PICASSO - Die Welt

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PICASSO - Die Welt
6 EURO
FEBRUAR 2016
EIN KUNSTMAGAZIN
4 190171 006003
01
Nr. 8
PICASSO
© JOSHUA WHITE/JWPICTURES.COM
AUFTAKT
„Picassos Skizzenbuch
aus dem Privatbesitz
seines Enkels, so viel war
klar, würde uns als
Zeitmaschine dienen.
Und auch der Reiseleiter
stand schnell fest:
Sir John Richardson“
Manchmal kommt das Glück per
E-Mail. Bei uns war es Ende
November so weit. Absender: Bernard
Ruiz-Picasso. Betreff: Sketchbook,
La Californie. Im Anhang eine zu
unterzeichnende Vertraulichkeitserklärung sowie ein Video, in dem
das Skizzenbuch seines Großvaters
in slow motion durchgeblättert wurde –
das Buch, das Picasso vor nun genau
60 Jahren begann.
Wir wollten eine Zeitreise machen,
zurück ins Cannes der 50er-Jahre,
als der größte Maler des 20. Jahrhunderts auf dem Gipfel seines Ruhmes
steht und in seiner La Californie genannten Prachtvilla Freunde, Sammler,
Museumsdirektoren und die Weltpresse empfängt. Wir wollten noch
einmal versuchen zu verstehen, wie
er dachte, was ihn antrieb, wie er war –
und das, solange es noch Zeitzeugen
gibt, die uns davon erzählen können.
Das Skizzenbuch aus dem Privatbesitz
seines Enkels, so viel war klar, würde
als Zeitmaschine dienen. Und auch der
Reiseleiter stand schnell fest: Sir John
Richardson, Picassos enger Freund in
jenen Jahren und Autor der bis jetzt
dreibändigen und 2.000 Seiten starken
Jahrhundertbiografie A Life of Picasso.
Allein: Würde er, der im Februar
92 Jahre alt wird und damit so alt
wie Picasso, die Strapazen auf sich
nehmen?
„Sicher“, sagte er wenig später
am Telefon. Nur dass er vorher noch
mit seiner Freundin Gloria von
Thurn und Taxis Weihnachten auf
Schloss St. Emmeram feiern
wolle und danach Silvester in Wien
mit einem anderen guten Freund,
Scheich Hamad bin Abdullah Al Thani
von Katar. Kurz und gut: Am
6. Januar sei er zurück in New York
und bereit für das Interview. 11 bis
13 Uhr, Fifth Avenue, Ecke Fifteenth –
„Bis dahin frohe Festtage!“ Ich
will nicht vorgreifen, aber aus den
zwei Stunden wurden zwei Tage.
Mit einigen längeren Unterbrechungen
(„Meine Verlegerin kommt zum
Lunch. Danach ruhe ich und freu
mich auf Ihre Rückkehr um vier!“)
5
und noch mehr, stets äußerst unterhaltsamen Abschweifungen („Oh, wie
sehr ich die New Yorker Kunstwelt
verachte!“).
John Richardson ist 17, als er in
einer Londoner Galerie Grafiken
von Picasso klaut, 23, als er den englischen Kubismus-Sammler Douglas
Cooper kennenlernt und 28, als er
mit ihm das Château de Castille
bei Avignon bezieht und endgültig
ins Herz des Universums Picasso
vorstößt. Fast 70 Jahre nach seiner
ersten Begegnung mit dem Meister
sitzt er hellwach vor einem und sagt:
„Ich bin noch immer besessen von
ihm. Picasso zu treffen war das Glück
meines Lebens.“
Ich hoffe, liebe Leser, Sie verzeihen
uns, dass wir für das Skizzenbuch
und die Erinnerungen Sir Johns den
kompletten Hauptteil dieser Ausgabe
freigeräumt haben. Wer Glück hat,
sollte es auskosten.
CORNELIUS TITTEL
APÉRO
EIN KUNSTMAGAZIN
CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
11
ESSAY
Augen auf bei der
Partnerwahl
16
DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
18
BLITZSCHLAG
Gabriele Quandt
Nr. 8 / Februar 2016
PABLO PICASSO
Titelblatt des Skizzenbuchs Carnet 1133,
mit China-Tinte geschrieben:
„La Californie 9.3.56. – 17.6.56.“
In Blockschrift: „Croquis Dessin“,
„Papeterie Rontani,
5 rue Alexandre Mari, Nice“
20 UM DIE ECKE
Lower East Side, New York
30 DICHTER DRAN
Nora Gomringer
„ Jemand, der diese
geistige Entwicklung
macht, diese
Sprünge, der landet
normaler weise in
der Psychiatrie.
Nicht so Picasso“
— SIR JOHN
RICHARDSON
ENCORE
57 INTERVIEW
Künstlernachlässe
60 WERTSACHEN
Was uns gefällt
DAS BUCH
PICASSO
AM 9. MÄRZ 1956 BEGINNT PICASSO
EIN SKIZZENBUCH. 60 JAHRE SPÄTER IST
ES IN BLAU ZU SEHEN.
