seit 1949 umtreibt, lässt sich darauf
zurückführen, dass das Land nach den Opiumkriegen
durch (Land- und Zoll-)Konzessionen an die Imperialisten
und später durch die Herrschaft der Warlords zerstückelt
worden war.
Eine neue Militärdoktrin
Jede Großmacht ist zwangsläufig auch eine Militärmacht,
v. a. wenn sie sich als eine neue imperialistische Macht
etabliert. Denn sie muss selbsttätig ihre weltweiten
Inprekorr 3/2016 29
DOSSIER: IMPERIALISMUS
Interessen schützen und besonders ihre Kommunikationswege. Insofern hat sich die chinesische Doktrin grundlegend gewandelt. Unter Mao lag der Schlüssel noch beim
Landheer und der unendlichen Weite des Landes, in der
sich jeder Eindringling verloren hätte. Unter Xi Jinping,
dem jetzigen Staatspräsidenten und starken Mann des
Regimes, ist die Schiffsflotte zum Schlüsselstück geworden, das es erlaubt, sich über die Grenzen hinaus zu
orientieren.
Auf militärischem Gebiet spielt sich das innerimperialistische Kräftemessen vorwiegend auf den Ozeanen ab.
Mit Erscheinen eines Weißbuchs über die Militärstrategie
am 26.5.2015 erhält diese neue chinesische Doktrin auch
einen offiziellen Anstrich. Darin heißt es: „Regionale
Unruhen, Terrorismus, Piraterie, schwere Naturkatastrophen und Epidemien können die nationale Sicherheit
bedrohen. Bedrohungen der überseeischen Interessen
Chinas bezüglich der Energieversorgung und der Seeverbindungen sowie von Einrichtungen, Personal und
Vermögen Chinas im Ausland nehmen zu. […] Um den
Herausforderungen gerecht zu werden, die sich aus den
wachsenden strategischen Interessen des Landes ergeben,
werden sich die Streitkräfte sowohl an der regionalen als
auch der internationalen Sicherheitskooperation beteiligen
und Chinas Überseeinteressen effektiv wahrnehmen. […]
Die Marine der VBA [Volksbefreiungsarmee] wird von
den Anforderungen einer küstennahen Verteidigung und
offener Überseeverteidigung auf eine Kombination von
küstennaher Verteidigung und Überseeverteidigung
übergehen und eine kombinierte, multifunktionale und
effiziente Struktur einnehmen. Sie wird ihr Potenzial zur
strategischen Abschreckung und für Gegenschläge, für
maritime Manöver, verbundene Operationen auf See, zur
umfassenden Verteidigung und für den Nachschub
erhöhen.“1
Die chinesische Führung macht inzwischen gar kein
Geheimnis mehr aus ihren Ambitionen. Zum letzten
Jahrestag der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg
hat das Regime am 3. September 2015 eine außergewöhnlich große Militärparade organisiert, die nach sowjetischem oder französischem Muster Chinas militärische
Schlagkraft demonstrieren sollte, was nicht eben zur
Beruhigung der Nachbarländer beigetragen hat.
Der Umbau der chinesischen Streitkräfte erfordert Zeit
und ist noch lange nicht abgeschlossen. Dennoch sind
bereits jetzt die Fortschritte erheblich und China ist zur
zweitgrößten Militärmacht – weit hinter den USA – aufgestiegen. Nachdem das Land bereits einen von Russland
30 Inprekorr 3/2016
gekauften Flugzeugträger besaß, baute es nun selbst einen
zweiten, um dadurch einen ständigen Einsatz zu ermöglichen und einen davon in entlegenere Schauplätze schicken
und zugleich den zweiten vor den eigenen Küstengewässern im Einsatz halten zu können. Noch immer beherrscht
China nicht die Katapulttechnik zur Beschleunigung der
startenden Flugzeuge auf den Trägerschiffen, sondern
bedient sich der veralteten Sprungschanzentechnik.
Hingegen hat China mit der neuen Rakete „Dongfeng 21
D“ („Ostwind“)eine weltweit einmalige Waffe entwickelt,
mit der auch Flugzeugträger versenkt werden können.
Die Achillesferse des chinesischen Militärprogramms
liegt allerdings noch immer darin, dass weder die Truppen
noch das Arsenal bisher unter realen Kriegsbedingungen
getestet werden konnten. Seit der Invasion in Vietnam
1978/79 hat China keine praktischen Erfahrungen in
Kriegseinsätzen mehr gesammelt. Die damals angewandte
Militärtaktik mit massiven Sturmangriffen Chinas ist
inzwischen veraltet. Zur Zeit sind chinesische Truppen bei
zahlreichen UN-Interventionen mit vertreten und können
insofern gewisse Erfahrungen sammeln, etwa bei den
gemeinsamen Einsätzen gegen Piraterie auf See. Daneben
werden auch unabhängige Militäreinsätze durchgeführt,
bspw. bei der Evakuierung chinesischer Staatsangehöriger
aus Libyen (2011) oder dem Jemen (2015). Chinesische
Kriegsschiffe steuern den Golf von Aden an oder verkehren entlang der afrikanischen Ostküste.
Über die Errichtung der ersten überseeischen Militärbasis in Dschibuti wird viel gesprochen und dabei vergessen, dass in der Walfischbucht ein viel weiter reichendes
Projekt vonstattengeht, nämlich der Bau eines chinesischen Hafens an der namibischen Küste, von dem aus die
internationalen Haupthandelsrouten kontrolliert werden
können. Vor Ort betreibt China bereits ein „Tracking“System (Datensammlungssystem) per Satellit – und zwar
nicht als einziges! Darüber hinaus schließt Peking reihenweise Abkommen mit immer mehr Ländern, die es seinen
Truppen erlauben, die jeweiligen Hafenstrukturen zu
nutzen, und daneben erwirbt das Land auch direkt immer
mehr Häfen auf der Welt, wie etwa Piräus in Griechenland.
Die internationalen Institutionen
China ist zu einem Akteur ersten Ranges auf der internationalen diplomatischen Bühne geworden, was nicht nur die
Klima- oder die laufenden Afghanistanverhandlungen
gezeigt haben. Als zweitgrößte Wirtschaftsmacht nimmt
sein Gewicht in den internationalen Institutionen immer
DOSSIER: IMPERIALISMUS
mehr zu. So ist das Land dem OECD-Entwicklungszentrum beigetreten und hat außerdem durchgesetzt, dass der
Yuan als weitere Leitwährung in den Währungskorb der
Sonderziehungsrechte (SZR) des IWF aufgenommen
wurde.
Zugleich schafft China seine eigenen internationalen
Finanzinstitutionen, etwa die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), der mittlerweile zum großen
Leidwesen der USA zahlreiche Industrie- und Schwellenländer (Frankreich, Großbritannien, Russland, Brasilien,
Dänemark etc.) beigetreten sind. Damit ist eine explizite
Alternative zu der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB),
die unter der Dominanz der USA und Japans steht,
entstanden und zugleich das nach dem WK II geschaffene
internationale Finanzsystem herausgefordert.
Parallel gehen von der chinesischen Führung solche
Megaprojekte wie die beiden „neuen Seidenstraßen“ aus,
wovon die eine auf dem Landweg entlang der ehemaligen
muslimischen Republiken der Sowjetunion in Richtung
Zentralasien und die andere auf dem Seeweg verläuft.
Dabei geht es nicht nur um Transportwege für Waren
sondern um die Schaffung von Investitionskorridoren
besonders in der Schusslinie von Kasachstan und damit in
der traditionellen Einflusszone Russlands. Damit würde
eine neue Frontlinie im Kampf um die Energiereserven
(Erdöl, Gas) eröffnet.
China drängt mit Macht in alle Zirkel vor, die von den
traditionellen imperialistischen Staaten oder Russland
kontrolliert werden: Kernenergie, zivile und militärische
Luftfahrt, Waffenhandel oder Raumfahrt, wo China
erstmals einen Landeroboter auf die dunkle Seite des
Mondes schicken will. Inzwischen ist das Land führend in
der Herstellung von Solarpaneelen, hat ein deutsches
Maschinenbauunternehmen übernommen und kauft Land
und Bergwerke in aller Welt.
Noch gibt es Regionen, in denen sich China nur sehr
zurückhaltend positioniert, etwa im Nahen Osten. Die
Reise, die Präsident Xi Jinping kürzlich u. a. nach Ägypten, Iran und Saudi-Arabien unternommen hat, fand dann
auch unter streng geschäftlichen Vorzeichen statt. Solche
Unternehmen dienen dazu, Chinas Präsenz in diesen
untereinander verfeindeten Ländern zu verstärken und
somit Geopolitik in von Kriegen zerrissenen Ländern zu
praktizieren, in denen China bisher außen vor geblieben
ist. Ähnlich gestalten sich die Beziehungen zu Russland,
die zwischen gemeinsamer Allianz gegenüber den USA
und Rivalität untereinander oszillieren, und zu Indien,
dem Gendarmen Südasiens. In Westeuropa hingegen und
in Afrika sowie Lateinamerika investiert das chinesische
Kapital unverhohlen. Noch viel direkter und umfangreicher ist das Vorgehen in der unmittelbaren Einflusszone in
Südostasien. Doch genau dort setzt Washingtons – auch
militärische – Gegenoffensive an.
Gegenoffensive der USA
Erstmals seit 2012 sind am 26. Oktober 2015 US-Kriegsschiffe in das Archipel um die Spratly-Inseln und damit in
die Zwölfmeilenzone um die von Peking künstlich
aufgeschüttete Inselgruppe eingedrungen. Anspruch auf
dieses Gebiet erheben die Philippinen, Malaysia, Vietnam,
Brunei und China, wobei Peking vollendete Tatsachen
geschaffen hat, indem es seit 2014 weitere künstliche Inseln
als Maßnahme zur Landgewinnung geschaffen hat. Dabei
werden auf diesen Inseln Landebahnen und andere
Einrichtungen errichtet, was dem Muster folgt, das auch in
den anderen sensiblen Meereszonen zwischen dem
Südosten und dem Nordosten Asiens angewandt wird.
Offensichtlich haben sich die USA, nachdem sie durch
Chinas Vorgehen überrumpelt worden waren, zu einem
Gegenschlag entschlossen, da doch einiges auf dem Spiel
steht. Der dortige Meereskorridor gehört zu den weltweit
am stärksten frequentierten und wird besonders für
Erdöltransporte zwischen dem Nahen Osten und Japan
genutzt. Peking pocht auf seine Hoheitsrechte über weite
Teile dieser strategisch wichtigen Zone, während die
anderen Länder sie als internationales Territorium für
einen ungehinderten Luft- und Schiffsverkehr erachten.
Dem US-Imperialismus geht es darum, seine Präsenz zu
unterstreichen, zumal seine beiden engsten Verbündeten
in dieser Region an vorderster Front in Territorialstreitigkeiten verstrickt sind: nämlich Japan, dessen Premier Abe
die Militarisierung seines Landes vorantreibt, und die
Philippinen, die eine der wenigen direkten US-Kolonien
waren und noch immer enge Beziehungen auf oberer
Ebene untereinander pflegen.
Die beiden wichtigsten US-Militärbasen liegen heute
in Japan (Okinawa) und Südkorea. Südkorea wird inzwischen von Peking hofiert und Chinas wirtschaftlicher
Einfluss dort nimmt zu. Beredtes Zeugnis dafür ist die
Teilnahme der südkoreanischen Präsidentin Park Geunhye an der o.g. Militärparade in Peking, während die USA,
Japan, die meisten europäischen Staaten und viele Länder
Südostasiens entweder fernblieben oder demonstrativ
Personal von niederem Rang schickten.
Washington unterstreicht seit einigen Jahren, dass seine
neue strategische Ausrichtung im asiatisch-pazifischen
Inprekorr 3/2016 31
DOSSIER: IMPERIALISMUS
Raum liegt, was allerdings leichter gesagt als getan ist, da
seine militärischen Streitkräfte auch weiterhin im Nahen
Osten und in Afrika präsent bleiben müssen. Allerdings
rücken wichtige politische Termine näher, wie der kommende ASEAN-Gipfel (Verband Südostasiatischer Nationen) oder das alljährlich stattfindende APEC-Forum
(Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft). Insofern
wird das Gerangel zwischen China und den USA voraussichtlich neue Nahrung erhalten.
Krise in China
Peking musste in letzter Zeit einige politische Rückschläge
verdauen, namentlich in den „heimischen Gefilden“. So
waren die jüngste Wahlniederlage der Kuomintang bei den
taiwanesischen Präsidentschaftswahlen und der Sieg der die
Unabhängigkeit [Taiwans] hochhaltenden Kandidatin Tsai
Ing-wen ein herber Schlag für China, auch wenn diese den
formalen Status des Inselstaates nicht infrage stellen will.
Außerdem lässt die demokratische Opposition gegen die
Einflussnahme seitens der KPCh in Hongkong nicht locker.
Und zuletzt wachsen fremdenfeindliche Tendenzen in der
dortigen Bevölkerung gegenüber den „MigrantInnen“ aus
Festlandchina. Durch ihr autoritäres Gebaren droht der
Regierung eines ihrer ehernen Prinzipien untergraben zu
werden, dass es nämlich nur „ein einziges China“ gäbe.
Hinzu kommt die Wirtschafts- und Finanzkrise in der
Volksrepublik, die allerdings die imperialistischen Ambitionen des Regimes allenfalls verzögern, jedoch nicht
grundlegend verändern können. Im Gegenteil liefert der
Großmachtchauvinismus dem Regime noch immer den
wichtigsten ideologischen Kitt und der äußere Feind den
besten Blitzableiter für innere Probleme. Mit der Anschuldigung, die „nationale Sicherheit“ durch Umtriebe zu
gefährden, lässt sich die zunehmende Repression im Innern
trefflich rechtfertigen.
Übersetzung: MiWe
„
1 Zitiert nach http://www.isor-sozialverein.de/cms/fileadmin/user_upload/isor/pdf/Aktuelle_Beitraege_zum_Zeitgeschehen/Akt._Beitraege_2-2015_-_China.pdf
32 Inprekorr 3/2016
ZIEHT CHINA DIE
WELTWIRTSCHAFT IN DEN
ABGRUND?
Der Autor meint nein, da in China noch
immer kein „normales“ kapitalistisches System
besteht; v. a. aber weil die USA nach wie vor
das Zentrum des weltweiten Kapitalismus und
seiner Widersprüche darstellen. Eher mehren
sich dort die Zeichen, die auf eine neuerliche
Rezession hindeuten. Michael Roberts
Weltweit geben die Aktienkurse nach: in den USA
innerhalb eines Monats um 10 % – ein Phänomen, das die
Investoren als Kurskorrektur bezeichnen. Noch kein
Börsenkrach oder ein „Bärenmarkt“, wozu üblicherweise
ein Kurssturz von 20 % gehört, aber immerhin geht es in
diese Richtung.
Die Börsen brechen ein, weil die Großinvestoren, die
Banken und darüber hinaus die Finanzinstitutionen
befürchten, dass China zusammenbricht und eine drastische Abwertung des Yuan im Schilde führt. Damit könnte
das Land die anderen Schwellenländer mitreißen, von
denen viele schon in der Rezession stecken (Brasilien,
Russland, Südafrika etc.), und so auch die restliche Welt
und besonders die Industrieländer in den Abgrund ziehen.
Viele Investmentbanker, die bisher auf einen wirtschaftlichen Wiederaufschwung setzten und voller Lob
über das Wirtschaftswunder in den Schwellenländern
waren, werden nunmehr von Horrorszenarien geplagt.
Die Analysten der britischen Royal Bank of Scotland
(RBS) raten ihren Kunden, „alles abzustoßen“, weil die
Börsenkurse mehr als ein Fünftel ihres Werts verlieren
könnten und die Erdöl- und sonstigen Rohstoffpreise auf
ein Zehntel ihres Vorjahreswerts abstürzen könnten.
Verantwortlich dafür ist in ihren Augen ein gefährliches
Gebräu aus verfallenden Rohstoffpreisen, Rezession in den
Schwellenländern, Kapitalflucht aus China und den
DOSSIER: IMPERIALISMUS
anderen Schwellenländern und wachsender (Dollar-)
Schuldenlast in dem Maß, wie die US-Notenbank die
geplante Leitzinserhöhung in diesem Jahr umsetzt.
Bereits vor zwei Jahren und nochmals im vergangenen
Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass eine Wirtschaftskrise in den Schwellenländern bevorsteht und eine
Zinswende in den USA eine neue Rezession der Weltwirtschaft hervorrufen könnte. Inzwischen ist dies auch in
der gängigen Lehrmeinung angekommen und der Kundschaft aus reichen Investoren wird geraten, aus den
Märkten auszusteigen. Der zuvor übertriebene Optimismus ist nun in sein Gegenteil umgeschlagen. Aber droht
denn wirklich ein weltweiter Finanz- und Wirtschaftscrash?
Zumeist gelten die Kassandrarufe China, das als
Ausgangspunkt einer Weltwirtschaftskrise angesehen
wird. Bei der RBS liest sich das so: „China ist dabei, die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend zu
ändern und damit einen Schneeballeffekt auszulösen. […]
Insofern steht China, wo die schuldenfinanzierte Konjunktur an einem Sättigungspunkt angelangt ist, im
Epizentrum der weltweiten Verwerfungen. Jetzt steht dem
Land eine massive Kapitalflucht ins Haus und es muss sein
Heil in einer drastischen Abwertung suchen.“ Albert
Edwards von der französischen Société Générale rechnet
bereits seit Beginn der wirtschaftlichen Erholung vor fünf
Jahren mit einer Deflationsspirale und glaubt jetzt, dass die
Krise in China auch die Weltwirtschaft mitziehen wird.
„Der verarbeitenden Industrie in den westlichen Ländern
wird unter diesem starken Druck der Deflation die Luft
ausgehen“, meint er.
Doch trifft dies zu? Zweifelsohne steht die chinesische
Wirtschaft vor Problemen: Das Wirtschaftswachstum, das
2010/11 noch im zweistelligen Bereich lag, ist nach
offiziellen Angaben 2015 auf unter 7 % gefallen. Und diese
offiziellen Zahlen werden ohnehin von vielen bezweifelt
und unter Verweis auf die geringe Zunahme des Stromverbrauchs als ökonometrischer Indikator auf eher 4 %
geschätzt, was für chinesische Verhältnisse schon fast einer
Rezession gleichkommt.
Trotz der Krise der chinesischen Wirtschaft …
Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise reagierte die
chinesische Regierung auf den drastischen Rückgang des
weltweiten Absatzes von Exportprodukten aus China mit
einem staatlichen Konjunkturprogramm, das erhebliche
Ausgabenerhöhung für infrastrukturelle Maßnahmen
(Brücken, Städtebau, Straßen und Schienennetze) vorsah.
Dadurch konnte das Wirtschaftswachstum im Land
aufrechterhalten werden. Die Zinsen wurden erheblich
gesenkt und den lokalen Behörden wurde gestattet,
Kredite zur Finanzierung des Wohnungsbaus und anderer
Projekte aufzunehmen. Die Kreditvergabe schoss in die
Höhe und die Gesamtverschuldung (ohne den Finanzsektor) stieg von 100 auf 250 % des BIP. Die Neuverschuldung
besonders der Lokalverwaltungen und der staatlichen
Unternehmen wächst inzwischen dreimal so stark wie das
offiziell ausgewiesene BIP, de facto also noch stärker (s. o.).
Die Regierung folgt hier wirtschaftlichen Beratern, die
bis in die eigenen Reihen hinein eine weitere Öffnung der
Wirtschaft gegenüber Auslandskapital und Privatunternehmen verfechten. Ihnen zufolge sollte die Regierung die
großen staatlichen Unternehmen und Banken privatisieren, den Kapitalverkehr nicht länger kontrollieren und den
Kurs des Yuan komplett freigeben. Tatsächlich hatte die
Regierung unmittelbar vor dem Einbruch der chinesischen Börsen und Währung durchgesetzt, dass der Yuan
als weitere Leitwährung in den Währungskorb der
Sonderziehungsrechte (SZR) des IWF aufgenommen
wird. In der Folge gerät die chinesische Währung zunehmend unter den Einfluss der Gesetzmäßigkeiten des
internationalen Devisenmarktes und die heimische
Wirtschaft insgesamt unterliegt mehr und mehr dem
Zwang des Wertgesetzes.
Höhere Schulden, langsameres Wachstum und Überbewertung der nunmehr spekulationsanfälligen Landeswährung haben zum Börsencrash geführt, weswegen jetzt
Chinas Reiche und Superreiche sowie ausländische
Investoren versuchen, ihr Geld aus China abzuziehen und
ihre Bestände im Ausland in Dollar zu tauschen. Die
Kapitalflucht hat inzwischen einen Umfang von über 100
Mrd. Dollar pro Monat (1,2 Billionen $ pro Jahr) erreicht,
was bei anhaltender Tendenz dazu führen würde, dass
nach etwa 18 Monaten die Währungsreserven von 3,3
Billionen Dollar verbraucht wären, da etwa die Hälfte
davon zur Finanzierung der Importe benötigt wird.
(Grafik 1)
Die chinesischen Behörden waren außerstande, diese
Finanzkrise zu bewältigen. Indem sie der Finanz- und
Währungsspekulation Tür und Tor öffneten, haben sie
einen Geist aus der Flasche gelassen, der sie nun zu
verschlingen droht. Zunächst haben sie den Yuan gegenüber dem Dollar zu schwächen versucht, um so die
Exporte anzukurbeln, was aber hauptsächlich dazu führt,
dass die Reichen und Unternehmen des Landes zunehmend, und auch mit illegalen Methoden, in den Dollar
Inprekorr 3/2016 33
DOSSIER: IMPERIALISMUS
flüchteten. Danach haben sie versucht, die Börse zu
stützen, indem sie noch mehr Kredite vergaben und
Aktien durch Staatsbanken aufkaufen ließen. Dadurch
stieg aber bloß die Staatsverschuldung. Schließlich haben
sie eine Kehrtwende vollzogen und dadurch einen
Börsenkrach und eine Kreditklemme verursacht.
Wegen der offensichtlichen Inkompetenz der chinesischen Behörden und der andauernden Kapitalflucht sind
viele Mainstream-Ökonomen im Westen inzwischen der
Meinung, dass Chinas Wirtschaft deutlich abstürzen oder
gar einen Crash wie 2008 in den westlichen Ländern
erleben wird und dies zusätzlich zu der Rezession in den
anderen Schwellenländern die Weltwirtschaft in eine tiefe
Krise stürzen könnte.
Aber lassen sich der Börsencrash in China und der
Verfall des Yuan mit einer wirtschaftlichen Rezession
gleichsetzen? Das Land hat kein „normales“ kapitalistisches
Wirtschaftssystem. Der Staat ist nach wie vor in Industrie,
Finanzsektor und Investitionen die entscheidende Instanz,
auch wenn die Behörden das Land gegenüber dem
kapitalistischen Wertgesetz – besonders bei Außenhandel
und Kapitalverkehr – geöffnet und es dadurch erheblich
krisenanfälliger gemacht haben. Dies war aber schon zuvor
klar: „Wenn der Weg zum Kapitalismus eingeschlagen und
das Wertgesetz bestimmend wird, dann wird das chinesische Volk ökonomischer Instabilität (mit ihrem Auf und
Ab), Arbeitsplatzunsicherheit und wachsender Ungleichheit ausgesetzt sein“, schrieb ich 2012. Und genau dies ist
geschehen, weil sich die chinesische Führung dem Druck
der Weltbank und der anderen Institutionen, den Finanzsektor zu liberalisieren und der internationalen „Finanzgemeinschaft“ beizutreten, nachgegeben hat.
Die lange Welle der wirtschaftlichen Depression ist
noch nicht überwunden. Erst vergangene Woche hat die
Weltbank bekanntgegeben, dass die Wirtschaft in den
Schwellenländern 2015 nur um 3,7 % gewachsen ist – so
gering wie seit 2001 nicht mehr und über zwei Prozentpunkte unter dem Schnitt der Boomjahre 2000 bis 2008
(6,7 %). Christine Lagarde vom IWF meinte, dass diese
Länder nun von der wirtschaftlichen Realität eingeholt
worden sind: „Die Wachstumsraten gehen zurück und
zyklische wie auch strukturelle Faktoren haben die
herkömmliche Wachstumsformel untergraben. Nach
gegenwärtigen Prognosen werden die Schwellenländer das
Einkommensniveau der Industriestaaten deutlich langsamer erreichen, als wir vor 10 Jahren angenommen haben.
Dies ist Anlass zur Sorge.“ Lagarde zitierte Studien des
IWF, wonach eine Abnahme des Wachstums in den
34 Inprekorr 3/2016
GRAFIK 1: CHINAS WÄHRUNGSRESERVEN
IN BILLIONEN DOLLAR
Schwellenländern um einen Prozentpunkt die Entwicklung in den Industrieländern um 0,2 % dämpft.
… bleibt die US-Wirtschaft entscheidend
Dennoch: Werden der Rückgang der chinesischen
Wirtschaft und die Rezession in den anderen großen
Schwellenländern den Ausschlag für eine Weltwirtschaftskrise geben? Die Befürworter dieser These stützen sich
u. a. auf die Behauptung, dass die Schwellenländer
inzwischen die Motoren der Weltwirtschaft seien. Ihr
Anteil am weltweiten BIP liegt nach Angaben des IWF bei
57 % und damit höher als derjenige der Industrieländer.
Allerdings sind diese Zahlen weit übertrieben, da der IWF
dabei die „Kaufkraftparität“ zugrunde legt. Diese besagt,
wie viel man in einem beliebigen Land in der Landeswährung ausgeben oder investieren kann. Dadurch erscheint
jedoch das Sozialprodukt der Schwellenländer viel höher,
GRAFIK 2: VERTEILUNG DES WELTWEITEN
BSP (IN DOLLAR)
DOSSIER: IMPERIALISMUS
als wenn es in Dollar gemessen würde, also so, wie es
Handel und Investitionen auf Weltebene erfordern.
In Dollar gemessen, liegt der Anteil aller Schwellenländer am weltweiten BSP bei 40 %. Dieser Anteil hat sich
gegenüber 2002 zwar verdoppelt, liegt aber immer noch
hinter den sieben größten kapitalistischen Ländern, die
zusammen 46 % halten. Zudem ist die Quote seit zwei
Jahren stabil. Obwohl Chinas Anteil am weltweiten BSP (in
Dollar gemessen) von nur 4 % auf 15 % hochgeschnellt ist,
liegt er noch immer hinter den USA, wo er zwischen 2002
und heute von 32 % auf 24 % zurückgegangen ist. (Grafik 2)
Die obige Grafik zeigt, dass die chinesische Wirtschaft
zwar massiv gewachsen ist, aber auch, dass die USA nach
wie vor für die globale kapitalistische Krise ausschlaggebend sind, zumal sie im Finanz- und Technologiesektor
die führende Nation sind. Als 1998 die Schwellenländer
eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise durchmachten,
hatte dies keinen weltweiten Crash zur Folge. Als aber
2008 die USA den größten Crash ihrer Nachkriegsgeschichte erlebten, führte dies zu einer globalen Rezession,
wie wir wissen. Und an dieser Gewichtung hat sich m. E.
nichts geändert.
Hinsichtlich einer möglichen neuen Rezession der
US-Wirtschaft ist nicht das Zinsniveau ausschlaggebend,
also ob die Zinsen in Bezug auf ein gleichgewichtiges
„natürliches“ Zinsniveau im Sinne der klassischen Ökonomie zu hoch oder zu niedrig liegen, sondern was mit den
Profiten und Investitionen der Unternehmen passiert. Denn
Investitionen ziehen Arbeitsplätze und Löhne nach sich und
somit Wirtschaftswachstum. In der Regel ergeben sich aus
der Kapitalrendite und den Unternehmensprofiten die
Investitionsmengen mit einer Zeitverzögerung von 12 bis
18 Monaten. Gegenwärtig sind die Unternehmensprofite
weltweit (in einem gewichteten Durchschnitt der Länder
USA, GB, Deutschland, Japan und China) im Jahresvergleich rückläufig. Für die USA allein trifft diese Tendenz
mittlerweile ebenfalls zu. Daraus folgt, dass die Investitionen, die in den USA zuletzt noch um 5 % zugenommen
haben, binnen Jahresfrist fallen dürften. Wenn dies eintrifft,
dann steuern die USA wahrscheinlich auf eine Rezession
zu. Aber dafür werden dann eben nicht China oder die
Schwellenländer ausschlaggebend sein.
Neu bei ISP
Reiner Tosstorff
Die POUM in der
spanischen Revolution
2., erweiterte Auflage 2016
184 Seiten, 17,80 Euro
ISBN 978-3-89 900-118-1
Der Putsch der spanischen Militärs unter Franco am 18. Juli 1936
scheiterte zunächst in weiten Teilen des Landes und löste im Gegenzug eine breite revolutionäre Erhebung aus. Industriebetriebe
und Großgrundbesitz wurden kollektiviert, Arbeitermilizen gebildet. All dies war aber auch mit heftigen Auseinandersetzungen
auf der Linken verbunden. Sie sind nicht zuletzt durch George
Orwells Buch Mein Katalonien und Ken Loachs Film »Land and
Freedom« bekannt. Die Sowjetunion und die spanischen Kommunisten griffen vor allem die POUM (Arbeiterpartei der marxistischen Einigung) an. Sie war, in Worten von Günter Grass, »eine
spanische linkssozialistische Arbeiterpartei, die, innerhalb des
republikanischen Lagers, von den Kommunisten bekämpft und mit
stalinistischen Methoden als Trotzkisten-Partei verfolgt wurde«.
Die POUM war von oppositionellen Kommunisten gegründet worden, die als »Abweichler« ausgeschlossen worden waren. Im Juni
1937 ließ der sowjetische Geheimdienst nach Kämpfen in Barcelona ihre Führung verhaften. Ihr Sekretär Nin wurde ermordet.
Als Folge wurde die Front gegen Franco geschwächt.
Der Band schildert das Schicksal der Partei vor dem Hintergrund
des revolutionären Prozesses und diskutiert u. a. ihre Vorschläge
für den Kampf gegen die Putschisten und das Verhältnis zu den
Anarchisten. Er vereinigt neuere Aufsätze und Auszüge aus einer
vergriffenen Darstellung des Autors und berücksichtigt neueste
Erkenntnisse nach Öffnung der sowjetischen Archive.
Neuer ISP Verlag GmbH
Belfortstr. 7, D -76133 Karlsruhe
Tel.: (0721) 3 11 83
[email protected]
www.neuerispverlag.de
Übersetzung aus dem Engl. von MiWe
„
Quelle: https://thenextrecession.wordpress.
com/2016/01/14/will-china-pull-down-the-world/
Inprekorr 3/2016 35
IRLAND
IRLAND 1916 UND HEUTE
Hundert Jahre nach dem Osteraufstand, in dem
die irische Bevölkerung ihre Unabhängigkeit von
England erkämpfen und eine wirkliche Demokratie errichten wollten, steht das Land wieder
unter der Knute (diesmal der internationalen
Institutionen) und wieder verlassen Hunderttausende aus Not das Land. Anlässlich des Jahrestags einige Passagen aus einem Flugblatt unserer
irischen GenossInnen von Socialist Democracy
sowie eine Würdigung des sozialistischen Revolutionärs James Connolly.
Socialist Democracy
„
Es ist beschämend, wie hierzulande offiziell des hundertsten Jahrestags des irischen Osteraufstands gedacht wird
und die politischen und kulturellen Zusammenhänge
heruntergespielt werden. Die Revolutionäre der irischen
Selbstverteidigungsarmee Irish Citizen Army werden in
eins gesetzt mit dem konstitutionellen Nationalisten John
Redmond, der sie denunzierte, oder mit den britischen
Truppen, die sie niedermetzelten, oder gar mit den
pro-britischen Loyalisten von der UVF (Ulster Volunteer
Force), die gegen ein demokratisches Irland kämpften.
Die irischen Kapitalisten beschränken sich auf diese
folkloristische Mixtur, weil sie zwischen Scham und
Abscheu hin und her gerissen sind und einer Sache
gedenken sollen, die ihnen zutiefst zuwider ist. Lieber
würden sie mit der Royal Family gemeinsam Tee trinken
oder den Immobilienbestand an die Geierfonds verschleudern. Das wichtigste an diesem Aufstand ist ihnen, dass er
besiegt wurde, so wie auch die späteren – breiteren – Rebellionen. Damit richten ausgerechnet diejenigen die
Gedenkfeiern aus, die nicht die Erben dieser Revolution
sind, sondern ihre Totengräber.
Ein Erbe der Konterrevolution ist, dass viele von
denen, die sich als Gegner der heutigen Regierungsparteien darstellen, sich schwer damit tun, die Lehren von
damals auf heute anzuwenden. Der Osteraufstand war
36 Inprekorr 3/2016
gegen den Imperialismus gerichtet und heute ist dieser so
tief verwurzelt, dass er unsichtbar geworden ist. Die Troika
führt ihre regelmäßigen Inspektionen im Land durch und
EZB und IWF warnen und instruieren „unsere“ Politiker.
Inmitten allgemeiner Wohnungsnot verschleudert die
staatliche Hypothekenbank NAMA, die 2008 die faulen
Kredite und damit viele Immobilien übernommen hatte,
ihre Bestände an die Geierfonds – die würdigen Nachfolger der einstigen Gutsbesitzer.
Auch bei den jüngsten Parlamentswahlen traten alle
kandidierenden Parteien so auf, als könnte die künftige
Regierung eine unabhängige Wirtschaftspolitik betreiben.
Dabei sind sie hierin genauso frei, wie es die griechische
Regierung war. Sinn Fein sieht sich als Erbe des Osteraufstands und betreibt dabei im Norden Irlands faktisch
Versöhnungspolitik mit den britischen Imperialisten.
Angeblich würde dort eine unabhängige Lokalpolitik zu
allgemeinem Wohlstand und zur Aufhebung der Spaltung
des Landes zwischen Loyalisten und Nationalisten führen,
wo doch die Briten dem dortigen Parlament die Sparpolitik diktieren und damit die Spaltung der Gesellschaft
weiter vertiefen.
Unsere Aufgabe als Sozialisten liegt nicht darin, die
leere Hülle von 1916 für uns zu reklamieren, sondern die
Konterrevolution von heute zu bekämpfen. Die Besetzung
von Betrieben und die autonome Organisierung der
Arbeiterklasse sind heute tausendmal revolutionärer als
sich auf Wahlen zu konzentrieren und Parlamentsplätze zu
besetzen. Wenn wir das Land wirklich befreien wollen,
müssen wir eine unabhängige und klassenkämpferische
Partei auf bauen! Wie sagte Conolly? „Wir wollen Irland
für die Iren. Aber wer sind die Iren? Nicht der Großgrundbesitzer; nicht der nach Profit gierende Kapitalist; nicht der
aalglatte und schmierige Anwalt; nicht der sich prostituierende Journalist – die vom Feind angeheuerten Lügner.
Nicht von diesen Iren hängt die Zukunft ab. Nicht von
ihnen, sondern ausschließlich von der irischen Arbeiterklasse, dem einzig sicheren Fundament, auf der eine freie
Nation errichtet werden kann.“
Übersetzung: MiWe
„
IRLAND
IRLANDS BEDEUTENDSTER
REVOLUTIONÄR
„So kann Irland die Fackel an einen europäischen
Flächenbrand legen, der nicht ausbrennen wird,
bevor der letzte Thron und die letzten kapitalistischen Schuldverschreibungen und Anleihen
bei der Feuerbestattung des letzten Kriegsherrn
verbrannt sind.“ …
Harkin Shaun
„
… schrieb der irische Sozialist James Connolly im August
1914. Er wurde am 12. Mai 1916 zusammen mit anderen
Führern des irischen Osteraufstands von einem britischen
Erschießungskommando hingerichtet. Bei seinem Kriegsgerichtsprozess beschrieb Connolly das Ziel der Aktion: „Wir
wollten die Verbindung zwischen diesem Land und dem
britischen Empire zerbrechen und eine irische Republik
gründen.“ Heutzutage feiert das politische Establishment
Irlands Connolly als „irischen Patrioten“. Und ja, Connolly
glaubte an Irlands Recht auf Selbstbestimmung. Jedoch, die
Eliten der irischen Republik würden sich in Connollys
Gesellschaft nicht wohlfühlen. So schrieb er vorausschauend:
„Auch wenn ihr die britische Armee morgen vertreibt und die
grüne Flagge über dem Dubliner Schloss hisst, werden eure
Bemühungen vergeblich sein, wenn ihr nicht mit der Organisierung einer sozialistischen Republik beginnt. England würde
euch immer noch regieren. Es würde euch über seine Kapitalisten, seine Grundherren und seine Finanziers beherrschen.“
Anders als die anderen Führer der irischen Rebellion von
1916 war Connolly ein revolutionärer Marxist. Fast 30 Jahre
lang war er in Schottland, Irland und den USA als sozialistischer Organisator, Gewerkschaftsaktivist und Theoretiker
tätig gewesen. Connolly hatte sich dem Marxismus und der
Emanzipation der Arbeiterklasse verschrieben.
Connolly wurde als Sohn verarmter irischer Immigranten
in einem Getto im schottischen Edinburgh geboren. Sein
Vater arbeitete als Dungsammler in den Slums der Stadt.
Connolly selbst fing an zu arbeiten, als er 10 oder 11 Jahre alt
war. Mit 14 veranlasste ihn die Armut, in die britische Armee
einzutreten, wie das auch heute noch junge Menschen tun. Er
diente 7 Jahre, unter anderem in Irland, bevor er 1889 den
Dienst quittierte. Connolly hatte keine formale Bildung;
dennoch verschaffte er sich ein breites Wissen über Geschichte und Marxismus und entwickelte sich zu einem erstklassigen
sozialistischen Agitator und Arbeiter-Intellektuellen.
Connolly wurde wegen seiner politischen Aktivität in
Schottland schikaniert und zog daher nach Irland, wo er 1896
in Dublin den Sozialistischen Klub gründete, den er bald zur
Irischen Sozialistischen Republikanischen Partei (Irish
Socialist Republican Party, ISRP) umgründete. Die ISRP
gab die erste reguläre sozialistische Zeitung Irlands, die
Workers‘ Republic, heraus, kandidierte bei örtlichen Wahlen
und repräsentierte Irland in der Zweiten Internationale.
Connollys herausragender Beitrag zum Marxismus war
seine Darlegung, dass der Kampf für nationale Befreiung
untrennbar mit dem Kampf für den Sozialismus verbunden ist.
Er erläuterte, dass die SozialistInnen in den Kolonien den
Kampf für nationale Befreiung anführen sollten. Eine solche
Revolte in den Kolonien könnte den revolutionären Prozess
in den ökonomisch entwickelten Ländern beschleunigen,
weil der dann ausbleibende Zugang zu diesen Märkten „zu
wirtschaftlichen Krisen führt und revolutionäres Denken
anregt“. Connolly brach mit der überkommenen elitären
Ansicht, dass Sozialisten in verarmten Kolonien vom Kampf
für Arbeitermacht absehen sollten, bis der Kapitalismus dort
voll entwickelt sei.
Gleichzeitig hinterfragte er das Konzept, dass die Revolution in den Händen konspirativer nationalistischer Gruppen
gelassen werden sollte: „Die Sozialisten haben mit dieser
lächerlichen Geheimniskrämerei gebrochen und in Hunderten von Reden auf den belebtesten Plätzen der Metropole,
sowie in Tausenden von Schriften, die im ganzen Land
verbreitet wurden, ihr Ziel verkündet, alle Kräfte der
Arbeiterbewegung für die revolutionäre Rekonstruktion der
Gesellschaft zusammenzuschließen und damit auch zur
Zerstörung des britischen Empires beizutragen.“ Connolly
führte aus, dass die reichen Iren „für jede historische Bindung
an den irischen Patriotismus tausend ökonomische Verbindungen mit dem englischen Kapitalismus haben, die aus
Inprekorr 3/2016 37
IRLAND
gemeinsamen Investitionen herrühren; nur die irische
Arbeiterklasse bleibt als nicht korrumpierbarer Erbe des
Kampfs für Irlands Freiheit.“
Connolly war ein unnachgiebiger Gegner loyalistischer
Ideen protestantischer Arbeiter(innen), aber er kämpfte für die
Schaffung eines politischen Raums, wo katholische und
protestantische Arbeiter(innen) auf der Basis von Klassenpolitik zusammenkommen konnten. Ihm war sehr bewusst,
warum protestantische Arbeiter(innen) konfessionellen Ideen
anhängen, betonte aber: „Wenn ein Mitglied von Sinn Fein
zu Männern spricht, die gegen niedrige Löhne kämpfen, und
ihnen sagt, dass Sinn Fein jedem ausländischen Kapitalisten,
der sich in Irland niederlassen will, viele irische Arbeiter zu
niedrigen Löhnen in Aussicht stellt, braucht man sich nicht zu
wundern, dass sie zu der Ansicht kommen, dass ein Wechsel
von den Tories zu Sinn Fein nur einem Wechsel von einem
bekannten zu einem unbekannten Teufel gleichkommt.“ In
der Frage der Teilung Irlands in zwei getrennte Staaten, die er
nicht mehr erlebte, war Connolly bemerkenswert vorausschauend: „Das würde zu einem reaktionären Karneval im
Norden und im Süden führen, wäre ein Rückschlag für
jedweden Fortschritt, würde die beginnende Einheit der
irischen Arbeiterbewegung zerstören und würde damit alle
fortschrittlichen Bewegungen paralysieren.“
Und tatsächlich nutzten die herrschenden Eliten nach der
Teilung 1921, den Orangismus im Norden und den Nationalismus im Süden, um konservative unternehmerfreundliche
Politik festzuschreiben und konfessionelle Schranken zwischen katholischen und protestantischen Arbeitern zu
errichten. Heutzutage verkörpert der Reverend Ian Paisly, der
loyalistische Eiferer, der sich anschickt Nord-Irlands „erster
Minister“ zu werden, diesen „Karneval der Reaktion“, vor
dem Connolly warnte.