SEIN BIOGRAF SIR JOHN RICHARDSON
ERINNERT SICH
s. 32
62 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
63 BILDNACHWEISE
64 BLAU KALENDER
Unsere Termine im
Februar
66 DER AUGENBLICK
Lars Tunbjörk
OUTGESOURCED
EINE BEGEGNUNG MIT JOSH KLINE, DER
NEW YORKS KUNSTSZENE MIT DETOX-SHAKES
UND SILIKON ZU LEIBE RÜCKT
MURAKAMIS ATOMIUM
WIE FUKUSHIMA JAPANS BERÜHMTESTEN
KÜNSTLER EXPLODIEREN LIESS
s. 26
s. 24
INHALT
6
Von oben im Uhrzeigersinn: PICASSO beim Skizzenzeichnen, 1971. TAK ASHI MURAK AMI The Birth Cry of a Universe, 2005, Goldblatt auf FRP-Plastik, 451 × 268 × 303 cm
JOSH KLINE Creative Hands (Detail), 2013, 10 pigmentierte Silikonhände auf Ladenregalen mit LED-Beleuchtung, 93 × 66 × 39 cm
8
TONY CRAGG
SCULPTURES
PARIS PANTIN
MÄRZ – JUNI 2016
ROPAC.NET
PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG
CONTRIBUTORS
Nora GOMRINGER
KARLSRUHE
Klassische Moderne
und Gegenwartskunst
18. – 21. Februar 2016
„Hallo und Guten Tag!“ Freundlicher Empfang auf der Website der
Lyrikerin. Da macht man doch
gerne die elektronischen Türen auf.
Und dann die Warnung: „Vorsicht!
Nora Gomringer könnte Sie amüsieren, irritieren, aus den richtigen
Gründen zum Weinen bringen! Ist alles schon vorgekommen.“
Die 1980 geborene Tochter des Schweizer Sprachartisten Eugen
Gomringer wechselt gerne die Rollen. Sie schreibt Gedichte, tritt
als Rezitatorin auf und leitet das Künstlerhaus in Bamberg. 2015
hat sie den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewonnen. Für BLAU hat sie sich von einer Textilarbeit der
rumänischen Künstlerin Ana Botezatu anregen lassen. (Seite 30)
Bernard RUIZ-PICASSO
Es ist ja nicht so, als hätte der Name
Picasso nur Glück gebracht. Im
Gegenteil – schon mancher Nachkomme bezeichnete ihn als Fluch.
Nicht so Bernard Ruiz-Picasso, Sohn
von Pablos einzigem ehelichen Sohn
Paulo. Gemeinsam mit seiner Frau
Almine leitet Bernard die Stiftung FABA, verleiht Werke aus der
größten privaten Picasso-Sammlung der Welt, konzipiert Ausstellungen, unterstützt die Forschung. Und gibt BLAU das größte
Geschenk überhaupt: eines der raren, sagenumwobenen, nur
wenigen Eingeweihten bekannten Skizzenbücher seines Großvaters. BLAU salutiert und sagt: „Merci Bernard.“ (Seite 32)
Lily BRETT
Wer ihre Bücher kennt, kennt sie:
Kaum jemand beschreibt New York
so zärtlich, witzig und neurotisch
wie Lily Brett, egal ob es ums Altern,
Angst oder Angemotztwerden geht.
Die Melancholie, die in ihren Texten
mitschwingt, hat mit ihrer Biografie
zu tun: Ihre Eltern heirateten im Getto von Lodz und trafen sich
nach Auschwitz wieder. Geboren wurde Brett 1946 in einem
bayrischen Auffanglager. Sie wuchs in Australien auf und begann
mit 19 für ein Rockmagazin zu schreiben. Für BLAU spaziert sie
durch die Lower East Side – nach vielen Jahren in SoHo lebt sie
dort seit einem Jahr mit ihrem Mann, dem Maler David Rankin.
„Es fühlt sich an, als wären wir schon ewig hier.“ (Seite 20)
Messe Karlsruhe | www.art-karlsruhe.de
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Karola Handwerker, Max G. Okupski
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Autoren dieser Ausgabe
Lily Brett, Nora Gomringer,
Ulf Poschardt, Alan Posener,
Gregor Quack, Melanie Walz
(Übersetzung), Marcus Woeller,
Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Yves Borgwardt, Emmanuel Crooy,
Wolfgang Günzel, Andy Kania,
Frida Sterenberg, Christian Werner
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 8, Februar 2016
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AS Publizistik GmbH, Berlin, und deren
Kommanditisten die Friede Springer GmbH & Co.
KG, Berlin, Herr Axel Sven Springer, Journalist,
München und Frau Ariane Melanie Springer,
München, sind. Persönlich haftende Gesellschafterin der Friede Springer GmbH & Co. KG ist
die Friede Springer Verwaltungs GmbH, Berlin,
einzige Kommanditistin Frau Dr. h. c. Friede
Springer, Berlin. Aufsichtsrat der Axel Springer SE:
Dr. Giuseppe Vita (Vorsitzender), Dr. h. c. Friede
Springer (stellvertretende Vorsitzende), Oliver
Heine, Rudolf Knepper, Lothar Lanz, Dr. Nicola
Leibinger-Kammüller, Prof. Dr. Wolf Lepenies,
Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle.