1903 ging Connolly in die USA, wo er sieben Jahre lebte.
Anfänglich wurde er von der Socialist Labor Party wegen
ihres Engagements für Revolution statt Reformismus
angezogen, orientierte sich dann aber am militanten Syndikalismus der Industrial Workers of the World (IWW).
Connolly kehrte als überzeugter Syndikalist nach Irland
zurück. Er glaubte an den Aufbau der „One Big Union“
(einen großen Gewerkschaft) und dass „jede von ihr gewerkschaftlich organisierte Werkstatt oder Fabrik eine Festung ist,
die der Kontrolle der kapitalistischen Klasse entrissen und mit
Soldaten der Revolution bemannt ist, die sie für die Interessen
der Arbeiter(innen) verteidigen müssen.“
Connolly setzte seine Ideen als Organisator für die Irish
Transport and General Workers Union (Irische Gewerkschaft
der Transport- und anderer Arbeiter, ITGWU) um. Zusam38 Inprekorr 3/2016
men mit James Larkin führte er 1913-14 einen von Irlands
härtesten Arbeitskämpfen, der als Great Dublin Lockout
(große Dubliner Aussperrung) bekannt wurde. Unglücklicherweise erlitt die ITGWU trotz heroischer Anstrengungen
eine brutale Niederlage. Dieser Tragödie folgte 1914 eine
weitere, als die internationale sozialistische Bewegung
zerbrach und die einzelnen Parteien im Ersten Weltkrieg die
jeweiligen imperialistischen Krieg führenden Mächte
unterstützten. Connolly schrieb: „Das Signal des Krieges hätte
ein Signal für Rebellion sein sollen. Als die Hörner den ersten
Ton des gegenwärtigen Krieges bliesen, hätten diese Töne zur
Sturmglocke für die soziale Revolution werden müssen.“
Die Niederlage der irischen Arbeiterbewegung und der
Kollaps der sozialistischen Parteien auf internationaler Ebene
wären verständliche Gründe für eine Demoralisierung
Connollys gewesen. Stattdessen blieb er der internationalistischen Haltung treu und versuchte dem britischen Imperium
einen Schlag zu versetzen. Vor diesem desolaten Hintergrund
ist Connollys Rolle beim Aufstand von 1916 zu verstehen. Er
hoffte, dass die Revolte in Irland zum Katalysator werden
würde, der das Wiedererwachen sozialistischer Opposition
gegen den Krieg befördern könnte.
Nach der Lähmung des wirtschaftlichen Lebens durch den
Militarismus wäre selbst der erfolglose Versuch einer sozialistischen Revolution mit der Waffe in der Hand weniger desaströs für die Sache des Sozialismus als die Tätigkeit von
Sozialisten, die sich für das Schlachten ihrer Brüder missbrauchen ließen.
Der Osteraufstand war isoliert und wurde niedergeschlagen. Obwohl die Rebellen es schafften, zentrale Örtlichkeiten
in Dublin zu besetzen und eine Irische Republik auszurufen,
wurde die Rebellion nach sechstägigem Kampf niedergeschlagen. Ihre Führer, einschließlich Connolly, wurden
gefangen genommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet.
Aber Connollys Überlegung, dass die durch den Krieg
ausgelöste Krise in die Bahn von Revolten gelenkt werden
könnte, war richtig. 1917 demonstrierten 10 000
Arbeiter(innen) in Dublin ihre Unterstützung für die
Russische Revolution und dieses Jahr markierte auch den
Beginn des radikalen Aufschwungs in Irland, der bis 1923
andauerte.
James Connolly war ein herausragender Arbeiterführer
und Antiimperialist und seine Ideen und Aktionen sind auch
heute noch ein Inspirationsquell.
Übersetzung: Wolfgang Weitz
„
DOSSIER: FR ANKREICH
DER ZORN
BLEIBT WACH
„Frankreich muss auf die Jugend hören“, heuchelt Premier Valls und versucht mit
vagen Zugeständnissen an Studierende und Azubis der Jugend den Widerstand
abzukaufen.
Ein Dossier mit 3 Beiträgen
„PARIS WACHT
AUF ...
... ließe sich in Anspielung auf ein altes Chanson
zumindest in Bezug auf Frankreichs Jugend
sagen.“ MiWe
Bereits nach den ersten umfangreichen Protesten am 9.
März sah sich die sozialdemokratische Regierung gezwungen, geringfügige Änderungen am Maßnahmenpaket der
Arbeitsrechtsreform zu verkünden, um so die stärker
sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften
(CFDT, CGC, CFTC) aus der Ablehnungsfront zu
brechen. Der Erfolg war begrenzt – seither sind die
Mobilisierungen immer weiter gewachsen und seit dem 31.
März breitet sich die Bewegung „Nuit debout“ (wörtlich:
„Nacht im Stehen“, übertragen: „Wach bleiben“) von der
Hauptstadt in die Vorstädte hinein und ins ganze Land aus.
Die größte Dynamik geht dabei von der Jugend – ob in
den Schulen, Universitäten, Betrieben oder arbeitslos –
aus. Da ihr diese Mobilisierungen über den Kopf zu
wachsen und die ohnehin geringen Chancen auf eine
Wiederwahl noch weiter zu verringern drohen, reagiert
die Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche. Diese
bekommen diejenigen, die sich nicht ködern lassen, in
Form von Tränengas, Schlagstöcken und Kriminalisierung
zu spüren. Das Zuckerbrot in Form symbolischer Maßnahmen wie einem viermonatigen Übergangsgeld nach
Ausbildungsende, einer Strafsteuer für befristete Arbeitsverträge und höhere Löhne für Azubis soll den „moderateren“ Flügel dazu bewegen, seine Proteste zu beenden. Und
tatsächlich lobt bereits der Chef der Studierendengewerkschaft UNEF das Entgegenkommen als Erfolg der bisherigen Mobilisierungen, ohne zu bedenken, dass seine
„Zufriedenheit“ mit diesen Regierungsmaßnahmen ein
Schritt zur Demobilisierung ist.
Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen,
ob die Strategie von Premierminister Valls und Präsident
Hollande aufgeht oder ob zehn Jahre nach der durch
Massenproteste erzwungenen Rücknahme des Ersteinstellungsgesetzes (CPE) wieder eine Regierung von der Straße
in die Knie gezwungen wird.
Nachfolgend dokumentieren wir einen Aufruf gegen
das Arbeitsgesetz, der von VertreterInnen der radikalen
Linken und Gewerkschaften lanciert worden ist, sowie
eine vorläufige Einschätzung der Mobilisierungen, die
unter dem Eindruck der bisher größten Proteste am 31.
März verfasst worden ist.
Inprekorr 3/2016 39
DOSSIER: FR ANKREICH
FÜR EIN STARKES
ARBEITSRECHT
Wir brauchen mehr statt weniger Rechte!
Gemeinsam gegen die geplante Reform des
Arbeitsrechts!
In der laufenden Amtszeit von Hollande haben die
Lohnabhängigen schon Rechte eingebüßt. Wir werden
nicht hinnehmen, dass sie durch das geplante Gesetz der
Arbeitsministerin El-Khomri noch weiter eingeschränkt
werden.
Durch den Gesetzentwurf sollen Entlassungen vereinfacht werden, angeblich um Arbeitsplätze zu schaffen. Die
Erfahrung jedoch zeigt, dass das Gegenteil zutrifft:
nämlich dass leichter entlassen werden kann, während die
Dividenden steigen.
Schon seit 100 Jahren jammern die Unternehmer, dass
das Arbeitsrecht für sie eine Zwangsjacke sei. „Eure
Sozialgesetze ruinieren die ohnehin schon schwache
Industrie“, schleuderte 1909 Senator Touron, Präsident der
damaligen Unternehmerlobby, dem sozialistischen
Arbeitsminister René Viviani entgegen, unter dessen
Ägide das erste Arbeitsschutzgesetz entstanden ist. Hundert Jahre später liest sich das Herzensanliegen der Unternehmerpräsidentin Parisot so: „Die Gedankenfreiheit
endet dort, wo das Arbeitsrecht anfängt.“
Valls und Holland wollen das Arbeitsrecht
abspecken. Zu wessen Nutzen?
Etwa um die Arbeitslosigkeit zu mindern? Bereits unter
Sarkozy hat der zuständige Berichterstatter Combrexelle
das Gesetz skelettiert, indem er 1,5 Millionen Zeichen und
500 Gesetze strich. Die entstandene „Leichtversion“ werde
Arbeitsplätze schaffen, tönte damals die Rechte. Tatsächlich ist keiner entstanden. Denn selbst die OECD gibt zu,
dass Schutzgesetze für Arbeitsplätze keinen Einfluss darauf
haben, ob Stellen geschaffen oder vernichtet werden.
Hierzulande fällt nie ein Wort darüber, dass Lohnabhängige bei ihrer Arbeit verheizt werden. Sie sind die
unbeschreiblichen Opfer eines ungenannten Wirtschaftskriegs: alljährlich 500 tödliche Arbeitsunfälle, 700
Selbstmorde, 650 000 Unfälle mit vorübergehender
Arbeitsunfähigkeit und 4500 Berufskranke mit bleibender
40 Inprekorr 3/2016
Behinderung. Das sind keine abstrakten Zahlen, sondern
dahinter stecken Lebensläufe. In Arbeitslosigkeit, Prekarität und Not entlassen – ruiniert, unsichtbar, verachtet.
Das Arbeitsrecht ist weder überfrachtet noch unverständlich. Bereits jetzt haben die Unternehmer zu viel
Handhabe zulasten der Lohnabhängigen. Es gibt schon
jetzt zu wenig Weisungs- und Kontrollmöglichkeiten und
die Realität sieht ohnehin anders aus: Die Angriffe auf
Arbeitsinspektoren haben sich in den letzten zehn Jahren
vervierfacht; juristische Eingaben der Inspektoren werden
kaum mehr verfolgt und ihre Handhabe wird zunehmend
geringer.
Die geplanten Einschnitte im Arbeitsrecht sind
nicht hinnehmbar!
Referenden unter den Beschäftigten eines Unternehmens
entwerten de facto den Handlungsspielraum der Gewerkschaften und liefern den Unternehmern die Handhabe zur
Erpressung. Bei Smart beispielsweise hätte so die Unternehmensführung die Möglichkeit gehabt, die Arbeitszeit
auf 39 Stunden zu erhöhen und nur 37 Stunden zu
bezahlen. Bei der FNAC könnte damit Sonntagsarbeit
fällig werden.
Für die Mehrarbeit über die 35h-Woche hinaus soll es
künftig einen „Ausgleich“ geben. Sie soll nicht mehr wie
heute mit einem 25-%-Zuschlag bezahlt werden. [Wirtschaftsminister] Macron sagt dazu ganz richtig: Das ist das
Ende der 35h-Woche.
Momentan gehen die Gewerkschaften mit der Forderung nach einem Überstundenzuschlag zwischen 25% und
50% in die Verhandlungen. Wie soll der „Ausgleich“
beschaffen sein? Unter dem Strich sicherlich schlechter.
El Khomri plant, die Arbeitsdauer auf dem Weg von
betrieblichen Verhandlungen zu erhöhen? Mehr arbeiten
also, um weniger zu verdienen. Zugleich soll es mehr
gesetzliche Handhabe gegen die Lohnabhängigen geben,
indem die Abfindungen bei missbräuchlichen Entlassungen gesenkt werden oder arbeitsrechtliches Vorgehen
gegen die Arbeitgeber erschwert wird, etwa um ihn zu
verpflichten, eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zurückzunehmen … etc. pp. Im Entwurf von El
Khomri wird der Arbeitgeber zum König!
Aber das, was daraus bekannt geworden ist, ist erst der
Anfang. Daneben werden weitere Pläne verfolgt. So haben
Combrexelle und Badinter Berichte vorgelegt, wonach das
Arbeitsrecht weiter ausgehöhlt werden soll, indem sein
Anwendungsbereich eingeschränkt wird.
Ein Beispiel dafür ist die Günstigkeitsregelung, die
DOSSIER: FR ANKREICH
vorsieht, dass die jeweils für die Beschäftigten günstigste
Regelung Anwendung findet, wenn sich das Gesetz und
der Arbeits- oder Tarifvertrag widersprechen. Laut
Combrexelle soll dies nur noch gelten, wenn „das Gesetz
es nicht anders vorsieht“.
Die Verpflichtung zur innerbetrieblichen Umsetzung
legt fest, dass ein Unternehmer alles in diesem Sinne
unternehmen muss, bevor er aus betrieblichen Gründen
entlässt. Die Formulierung „außer dort, wo das Gesetz
Sonderregelungen vorsieht“ greift auf, was schon im
Bericht von Badinter stand. Damit werden Einfallstore
geöffnet, mit denen diese Verpflichtung ausgehebelt
werden kann, besonders um diejenigen loszuwerden, die
durch die Arbeit krank geworden sind.
Im selben Bericht heißt es in Artikel 13: „Der Arbeitsvertrag ist unbefristet und kann nur in gesetzlich vorgesehenen Fällen befristet werden.“ Es ist sicher kein Zufall,
dass hier nicht mehr die geltende Formulierung benutzt
wird, wonach der unbefristete Vertrag „grundsätzlich der
Normalfall eines Arbeitsverhältnisses“ ist. Gegenwärtig
gibt es eine Schutzklausel für Ausnahmen, nämlich dass
eine Befristung nur bei vorübergehenden betrieblichen
Erfordernissen zulässig ist. Warum ist diese Formulierung
verschwunden? Weil die Unternehmer keine Einschränkungen mehr wollen!
Artikel 1 proklamiert, dass „die Grundrechte der
Person in jedem Arbeitsverhältnis garantiert sind. Einschränkungen sind nur zulässig, wenn andere Grundrechte
davon tangiert werden oder wenn betriebliche Notwendigkeiten dies erfordern …“ Wir reden hier doch von
Arbeitsrecht?! Warum wird dann von „Personen“ und
nicht von „Beschäftigten“ gesprochen? Im Gesetz zählt das
Wort. Wenn nicht von Beschäftigten die Rede ist, dann
auch nicht von Unternehmern oder Unternehmermacht.
Damit sind wir bei der neoliberalen Denkungsart, wonach
der Arbeitsvertrag eine freie Willensvereinbarung zwischen gleichen Personen ist.
Im Übrigen hebt dieser Artikel das Wohl des Unternehmens auf dieselbe Stufe wie die Grundrechte. Darin
gleicht er dem Lissabon-Vertrag, der die Würde des
Menschen, das Recht auf Eigentum und die Unternehmerfreiheit auf die gleiche Stufe hebt.
Als [Ministerpräsident] Valls die Badinter-Kommission
eingerichtete, erklärte er: „Die Doppelfunktion, die das
Arbeitsrecht wahrnehmen soll, wird zunehmend schlecht
umgesetzt. Schließlich sollen darin zugleich die Beschäftigten geschützt und die Unternehmen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten abgesichert werden …“ Aber genau
darum geht es im Arbeitsrecht nicht und darf es nicht
gehen!
Im Artikel L. 120-3 ist festgelegt, dass das Gesetz „das
ständige Weisungsrecht des Unternehmers gegenüber den
Beschäftigten“ begrenzen soll. Seit 1910 und mit jedem
sozialen Fortschritt hatte es diese Funktion. Das erste
Arbeitsgesetz kam durch die Gegenwehr der ArbeiterInnen zustande. Auch heute zielen die Arbeitskämpfe oft
darauf ab, diese juristische Hürde, die im Arbeitsgesetz
verankert ist, zu stärken. Daraus jetzt einen Schutzmechanismus für die Unternehmen zu machen, hieße, das Rad
der Geschichte zurückzudrehen.
Gemeinsam werden wir in den kommenden Monaten
die Rechte der Lohnabhängigen verteidigen und den
Grundstein für ein Arbeitsgesetz legen, das sie wirklich
schützt.
Clémentine Autain (Ensemble),
Olivier Besancenot (NPA), Eric Coquerel (Parti de gauche),
Gérard Filoche (PS), Willy Pelletier (Fondation Copernic),
Pierre Laurent (PCF), Eric Beynel (Solidaires), Fabrice
Angei (CGT), Noël Daucé (FSU).
Übersetzung: MiWe
„
IHR HABT
MILLIARDEN, WIR
SIND MILLIONEN!
Für die Bewegung „Nuit debout“ war der
31. März der Beginn einer neuen Zeitrechnung.
Seither durchwachen Tausende gemeinsam die
Nacht auf öffentlichen Plätzen, um gegen die
Arbeitsrechtsreform der Regierung zu protestieren – zunächst auf der Place de la République,
mittlerweile in ganz Frankreich. Leon Crémieux
Der Aktionstag am 31. März war mit landesweiten Streiks
und Kundgebungen zweifellos ein großer Erfolg: Nach
Inprekorr 3/2016 41
DOSSIER: FR ANKREICH
Angaben der Gewerkschaftskoordination demonstrierten
über eine Million Menschen in 260 Städten, während es
am 9. März noch 450 000 in 170 Städten waren. Selbst die
Polizei räumte ein, dass die Teilnehmerzahl sich gegenüber
dem 9. März verdoppelt habe. Hinzu kommen zwei
Aktionstage am 17. und 24. März, an denen SchülerInnen
und StudentInnen – meist auch unter Beteiligung von
Unternehmensdelegationen – demonstriert hatten.
Zahlreiche öffentliche und private Betriebe nahmen
erstmals an den Streiks teil. Bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF streikten über 40 % der Beschäftigten
gegen das geplante Arbeitsgesetz und zugleich auch gegen
ein geplantes Dekret, mit dem ein „sozialer Sockel“ für
alle Bahnunternehmen, d. h. eine Deregulierung des
Beschäftigungsverhältnisses eingeführt werden soll.
Auch unter der Jugend hat die Beteiligung zugenommen: Waren am 9. März 120 und am 17. März 200 Gymnasien verbarrikadiert, so waren es diesmal 250. An den
Universitäten verlief die Mobilisierung etwas schleppender, inzwischen gibt es aber an Dutzenden von ihnen
Aktionskomitees. Auch aus den Vorstädten waren diesmal
mehr Jugendliche beteiligt als am 9. März. Die Polizei
reagierte in etlichen Städten mit Provokationen und
Gewalteinsätzen gegen die Jugendlichen ähnlich aggressiv,
wie schon am 24. März gegenüber einem Schüler im XIX.
Arrondissement von Paris.
Damit nimmt die Mobilisierung in dem Maß zu, wie
der Termin zur Parlamentsdebatte über das Gesetz am 9.
Mai näher rückt. Schon jetzt sind die Mobilisierungen so
massiv wie seit 2010 nicht mehr, als erfolglos versucht
worden war, eine neuerliche Rentenreform mit Demonstrationen und Blockaden zu verhindern. Es drängt sich aber
der Vergleich mit der erfolgreichen Protestbewegung
gegen das Ersteinstellungsgesetz (CPE) auf, das die
damalige Regierung De Villepin auf Druck der Jugend
und der Beschäftigten zurücknehmen musste. Ein bedeutsamer Unterschied besteht freilich: Die letzten großen
Proteste in Frankreich (1995, 2003, 2006 und 2010)
richteten sich jedes Mal gegen eine rechte Regierung.
Viele spüren daher ein neues 2003 oder 2010 heraufziehen. Aber im Unterschied zu 2003 ist die Streikbewegung
an den Schulen und Universitäten momentan nicht so breit
und basisorganisiert und in den Betrieben fehlt es an einer
vorwärtstreibenden Kraft, wie sie 2010 die Eisenbahner,
die Müllmänner oder die LKW-Fahrer und in anderen
Bewegungen die Postler oder die LehrerInnen gebildet
hatten.
Natürlich trifft das geplante Gesetz die Beschäftigten in
42 Inprekorr 3/2016
den privaten Betrieben, die dem Arbeitsgesetz, den
Tarifverträgen und den Betriebsvereinbarungen unterliegen, am härtesten. Trotzdem waren die Beschäftigten des
öffentlichen Dienstes am 31. März – mit Ausnahme der
Lehrergewerkschaft FSU, die sich diesmal zurückhaltender
als sonst positioniert – genauso zahlreich vertreten, weil
klar ist, dass die antisoziale Regierungspolitik ausnahmslos
alle Beschäftigten trifft.
Allen ist klar, dass diesmal die Bewegung eine andere
Dimension einnimmt als in den Jahren zuvor. Dies hat
positive wie negative Seiten. Zunächst einmal sind die
politischen Rahmenbedingungen unterschiedlich. Noch
bis vor kurzem dominierten die Folgen der Anschläge
vom November und die polizeistaatlichen Maßnahmen
der Regierung mit der Verlängerung des Ausnahmezustands. Daneben wirkt noch immer die politische Polarisierung fort, die der Front National als unangefochtener
Gewinner der Regionalwahlen vom Dezember 2015
ausgelöst hat.