FEBRUARY 20 TO APRIL 2, 2016
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APRIL 9 TO MAY 21, 2016
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APRIL 16 TO MAY 21, 2016
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LÖWENBRÄU AREAL
GALERIE EVA PRESENHUBER
MAAG AREAL
ZAHNRADSTR. 21, CH-8005 ZURICH
TEL: +41 (0) 43 444 70 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60
OPENING HOURS: TUE-FRI 10-6, SAT 11-5
LÖWENBRÄU AREAL
LIMMATSTR. 270, CH-8005 ZURICH
TEL: +41 (0) 44 515 78 50 / FAX: +41 (0) 43 444 70 60
OPENING HOURS: TUE-FRI 11-6, SAT 11-5
WWW.PRESENHUBER.COM
Museum Folkwang
Highlights 2016
Thomas Struth
Nature & Politics
4. März – 29. Mai 2016
Tomi Ungerer
INCOGNITO
18. März – 16. Mai 2016
Rodin – Giacometti | Pollock – Twombly | Rothko – Serra …
Sammlung Looser im Museum Folkwang. Dialoge
29. April – 30. Oktober 2016
Katharina Fritsch
13. Mai – 30. Oktober 2016
Peter Keetman
Gestaltete Welt
Ein fotografisches Lebenswerk
3. Juni – 31. Juli 2016
Richard Deacon
Drawings 1968 – 2016
26. August – 13. November 2016
Dancing with Myself
Selbstporträt und Selbsterfindung. Werke aus der Sammlung Pinault
7. Oktober 2016 – 15. Januar 2017
Das rebellische Bild
Situation 1980: Die Kreuzberger „Werkstatt für Photographie“
und die junge Folkwang-Szene
9. Dezember 2016 – 19. Februar 2017
Museumsplatz 1, 45128 Essen, www.museum-folkwang.de
ESSAY
AUGEN AUF
BEI DER
PARTNERWAHL
AHMED MATER
Diabetic Illuminations Ottoman Waqf, 2010
Saudi-Arabien baut die
kühnsten Städte – und
terrorisiert seine Künstler.
Von Alan Posener
E
in Autobahnschild, wie wir es auch
in Europa kennen. Es weist den
Weg nach Mekka, der heiligen Stadt
der Moslems in Saudi-Arabien. Doch
die drei Autobahnspuren, die zum schwarzen Kubus der Kaaba führen, sind nur für
Muslime befahrbar. Nicht-Muslime müssen
die Autobahn verlassen, wie weiland
DDR-Bürger die Transitautobahn vor den
Toren zum goldenen Westen. Abdulnasser
Gharems Road to Makkah bildet das
Straßenschild nur ab. Und macht es damit
zum absurden Kunstwerk, das auf die
absurden Zustände in einem absurden
Staat verweist.
Gharem gehört zur jungen Generation
saudischer Künstler. Dazu gehört auch
Ahmed Mater, der in seinen Illuminations
Röntgenporträts in traditionelle Schmuckbordüren montiert, um das im wahabitischen Islam geltende strenge Verbot der
Porträtmalerei zugleich zu umgehen und zu
entlarven. Mater fotografiert auch Eisenspäne, die sich im Magnetfeld eines quadratischen Eisenstücks anordnen. Seine
Magnetism-Reihe sieht aus wie Luftaufnahmen der Pilger, die in Mekka die Kaaba
umrunden. Ist das Werk affirmativ oder
subversiv? Feiert es die Urkraft der Religion
oder stellt es die Pilger als willenlose
Objekte dar? In Saudi-Arabien ist man als
Künstler gut beraten, nicht zu deutlich
zu werden.
Das musste der Künstler und Dichter
Ashraf Fayadh erfahren. Bis vor zwei Jahren
galt der Sohn palästinensischer Flüchtlinge
als Aushängeschild eines weltzugewandten
Saudi-Arabien, kuratierte Ausstellungen mit
saudischen Künstlern und den saudischen
Auftritt auf der Biennale in Venedig. Wegen
eines vor acht Jahren in Beirut veröffentlichten Gedichtbands wurde Fayadh verhaftet
und zum Tode verurteilt. „Abfall vom
Glauben“ lautet der Vorwurf. Beweisstücke
sind Zeilen wie diese: „Dir fehlen Regentropfen, die den Rest deiner Vergangenheit
abwaschen und dich von dem befreien
könnten, was du Frömmigkeit nanntest …
von dem Herzen, das der Liebe fähig ist
und des Spiels und der Auseinandersetzung
mit deinem obszönen Rückzug von jener
wabbeligen Religion, jenem falschen Tansil,
jenen falschen Göttern, die ihren Stolz
verloren hatten …“
APÉRO
11
„Tansil“, das arabische Wort für
Offenbarung, wird von muslimischen
Teenagern oft als Code für einen unfreiwilligen Samenerguss benutzt. Dass die direkt
vom Herrscherhaus kontrollierte Religionspolizei meint, an Fayadh ein Exempel
statuieren zu müssen, ist auch eine Offenbarung, ein Tansil, das die Nervosität
im Königreich bloßlegt. So reagiert ein
Herodes auf das Wirken Johannes
des Täufers, aber kein moderner Staat im
Zeitalter des Internets.