Hollande und Valls hatten gehofft, der klassischen
Rechten um Sarkozy das Wasser abgraben und sich wie
damals Bush nach dem 11. September als verlässliche
Staatsmänner gerieren und sich so ihre Wiederwahl
sichern zu können. In einem Punkt ist dieser Plan aufgegangen: Die Rechte steckt tatsächlich in einer historischen
Krise. Ihre Partei „Die Republikaner“ liegt in Scherben,
Sarkozy hat sein Comeback verpasst und ist weit weniger
populär als sein Konkurrent Juppé und immer mehr
Parteiprominenz drängt sich um die Präsidentschaftskandidatur 2017. Zudem will sich die rechtsliberale UDI nicht
an gemeinsamen Vorwahlen mit den Republikanern
beteiligen. Auf der anderen Seite jedoch ist die staatsmännische und wehrhafte Aura der Herren Valls und Hollande
genauso schnell verblasst, wie sie aufgeschienen war.
Das geplante Arbeitsgesetz ist nur der eine Stachel im
Fleisch der Regierung. Der andere, der sie drückt, ist die
fehlgeschlagene Verfassungsreform, mit der Hollande und
Valls die Rechte auflaufen lassen und sie zwingen wollten,
für die Verstetigung des Notstands und die Ausbürgerung
wegen terroristischer Vergehen zu stimmen, obwohl dies
zu Staatenlosigkeit führen könnte und damit internationales Recht mit den Füßen getreten würde. Letztlich hat sich
diese Taktik als Bumerang erwiesen, auch weil die
Regierung sogar in den Reihen der Sozialdemokratie
wegen ihrer Sozial- und Sicherheitspolitik diskreditiert ist
und dadurch durch die Rechte erpressbar war. Am Ende
haben sich die Republikaner mit ihrer Senatsmehrheit auf
keinen Kompromiss mit der PS eingelassen und die
DOSSIER: FR ANKREICH
Regierung zum Rückzug in der Verfassungsfrage gezwungen.
Mit nur noch 15 % Zustimmung in der Bevölkerung
hat Hollande einen Tiefpunkt erreicht wie noch nie zuvor
ein Präsident der V. Republik und Valls folgt ihm auf dem
Fuße. Versteht sich, dass er innerhalb der Linken (außerhalb der PS) mit seiner reaktionären Politik diskreditiert
ist. Dafür sorgen neben seiner Polizeistaatspolitik auch der
Abbau der sozialen Rechte durch die Minister Macron und
Rebsamen, die menschenunwürdige Flüchtlingspolitik
sowie das Durchpeitschen unsinniger Großprojekte wie
zuletzt des Flughafens bei Notre Dame des landes im
Westen des Landes. Diese Kritik reicht auch in die Reihen
der PS hinein und kommt dem linken Flügel zugute, der
durch die Exministerin Aubry unlängst prominente
Verstärkung erhalten hat. Selbst der Chef der Jugendorganisation Lucas fordert die Rücknahme des geplanten
Arbeitsgesetzes und die Führung der PS-nahen Studentengewerkschaft UNEF ruft zu den Protesten auf.
Hinzu kommt das repressive Vorgehen gegen aktive
Gewerkschafter – etwa bei Good Year –, die kriminalisiert
und verurteilt werden, weil sie aus Protest gegen die
Werksschließung das Management in seinen Stuben
festgehalten haben. Auch im Gefolge der Verhängung des
Notstands und der staatlich verordneten rassistischen
Kampagne gegen die Moslems sind in den letzten Monaten
Tausende Bewohner in den Kleine-Leute-Vierteln
durchsucht und schikaniert worden. Dies wiederum hat
die dortige Jugend dazu veranlasst, sich den gegenwärtigen
Protesten anzuschließen.
Diese politische Gemengelage sorgt eher für Konfusion, da es momentan keine Kraft aus gewerkschaftlichen,
sozialen oder politischen Zusammenhängen gibt, die
diesen Bestrebungen nach sozialer Gerechtigkeit und
wirklicher Demokratie eine einheitliche Richtung zu
geben in der Lage wäre. Die Gewerkschaftsführungen
scheinen im Gegenteil in dieser Situation noch mehr
überfordert zu sein als sonst und die Reaktion auf die
geplante Gesetzesreform kam vielmehr durch die Mobilisierung der Jugend und die Aktivität der sozialen Netzwerke zustande, die binnen dreier Wochen über eine Million
Unterschriften unter eine Petition gesammelt und zum
Auftakt der Proteste am 9. März geblasen haben. Natürlich
haben sich diesen Aktionen einzelne kämpferische
Gewerkschaftsgliederungen angeschlossen und mit allen
Kräften in ihren Reihen mobilisiert. Lediglich die Bürokraten an den Gewerkschaftsspitzen scheinen mehr noch
als 2010 zu fürchten, dass eine soziale Dynamik entstehen
könnte, aus der heraus auch eine politische Alternative zu
der herrschenden Austeritätspolitik gesucht wird. Davor
schrecken sie umso mehr zurück, als sich die Proteste
erstmals gegen eine „linke“ Regierung richten. Insofern
bemühen diese Bürokraten ständig die drohende Gefahr
von rechtsaußen, weswegen man keine Totalkonfrontation
gegen die Regierungspolitik betreiben dürfe.
Erfrischend dagegen erscheint der Aufruhr in den
sozialen Netzwerken, wo all die brisanten Probleme wie
Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Klimakatastrophe und
demokratische Kontrolle über die politischen Entscheidungen im Staat thematisiert werden. So haben bspw. 400
„illegal“ Beschäftigte Ende März einen überraschenden
Erfolg erzielen können, als sie mit der Unterstützung der
Gewerkschaftskoordination der Beschäftigten des Arbeitsministeriums und einer Bürgerrechtsinitiative zunächst die
Generaldirektion für Arbeit besetzt hatten und dann
Verhandlungen ertrotzen konnten, die ihnen eine reguläre
Aufenthaltsgenehmigung verschaffen sollen. Ein weiteres
Beispiel sind die Unterstützungskomitees für die verurteilten Gewerkschafter von Good Year, die in vielen Städten
entstanden sind.
Am Abend des 31. März haben sich mehrere Tausend
Jugendliche auf der Place de la République in Paris
versammelt, um über ihre Netzwerke, die die phantasievollen Namen: „Wachbleiben“, „Rote Nächte“ oder
„Jagen wir ihnen Angst ein“ tragen, Platzbesetzungen zu
propagieren. Ihnen angeschlossen hat sich die Obdachloseninitiative DAL.
Dies alles zeigt, dass die Stimmung brodelt und eine
breite soziale Mobilisierung entfacht werden soll, so wie es
in einem Aufruf von mehreren Hundert GewerkschafterInnen aus CGT, Solidaires und FSU formuliert wird, die
für ein gemeinsames Vorgehen aller Lohnabhängigen die
Trommel rühren. In den kommenden Wochen wird sich
zeigen, ob all diese verschiedenen Initiativen zu einem
einheitlichen Vorgehen zusammenfinden und andere
Menschen mitziehen können, sodass ein Kräfteverhältnis
entsteht, das die Regierung zum Einlenken zwingt.
Übersetzung: MiWe
„
Inprekorr 3/2016 43
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
ÖKOLOGIE IM KORSETT
DES GLOBALISIERTEN
KAPITALISMUS
Das ökologisch Notwendige zur Rettung der natürlichen Grundlagen und
Entfaltungsbedingungen der Menschheit findet immer noch seine Grenzen der
Verwirklichung in der Zwangsjacke des globalisierten Kapitalismus. Selbst das
Zika-Virus lässt sich in diesem Kontext behandeln.
Ein Dossier mit 3 Beiträgen
COP21 – Perspektiven des
Klassenkampfs
SEITE 45
44 Inprekorr 3/2016
Kapitalismus,
Arbeit und Natur:
den Teufelskreis
durchbrechen
Von Mücken und
Menschen – die
soziale Genesis des
Zika-Virus
SEITE 51
SEITE 54
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
COP21 – PERSPEKTIVEN DES
2. KLASSENKAMPFS
Unter dem Titel „Die Anerkennung der
1,5 °C-Grenze durchsetzen, Klimagerechtigkeit
herstellen und nicht auf unbeherrschbare
Technologien setzen“ wurde die folgende
Resolution des Internationalen Komitees (IK)
der IV. Internationale zur Bilanz der COP21 und
der Perspektiven des Klimakampfs am 1. März
2016 mit großer Mehrheit angenommen).
1. 23 Jahre nach dem Gipfel von Rio und der
Verabschiedung der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) waren die Regierungen der Welt gezwungen, die Realität des „anthropogenen“ [von Menschen
verursachten] Klimawandels und die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Abwehr einer enormen
ökologischen und sozialen Katastrophe zuzugeben. Der
Krieg ist nicht vorbei, aber die gute Wissenschaft hat eine
Schlacht gegen die Klima-Leugner gewonnen. Völlig
unerwartet umfasst die Pariser Vereinbarung auch das Ziel,
„die Bemühungen fortzusetzen, den Temperaturanstieg
auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu
begrenzen“. Die Präambel der Vereinbarung sagt, dass
dieses Ziel erreicht werden soll unter Berücksichtigung der
Menschenrechte, des Rechts auf Entwicklung, der Rechte
der indigenen Völker und der grundlegenden Priorität der
Ernährungssicherheit, wobei die Gleichstellung der
Geschlechter und das Ziel eines gerechten Übergangs für
die Beschäftigten berücksichtigt werden sollen. Diese
Aussagen – insbesondere die 1,5 °C-Grenze – sind ein Sieg
für die Klimabewegung und werden die Mobilisierungen
fördern. Diese sind wichtiger denn je, denn das Abkommen der COP21 ist im Grunde ein sehr schlechtes Abkommen, sowohl ökologisch als auch sozial. Paris war ein Wendepunkt. Es markiert den Beginn einer gefährlichen
globalen Politik des „grünen“ Kapitalismus, die zur
Nutzung von Geo-Engineering und einer massiven
Aneignung von Ökosystemen führen wird. In Wirklich-
keit zielt diese Politik darauf ab, den Klimawandel nur
soweit zu begrenzen, wie es zur Rettung des Kapitalismus
nötig ist, aber nicht, wie es der Kampf im Interesse der
Natur und der Menschen erfordern würde.
Das von der COP211 beschlossene Abkommen
kennzeichnet nicht einmal den Beginn einer
Lösung der Klimakrise zum Wohle der Menschen und der
Umwelt.
a. Kein Datum für den Gipfelpunkt der Emissionen wurde
festgelegt, keine Emissionsobergrenze für die kommenden
Jahre wurde genannt, und das Ziel der „Klimaneutralität“ ist
vage terminiert: „in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts“.
b. Sicherlich bringt das Abkommen die Absicht zum
Ausdruck, die Erwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen, und
wenn möglich sogar auf 1,5 °C. Aber nichts wird gesagt,
wie die diesen Zielen entsprechenden Kohlenstoff budgets
eingehalten werden sollen. Bei der aktuellen Rate der
Emissionen wird das C-Budget für 2 °C in 15 bis 20 Jahren
erschöpft sein, und das für 1,5 °C schon in noch nicht
einmal sechs Jahren.
c. Die einzigen von den Regierungen beschlossenen
quantifizierten Verpflichtungen sind die INDC2 , deren
kumulative Wirkung eine Erwärmung von 2,7 bis 3,7 °C
bis zum Ende des Jahrhunderts bedeuten würde. Es wird
auch befürchtet, dass diese Schätzung noch zu optimistisch
ist, da einige INDC nur bedingt gelten und andere den
Kohlenstoff-Absorptionsmechanismen der Ökosysteme
eine unverhältnismäßig große Bedeutung gegenüber
Maßnahmen zur Emissionsminderung zumessen.
d. Das Abkommen lässt eine Erwärmung von 3 °C oder
mehr bis zum Ende des Jahrhunderts (im Vergleich zu
vorindustriellen Zeiten) befürchten. Die Folgen wären
dramatisch und unberechenbar für die Ökosysteme und für
die Menschheit. Die Existenzbedingungen von Hunderten
von Millionen von Arbeitenden, Jugendlichen, Bäuerinnen
und Bauern, Armen und indigenen Völkern würden
ernsthaft beeinträchtigt werden. Die Auswirkungen wären
besonders negativ für die Frauen. Sogar die nackte Existenz
einer bedeutenden Zahl von Menschen wäre in großer
Gefahr.
e. Trotz dieser schrecklichen Bedrohung enthält das
Abkommen keinen verbindlichen Mechanismus, um die
Lücke zwischen dem Ziel von 1,5-2 °C und den INDC im
Zuge regelmäßiger Überprüfungen zu schließen.
Das Abkommen verschärft die „Klima-Ungerechtigkeit“ zwischen den Ländern und innerhalb der
Länder. Das Untergraben des in der UNFCCC enthaltenen
3. Inprekorr 3/2016 45
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
Prinzips der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung entsprechend der historischen Verantwortung, des
Entwicklungsstands und der Kapazitäten der Länder setzt
sich fort.
a. Die Untergrenze von 100 Milliarden pro Jahr zur
Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern wird in den Entscheidungen der COP
erwähnt, aber nicht im Abkommen. Dieser Betrag kann
also neu verhandelt werden. Die Industrieländer verpflichten sich im Übrigen nur, diese Mittel zu „mobilisieren“,
und der Text erwähnt nicht, dass sie, wie vorher angekündigt, „neu“ und „zusätzlich“ sein müssen.
b. Die COP von Warschau hatte einen neuen Mechanismus geschaffen, um die „Verluste und Schäden“ durch die
Zahl und die Heftigkeit von extremen Wetterereignissen
abzudecken; durch das Fehlen des Begriffs der rechtlichen
Verantwortung im Abkommen wurde dies geschwächt.
c. Mit der Ankündigung der Schaffung einer „Mechanismus für nachhaltige Entwicklung“ bereitet das Abkommen
eine Ausweitung der „flexiblen Mechanismen“ des KyotoProtokolls vor. Das bewirkt, dass den „Entwicklungsländern“ eine neue untergeordnete Rolle in der globalen
Arbeitsteilung zugewiesen wird: Als Anbieter von Ökosystemdienstleistungen sollen sie die Emissionen des globalisierten Kapitalismus zu geringsten Kosten „kompensieren“.
Dies wird zu einer Beschleunigung der Aneignung von
Wald und Land zulasten der biologischen Vielfalt, der
Bevölkerung, ihrer Menschenrechte und der Rechte der
indigenen Völker führen.
d. Es ist also kein Zufall, dass der Verweis auf die Menschenrechte und die Rechte der indigenen Völker nur in
der Präambel der Vereinbarung erscheint, nicht in seinen
Artikeln. Es ist kein Zufall, dass die gleiche Behandlung
dem Begriff des „gerechten Übergangs“ widerfährt, der
von der Gewerkschaftsbewegung verteidigt wird, um zu
verhindern, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter Opfer der
Klimapolitik werden.
Das Abkommen bringt letztendlich den unversöhnlichen Gegensatz zum Ausdruck zwischen der
kapitalistischen Produktionsweise auf der einen Seite und
einem behutsamen, rationalen Austausch zwischen Menschen und Umwelt auf der anderen Seite. Mit dem Klimawandel verringert sich die Möglichkeit, die Auswirkungen
dieses Antagonismus in die Zukunft zu verlagern. Die
zerstörerische Kraft der kapitalistischen Produktionsweise
wird damit immer offensichtlicher.
a. Innerhalb der herrschenden Klassen hat sich jetzt eine
Mehrheit herausgebildet, die die Realität der globalen
4. 46 Inprekorr 3/2016
Erwärmung und ihre Ursachen anerkennt. Das Großkapital kann kaum noch leugnen, dass Untätigkeit mehr kostet
als Gegenmaßnahmen und ein unkontrollierbares Chaos
schaffen wird, das objektiv den Kapitalismus gefährdet und
seine Legitimität auf subjektiver Ebene untergräbt. Es
organisiert sich, um diese Gegenmaßnahmen in verschiedenen Bereichen und auch branchenübergreifend in
Richtung eines „grünen Kapitalismus“ zu steuern.
b. Allerdings können die Technologien, die es erlauben
die Erwärmung zu Kosten einzudämmen, die mit den
Profitzwängen kompatibel sind, heute global nur wenig
mehr als die Hälfte der Emissionsreduktionen realisieren,
die erforderlich sind, um die Grenze von 2 °C einzuhalten,
und auch das nur theoretisch.
c. Praktisch muss man viele strukturelle Hindernisse
berücksichtigen, insbesondere:
i. Die Macht der multinationalen Konzerne, die fossile
Brennstoffe ausbeuten (und der Banken, die ihre Investitionen finanzieren);
ii. die Tatsache, dass diese Macht eingesetzt, um die
Entwicklung „grüner“ Technologien zu bremsen, um
letztendlich eine massive Entwertung von Vermögenswerten („Karbon-Blase“) zu verhindern und die maximale
Energierendite zu sichern;
iii. die Tatsache, dass der Mechanismus der Börsennotierung dieser multinationalen Unternehmen sie dazu
zwingt, ständig das Volumen ihrer Rücklagen zu erhöhen;
iv. die Tatsache, dass Handelsabkommen Gesetze außer
Kraft setzen und die Klimapolitik in eine neoliberale
Zwangsjacke stecken;
v. die Tatsache, dass sich der kapitalistische Wettbewerb
auch in den geostrategischen Rivalitäten zwischen den
Staaten ausdrückt, und zwar in einem Rahmen ungleicher
und kombinierter Entwicklung, in der es keine unangefochtene Führerschaft der ganzen kapitalistischen Welt
gibt.
d. Dies erklärt, warum die INDC kaum 20 bis 25 % von
dem darstellen, was getan werden müsste, um unter 2 °C
zu bleiben. Während die Dringlichkeit gewaltig ist,
kommt in der Lücke von 75-80 % zwischen den projizierten Auswirkungen der INDC und dem im Abkommen
enthaltenen Stabilisierungsziel die Tatsache zum Ausdruck, dass der Kapitalismus die Widersprüche, die aus
dem Konflikt zwischen seinem Bedürfnis nach Wachstum
und den Grenzen des Planeten entstehen, nur vor sich
herschieben kann, ohne sie zu lösen. Als Folge werden sich
diese Widersprüche verschärfen und zunehmend unentwirrbar werden.
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
e. In der „Bodenkrise“ des 19. Jahrhunderts wurde der
Antagonismus durch die Erfindung von chemischen
Düngemitteln umgangen, die die produktivistische
Entwicklung seit über hundert Jahren getragen haben,
trotz Abschneidens des natürlichen Nährstoffkreislaufs.
Angesichts des derzeitigen Bruchs im Kohlenstoffkreislauf
(und der schweren Störungen in anderen natürlichen
Kreisläufen) könnte man dem Antagonismus möglicherweise für einige Zeit und zu einem gewissen Grad durch
Nutzung der Kernenergie, massive Nutzung von Biotreibstoffen, Anwendung von Geo-Engineering-Technologien
(insbesondere von Technologien „negativer Emissionen“
wie „Bio-Energie mit Kohlenstoff-Abscheidung und
-Speicherung“) und Erhöhung der Absorption von
Ökosystemen ausweichen.
f. Generell ist die Steigerung der natürlichen Kohlenstoffabsorption durch die Ökosysteme der einzige Weg, CO2
aus der Atmosphäre zu entfernen, der nachhaltig aus
ökologischer Sicht und akzeptabel aus sozialer Sicht ist.
Doch unter den konkreten kapitalistischen Bedingungen,
wo jede Klimaauswirkung auf das Maß der Ströme von
„Kohlenstoffäquivalenten“ reduziert wird (sozusagen
„abstrakter Kohlenstoff“ als abstraktes Produkt menschlicher Arbeit), kann es sich nur um eine Pseudo-Lösung
handeln: Sie erfordert notwendigerweise eine beispiellose
Unterordnung/Verarmung der Ökosysteme unter die
Bedürfnisse des Kapitals und damit auch eine beispiellose
Unterordnung/Entfremdung aller menschlichen Tätigkeiten unter diese Bedürfnisse. Dieser Prozess ist bereits im
Gange, vor allem in Form der „REDD+“3 -Projekte.
Das Abkommen ist das Ergebnis einer direkten
Intervention des Großkapitals in die Politik, in
Abstimmung mit den internationalen Organisationen und
den wichtigsten Regierungen. Die Methoden der „Governance“, wie sie auf anderen Ebenen (EU, TTIP-Verhandlungen, Handelsabkommen, ...) Anwendung finden,
wurden selten in einem solchen Umfang und so deutlich
eingesetzt, um die sozialen Bewegungen auszumanövrieren. Das Abkommen ist ein Sieg für die Industrieländer,
vor allem für die Vereinigten Staaten, dank ihrer Allianz
mit dem chinesischen bürokratischen Kapitalismus.
a. Seitens der Plattformen des „grünen Kapitalismus“ wie
dem World Business Council on Sustainable Development
hat man entlang dieser Eckpunkte bei der COP21 verhandelt: ein „ehrgeiziges“ langfristiges Abkommen, aber
gestützt auf die INDC; ohne quantifizierte Verpflichtungen zur Emissionsminderung; unter Einschluss aller
Länder (oder zumindest aller großen Emittenten); alle fünf
5. Jahre überarbeitet; ohne Beschränkungen für den Seeund Luftverkehr; mit Unterstützung der internationalen
Kohlenstoffmärkte.
b. Bei der Entwicklung dieser Eckpunkte scheint die
Global Commission on the Economy and Climate unter
ihrem Co-Vorsitzenden Nicholas Stern eine wichtige
Rolle als Think Tank und Schnittstelle gespielt zu haben.
Die Berichte der Kommission sind in dem Geist verfasst,
der bereits den Stern-Bericht4 an die britische Regierung
im Jahr 2006 prägte: Der Klimawandel ist ein zu behebendes „Marktversagen“, aber wir müssen „vermeiden, zu viel
zu früh zu tun“, damit die Kosten nicht „zu bedeutend“
werden, vor allem im Verkehrs- und Transportbereich.
Diese langfristige makroökonomische Sicht hat sich
innerhalb der herrschenden Klasse gegen die andere
durchgesetzt, die den Kampf gegen den Klimawandel eher
im Hinblick auf die Haushaltskosten betrachtet.
c. Die Vorschläge der Geschäftswelt wurden den politischen Entscheidungsträgern im Rahmen des „flexiblen
Dialogs“ mit den Unternehmen kommuniziert, der auf der
COP20 von den Regierungen Perus und Frankreichs
eingerichtet worden war, und dann noch einmal beim
Business-Klimagipfel [Business & Climate Summit] am
20. Mai 2015 in Paris. In diesem Dialog haben die politischen Entscheidungsträger den Unternehmern versichert,
dass die Klimapolitik nach ihren Interessen zugeschnitten
werde.
d. Fast alle „Vorschläge“ der Unternehmer finden sich im
Abkommen und in den Entscheidungen wieder. Nur in
zwei Punkten ist die COP von den Empfehlungen der
Konzerne abgewichen:
i. das Ziel, „die Bemühungen fortzusetzen, den Temperaturanstieg auf 1,5 °C gegenüber über dem vorindustriellen
Niveau zu begrenzen, da dies die Risiken und Auswirkungen des Klimawandels deutlich reduzieren würde“. Die
Einbeziehung dieses Ziels in das Abkommen selbst (Art. 2)
ist ein Sieg für die Klimabewegung und die LDC [„Vierte
Welt“], vor allem für die kleinen Inselentwicklungsländer.
ii. die Forderung nach einem Kohlenstoffpreis (oder
mehrerer auf die Kohlenstoffmärkte abgestimmter Preise)
wurde nicht Gegenstand des Abkommens. Diese Frage
wird wohl einer der ersten Punkte auf der Tagesordnung
des „flexiblen Dialogs“ in den kommenden Monaten und
Jahren sein.
e. Die Einstimmigkeit zu diesen Vorschlägen ist letztlich
Ausdruck der verallgemeinerten Ausrichtung der Regierungen der Welt auf neoliberale Politik, insbesondere der
Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung und
Inprekorr 3/2016 47
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
jener der lateinamerikanischen Linken. Aber diese
Ausrichtung allein war nicht ausreichend für den „Erfolg“
der COP21. Das Hindernis, das zum Scheitern des
Kopenhagener Gipfels geführt hatte, musste aus dem Weg
geräumt werden: direkte Verhandlungen über die Aufteilung des Kohlenstoff budgets entsprechend der Verantwortung und Fähigkeiten der verschiedenen Länder. Das
Problem wurde durch Trennung des globalen Abkommens
von den (selbst erklärten) Verpflichtungen der Staaten (die
INDC) umgangen.
f. Unweigerlich werden Fragen der Differenzierung und
der Fähigkeiten bei regelmäßigen Überprüfungen des
Abkommens wieder auftauchen, wenn es darum geht, zu
versuchen, die Lücke zwischen ihm und den INDC zu
schließen. Doch in der Praxis entbindet das Abkommen
die Industrieländer davon, ein Beispiel zur Emissionsminderung zu geben. Dies ist ein Sieg besonders für die
Vereinigten Staaten, die jetzt als weltweit führend in der
Klimapolitik erscheinen. Durch die bilateralen Abkommen mit China vor der COP haben die USA zum einen
die EU zur Seite geschoben und zum anderen Indien
isoliert, sodass Indien die Idee akzeptieren musste, dass alle
Länder Beiträge von Anfang an leisten müssen.
g. Es versteht sich von selbst, dass der Abschluss dieses
undemokratischen Prozesses durch den von der Regierung
Hollande im Namen der Bekämpfung des Terrorismus
(Demonstrationsverbote, präventive Verhaftungen,
Grenzkontrollen usw.) verhängten Ausnahmezustand
erheblich erleichtert wurde.
Um die „Gesetze der (kapitalistischen) Ökonomie“ nicht infrage stellen zu müssen, hat die AG3
des IPCC Klimastabilisierungsszenarien unter Einbeziehung von Geo-Engineering berücksichtigt. Diese ideologische Voreingenommenheit hilft zu glauben, dass alle
Optionen offenblieben, eine gravierende Klimastörung zu
vermeiden, doch ist das nicht mehr der Fall. In Wirklichkeit kann die Obergrenze von 2 °C, wenn man nicht
schnell zu radikalen antikapitalistischen Maßnahmen
greifen will, nicht ohne Rückgriff auf „Negative Emissionstechnologien“ (NET) eingehalten werden. Diese sind
allerdings hypothetisch und potenziell gefährlich.
a. Mehr als 90 % der von der AG3 für den fünften IPCCBericht zusammengefassten „unter 2 °C“-Szenarien
beinhalten die Verwendung von NET, einschließlich
Biomassekraftwerken mit CO2-Speicherung (BECCS).
Die Möglichkeit, CO2 aus der Atmosphäre durch diese
Technologien zu entfernen, ist hypothetisch. Darüber
hinaus verbinden die BECCS die physikalischen Gefahren
6. 48 Inprekorr 3/2016
von Capture-Sequestrierung5 (insbesondere die Leckagegefahr der Tanks) mit den sozialen Gefahren einer umfassenden Konkurrenz zwischen Nahrungs- und Energiepflanzen.
b. Nach den Szenarien des IPCC ohne NET hätten die
Emissionen weltweit spätestens im Jahr 2010 ihren
Spitzenwert erreichen müssen, um eine Chance von 66 %
zu haben, unter der 2°-Grenze zu bleiben. Das Verschieben dieses Gipfelpunkts unterstreicht das Versagen der
kapitalistischen Klimapolitik seit Rio (1992). Es wurde von
den Regierungen mit Unterstützung des IPCC vor der
Öffentlichkeit verborgen. Die Szenarien mit NET
verschieben den Gipfelpunkt der Emissionen, aber diese
Verschiebung basiert auf der riskanten Wette, dass das
Überschreiten des Kohlenstoff-Budgets später im Jahrhundert durch Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre dank
der NET ausgeglichen werden könne.
c. In dem Maße, in dem die Regierungen die fünfjährlichen Überprüfungen des Abkommens nutzen wollen, um
die Lücke zwischen den INDC und dem Abkommen zu
schließen, haben sie im Rahmen des Kapitalismus keine
andere Wahl, als auf NET zurückzugreifen, vor allem auf
BECCS. Ohne diese Technologien wird es nicht möglich
sein, unter 2 °C zu bleiben, und erst recht nicht unter
1,5 °C. Die Einhaltung dieser Grenzen bleibt zwar
möglich, aber nur unter Bedingung, dass aus der produktivistischen Marktlogik ausgestiegen wird, zumindest in
bestimmten Schlüsselbereichen der Wirtschaft: Landwirtschaft, Energie und Verkehr.
d. Allerdings regen die NET den Appetit der multinationalen Konzerne auf fossile Energien sogar noch an. Diese
nutzen die wachsende Abhängigkeit der Forschung von
Unternehmen, um Untersuchungen zu finanzieren, die auf
die Möglichkeit spekulieren, durch die BECCS der
Atmosphäre eine Menge an CO2 zu entziehen, die einem
Kohlenstoff-Budget von 2 °C entspricht, was die Möglichkeit zur Ausbeutung fossiler Reserven entsprechend
verlängern würde.
e. Indem er Stabilisierungsszenarien einbezieht, die
hypothetische und potenziell gefährliche Technologien
integrieren, weicht der IPCC von Artikel 3 der UNFCCC
ab, der besagt, dass „die Parteien Vorsorgemaßnahmen
ergreifen sollen, um die Ursachen des Klimawandels zu
antizipieren, zu verhindern oder zu minimieren und seine
negativen Auswirkungen zu mindern (...), unter Berücksichtigung, dass Politik und Maßnahmen kostengünstig
sein sollten, um sicherzustellen, dass globaler Nutzen zu
niedrigstmöglichen Kosten erreicht wird“. Allerdings sind
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
die NET keine „Vorsorgemaßnahmen“ und es gibt keinen
empirischen Beweis für ihre Unschädlichkeit.
f. Artikel 3 der UNFCCC spricht deutlich von geringeren
Kosten für die Menschheit als Ganzes und meint damit
nicht nur die wirtschaftlichen Kosten für die Unternehmen, sondern auch andere Kosten (sonst hätte der Begriff
„globale Vorteile“ keinen Sinn). Allerdings erklärt die
AG3 des IPCC, Abstand von der „idealisierten Annahme“
zu nehmen, dass die Emissionsreduktionen sich „zu dem
Zeitpunkt umsetzen ließen, wo die Kosten am geringsten“
sind. Dieses Eingeständnis steht mit der durch die NET
ermöglichten Verschiebung des Gipfelpunkts der Emissionen in Einklang, die ja die Gesamtkosten erhöht. In der
Tat bedeuten die Integration von Szenarien mit NET, dass
die AG3 des IPCC davon Abstand nimmt, nach einer
Stabilisierung zu geringsten Kosten für die Menschheit zu
suchen, weil der „Realismus“ die Forscher dazu bringt,
eine Stabilisierung zu geringsten Kosten für den das
kapitalistische System dominierenden Finanz/Fossil-Komplex zu suchen. Für diese Entscheidung steht das IPCC als
Ganzes in der Verantwortung. Im selben Augenblick, in
dem die gute Wissenschaft einen Sieg über die KlimaLeugner erringt, wirft dies einen Schatten auf die Arbeit
zur Bewusstseinsbildung, die seit mehr als dreißig Jahren
von vielen hartnäckigen Forschern und vom IPCC selbst
geleistet wird.
Soziale Mobilisierungen für das Klima haben in
den letzten Jahren deutlich zugenommen. Und
dies hat die COP unter Druck gesetzt. Trotz des Inhalts
des Abkommens wird das Ergebnis von Paris neue Energien freisetzen. Die Lücke zwischen den 1,5 °C und den
INDC ist der Schwachpunkt der kapitalistischen Strategie.
Dies ist der Punkt, an dem wir handeln und eine Legitimität schaffen müssen, die zivilen Ungehorsam rechtfertigt.
Wir müssen zur Klimabewegung beitragen als einer
„weltweiten Erhebung“, als einer breiten und pluralen
Bewegung, die auf der optimistischen und bestimmten
Botschaft basiert, dass es nicht nur notwendig, sondern
möglich und legitim ist, die Einhaltung der 1,5 °C-Grenze
in Klimagerechtigkeit und ohne Zauberlehrlingstechnologien durchzusetzen.
a. Zunächst einmal könnte der „einmütige Erfolg“ der
COP Gefahr laufen, einen Teil der sozialen und Umweltorganisationen, die sich beim COP von Warschau zurückgezogen hatten und die jetzt denken, dass die Entscheidungen von Paris das Ende der fossilen Brennstoffe
einläuten würden, ins Lobbying zu treiben. Aber die
Illusionen werden von kurzer Dauer sein. Der Mechanis-
7. mus der regelmäßigen Überprüfung, der beschlossen
wurde, um zu versuchen, die Lücke zwischen den INDC
und dem Abkommen zu schließen, wird bald zeigen, dass
nichts geregelt ist und neue Gefahren entstehen. Die
Schaffung eines Kräfteverhältnisses durch Massenaktionen
ist die einzig mögliche Strategie.
b. Auf der anderen Seite müssen wir Weltuntergangsszenarien entgegentreten, die ein Teil der ökologischen
Bewegung zu entwickeln neigt. Eine unkritische Lektüre
der IPCC-Berichte löst in der Tat bei einigen die Idee aus,
dass ein Zusammenbruch der Menschheit nun unvermeidlich, jeder Kampf zwecklos und der Rückzug auf widerstandsfähige Gemeinschaften die einzige Lösung sei.
c. Die Termine für die regelmäßige Überprüfung des
Abkommens und die des „flexiblen Dialogs“ mit den
Unternehmen sind Gelegenheit für Mobilisierungen, die
genutzt werden müssen, um den Einfluss der Unternehmen auf die Klimapolitik anzuprangern und maximalen
Druck auf Entscheidungsträger auszuüben, durch Straßendemonstrationen oder jede andere Art von Massenaktion,
die alle Bestandteile der Bewegung zusammenführt.
d. Gleichzeitig ist es wichtig, dass sich die Bewegung nicht
auf diese Agenda beschränken lässt und eigene lokale
Aktivitäten nach eigenem Zeitplan entwickelt und
koordiniert. In diesem Rahmen spielt die Blockade von
Großprojekten zur Nutzung von fossilen Brennstoffen,
Extraktivismus6 , gefährlichen Technologien und solchen
der Kohlenstoffkompensation (REDD+) eine strategische
Rolle. Diese Kämpfe beinhalten oft ein hohes Maß an
Konfrontation mit den Repressionskräften. Sie müssen
weltweit unterstützt und bekannt gemacht werden. Die
Verteidigung des Klimas ermöglicht es, sie zusammenzuführen.
e. Indigene Völker leisten einen wichtigen Beitrag zur
Klimabewegung, nicht nur wegen ihrer Rolle bei der
Blockierung großer Abbau- und Wald-Kompensationsprojekte, sondern auch weil ihre Weltanschauung dazu
einlädt, eine Vorstellung von den Beziehungen zwischen
Gesellschaft und Natur unter Anerkennung des Gleichgewichts der Austauschprozesse als Alternative zur Ideologie
des kapitalistischen Raubbaus (Extraktion-ProduktionKonsumtion-Abfall) neu zu entwickeln.
f. Die Bauernbewegung ist ein entscheidender Bestandteil
der Klimabewegung, weil sie aus Produzenten – und vor
allem Produzentinnen – besteht, die die Fähigkeit haben,
sofort ganz praktisch zu einer nachhaltigen Produktion
überzugehen. Dies erlaubt Ernährungssouveränität,
qualitativ hochwertige Lebensmittelversorgung, BekämpInprekorr 3/2016 49
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
fung der Frauenarmut, Kohlenstoffspeicherung in Böden,
Förderung der Artenvielfalt und den Stopp chemischer
Vergiftung der Biosphäre. In jedem Fall wird es notwendig
sein, bis zum Ende des Jahrhunderts CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, und eine ökologische Landwirtschaft
ist der einzige Weg, dies sicher und in sozialer Gerechtigkeit zu erreichen. Es ist sehr wichtig, sich an Initiativen zu
beteiligen, die die Entwicklung dieser Art von Landwirtschaft unterstützen, einschließlich selbstorganisierter
alternativer Netzwerke, die die großen kapitalistischen
Handelsketten umgehen.
g. Das Ziel der Klimagerechtigkeit ist die Achse, um alle
Teile der Klimabewegung zusammenzuführen. Es geht
nicht nur um Unterschiede in der Verantwortung und den
Fähigkeiten zwischen Nord und Süd, sondern ganz
allgemein um die Klassenfrage in jedem einzelnen Land.
Die Hauptverantwortlichen für die Katastrophe müssen
identifiziert und bestraft werden. Diese Verantwortlichen
sind multinationale Unternehmen des Finanz/FossilKomplexes in dessen Zentrum sich Energieunternehmen
befinden und die Finanzgruppen, die auch das Agrobusiness finanzieren. Klimagerechtigkeit verlangt, dass diese
Verantwortlichen, egal ob aus dem Norden oder Süden,
die Kosten für die Anpassungs-, Minderungs- und
Ersatzmaßnahmen sowie für Verluste und Schäden zu
bezahlen haben. In letzter Instanz erfordert dies ihre
Enteignung zum Nutzen der Gemeinschaft. Innerhalb der
Bewegung muss die Anklage dieser Gruppen für ihre
Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Umwelt
akzentuiert werden und Kampagnen, die zu ihrer Diskreditierung beitragen (insbesondere die Bewegung für
Desinvestition) sollten unterstützt werden.
Die Arbeiterbewegung steht beim Kampf für das
Klima insgesamt abseits. Die Gewerkschaftsführungen sind sich meist der Gefahren durch den Klimawandel bewusst und tragen dazu bei, das Bewusstsein ihrer
Mitglieder darüber zu schärfen. Aber diese Führungen
glauben mehrheitlich auch an die massive Schaffung
grüner Arbeitsplätze durch eine Strategie der Zusammenarbeit für einen kapitalistischen Übergang im Austausch
für gerechte soziale Bedingungen. Dieser Weg ist weder
sozial noch ökologisch vertretbar. Die Klimabewegung
muss ihre Zusammenarbeit und Diskussion Intensivieren,
vor allem mit den Sektoren der Gewerkschaftsbewegung,
die eine alternative, sowohl soziale als auch ökologische
Strategie verteidigen und an Mobilisierungen teilnehmen.
a. Die Resolution „Klima“ des 2. IGB-Kongresses
(Vancouver, 2010) schreibt den Klimawandel nicht dem
8. 50 Inprekorr 3/2016
Kapitalismus zu, sondern einem „Modell“, das die „Schaffung von Wohlstand von Umweltzerstörung abhängig
macht und eine inakzeptable Ungleichheit erzeugt.“ Der
IGB setzt sich für einen gerechten Übergang ein und
fordert ein internationales Abkommen, dass „gerecht,
ehrgeizig und verbindlich“ (...) ist und „die Lebensbedingungen der Menschen verbessert, ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu gefährden oder die öffentlichen Haushalte übermäßig zu belasten.“ Doch ein
„gerechter Übergang“, der „die Wettbewerbsfähigkeit der
Wirtschaft“ (einschließlich der Wettbewerbsfähigkeit des
fossilen Kapitals!) verteidigt, lässt sich nicht mit der
Forderung nach Klimagerechtigkeit vereinbaren.
b. Im „Green Jobs Report“, der gemeinsam mit ILO, IOE
und UNEP7 erstellt wurde, zeigt der IGB Möglichkeiten
zur Schaffung grüner Arbeitsplätze auf. Allerdings werden
dabei auch Arbeitsplätze mitgerechnet, die durch „Lösungen“ des grünen Kapitalismus entstehen, wie Biokraftstoffe, Abscheidung und Einlagerung von CO2, Wald-Kompensationsprojekte (REDD und REDD+),
Pseudo-Zertifizierung von Waldprodukten und Fischerei,
industrielle Baumpflanzungen in Monokulturen usw. Der
Report sagt nichts über die Definition von „grünen
Arbeitsplätzen“, was zu dem Schluss führt, dass Arbeitsplätze in Atomkraft und Großwasserkraft auch „grüne
Arbeitsplätze“ sind.
c. Die IGB-Führung verbindet Illusionen in grünen
Kapitalismus mit Illusionen in die Klassenzusammenarbeit.