Doch – apropos Internet – auch Raif
Muhammad Badawi, der seit 2008 seinen
Blog Die Liberalen Saudi-Arabiens betreibt,
wird Opfer dieser Nervosität: Weil er
angeblich Muslime, Christen, Juden und
Atheisten als gleichwertig bezeichnet
habe, wurde er gemäß einem 2014 in Kraft
getretenen Anti-Terror-Gesetz wegen
„Beleidigung des Islam“ zu zehn Jahren Haft
und 1.000 Peitschenhieben verurteilt,
einer in Raten von 50 Hieben verabreichten
Todesstrafe.
Da sind das Schwert und die Gewehre
menschlicher, mit denen zum Auftakt
des neuen Jahres 47 Regimegegner hingerichtet wurden. Die meisten waren
Terroristen wie der Al-Qaida-Kämpfer Adel
al-Dhubaiti. Unter den Hingerichteten
war jedoch auch der schiitische Geistliche
Scheich Nimr al-Nimr. Der war zwar
kaum jener Friedensengel, als der er von
den Theokraten im Iran dargestellt wird.
Als junger Mann studierte al-Nimr bei den
iranischen Mullahs Theologie und Revolution und befürwortete nach seiner Rückkehr
den Abfall des mehrheitlich von Schiiten
bewohnten Ostens vom Königreich.
Der Gewalt allerdings schwor er ab. Doch
wie bei Badawi und Fayadh reicht es in
Saudi-Arabien, subversive Gedanken zu
äußern, um dem Henker überantwortet
zu werden.
Die Existenz einer verbotenen Stadt
wie Mekka, einer despotischen Herrscherdynastie, einer willfährigen Justiz, die
nach der brutalstmöglichen Auslegung der
Scharia urteilt, einer Religionspolizei, die
nicht nur verbotenen Gedichten nachspürt,
sondern darauf achtet, dass Frauen nicht
Auto fahren, sich bedecken und keine
Beziehungen zu Männern außerhalb ihrer
Familie unterhalten – das klingt alles nach
Mittelalter. Doch ist Saudi-Arabien ein in
jeder Hinsicht junger Staat.
Die Herrscherfamilie geht zurück auf
Scheich Muhammad Ibn Saud, der im
18. Jahrhundert einen Aufstand gegen das
Osmanische Reich organisierte. Saud
verbündete sich mit einem puritanischen
Prediger namens Muhammad Ibn Abd
al-Wahhab. Ihre fanatischen Anhänger
terrorisierten die moderaten Muslime der
arabischen Halbinsel, zerstörten ihre
Heiligtümer, eroberten Mekka und Medina,
griffen den Irak an und etablierten schließlich um 1744 einen fundamental-islamischen Staat, den die Osmanen erst 1818
zerschlagen konnten. Muhammad wurde
in Istanbul geköpft, die Familie Saud
ins Exil geschickt, Arabien der Familie
Al-Raschid und Mekka wieder der
Oberaufsicht der traditionell gemäßigten
Haschemiten unterstellt.
1902 eroberte ein Nachkomme
Muhammads, Abd al-Aziz Ibn Saud, mit
einer winzigen Beduinenarmee den alten
Familiensitz Riad. Die von den Raschids
unterdrückten Anhänger Wahhabs – die
Wahabiten – formte er zu einer militärischreligiösen Legion: die Ikhwan, was so
viel heißt wie Bruderschaft. Nachdem die
Westmächte das Osmanische Reich im
Ersten Weltkrieg zerschlagen hatten, konnte
Ibn Saud mit der fanatischen Bruderschaft
bis 1924 die ganze arabische Halbinsel
überrennen; anschließend richtete er unter
den Ikhwan ein Blutbad an und erklärte
sich 1932 zum König des Gebiets, das fortan
Saudi-Arabien hieß. 1933 wurde dort
Öl entdeckt. Seither ruhte die Macht der
Familie auf drei Säulen: dem Bündnis mit
dem wahabitischen Klerus, der brutalen
Repression und dem Öl. Das schwarze Gold
machte Saudi-Arabien zum unverzichtbaren
Verbündeten des Westens im Kampf zuerst
gegen Hitler-Deutschland, dann gegen
die kommunistische Sowjetunion; und es
ermöglichte dem Herrscherhaus, seine
Untergebenen zu bestechen.
Ein Staat, der keine Steuern eintreiben
muss, sondern Geschenke verteilen
kann, muss auch auf die Meinung der Bürger
kaum Rücksicht nehmen. Wem es im
Königreich nicht gefällt, der kann ja gehen.
Viele saudische Bürger studieren denn
auch im Ausland; fast die Hälfte kehrt dem
Königreich permanent den Rücken. Wer
aber – etwa an der Universität Prinzessin
Nora Bint Abdul Rahman, der größten
Frauenuniversität der Welt – studieren will,
genießt nicht nur ein üppiges Stipendium,
sondern kann sich über ein Apartment
freuen, das mit eigenem Fitness- und
Wellnessbereich eher an ein Luxushotel
denn an ein Studentenheim erinnert.
Museum in Jeddah GMP, Hadid und Co. alt
aussehen lässt.