Umwelt-Grenelle (Frankreich), Green Economy Accord
(Südafrika) und Climate Strategy (Brasilien) werden als
Beispiele für „gewerkschaftliche Beteiligung am nationalen Dialog“ für einen gerechten Übergang zitiert. Auf
internationaler Ebene ist die IGB-Generalsekretärin eines
von 24 Mitgliedern der Weltkommission für Wirtschaft
und Klima. Sie begrüßte die Tatsache, dass der „gerechte
Übergang“ in dem Bericht dieser Kommission erwähnt
wurde. Tatsächlich ist diese Aussage rein formal (wie in der
Präambel des Abkommens von Paris). Sie dient nur dazu,
die Gewerkschaftsbewegung in die kapitalistische Klimapolitik einzubinden.
d. Einige Strömungen der Arbeiterbewegung entwickeln
eine andere, sowohl soziale als auch ökologische, sogar
antikapitalistische Strategie. Dies ist der Fall bei der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF). Für die ITF
ist die Klimakrise „systemisch“ und nicht das Produkt eines
fehlerhaften „Modells“: „Der Anstieg der Emissionen und
der Klimawandel sind die Symptome einer tiefen Disharmonie zwischen der Dynamik des globalen Kapitalismus
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
und unseren fragilen Ökosystemen.“ Die ITF beteiligt sich
am Zusammenschluss „Gewerkschaften für Energiedemokratie“ (Trade Unions for Energy Democracy), der den
Gedanken verteidigt, dass der Kampf gegen den Klimawandel einen „Transfer von Ressourcen, Kapital und
Infrastruktur von privaten Händen zu öffentlichen Einrichtungen erfordern wird. Er wird auch erfordern, dass die
bestehenden öffentlichen Einrichtungen, die sich heute wie
private oder ‚staatskapitalistische‘ Unternehmen verhalten,
in einer Weise neu orientiert werden, dass sie die Energiekrise angehen können.“
e. Diese und andere Positionen müssen in Basisaktionen
umgesetzt werden, die die arbeitenden Menschen gemeinsam in konkreten Kämpfen für Forderungen einbeziehen,
die soziale Bedürfnisse erfüllen und gleichzeitig den
Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren. Die Kampagnen
„Eine Million Klima-Arbeitsplätze“ in Großbritannien
und in Südafrika sind dafür gute Beispiele, wie auch die
Teilnahme vieler Gewerkschaften am Kampf gegen die
Keystone-XL-Pipeline in den Vereinigten Staaten.
f. Überall sind Arbeiterinnen und Arbeiter als Individuen
aktiv und viele in Umweltkämpfen, die für sie offensichtlich auch soziale Kämpfe sind. In den kommenden Jahren
wird es von zunehmender strategischer Bedeutung sein,
dass eine solche Beteiligung auch von ihren Organisationen getragen wird und somit einen Klassencharakter
annimmt. Es ist unverzichtbar, die Glaubwürdigkeit der
ökosozialistischen Alternative zum Kapitalismus zu
stärken, diesem absurden System, das „die beiden einzigen
Quellen allen Reichtums erschöpft: Land und Arbeit“.
Übersetzung und Fußnoten: Björn Mertens
„
1 Die 21. UN-Klimakonferenz fand vom 30. November bis
12. Dezember 2015 in Paris statt.
2 Klimaschutz-Zusagen der Länder ( Intended Nationally
Determined Contributions)
3 REDD: Reduzierung von Emissionen aus Entwaldung und
Waldschädigung; REDD+: zusätzlich Nutzung von Wäldern
in Entwicklungsländern als Kohlenstoffspeicher
4 Siehe Inprekorr Nr. 428/429 (Juli/August 2007), S. 4
5 Kohlendioxidabtrennung und –speicherung (CCS)
6 Abbau von Bodenschätzen für den Export
7 ILO: Internationale Arbeitsorganisation, IOE: Internationaler Arbeitgeberverband, UNEP: Umweltprogramm der
Vereinten Nationen
KAPITALISMUS,
ARBEIT UND
NATUR: DEN
TEUFELSKREIS
DURCHBRECHEN
„Die Welt besitzt den Traum von einer Sache,
von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss,
um sie wirklich zu besitzen.“ (Karl Marx, Brief an
Arnold Ruge) Daniel Tanuro
Der Kapitalismus lässt sich aus verschiedener Sicht definieren. Aus dem Blickwinkel der Ausgebeuteten handelt es
sich um ein System, in dem die natürlichen Ressourcen der
Erde von einer Minderheit monopolisiert werden. Auch
die anderen Produktionsmittel befinden sich im Besitz
dieser Minderheit. Um zu überleben, bleibt der Mehrheit
nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen –
im Grunde genommen muss sie sich selbst verkaufen. Die
Mehrheit hängt somit vollständig von den Besitzenden ab
und ist von der eigenen Existenzsicherung entfremdet, was
letztlich eine Entfremdung vom Menschsein bedeutet. Die
Besitzenden kaufen die Arbeitskraft – oder auch nicht – für
eine gewisse Zeit und zahlen dafür einen Lohn. Scheinbar
ein gerechtes Geschäft … außer dass der Wert der Arbeitskraft (der Lohn) tiefer angesetzt wird als der Wert der
geleisteten Arbeit. Die Differenz macht den Profit. Noch
nie zuvor wurde die Arbeit so wirksam ausgebeutet.
Insbesondere lässt sich auf diese Art mehr Profit erzielen als
mit Leibeigenschaft und Sklaverei, zwei Produktionsweisen, bei denen die Ausbeutung transparent und offen
sichtbar war.
Aus Sicht des gesellschaftlichen Reichtums definiert
sich der Kapitalismus als allgemeine Produktion von
Gütern, die dazu dienen, immer mehr menschliche
Bedürfnisse in immer größerem Umfang zu erfüllen.
Dabei ändert es nichts an der Sache, ob diese Bedürfnisse
echt sind oder nicht, „ob sie dem Magen oder der Fantasie
entspringen“, ob sie vom Kapital geschaffen werden oder
Inprekorr 3/2016 51
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
nicht, um dem Produktivismus Absatzmärkte zu liefern.
Die enorme Anhäufung von Produktions- und Konsumgütern, durch die sich dieses System auszeichnet, ist
historisch ebenfalls einzigartig. Ihr Antrieb ist die Konkurrenz um Profit. Denn jedem Kapitaleigentümer droht
das wirtschaftliche Aus, wenn er nicht ständig versucht,
die Produktivität der ausgebeuteten Arbeit zu steigern, das
heißt, die ArbeiterInnen durch Maschinen zu ersetzen.
Seit der Erfindung der Dampfmaschine durch James
Watt hat sich die Dynamik von Mechanisierung und
Akkumulierung unaufhörlich verstärkt. Das kann auch gar
nicht anders sein, denn jeder Fortschritt in der Mechanisierung verkleinert den Anteil der menschlichen Arbeit,
das heißt die Menge des geschaffenen Werts, also die
Profitrate. Es ist ein Hauptwiderspruch des Kapitalismus,
dass sich der tendenzielle Fall der Profitrate nur dadurch
kompensieren lässt, dass die Profitmenge vergrößert wird.
Dies geschieht einerseits durch die Steigerung der Produktion und andererseits durch die Steigerung der Ausbeutungsrate – der unbezahlten Arbeit. So bewegt sich das
System unweigerlich in Richtung Sozialabbau und
Umweltzerstörung.
Der Kapitalismus als Hors-sol-System
Aufgrund seiner Wachstumslogik lässt sich der Kapitalismus auch aus Sicht der Naturbeziehung definieren.
Frühere Gesellschaften stützten sich noch unmittelbar auf
die Produktivität der Natur. Wenn sie die ökologischen
Grenzen überschritten, konnte dies nur von kurzer Dauer
sein und kam sie teuer zu stehen. Erst die Entwicklung
neuer Kenntnisse und landwirtschaftlicher Techniken
erlaubte es, die Grenzen auszuweiten (zum Beispiel die
Entdeckung, dass sich Leguminosen als „Gründüngung“
eignen, weil sie den Stickstoff aus der Luft im Boden
binden). Beim Kapitalismus verhält es sich anders. Dank
der Industrie und Technologie (angewandte Wissenschaft
für die Produktion) kann er die Grenzen künstlich
verschieben, indem er natürliche Stoffe durch chemische
Produkte ersetzt.
Der Kapitalismus tendiert sozusagen dazu, sich „horssol“ zu entwickeln. Ein gutes Beispiel dafür ist die Zerstörung der Nährstoffkreisläufe im Zuge der kapitalistischen
Urbanisierung im 19. Jahrhundert. Die daraus resultierende Abnahme der Bodenfruchtbarkeit konnte durch die
Erfindung synthetischer Düngemittel kompensiert
werden. Das funktioniert auch heute noch. Gleichzeitig ist
aber auch klar, dass diese Hors-sol-Entwicklung nicht
unbegrenzt weitergehen kann. Früher oder später wird das
52 Inprekorr 3/2016
System von den Gegensätzen zwischen seiner Wachstumsbulimie und der Endlichkeit der Ressourcen eingeholt
werden. Der Schock wird groß sein, denn die Probleme
nehmen durch das Aufschieben und Verdrängen laufend
zu. Schwieriger, als Maßnahmen gegen die Erschöpfung
der Böden einzuleiten, ist es, einen kapitalistischen
Ausweg aus der globalen Erwärmung zu finden. Die Lage
ist äußerst kritisch: Infolge des langen Zuwartens genügt es
heute nicht mehr, den Ausstoß an Treibhausgasen zu
reduzieren, um die Klimakatastrophe abzuwenden.
Zusätzlich müssen wir der Atmosphäre nun auch Kohlendioxid entziehen. Daraus zu schließen, dass der Kapitalismus zusammenbricht, wäre jedoch vorschnell. Im Gegenteil, es droht ein barbarischer Kapitalismus.
Wenn wir die drei beschriebenen Sichtweisen kombinieren, können wir die schwierige Aufgabe, vor der die
ökologischen Kämpfe stehen, anpacken. Natürlich sind
diese Kämpfe per Definition sozial: Die Ausgebeuteten
und Unterdrückten leiden am stärksten unter der Umweltzerstörung, also jene, die dafür am wenigsten verantwortlich sind. Die Klimakatastrophe bedroht die Existenz von
Hunderten Millionen Menschen. Viele sind sich dessen
bewusst und werden aktiv. Allerdings engagieren sich die
sozialen Gruppen in unterschiedlichem Umfang: Stark
beteiligt sind Bauern und Bäuerinnen und indigene
Völker, auch Frauen sind besonders aktiv; die ArbeitnehmerInnen jedoch halten sich generell zurück.
Die Arbeitswelt als strategische Aufgabe
Die Zurückhaltung der ArbeitnehmerInnen ist ein großes
Handicap: Eigentlich könnten sie die kapitalistische
Zerstörungsmaschine lahmlegen und der Menschheit und
Natur damit einen riesigen Dienst erweisen –doch die
Arbeiterklasse scheint durch ihre Stellung und ihren
Dienst an der Maschine wie gelähmt! Die Erklärung dafür
ist einfach: Die ArbeitnehmerInnen hängen existenziell
von ihrem Lohn ab, der Lohn hängt von der Beschäftigung
durch das Kapital ab und die Beschäftigung durch das
Kapital hängt vom Wachstum ab. Fehlt das Wachstum,
verstärkt die Mechanisierung die Erwerbslosigkeit, die
Kräfteverhältnisse verschlechtern sich und die Gewerkschaften können die Löhne oder die soziale Sicherheit
immer weniger gut verteidigen. Genau an diesem Punkt
befinden wir uns heute: Die Gewerkschaften sind in der
Defensive, geschwächt durch hohe Arbeitslosigkeit und
Globalisierung.
Während die Bauern und Bäuerinnen ihre Produktionsmittel ganz oder teilweise besitzen und die indigenen
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
Völker ihre Existenz durch die direkte Verbindung mit der
Natur sichern, fehlen den ArbeitnehmerInnen die entsprechenden Möglichkeiten. Doch daraus abzuleiten, dass sie
im Dienste des Produktivismus stehen, ist zu einfach und
völlig unangebracht. Natürlich konsumieren sie, und die
Bestgestellten unter ihnen konsumieren in einem Maße,
das ökologisch nicht vertretbar ist. Aber ist das ihre Schuld?
Ist die ungebremste Konsumwut nicht vielmehr ein
Produkt der Geldillusion, die alles für alle erreichbar
scheinen lässt? Dient übermäßiger Konsum nicht eher
dazu, die verarmten menschlichen Beziehungen in dieser
merkantilen Gesellschaft zu kompensieren? Viele ArbeitnehmerInnen sind sich der Umweltproblematik bewusst
und machen sich Sorgen über die ökologischen Gefahren,
die ihnen und ihren Kindern drohen. Viele wünschen eine
Veränderung, die es ihnen erlaubt, gut zu leben und der
Umwelt Sorge zu tragen. Die Frage lautet: Was ist zu tun
und wie ist es zu tun?
In einer zunehmend verstädterten Welt können wir
den ökologischen Kampf nur gemeinsam gewinnen.
Deshalb ist es von strategischer Bedeutung, die Arbeitswelt
bei der Beantwortung dieser Frage zu unterstützen. Es
geht nicht nur darum, dass sich die ArbeiterInnen an den
ökologischen Mobilisierungen beteiligen, sondern sie
müssen als ProduzentInnen kollektiv präsent sein. Nur so
kann ihre Beteiligung die volle Wirkung entfalten.
Außerdem müssen sie sich in ihrer Eigenschaft als ProduzentInnen in den Fabriken, Büros und an den anderen
Arbeitsplätzen um die ökologische Frage kümmern. So
wie es LandwirtInnen und indigene Völker tun. Möglich
ist dies nur im Rahmen einer Strategie, die die ökologischen und sozialen Kämpfe vereint und zu ein und
demselben Kampf macht. Dies erfordert: 1. ein richtiges
Verständnis der zerstörerischen Kraft des Kapitalismus,
2. die Vorstellung einer anderen, nämlich ökosozialistischen Gesellschaft und 3. ein Programm und Forderungen, die Lösungen zu ökologischen und sozialen Fragen
liefern, sodass jeder und jede würdig leben und sich für die
Gemeinschaft nützlich machen kann.
Kompromiss mit dem grünen Kapitalismus?
Abgesehen von einigen Ausnahmen hat die Gewerkschaftsbewegung begriffen, dass sie sich mit der Umweltfrage befassen muss. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) unternimmt Anstrengungen, um das
entsprechende Bewusstsein zu fördern. Auf seinem
zweiten Weltkongress (Vancouver 2010) verabschiedete er
eine Resolution zum Klimawandel. Dieser Text bekräftigt,
dass der Kampf gegen die globale Erwärmung eine
gewerkschaftliche Frage ist und dass es ein internationales
Abkommen zur Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels braucht.
Außerdem vertritt er das Prinzip der gemeinsamen, aber
für Nord und Süd differenzierten Verantwortung, pocht
auf die Rechte der Frauen und fordert einen „gerechten
Übergang“ im Bereich der Arbeit …
Der Umgang mit der Frage der Arbeit ist allerdings
zweideutig. Da der IGB glaubt, der grüne Kapitalismus
werde für Wachstum und „grüne Arbeitsplätze“ sorgen,
ist er bereit, am Übergang mitzuarbeiten – vorausgesetzt,
dass die Rechnung für die Arbeitswelt nicht zu hoch
ausfällt und den Sektoren, die in der Kritik stehen, eine
Umorientierung angeboten wird. Allerdings betrachtet
der IGB auch Arbeitsbereiche als „grün“, die es überhaupt
nicht sind: CO2-Abscheidung und -Speicherung,
Vertrieb von „Label“-Produkten aus „nachhaltiger“
Waldwirtschaft und Fischerei (betrügerische Labels),
Mechanismen zur Kompensation von Emissionen
mithilfe der Wälder (REDD+), Baumpflanzungen in
Monokulturen und CO2-arme Energieformen (inklusive
Kernenergie?).
Ein Ausdruck dieser zweideutigen Haltung ist, dass die
Resolution von Vancouver fordert, der „gerechte Übergang“ dürfe die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen
nicht gefährden. Damit ist klar: Der IGB glaubt, das Klima
könne gerettet werden, ohne die produktivistische Logik
infrage zu stellen. Schlimmer noch: Zur Bekämpfung der
Erwerbslosigkeit sieht er kein anderes Mittel als Wachstum. Das geht so weit, dass die IGB-Generalsekretärin
Mitglied der „Global Commission on the Economy and
Climate“ ist, einem einflussreichen Organ, das von
Nicholas Stern mitgeleitet wird. Der Bericht dieser
Kommission („Better Growth, Better Climate“) listet
neoliberale Maßnahmen auf, mit denen nur knapp über
50 Prozent der Emissionsminderungen erreicht werden,
die für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels nötig wären.
Immerhin ist Stern kohärent: Um „zu hohe Kosten“ zu
vermeiden, plädierte sein Bericht von 2006 für eine
Stabilisierung des Klimas auf 550 ppm CO2-eq – was einer
Erwärmung von mehr als drei Grad im Zeitraum von
heute bis Ende Jahrhundert entspricht. Der IGB ist nicht so
kohärent.
Lässt sich die Gewerkschaftsbewegung ins Schlepptau
des Kapitalismus nehmen, riskiert sie, zur Komplizin
weitreichender Klimaverbrechen zu werden, deren Opfer
die Armen sind. Wir müssen einen anderen Weg einschlagen. In welche Richtung er führt, zeigen uns die Betriebe,
Inprekorr 3/2016 53
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
die in Argentinien oder anderswo von den ArbeiterInnen
übernommen wurden. Bei den Firmen RimaFlow
(Mailand) oder Fralib (Marseille) kämpfen die ArbeiterInnen gegen die drohende Erwerbslosigkeit und versuchen
nun, unter Berücksichtigung ökologischer Anliegen für
die sozialen Bedürfnisse zu produzieren. Weitere Elemente
einer Alternative finden sich in den Stellungnahmen des
Netzwerks „Trade Unions for Energy Democracy“
(TUED), das sich dafür einsetzt, den Energiesektor in die
öffentliche Hand zu überführen.
Angesichts des Kapitalismus in der Krise und des
Klimaproblems ist es illusorisch zu hoffen, die Arbeitslosigkeit könne durch einen Kompromiss mit dem „Wachstum“ überwunden werden. Im Gegenteil, die einzige
kohärente Strategie, um Ökologie und Soziales in Einklang zu bringen, besteht darin, den Produktivismus – also
den Kapitalismus – radikal infrage zu stellen. Wir müssen
Neues wagen. Vier Punkte stehen dabei im Vordergrund:
die Zusammenarbeit mit den Bauern und Bäuerinnen
gegen das Agrobusiness und die großen Handelsketten, die
Enteignung des Finanzsektors (der mit dem Energiesektor
stark verflochten ist), die Entwicklung des öffentlichen
Sektors (Verkehrsbetriebe, Gebäudeisolierung, Pflege der
Ökosysteme …) sowie eine radikale Arbeitszeitverkürzung
(Halbtagsarbeit), ohne Lohneinbußen, mit Neueinstellungen und Taktreduzierung.
Jenseits der unzähligen Flachbildschirme und Smartphones, der Hightech-Autos und All-inclusive-Ferien,
jenseits dieser Spielereien, mit denen man die Beschäftigten von ihrer Ausbeutung ablenkt, wissen die ArbeiterInnen im Grunde genommen genau, dass ihr wirkliches
Interesse, nämlich ihre Zukunft und die ihrer Kinder,
nicht darin besteht, die zerstörerische Spirale des Kapitals
am Laufen zu halten, sondern sie zu durchbrechen. Nur die
soziale Praxis kann dieses diffuse Gefühl in Bewusstsein
und Organisation umwandeln. Auf zur Tat!
(24. Februar 2016. Ursprünglich wurde dieser Artikel für die
Zeitschrift des von Eric Toussaint mitgegründeten Netzwerks
CADTM verfasst. Leider publizierte die Zeitschrift den Beitrag
von Daniel Tanuro nicht.)
Übersetzung: Alena Wehrli
„
54 Inprekorr 3/2016
VON MÜCKEN
UND MENSCHEN
– DIE SOZIALE
GENESIS DES
ZIKA-VIRUS
Am 1. Februar 2016 hat die WHO aufgrund
des akuten Ausbruchs von NeugeborenenMikrozephalie in Brasilien den „globalen
Gesundheitsnotstand“ ausgerufen. Wie erst
kürzlich bei Ebola geschehen, dürfte auch dies
dafür sorgen, dass wieder Milliarden öffentlicher
Gelder in die Entwicklung fragwürdiger
Medikamente fließen. Dabei ist die Beweislage
für die (Allein-) Schuld des Zika-Virus mehr als
mager. Jean Batou
Im Allgemeinen bleibt eine Infektion mit dem Zika-Virus
beschwerdefrei und in einem von fünf Fällen entwickeln
sich leichte Grippesymptome. Nur in Ausnahmefällen
kommt es zu einer schweren Autoimmunreaktion, dem
sog. Guillain-Barré-Syndrom. Ernster jedoch scheinen die
Folgen für schwangere Frauen zu sein, deren Neugeborene
mitunter an Mikrozephalie und manchmal auch Blindheit
leiden. Trotz alledem ist der monokausale Zusammenhang
zwischen diesen Missbildungen und dem Zika-Virus
keinesfalls absolut gesichert.
Gestörtes ökologisches Gleichgewicht
Erstmals wurde dieser Virus 1947 in Uganda identifiziert,
das damals englische Kolonie war, weswegen er auch den
Namen eines dortigen Waldes trägt. Damals wurde er von
einer in den tropischen Wäldern vorkommenden Stechmücke, Aedes Africanus, übertragen, deren nächste Artverwandte Aedes Aegypti und Aedes albopictus (Tigermücke)
sich in Gebieten vermehren, die von Monokultur und
Bergbau entwaldet worden sind, manchmal jedoch auch in
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
angrenzenden urbanen Siedlungen, wo sie den Keim in
gleicher Weise übertragen.