So also sieht unser wichtigster Verbündeter in der arabischen Welt aus. Schön
ist das nicht – und in letzter Zeit mehren
sich die Stimmen, die dieses Bündnis
infrage stellen. Was, fragen einige, unterscheidet denn Saudi-Arabien von den
Terroristen des Islamischen Staats? Warum
sollen wir in der regionalen Auseinandersetzung zwischen dem schiitischen GottesDie Tradition bedeutet den staat im Iran und der wahabitischen
Monarchie in Riad, deren Rivalität sich
Herrschenden nichts.
mittlerweile in blutigen Bürgerkriegen von
Sie wollen alle Vorzüge der Riad bis zum Jemen äußert, überhaupt
Partei ergreifen? Die kurze Antwort lautet:
Moderne übernehmen,
weil die Saudis zwar Schurken, aber unsere
ohne ihren Geist zu
Schurken sind. Sie hielten treu zum Westen,
finanzierten die Mudschaheddin, die
absorbieren
in Afghanistan die Sowjets schlugen, und
fluteten den Markt mit Öl, was zum
Es wäre falsch zu sagen, dass SaudiAbsturz der Ölpreise führte und letztlich
Arabien zwischen Tradition und Moderne
die Sowjetunion zum Einsturz brachte.
laviert. Denn die Tradition bedeutet den
Und das tun sie auch jetzt, was dem Westen
Herrschenden nichts. Für die Wahabiten
in seiner Auseinandersetzung mit Wladimir
sind die über die Jahrhunderte akkumuPutins russischem Imperialismus hilft.
lierten Schichten islamischer VolksfrömNeben diesem realpolitischen – also
migkeit, Gelehrsamkeit, Bräuche, Schreine, zynischen – Argument gilt: Das Haus Saud
Kunst und Architektur größtenteils Auswollte nie mehr als seine eigene Herrschaft
druck eines verwerflichen Götzenkults. Der im Land sichern. Zwar mag man den
Wahabismus ist permanente Gegenwart
Export des Wahabismus durch Koranschuund Reinheit der Religion. Das Herrscher- len und Wohltätigkeitsvereine mit Sorge
haus wiederum will alle vermeintlichen
betrachten, aber erstens war uns dieser
Vorzüge der Moderne übernehmen, ohne
Export durchaus recht, als es gegen die
ihren Geist zu absorbieren. Nirgendwo
atheistische Sowjetunion ging; und zweitens
wird diese Geschichtslosigkeit deutlicher als verbinden die Saudis diesen Export mit
in den Städten, die zu einem Disneyland
einem umfassenden – manche sagen:
der Moderne wurden. Ganze Quartiere aus vorbildlichen – Antiterrorprogramm. Dazu
traditionellen Lehmbauten mit engen
gehört ein Dschihadisten-RehabilitationsGassen wurden abgeräumt, um autogeZentrum bei Riad, in dem die Insassen
rechte Albträume aus Stahl, Glas und Beton von Theologen und Psychologen vom Weg
zu errichten, die nur mithilfe aufgedrehter
des Terrorismus abgebracht werden.
Klimaanlagen bewohnbar sind.
Die Erfolge sollen beeindruckend sein. So
Die ganze Riege der modernen Archiarbeitet Osama bin Ladens früherer
tektur, von Gerkan Marg und Partner aus
Sprengstoffexperte heute als Uhrmacher.
Deutschland über den Amerikaner Minoru Gleichzeitig bildet die Sanftmut gegenüber
Yamasaki, der das erste World Trade Center diesen verlorenen Söhnen des Islam einen
entwarf, bis hin zur unvermeidlichen
merkwürdigen Gegensatz zur Brutalität
Zaha Hadid wurden eingekauft, um Städte, gegenüber Ashraf Fayadh und Raif Badawi.
Flughäfen, Bürohochhäuser, Museen oder
Es wäre selbstmörderisch, wollte der
Verkehrsbauten zu errichten. Neuerdings
Westen auf die Zusammenarbeit mit den
machen auch einheimische Architekten von Saudis verzichten. Aber weil das so
sich reden, etwa Abdulelah Alharbi, dessen
ist, sind Fayadh und Badawi auch unsere
kühner Entwurf für das GuggenheimGefangenen.
APÉRO
12
ARTCURIAL
THE FRENCH AUCTION HOUSE
VERANSTALTUNGSKALENDER
2016 First Semester
AUSSTELLUNGEN
3. - 5. FEBRUAR
Les passions modérées :
Das Auge von Pierre Hebey
17. - 20. MAY
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Meister und des 19. Jahrhunderts
4. FEBRUAR
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Moderne
Zeitgenössische Kunst
5. FEBRUAR
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Tel. +49 89 1891 3987
Galeriestrasse 2b
80539 München
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RASSISMUS
APÉRO
NEUES, ALTES,
BLAUES
JAN MOSTAERT Porträt eines
afrikanischen Mannes, 1520–1530
W
enn die Grenzen unserer
Sprache die Grenzen unserer
Welt bedeuten, wie Ludwig
Wittgenstein behauptete, dann hat das
Amsterdamer Rijksmuseum soeben
ein neues Terrain erobert. Es eliminierte
rund 300 Bezeichnungen von Titeln
historischer Gemälde, die heute offiziell
als diskriminierend gelten: „Neger“,
„Eskimo“, „Indianer“, „Hottentotten“ und
Da waren sie noch zu fünft. Die Sammlung Grässlin wird in Zukunft ohne Thomas auskommen müssen
„Zwerg“ sind aus der Ausstellung
verschwunden, auch „exotisch“ wird
entfernt. Aus Jan Mostaerts Porträt
eines Mohren, 1520–1530, wurde Porträt
eines afrikanischen Mannes. Das
Publikum soll sich der Illusion hingeben,
in Drei-Sterne-Tipp. Grässlin, St. Geor- Seit er mit seiner Lebensgefährtin Nanette
die damaligen Maler hätten ein so
gen im Schwarzwald. Ist unter KunstHagstotz alle Kraft auf die künstlerische
freunden etwa so, wie wenn der Gourmet Re-Urwaldisierung heimischer Wälder wirft, lockeres Verhältnis zu andersfarbigen
Modellen gehabt, wie das zumindest
verrät, dass er bei Wohlfahrt in der Traube
hat er sich sichtlich zurückgezogen. „Wir
für einen kleinen Teil der WeltbevölkeTonbach in Baiersbronn speist. Mutter
haben“, sagt er, „die Sammlung einverAnna hütet die Sammlung zum deutschen
nehmlich neu strukturiert. Sie ist so umfang- rung im 21. Jahrhundert gilt. „Wir
wollen ja auch nicht, dass ein Museum
Informel der 50er-Jahre. Bärbel hat
reich, dass der Museumsbetrieb in
ihre Galerie in Frankfurt. Karola leitet das
St. Georgen in gewohnter Form weiterlaufen im Ausland eine Madonna als ‚Käsekopf-Frau mit Käsekopf-Kind‘ betitelt“
Mumok-Museum in Wien. Sabine sorgt
wird.“ Die drei Schwestern wollen sich
heißt es von Museumsseite. Dass
sich um die Gastronomie im St. Georgener nicht entmutigen lassen. Nach Thomas’
Privatmuseum. Thomas ist ganz in seinem
Ausstieg „werden wir die Sammlung gemein- so Jahrhunderte der Kunstgeschichte
samt Kolonialvergangenheit mit
ökologischen Echtwald-Projekt aufgesam weiterführen“, so versprechen sie.
gangen. Eine Vorzeige-Familie mit einer
Zum zehnjährigen Bestehen des Kunstraums einem linguistischen Einheitsduktus
überpinselt werden, könnten böse
gemeinsam erworbenen Sammlung, die die
Grässlin im März ist in St. Georgen neben
Zungen auch als Geschichtstilgung
Kunst der 80er- und 90er-Jahre geradezu
einer Heimo-Zobernig-Präsentation eine
exemplarisch repräsentiert. Nun ist auch
Überblicksausstellung zum Thema Malerei bezeichnen. Und wenn man schon
dabei ist: Wie wäre es mit schwarzen
das Geschichte. Thomas Grässlin hat seinen mit Werken aus den 80er-Jahren bis in die
Balken über käsigen Brüsten? GB
Anteil an der Familiensammlung abgezogen. Gegenwart geplant. MÜ
AB JETZT FRAUENSACHE
E
APÉRO
14
Dunkel ihrer Stadt: In der
Höhe der Haupthalle ziehen
sich zarte Stuckbänder
an den Decken entlang, den
Boden bedeckt ein Mosaik.
In den letzten Monaten
wurden die Räume aufwendig
restauriert: Schwämme
tupften über tiefrote Farbflächen, Skalpelle schälten
am Steinwerk. Die Zeit aber
war ungewöhnlich milde –
Fresken und Stuckreliefs
haben sich in ihrem Versteck
gut gehalten.
Die Unsichtbarkeit
ist also der Preis,
den manche Orte
für ihr Überdauern
zahlen. Bis
zum 26. Juni ist
die Basilika für
Besucher geöffnet.
Infos unter
www.coopculture.it.
Als vor beinahe 100 Jahren
der Boden unter den Füßen
römischer Bauarbeiter
absinkt, gibt er eines dieser
typischen Geheimnisse
der Stadt frei. 2000 Jahre alte
Gewölbe, zwölf Meter tief
unter der Via Prenestina im
Südosten Roms: eine Basilika,
wohl erbaut von
einer vorchristlichen Kultgemeinde
und in den Wirren
der Ewigen
Stadt verschüttet
und vergessen.