Doch während in dem komplexen Ökosystem eines
Waldes eine große Anzahl pathogener Substanzen im
Gleichgewicht mit ihrem Wirtsorganismus leben, ändert
sich dies grundlegend, sobald sie in ein Milieu gelangen,
das infolge von Profitgier in Zeiten der kapitalistischen
Globalisierung aus dem Gleichgewicht gebracht worden
ist. Nunmehr werden sie von Vektoren getragen, die
üblicherweise in engem Kontakt mit Menschensiedlungen
leben.
Infolge der allerorts fortschreitenden Entwaldung, der
Zunahme exportbestimmter Monokulturen und der
galoppierenden Verstädterung der südlichen Halbkugel ist
der Zika-Virus zunächst nach Südostasien gelangt,
anschließend nach Französisch- Polynesien und dann nach
Kolumbien (2014) und Brasilien (2015), wo sein Epizentrum im Westen des Bundesstaates Bahia mit der aktuellen
Ausdehnungsgrenze der neoliberalen Expansion übereinstimmt.
In diesem Gebiet wurden Millionen Hektar in Farmen
umgewandelt und für künstlich bewässerte Monokulturen
von Soja, Baumwolle, Mais, Kaffee, Obstplantagen etc. zu
Exportzwecken bestimmt. Diese ökologischen Verwerfungen haben in der Folge dann zu einer Invasion von
anthropophilen Stechmücken geführt, die eine Vorliebe
für menschliches Blut haben, etwa der Aedes albopictus, der
Aedes Egypti oder anderer Arten, die diesen Virus bewirten.
Zika und Mikrozephalie
Was die Epidemiologie angeht, gibt es im Moment nur
eine Gewissheit, nämlich dass die austeritätsfixierte
Wirtschaftspolitik zur endemischen Verelendung ganzer
Regionen geführt hat und die bestehenden und selbst
rudimentären öffentlichen Versorgungs- und Sozialleistungen in den Bereichen Ernährung, Wasser- und Abwasserversorgung, Wohnungs- und Gesundheitswesen etc.
zugrunde gerichtet hat. Insofern ist diese Politik für die
wachsende Anfälligkeit der ärmsten Bevölkerungsschichten gegenüber den Erkrankungen verantwortlich, die
gerade von Stechmücken übertragen werden.
Zika ist aber deswegen über Nacht in den Mittelpunkt des weltweiten Interesses gerückt und hat gar die
WHO dazu veranlasst, einen globalen Gesundheitsnotstand auszurufen, weil der Virus unter starkem Verdacht
steht, eine Epidemie mit Mikrozephalie unter den
Neugeborenen in Brasilien, wo bisher über anderthalb
Millionen Menschen infiziert worden sind, hervorgerufen zu haben.
Warum aber wurden derlei Missbildungen nicht auch
in Kolumbien festgestellt, wo ebenfalls 2000 schwangere
Frauen infiziert worden sind? Und warum sind die ersten
Fälle von Mikrozephalie gehäuft im Nordosten aufgetreten, noch bevor der Ausbruch der Virusinfektion nachgewiesen wurde. Hängt dies vielleicht damit zusammen, dass
– nach den Angaben von zwei Ärzteverbänden in Argentinien und Brasilien – diese Missbildungen Regionen
betroffen haben, in denen ein Pestizid, das die Stechmückenlarven abtötet, systematisch in die Trinkwasserversorgung gemischt worden ist?
Insofern drängt sich geradezu der Gedanke auf, dass
diese gegenwärtige Mikrozephalie-Epidemie zumindest
teilweise durch eine chemische Substanz hervorgerufen
worden ist, die von einem japanischen Partnerunternehmen von Monsanto hergestellt wird: dem Pyriproxyfen
von Suminoto Chemical. Diese Substanz wurde nämlich
in die Trinkwassernetze bestimmter Regionen des Landes
beigemischt, besonders im Nordosten, wo ca. 1500 Fälle
von Mikrozephalie aufgetreten sind, und zwar auf Geheiß
der WHO, die damit die für das Dengue-Fieber verantwortlichen Stechmücken bekämpfen wollten.
Durch die Dürreperiode und die folgende Wasserrationierung (Juli bis Dezember 2015) konnte eine anomal
hohe Konzentration dieser chemischen Substanz im
Trinkwasser entstehen, was erklären würde, warum gerade
zwischen Oktober 2015 und Januar 2016 eine derart hohe
Zahl dieser kongenitalen [bei der Geburt mitgebrachten]
Missbildungen aufgetreten ist. Man muss jedoch hinzufügen, dass diese Hypothese bisher nicht durch weiterreichende Studien untermauert werden konnte.
Eine Goldgrube für die Pharmakonzerne
Auf alle Fälle ist die Vorbeugung gegen den Zika-Virus ein
gefundenes Fressen für die Pharmaforschung, besonders
nachdem die WHO sich der Sache so spektakulär angenommen hat. Die Pharmakonzerne laufen jetzt derart um
die Wette, um einen Impfstoff zu entdecken, zu testen und
großtechnisch zu produzieren, dass sogar Barack Obama
beim US-Kongress 1,6 Mrd. Dollar angefordert hat, um
die US-Forschung zu unterstützen und diesen Absatzmarkt zu erobern. Ein angenehmer Nebeneffekt davon
wäre, dass dadurch das Prestige der USA in Lateinamerika
sich wieder aufpolieren ließe und ihre Präsenz vor Ort
unterstrichen werden könnte, zumal sich die „progressiven“ Regierungen dort gerade im Abwind befinden.
Inprekorr 3/2016 55
D O S S I E R : Ö KO LO G I E
Daneben arbeiten die Zauberlehrlinge auch an der
Entwicklung genetisch veränderter Stechmücken, die den
momentanen Hauptüberträger bestimmter Viruserkrankungen (Gelbfieber, West-Nil-Fieber, Dengue-Fieber,
Chikungunyafieber, Zika etc.), nämlich Aedes Aegypti,
auslöschen und verdrängen soll. Damit befasst ist der
Konzern Oxitec, der solche Experimente mit genetisch
veränderten Mücken auf den Kaiman-Inseln, in Malaysia,
Panama und Brasilien (besonders im Nordosten) durchführt, während die europäischen Behörden hierzulande
solche Versuche wegen damit verbundener Risiken
abgelehnt haben.
Nach Ansicht der NGO GeneWatch neigen diese
gentechnisch veränderten Mücken dazu Aedes Aegypti bloß
in angrenzende Regionen zu verjagen und so die Vermehrung anderer und viel schwerer auszurottender Überträger,
wie Aedes Albopictus zu befördern. Daran soll es nicht
scheitern, denn die Forschung auf dem Gebiet gentechnisch veränderter Mücken greift auch auf noch ausgefeiltere und gruseligere Techniken zurück, die auf dem Prinzip
des Gene-Drive (Genflug) beruhen, was besagt, dass durch
die genetische Manipulation einiger Mitglieder einer
Population diese Mutation auf die Gesamtheit übertragen
werden kann.
Mit solchen Eingriffen könnte bspw. eine Art sterilisiert und somit nach einigen Generationszyklen ausgerottet werden. Ebenso könnte – und warum nicht? – ein
Insekt in eine biologische Kriegswaffe umgewandelt
werden. Obwohl sie von vielen Wissenschaftlern als
extrem gefährlich eingestuft werden, haben diese Technologien wieder Rückenwind, gerade jetzt, wo die ZikaEpidemie derart dramatisiert wird.
Klimawandel und pathogene Substanzen
Egal ob die Mikrozephalie-Epidemie in Brasilien direkt
durch Zika verursacht wird oder durch die außergewöhnlich hohe Konzentration eines Pestizids im Trinkwasser
oder durch eine kombinierte Wirkung noch unbekannter
Faktoren – viel grundlegender sind dafür die sozialen und
ökologischen Verwerfungen im Zuge der neoliberalen
Globalisierung. Zur selben Zeit nämlich gibt es viele
andere Überträgermücken, die ihren Aktionsradius
ständig über den Rest der Welt erweitern.
Sind sie in Afrika, Asien und Lateinamerika weit
verbreitet, so erreichen sie inzwischen allmählich Europa
und Nordamerika, was wohl Pate dafür steht, dass dieses
neue Risiko so breite Beachtung in den Medien findet.
Was aber sind die Gründe für diese starke Ausbreitung?
56 Inprekorr 3/2016
Zum einen liegt es sicherlich an der raschen Zunahme des
Flugaufkommens, zum anderen jedoch und vorwiegend
an der globalen Klimaerwärmung.
Um bei dem Beispiel der Stechmücken zu bleiben:
Diese ernähren sich im Allgemeinen von Blütenstaub und
brauchen zusätzlich Eiweiß aus dem menschlichen Blut
nur dann, wenn sie als Weibchen ihre Eier tragen. Durch
die Wärme wird wiederum der Reproduktionszyklus
beschleunigt und auch die Inkubationsdauer des Virus im
Wirtsorganismus (Mücke), so dass es bereits früher durch
einen Stich übertragen werden kann.
Der Temperaturanstieg erklärt auch die geographische
Ausbreitung von Erkrankungen, die von diesen Insekten
übertragen werden. Zweifelsfrei gilt dies bspw. für den
Malaria-Ausbruch in den bis dato ausgesparten Hochebenen Ostafrikas. Ebenso wird Mexiko-Stadt nicht mehr viel
länger durch seine hohe Lage (2500 m) von Gelbfieber,
Dengue-Fieber oder Chikungunya-Fieber verschont
bleiben. Aus eben denselben Gründen breitet sich die
Borreliose, die durch Zecken übertragen wird, in Nordamerika aus oder die Blauzungenkrankheit der Schafe
unter den europäischen Viehbeständen.
So wie Ebola ist die Zika-Epidemie keine Naturkatastrophe. Beide resultieren aus den raschen sozialen, ökologischen und klimatischen Veränderungen, die durch die
kapitalistische Globalisierung hervorgerufen werden.
Diese unterwirft die menschlichen Gesellschaften und die
Umwelt einem zunehmend unerträglichen Stress. Die
Zerstörung der tropischen Wälder durch den Raubbau an
Holz, durch die unablässige Gier nach neuen Rohstoffen
unter der Erde, durch die ständige Ausweitung von
Monokulturplantagen für Exportzwecke und durch die
hirnlose Urbanisierungswelle provoziert immer neue
Katastrophen, die inzwischen Alltag geworden sind. Die
Ausbreitung neuer pathogener Substanzen stellt inzwischen einen der gefährlichsten und am meisten unterschätzten Aspekte dieses Wettlaufs in den Abgrund dar.
4.3.2016
Jean Batou ist Historiker und
Leitungsmitglied der Mouvement anticapitaliste, féministe et
écologiste pour le socialisme du XXIe siècle solidaritéS
(Antikapitalistische, feministische und ökologische Bewegung für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts) in der
Schweiz.
Übersetzung: MiWe
„
Die Internationale
58
ÖKOSOZIALISMUS AUS MARXISTISCHER SICHT
Was ist aus marxistischer Sicht Ökosozialismus und gibt es im Marxismus eine
ökologische Utopie?
63
ÖKOLOGIE ALS KLASSENFRAGE BEGREIFEN
Thesen für die Aufnahme einer ökosozialistisch orientierten Arbeit gegen die
kapitalistischen Verheerungen der Umwelt
D I E I N T E R N AT I O N A L E
ÖKOSOZIALISMUS AUS
MARXISTISCHER SICHT
Der nachfolgende Beitrag ist die Niederschrift eines Vortrags, den der Autor am 28.1. 2016 auf
einer RSB-Veranstaltung in Wiesbaden hielt.
Friedrich Voßkühler
„
Teil I: Was ist Ökosozialismus?
In einer Diskussion am 5.12.2015 wurde ich von einigen
Ökosozialisten darüber belehrt, was unter Ökosozialismus
zu verstehen sei. Dabei kamen folgende Punkte zusammen:
1. Unter Ökosozialismus sei eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu verstehen.
2. Eine solche Wirtschaftsweise müsse den Weg in die
„technological society“ beenden, der mit dem Kapitalismus begonnen habe.
3. Sie zeichne sich überdies dadurch aus, dass sie – da die
Ressourcen sparend – auf die hemmungslose Vernutzung
der natürlichen Grundlagen verzichte.
4. Die drohende Klimakatastrophe fordere eine solche
Wirtschaftsweise unbedingt, da die Weiterexistenz der
menschlichen Gattung auf dem Spiel stehe.
5. Daher sei nicht mehr die Klassenfrage entscheidend,
sondern die Gattungsfrage. Für die Wirtschaftsweise des
Ökosozialismus stehe somit das Überleben der menschlichen Gattung im Mittelpunkt.
6. Angesichts dieser Problemlage sei es obsolet, an den
Industrialismus der Arbeiterbewegung anzuknüpfen.
7. Selbstverständlich müsse daher auch Karl Marx sehr kritisch gesehen werden. Sein Industrialismus sei abzulehnen.
58 Inprekorr 3/2016
8. Der Ökosozialismus sei aber nicht nur mit dem
Marx‘schen Industrialismus inkompatibel, sondern er verweigere sich auch der Arbeitswertlehre Marxens, da diese
die Natur nicht in die Wertrechnung einbeziehe.
9. Die Kritik der politischen Ökonomie von Marx sei
somit nicht die theoretische Grund lage des Ökosozialismus.
Gilt dies, dann ist es überaus bemerkenswert, dass die
Ökosozialisten, die mich über den Ökosozialismus belehrten, eigentlich nicht zu sagen vermochten, warum der
Ökosozialismus, den sie vertreten, ein Sozialismus sein
soll. Sie vertreten ja – um dies polemisch auf die Spitze zu
treiben – einen Sozialismus ohne Sozialismus. Sie wollen
eine Ressourcen sparende, auf nachhaltiger Produktion
beruhende und daher das Weiterbestehen der menschlichen Gattung sichernde „ecological society“. Das Gegenteil zu einer „technological society“, was der Sozialismus,
wie ihn Marx und die revolutionäre Arbeiterbewegung
verstehen, für sie nicht ist.
Technik, so sagte in diesem Zusammenhang ein junger
Mann, dem man von der bürgerlichen Universitätswissenschaft einräumt, seine Position als soziologische Dissertation in die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit zu
D I E I N T E R N AT I O N A L E
bringen, sei per se schon Herrschaft. Wobei es offensichtlich so ist, dass diese Position von Kreisen gefördert wird,
die Wert darauf legen, Technikkritik so mit angeblicher
Herrschaftskritik zu verbinden, dass nach den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen von Herrschaft
nicht mehr eigens gefragt wird.
Teil II: Was Marxisten zu einer solchen Position
sagen sollten
Ist eine solche Position mit dem Marxismus kompatibel?
Nein. Warum?
1. Weil der Marxismus nach den sozioökonomischen Bedingungen von Herrschaft fragt.
2. Weil er schon von daher keine abstrakte Technik- und
Industriekritik betreibt.
3. Weil der Marxismus sagt, dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt und ihre Basis nicht in der Technik
hat.
4. Weil er die These vertritt, dass die Macht, die mit den
Gewehrläufen durchgesetzt wird, die Macht eines Gesellschaftsverhältnisses ist, das für ihn das Kapital ist.
5. Weil er sich auf die wissenschaftliche Analyse des Kapitals beruft und keine vom Kapital abstrahierenden Erwägungen durchführt.
6. Weil er davon überzeugt ist, dass die weitere Existenz
der Gattung Mensch letztlich von der Lösung der Klassenfrage abhängt.
7. Weil der Marxismus die Wurzel allen Übels in der
Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und mit ihr
verbunden in der Ausbeutung der Naturpotenzen sieht.
8. Weil er die Beendigung der „Entfremdung“ der Produzenten von ihren Produkten, ihrer Produktion, ihrem
Gattungsleben und der Natur zum Ziel hat, letztlich also
die Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals.
Nimmt man diese Punkte zusammen, die formulieren,
was die Marxisten sagen sollten, wenn sie manche Ökosozialisten von ihrer Position reden hören, dann bleibt nur
eine Folgerung übrig: Wenn das, was sie Ökosozialismus
nennen, tatsächlich Ökosozialismus ist, dann können
Marxisten keine Ökosozialisten sein. Warum? Weil ein
solcher Ökosozialismus im Widerspruch zu allen Essentials
des Marxismus steht.
Teil III: Was ist aus marxistischer Sicht
Ökosozialismus?
Wenn nun dieser Ökosozialismus kein Ökosozialismus
ist, weil er kein Sozialismus ist, was aber ist dann Ökoso-
zialismus? Die Antwort ist: Wenn der Ökosozialismus nur
Ökosozialismus ist, wenn er Sozialismus ist, dann ist der
Sozialismus an sich selbst schon Ökosozialismus. Es gibt
also keinen Sozialismus, wenn er kein Ökosozialismus ist.
Woraus folgt: Es gibt keinen Ökosozialismus an sich selbst,
denn Ökosozialismus ist Sozialismus.
Was aber ist Sozialismus? Dasjenige Verhältnis unter
den Menschen, da sie als die Produzenten ihres Lebens ihre
materiellen Bedingungen selbstbewusst und demokratisch
regeln. Aber nicht nur ihre materiellen Bedingungen,
sondern auch ihre Beziehungen zueinander und zu ihren
natürlichen Grundlagen.
Was also ist Sozialismus? Das gesellschaftliche Verhältnis, da – auf der Grundlage der gemeinschaftlichen Regelung der materiellen Bedingungen – der andere Mensch
„höchstes Bedürfnis“ (Marx) wird und die Bewahrung der
natürlichen Grundlagen ein Wert an sich selbst.
Mit anderen Worten: Der andere Mensch kann nur
dann das „höchste Bedürfnis“ sein, wenn die Natur, von
deren Produktivität die Menschen abhängen, keine geknechtete Natur ist.
Der Sozialismus ist also an sich selbst Ökosozialismus.
Seine Grundlagen sind der Sturz des Kapitalismus, die
gemeinschaftliche Planung von Produktion und Konsumtion und die Befreiung der menschlichen und natürlichen
Produktivkräfte aus ihrer Inbetriebnahme und Ausbeutung durch das Privateigentum an den gesellschaftlichen
Produktionsmitteln.
Hat es einen solchen Sozialismus je gegeben? Nein!
Warum nicht? Weil die Befreiung der menschlichen und
natürlichen Produktivkräfte unter der Bedingung des degenerierten Arbeiterstaates der Sowjetunion nicht stattfinden konnte. In den Satrapenstaaten der Sowjetunion auch
nicht.
Wenn es aber nicht nur kleinbürgerliche Utopien sein
sollten, die sich hinter dem Begriff des Ökosozialismus
verbergen, nicht nur die Strategie, das Ziel des Sozialismus
in Wirklichkeit fallen zu lassen, sich aber zu gleicher Zeit
mit dem Begriff Sozialismus zu bekränzen, als Strategie
gleichsam, eine neue, sich überdies radikal gerierende
Variante des Reformismus zu kreieren, die deswegen reformistisch ist, weil sie letztlich gar nicht darauf aus ist, das
Gesellschaftsverhältnis Kapital abzuschaffen, die Arbeit zu
befreien etc., sondern stattdessen abstrakte Technik- und
Industriekritik zu betreiben, wofür könnten dann diese
Utopien genutzt werden? Dazu, dass der Sozialismus sich
wieder auf seine eigene ökologische Utopie besinnt. Betrachtet man die genannten Utopien unter diesem BlickInprekorr 3/2016 59
D I E I N T E R N AT I O N A L E
winkel, dann sind sie durchaus angebracht. Gehen wir also
auf diesen Punkt näher ein.
Teil IV: Gibt es im Marxismus eine ökologische
Utopie?
Fragen wir also: Gibt es eine marxistische ökologische
Utopie? Wobei zunächst gefragt werden muss, was eine
Utopie ist. Das Wort Utopie wörtlich übersetzt bedeutet:
ein Ort jenseits. Inwiefern hat nun der Marxismus eine
ökologische Utopie? Weil er zu einem Ort jenseits des Kapitalismus gelangen will. Weil er zu einem Ort gelangen
will, der jenseits des Kapitalismus die freie Entfaltung der
menschlichen und natürlichen Produktivkräfte bedeutet.
Ist dieser Ort ein Ort der Fantasie und des bloßen
Wunsches? Eines Wunsches, den man möglichst weit ins
zeitliche Jenseits schiebt, weil man sowieso nicht daran
glaubt, dahin kommen zu können? Nein! Eine solche Utopie ist dem Marxismus nicht eigen. Sein Ziel will er – wie
man das philosophisch sagt – durch eine „konkrete Negation“ erreichen. Seine wissenschaftliche Theorie dient
ihm dazu, die konkrete Situation, in der die Menschen
stecken, zu konkretisieren, um auf diese Weise die konkreten Möglichkeiten der vorhandenen Situation dingfest zu
machen und sie dann in der Weise einer radikalen politischen Praxis zu verwirklichen. Radikale politische Praxis
ist theoriegeleitete Praxis. Sie ist die Geburtshelferin jener
Möglichkeiten, die schon in der vorhandenen Realität stecken, diese aber sprengen müssen, um sich frei entwickeln
zu können.