1917 jedenfalls
schauen die
Bauarbeiter des
modernen Roms
Alte Grotesken, neuer Glanz
verdutzt ins antike
MW
CHRISTIAN TAGLIAVINI
VOYAGES EXTRAORDINAIRES
AUSSTELLUNG BIS 27. FEBRUAR 2016
KANTSTRASSE 149 · 10623 BERLIN · TEL +49 30 310 07 73 · WWW.CAMERAWORK.DE
GEÖFFNET DIENSTAG BIS SAMSTAG 11 BIS 18 UHR
© CHRISTIAN TAGLIAVINI · LA PETITE SOER · 2015
So nah,
so gut
TUNNELBLICK
E
TOM JACOBI
GREY MATTER(S)
Graf-Adolf-Platz in Düsseldorf gestaltet
APÉRO
15
AUSSTELLUNG BIS 16. APRIL 2016
AUGUSTSTRASSE 11–13 · 10117 BERLIN · TEL +49 30 240 486 14 · WWW.CAMERAWORK.DE
GEÖFFNET DIENSTAG BIS SAMSTAG 11 BIS 18 UHR
© TOM JACOBI · SACROSANCT · 2014
in Ästhet hat in der U-Bahn ziemlich zu leiden. Vor allem auf
den Bahnsteigen. Beim Anblick hässlich-hirnrissiger Werbetafeln stellt sich stumpfe Langeweile, nervöse Aggressivität
oder tiefer Frust ein, weil man mit der Zielgruppe nun auch noch
in einen Waggon muss. In Düsseldorf ändert sich das jetzt:
Die U-Bahnfahrt wird zum Ausstellungsbesuch. Am 21. Februar
eröffnet die Wehrhahn-Linie, deren sechs Stationen von je einem
Künstler – Heike Klussmann, Ralf Brög, Ursula Damm, Manuel
Franke, Enne Haehnle und Thomas Stricker – gestaltet wurden.
Werbung gibt es nicht.
Fahrgäste treffen auf
eine Raumstation mit
3D-Sternenhimmeln,
LED-Wände mit
Wesen, die aus Bewegungen von Passanten
entstehen und abstrakte
Allover-Malerei. Die
Betonarchitektur hat das
Büro Netzwerkarchitekten entwickelt. Das
Leiden hat ein Ende –
MANUEL FRANKE hat die U-Bahn am
sechs Stationen lang. GB
O-TON
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
KOMFORT UND HÄRTE
Julia Grosse und Yvette Mutumba
kuratieren den Focus der Armory
Show in New York (3. – 6. März)
„Der Focus der Armory Show
hebt jährlich die Kunstszenen
bestimmter Regionen hervor.
Wir betiteln ihn African Perspectives. Warum? Weil es so
etwas wie ‚Kunst aus Afrika‘
nicht gibt. Eine Performancekünstlerin aus Nairobi und ein
Bildhauer aus Accra haben
nichts gemein. Dennoch drückt
man beiden das Label ‚African
Artist‘ auf. Als sei Afrika, ein
Kontinent mit 54 Ländern, ein
Dorf. Wir haben nun 14 Galerien von Lagos bis London eingeladen, Solopräsentationen
junger zeitgenössischer Künstler aus Afrika auf der Armory
Show zu zeigen. Auch haben
wir eine Auftragskünstlerin
(commissioned artist) nominiert: Kapwani Kiwanga
wird das Erscheinungsbild der gesamten Messe durch ihre Arbeiten
prägen. Neben einem
Symposium gibt es Onsite-Projekte, unter anderem mit dem Soundkünstler Emeka Ogboh. Bei der letzten
Biennale von Venedig
beschallte er einen
Turm mit der
DAN
Deutschlandhym- HALTER
ne, gesungen in Patterns of
Migration,
zehn afrikanischen
2015
Sprachen.“
Rasen gegen die Konterrevolution der
Technikfeinde: Die 90er-Jahre sind zurück, wenn
auch nur
in Kleinstauflage
MAGISCHES KLEBEN AUF DER FAHRBAHN: DER FERRARI 575 M
D
ie Zeit der großvolumigen Zwölfzylinder geht
zu Ende. Sie gelten
in Zeiten ökologischer Panikverliebtheit als Ritter der
Apokalypse. Wer einmal einen
Zwölfzylinder von Ferrari
gefahren hat, weiß warum: Die
Gran Turismos schlucken
Benzin, als wäre ein Loch im
Tank. Der 575 M, mit dem
Kosenamen Maranello versehen, ist keine Ausnahme.
Offiziell genehmigt er sich in
der Stadt 36 Liter
Hochoktaniges. Auf
der anderen Seite hat
dieses wunderschöne
Fahrzeug in der Stadt
auch nichts verloren,
es schreit nach
Autobahnen. Tempo30-Zonen entwürdigen die Grandezza
dieser breiten
Flunder mit den
Haifischkiemen. Kaum
ein Autoentwurf der
späten 90er-Jahre ist so
gut gealtert wie der
Maranello, der 1996
als 550 vorgestellt und 2002 mit
mehr Hubraum und PS als
575 M weitergebaut wurde. Die
Preise für den zweisitzigen GT
steigen steil an. Als „Daytona“
von morgen haben ihn Sammler für sich entdeckt, und da
kaum mehr als 3.000 Stück des
Pininfarina-Meisterentwurfs
produziert wurden, überragt die
Nachfrage das Angebot.
Es ist weniger die Brachialität der 515 PS mit knapp
sechs Litern Hubraum aus zwölf
Zylindern, die betört, als
vielmehr die lässige Souveränität
der Leistungsentfaltung. Die
unaufgeregte Wucht der
Beschleunigung, das magische
Kleben auf der Fahrbahn
auch bei Tempo 300, die einzigartige Mischung aus Komfort
und sportlicher Härte beim
Fahrwerk. Waren Ferraris noch
Anfang der 90er-Jahre zum
Teil mies wie der 348 oder der
400i verarbeitet, so gehören
die Maranellos zu den ersten
preußischen Produkten aus der
Emilia-Romagna. Luca Cordero
di Montezemolo, der 1991
APÉRO
16
bestellte Ferrari-Chef, wusste,
dass die italienischen Diven
gegen die schwäbische Konkurrenz nur eine Chance hatten,
wenn deren Schönheit bei
Werkstattbesuchen nicht bitter
bezahlt werden musste.