Inwiefern ist nun also die ökologische Utopie schon in
der kapitalistischen Realität vorhanden? Um dies zu erläutern, müssen wir auf die Marx‘sche Naturtheorie zurückgreifen und diese kurz erläutern.
Nehmen wir zu diesem Zweck erstens an, dass es – was
nicht zu bezweifeln ist – eine Geschichte der Natur gibt.
Nehmen wir zweitens an - und das ist schon weniger
selbstverständlich – dass es eine „menschliche Geschichte
der Natur“ (Moscovici) gibt. Eine Geschichte der Natur,
die es ohne den Menschen nicht gäbe.
Was ist nun – so fragen wir uns drittens – die „menschliche Geschichte der Natur“? Sie ist die Geschichte der
Entfaltung spezifischer Naturpotenzen durch die menschliche Arbeit.
Was ist – so sei viertens gefragt – Arbeit? Sie ist einerseits die Kraft des Naturwesens Mensch, die Natur in für
ihn bewohnbare Zustände umzuformen. Sie ist andererseits – und damit zusammenhängend – die Fähigkeit des
Naturwesens Mensch zur Kultur. Daraus folgt: Arbeit ist
60 Inprekorr 3/2016
die Fähigkeit des Menschen, jene „Zustände“ (Moscovici)
der Natur zu schaffen, die für sein Überleben notwendig
sind. Er ist als Naturwesen zu gleicher Zeit ein Kulturwesen. Zu seiner Natur gehört die Kultur. Indem er die
genannten „Zustände“ schafft, ist er die Ursache sowohl
seiner eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten als auch der
Entfaltung jener Naturpotenzen, die es ohne ihn nicht
gäbe.
Was ist daraus – fünftens – die Folge? Marx spricht sie
in dem für uns wichtigen Merksatz aus, dass der „vollendete Naturalismus“ ein „Humanismus“ sei und der
„vollendete Humanismus“ ein „Naturalismus“ (Karl
Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Frankfurt 2009, S.116). Die Naturkategorien der menschlichen
Arbeit: der Jäger, der Hirt, der Bauer, der Handwerker, der
Ingenieur, der Kybernetiker und der Informatiker – um
nur einmal einige zu nennen und in eine chronologische
Abfolge zu bringen – sind zugleich und ineins Kategorien
der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung
des Menschen. Sie sind Kategorien der menschlichen und
natürlichen Produktivkräfteentwicklung.
Dabei ist klar: Diese Kategorien sind immer auch technische Kategorien. Der Jäger beherrscht die Techniken
des Jagens. Er kann mit Speer, Bogen und Pfeil umgehen.
Diese macht er sich zunutze, um sich seine Lebensmittel
zu beschaffen. Der Hirt beherrscht die Techniken des
Hütens. Er weiß, das Vieh zu den besten Weidegründen zu
treiben, sein Vieh zu züchten. Und erwirbt sich dabei die
Kenntnisse bestimmter Gräser und Kräuter usw. usf. Der
Bauer weiß, wie man den Acker bearbeitet, er kennt die
günstigsten Fruchtfolgen, betätigt den Pflug, verarbeitet
die Milch, beherrscht die verschiedenen Gärungsprozesse
usw. usf. Er ist ohne Zweifel ein Biotechniker par excellence. Die menschliche Kulturentwicklung ist ohne seine
biotechnologischen Kenntnisse gar nicht möglich. Ohne
den Werkzeugmacher schon gar nicht. Ich kann so weiter
fortfahren, breche hier aber ab, weil schon klar geworden
sein dürfte, was ich sagen will. Nämlich: Kulturentwicklung ist immer auch Technikentwicklung. Ohne Technik
keine Entwicklung der menschlichen und natürlichen
Produktivkräfte.
Selbstverständlich gilt das auch für die Industrie, diese
heutzutage bzw. in manchen Kreisen so gerne verteufelte
Stufe der Produktivkraftentwicklung. Marx ist da in seiner
Aussage ganz eindeutig und klar. Er sagt: Die „Industrie“
ist das „aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte“
(Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S.124). Ergänzen wir dies gemäß seiner sonstigen Ausführungen: Die
D I E I N T E R N AT I O N A L E
„Industrie“ ist auch das „aufgeschlagne Buch“ der natürlichen „Wesenskräfte“. Alle Kräfte, so kann man sagen, sind
Naturkräfte. In allen Kräften, die vom Menschen betätigt
werden, äußern sich Potenzen der Natur.
Daher sind weder Technik noch Industrie per se naturwidrig.
Was ist bei alle dem nun die ökologische Utopie des
Marxismus? Sie ist, dass die „menschliche Geschichte der
Natur“ das Stadium des Kapitalismus hinter sich lassen und
die Kräfte des Menschen und der Natur zu ihnen selbst
befreien kann.
Die Möglichkeiten, die aus der Realität der kapitalistischen Produktionsweise durch deren konkrete Negation befreit werden sollen, sind die Möglichkeiten der
„menschlichen Geschichte der Natur“. Und damit auch
die Möglichkeiten der Technikentwicklung mitsamt der
Industrie.
Teil V: Die Befreiung der menschlichen und
natürlichen Produktivkräfte durch die Sprengung
der kapitalistischen Produktionsverhältnisse
Wie sieht nun die Konkretisierung jener konkreten
Situation aus, die der Befreiung der Möglichkeiten der
„menschlichen Geschichte der Natur“ im Wege steht?
Antwort: Sie erfolgt zumindest theoretisch in der „Kritik
der politischen Ökonomie“ von Marx. Wie?
Erstens dadurch, dass in der Arbeitswertlehre gezeigt
wird, dass die menschliche Arbeitskraft im Kapitalismus
im Wesentlichen als Ware gilt, nicht aber als qualitativ
bestimmte Produktivkraft.
Zweitens dadurch, dass gezeigt wird, dass alles getan
wird, um die Intensivierung der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft im Dienste der Mehrwertschöpfung in
privater Hand zu erhöhen.
Drittens dadurch, dass gezeigt wird, dass Maschinerie und Technik allein dem Ziel der Intensivierung der
Arbeitskraftnutzung dienen und damit dem quantitativen
Mehrwertwachstum in privater Hand.
Viertens dadurch, dass auf diese Weise gezeigt wird,
dass sowohl der Mensch als auch die Natur Objekte ihrer
Ausnutzung, Vernutzung und Erschöpfung im Dienste der
Profitmaximierung sind.
Fünftens dadurch, dass gezeigt wird, dass diese Ausbeutung, Vernutzung und Erschöpfung ökonomisch keine
Grenzen kennen, weil der Kapitalismus eine Konkurrenzökonomie ist und von daher auf stets steigendes Wachstum
der Profite angelegt ist.
Sechstens dadurch, dass gezeigt wird, dass die immer
effektivere Maschinisierung der Produktion tendenziell
stets zum Fall der Profitrate führt und damit zu zyklischen
Krisen, die eine Zerstörung der Produktivkräfte mit sich
führen.
Siebtens dadurch, dass gezeigt wird, dass Kapitalismus
so und so Krieg bedeutet und somit auch das Risiko, das
Leben der menschlichen Gattung – wenn es denn sein
muss – zu zerstören.
Die ökologische Krise, von der seit einiger Zeit gesprochen wird und die nun mit der Klimakatastrophe dräut, ist
Teil dieses eingegangenen Risikos.
Mit dem Kapitalismus riskiert die Menschheit auf der
Basis der fortschreitenden Destruktion ihrer natürlichen
Grundlagen die eigene Selbstdestruktion.
Der Marxismus aktiviert gegen dieses Risiko die
wesentliche Erkenntnis seiner ihn tragenden Wissenschaft,
der Kritik der politischen Ökonomie. Welche ist diese? Die
Erkenntnis, dass der Auf bau des Sozialismus es erfordert,
Schritt für Schritt mit der ökonomischen Hegemonie der
Ware Schluss zu machen.
Um dies auf den Punkt zu bringen: Der Sozialismus
wird sich nicht bis zum Kommunismus fortentwickeln
können, wenn die Ware die alles entscheidende Wertform
der gesellschaftlich erzeugten Produkte bleibt.
Noch pointierter ausgedrückt: Wenn der Wert weiterhin die Qualität schluckt und das Wer, das Was, das Wo
und das Wie der Produktion der Gebrauchswerte bestimmt, wird es keine Überwindung des Kapitalismus geben und damit auch keine Aufhebung der „Entfremdung“
der Produzenten von ihren Produkten, ihrer Produktion,
ihrem Gattungsleben und der Natur.
Was auch heißt: Wenn die Warenform der Produkte
weiterhin ungebrochen den Ton angeben sollte, wird es
keinen gemeinschaftlichen Planungsprozess der materiellen Bedingungen geben können, denn dieser wäre dann
von vornherein ausgehebelt.
Worin besteht nämlich dieser gemeinschaftliche Planungsprozess? Er besteht darin zu beschließen, was, wann,
wo, wie, von wem, in welchen Mengen und in welcher
Qualität hergestellt wird und welche Bedürfnisse befriedigt werden müssen und befriedigt werden sollen, welche
aber auch nicht.
Bei alle dem spielen qualitative Kriterien die entscheidende Rolle. Die Rechnungsführung hat diesen Kriterien
zu dienen, sie aber nicht zu dominieren.
Die ökologische Utopie des Marxismus kann nur verwirklicht werden, wenn mit der Hegemonie des Wertes
bzw. der Ware gebrochen wird.
Inprekorr 3/2016 61
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Wenn der Ökosozialismus Sozialismus sein soll, ist er
genau daran gebunden.
Der Weg zu einer „ecological society“ – wenn man
dieses Wort einmal aufnehmen will – führt nur über den
Bruch mit der Warenökonomie.
Die Marxisten sollten das wissen und dies denjenigen,
die sich für Ökosozialisten halten, zu Bewusstsein bringen,
weil sonst die Utopie vom Ökosozialismus pure Illusion
bleibt.
Der Sozialismus ist – schon allein um ihrer Utopie willen – nicht zu umgehen. Und auch nicht, was die Voraussetzung des Sozialismus ist, die Abschaffung des Privateigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln etc.
Jedenfalls kann man sich eine Ignoranz gegenüber der
Marx‘schen Theorie sicher nicht leisten.
Teil VI: Zum kritischen Einwand, in der
Arbeitswertlehre Marxens käme der Wert der
Natur nicht vor
Was ist nun von dem Einwand zu halten, dass die Arbeitswertlehre von Marx deswegen unbrauchbar sei, weil sie
der Natur keinen Wert zuspreche. Haben die Ökosozialisten, die das sagen, Recht?
Nein! Sie haben nicht Recht. Warum? Weil die Natur
im Kapitalismus realiter keinen Wert hat! Wie sollte da
die Kritik der politischen Ökonomie von einem Wert der
Natur sprechen können? Es gibt ja keinen!
62 Inprekorr 3/2016
Die Frage ist, warum man meint, dass die Natur einen
Wert haben sollte. Die Antwort ist: Weil man dann die
Natur in die betriebliche und volkswirtschaftliche Rechnungsführung einbringen könnte.
Und warum sollte die Natur ein Fall für die Rechnungsführung sein? Damit man mit ihr nicht so schludrig
umgeht. Damit man merkt, dass das, was man für wertlos
hält, einen Wert hat.
Was aber schlägt man vor, wenn man fordert, die Natur
müsse in die kapitalistische Wertrechnung einbezogen
werden? Man schlägt vor, sie zu einer Ware zu machen.
Eine Ware hat an sich selbst keinen Wert, wenn sie nicht
gekauft und im Sinne der Mehrwertschöpfung in privater
Hand verwertet wird. Man schlägt also die explizite kapitalistische Verwertung der Natur vor.
Wenn aber der Sozialismus der schrittweise Bruch
mit der ökonomischen Kategorie der Ware ist und damit
verbunden mit der Verwertung der Produkte im Sinne des
Profitprinzips, dann ist die Forderung, die Natur zur Ware
zu machen, keine sozialistische Forderung.
Und damit ist diese Forderung alles andere als ökosozialistisch.
D I E I N T E R N AT I O N A L E
ÖKOLOGIE ALS KLASSENFRAGE BEGREIFEN
Thesen für die Aufnahme einer ökosozialistisch orientierten Arbeit gegen die
kapitalistischen Verheerungen der Umwelt
Friedrich Voßkühler und Jakob Schäfer
„
Das einzige faktische Ergebnis von COP 21 liegt darin,
dass die globale Staatengemeinschaft nun erstmals offiziell
anerkennt, dass die Erderwärmung ein riesiges Problem ist.
Ansonsten besteht das Abkommen von Paris (12. Dezember 2015) nur aus heißer Luft. Wenn wir verstehen wollen,
wieso im Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung
nichts anderes zu erwarten war, kommen wir an wesentlichen Erkenntnissen der marxistischen Kapitalismuskritik
nicht vorbei:
I. Zu den Ausgangsbedingungen für die
Bestimmung einer schlüssigen Aufgabenstellung
1. Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach eine Konkurrenzgesellschaft. Die dringend notwendige Umstellung
von Produktion und Konsumtion kann das Kapital aus
strukturellen und logischen Gründen nicht realisieren.
Denn die gesamtgesellschaftlich notwendigen Entscheidungen für sinnvolle Investitionen (etwa in den Bereichen
Energie, Verkehr, Infrastruktur usw.) widersprächen der
einzelbetrieblichen Vernunft. Der Hinderungsgrund für
ein Umsteuern unter kapitalistischen Bedingungen ergibt
sich somit aus dem Widerspruch zwischen einzelbetrieblicher
und gesamtgesellschaftlicher Rationalität, und zwar auf verschiedenen Ebenen:
Kosten: Für die Umstellung der Produktion auf Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit sind so große Investitionen erforderlich, dass sie von Einzelkapitalen nicht zu
bewältigen sind; gleichzeitig muss durch gesellschaftliche
Absicherung dafür gesorgt werden, dass nicht massenhaft
Erwerbstätige für „überflüssig“ erklärt werden, nur weil
„ihre Produkte“ nicht mehr gebraucht werden.
Verschwendung ist nur gesamtgesellschaftlich erfassbar
und vermeidbar.
In weiten Bereichen sind schädliche Produkte für die
Einzelkapitalisten sehr einträglich. Schon allein deswegen
ist eine gesamtgesellschaftliche Kontrolle über die Produktion, über die Produktionsbedingungen und die Produktionsverfahren unabdingbar.
2. Die Zwänge, die sich aus der Konkurrenz der Kapitale
ergeben, haben zur Folge, dass Produktionsbetriebe und
Versorgungsbetriebe grundsätzlich bestrebt sind, Kosten zulasten von Mensch und Umwelt einzusparen und
gleichzeitig die Produktion immer weiter auszudehnen.
Dieser systemische Zwang führt zu ungezügeltem Ressourcenverbrauch, Vergiftung der Umwelt (nicht nur zum
weiteren Anstieg des CO2-Gehalts in der Luft), Ausbeutung der Ware Arbeitskraft usw., aber auch zu gewaltigen
Rüstungsproduktionen, Kriegen, Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, und zwar nicht nur in der unterentwickelt gehaltenen Welt, Unterdrückung demokratischer
Bestrebungen, Flucht und Vertreibung, …
3. Daraus ergibt sich eine destruktive Dynamik des Kapitalismus, die nicht vom Willen der einzelnen Kapitale
oder gar vom Willen der abhängig Beschäftigten oder der
Inprekorr 3/2016 63
D I E I N T E R N AT I O N A L E
KonsumentInnen abhängt. Weder hat das Einzelkapital –
bei Strafe seines Untergangs – eine andere Wahl, als den
Zwängen des Wertgesetzes zu folgen, noch können die
einzelnen Menschen mit ihrem individuellen Verhalten
etwas Nennenswertes bewirken, um die sich abzeichnende
(bzw. schon einsetzende) Klimakatastrophe abzuwenden.
Das betrifft die vom Kapitalismus systemisch erzwungene
Obsoleszenz der Produkte, die ölbasierte Wirtschaftsweise
(angefangen beim unzureichend ausgebauten ÖPNV bis
zur Energiegewinnung, der Energieverschwendung u. der
fehlenden Infrastrukturpolitik), die Verschwendung usw.
II. Klassengesellschaft und strategische
Schlussfolgerungen
Das Kapital ist keine naturgegebene, unumstößliche
Konstante menschlicher Gesellschaft. Die bürgerliche
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist das Produkt
geschichtlicher Entwicklung, sie ist jedoch nicht der Endpunkt der Geschichte. Da diese Gesellschaftsordnung eine
Klassengesellschaft ist, wird sie nicht mittels Wahlen oder
Volksbefragungen zu überwinden sein. Denn die Kapitalistenklasse profitiert nun mal ganz gewaltig von den
herrschenden Verhältnissen und wird einer Enteignung des
Kapitals wie auch einer Umstellung der Produktionsweise
auf eine demokratisch kontrollierte gesamtgesellschaftliche
Planung massivsten Widerstand entgegensetzen, und zwar
mit allen Mitteln, die ihr der bürgerliche Staat (auch der
tiefe Staat) zur Verfügung stellt. Schließlich lebt die Kapitalistenklasse nach dem Prinzip: nach mir die Sintflut.
Die Alternative kann nur in der Durchsetzung des
Ökosozialismus liegen, also einer gesamtgesellschaftlich
demokratisch geplanten Wirtschaft, basierend auf weitestgehender Dezentralisierung und vor allem auf demokratischer Kontrolle aller Bereiche des wirtschaftlichen und
politischen Lebens durch die assoziierten ProduzentInnen
und KonsumentInnen.
Im Kampf für die Durchsetzung einer solchen Gesellschaftsordnung kann die Nutzung der parlamentarischen
Bühne (als „Tribüne des Klassenkampfs“) eine gewisse
Rolle spielen, aber letztlich nicht die entscheidende. Langfristig müssen über die Kämpfe der abhängig Beschäftigten
wie der sozialen, feministischen, ökologischen, antirassistischen, internationalistischen und sonstigen potenziell
antikapitalistischen Bewegungen andere Kräfteverhältnisse
geschaffen werden. Nur so können die Bedingungen herbeigeführt werden, dass breiteste Bevölkerungsschichten
mit dem herrschenden System Schluss machen wollen und
sich für eine alternative, menschliche und zukunftssichern64 Inprekorr 3/2016
de Gesellschaftsordnung einsetzen. Und nur so reifen die
Bedingungen, dass ein Bruch mit diesem System nicht nur
erfolgreich, sondern auch so „kurz und schmerzlos“ wie
möglich realisiert werden kann.
III. Kapitalismuskritische Verortung und lokale
Verankerung einer Politik gegen den Klimawandel
Bei all unseren politischen (ökosozialistischen) Aktivitäten
müssen wir die o. g. gesamtgesellschaftlichen Bedingungen im Auge behalten und darauf orientieren, dass eben
diese Gesamtbedingungen zu ändern sind, wenn Wirksames – auf Dauer – erreicht werden soll. Deswegen kann
sich unsere Aktivität in keinem Fall in der Förderung
umweltfreundlicher (klimanützlicher) Hilfsprojekte verzetteln oder gar darin erschöpfen.
Das Ziel unserer Arbeit muss ein doppeltes sein:
„ Mit Aufklärungs- und Informationsbeiträgen zur
Bewusstseinsbildung beitragen. Hier muss es uns vor allem
um die Analyse gesamtgesellschaftlicher Bedingungen
gehen, aber auch um die Informationen zu den verheerenden Folgen kapitalistischen Wirkens auf den unterschiedlichsten Ebenen. Nicht zuletzt bedarf es der Entwicklung
von Visionen. Aber auch die Information über laufende
Kämpfe an anderen Orten kann Mut machen.
„ Parallel dazu ist der Auf bau einer breiten Widerstandsbewegung gegen besonders schädliche Projekte (Braunkohleabbau, Kohlekraftwerke, …) unverzichtbar. Vor
allem die lokale Verankerung solcher Kämpfe ist wichtig.
Eine gesamtgesellschaftlich wirksame Bewegung kann sich
nämlich nicht im Demonstrationstourismus erschöpfen.
Sie muss auf die Einbeziehung breiter Bevölkerungskreise
zielen, damit den herrschenden PolitikerInnen Grenzen
aufgezeigt werden und die Gesamtbewegung an Kraft
gewinnt.
Die konkreten Bedingungen für die Entwicklung einer
lokalen Arbeit sollten sorgfältig untersucht werden, denn
eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Handeln ist das
Anknüpfen an den Sorgen und Nöten mindestens eines
nennenswerten Teils der Bevölkerung. Ökologische Fragen sind deshalb in vielen Fällen nicht ohne das Eingehen
auf die damit verbundenen sozialen Fragen anzugehen.
Auf keinen Fall darf uns eine Gegenüberstellung dieser
Ebenen faktisch lähmen. Die ökologische Frage ist immer
auch als eine Klassenfrage herauszuarbeiten.
2. 1. 2016