Maranello-Besitzer haben
feuchte Augen, wenn sie über
längere Reisen mit ihrem GT
erzählen. Der natürliche Impuls
beim Erwerb eines 575 M ist
es, die Ehefrau einzupacken und
zwei Koffer von Hermès in
den Bug und damit von Hamburg, München oder Köln
nach Paris ins Hotel Meurice zu
reisen, weil dieses Auto eines
der letzten Zeugnisse jener automobilen Hochkultur ist, die
ein moralisch grundierter
Zeitgeist mit grünem Überbau
tottrampeln wird. Ein Maranello
ist Widerstand in vollendeter
Schönheit, so, wie der tote
Marat bei Jacques-Louis David.
Rasen gegen die Konterrevolution der Technikfeinde.
ULF POSCHARDT
BLITZSCHLAG
„ICH SAH ALLES
MÖGLICHE“
Es ist ein Augenblick der
Gewissheit: Dieses Kunstwerk
trifft mich im Kern.
Gabriele Quandt über ein Bild von
Willi Baumeister,
ei uns zu Hause in
das ihr im Esszimmer
Bad Homburg hatten wir
drei Bilder von Willi
ihrer Kindheit das
Baumeister, die mein Vater
Anfang der 60er-Jahre gekauft
Fenster zur modernen
hatte. Eines davon hing im
Esszimmer. Ich schaute immer
Kunst öffnete
darauf, wenn ich auf dem
B
ungeliebten Essen herumkaute.
Als ich zehn oder elf
Jahre alt war, fragte ich meinen
Vater, der selten da war, was
abstrakt ist. Warum malt man
nicht Bilder, auf denen man
etwas Schönes sieht? Er erklärte
mir, dass man in ein abstraktes
Bild alles Mögliche hineindenken
kann. Man bekommt eben nicht
vorgeschrieben, was man sieht,
es wird einem selber überlassen.
Dann hat er mich gefragt, was
ich auf dem Bild sehe. Und ich
sah alles Mögliche: ein Äffchen,
das auf einem Stein am Feuer
sitzt, aus dem Rauch steigen
Dinge empor, und ich stellte mir
vor, dass das Gedanken und
Wünsche sind. Mein Vater hat
das so stehen lassen. Er erzählte
dann, dass er etwas anderes
sehe. Er sagte nicht genau was,
außer dass es mit Ruinen zu
tun habe, was ich nun wieder
gar nicht verstehen konnte.
Aber es hat mich sehr fasziniert,
dass zwei Leute vollkommen
unterschiedliche Sachen in
einem Bild entdecken konnten.
Das hat mir das Fenster
geöffnet zu moderner Kunst. Ich
begriff, dass es nicht darum
geht, ob ich sie schön finde oder
nicht, sondern dass sie einem
Raum gibt, in dem sich ganz
verschiedene Dinge öffnen
können. Das hat mir gut gefallen.
Daraufhin bin ich zu den
anderen Baumeister-Bildern
gegangen und habe geschaut, ob
ich darin auch etwas sehe. Ich
fragte auch meine Schwestern,
was sie davon halten, ja eigentlich fragte ich jeden in unserem
Esszimmer, was er in dem Bild
sehen würde. Das hat mir viel
Spaß gemacht. Und um Kunst
anzusehen, wollte ich als
Jugendliche immer wieder nach
GABRIELE QUANDT, Vorsitzende
im Verein der Freunde der Nationalgalerie,
fotografiert von ANDY K ANIA
Frankfurt ins Städel, auch weil
das die einzige Gelegenheit war,
alleine mit der S-Bahn zu fahren.
Heute hängt das Bild in
unserem Familienbüro in Bad
Homburg, es gehört uns
Schwestern gemeinsam.
Die anderen beiden Bilder
von Baumeister befinden
sich auch dort. Wenn wir
uns die Köpfe heißreden,
sitzen wir unter ihnen.
Von den Bildern, auf die
ich persönlichen Zugriff
habe, ist aber das aus dem
Esszimmer nach wie vor
das wichtigste in meinem
Leben. Warum mein
Vater überhaupt moderne
Kunst gekauft hat, weiß
ich nicht – er ist gestorben, als
ich 14 war. Viele wesentliche
Fragen konnten wir da nicht
mehr klären.
APÉRO
18
WILLI BAUMEISTER
Komposition, 1947
Einladung zu Auktionseinlieferungen
Zeitgenössische Kunst, Moderne Kunst, Photographie
Alte Kunst und 19. Jh., Kunstgewerbe, Asiatische Kunst, Afrikanische Kunst
Konrad Klapheck. Gefährliche Liebschaften (Les liaisons dangereuses). 1968. Öl auf Leinwand, 125 x 110 cm. Auktion 4. Juni
Neumarkt 3 50667 Köln T 0221-92 57 290 Poststraße 22 10178 Berlin T 030-27 87 60 80
München 089-98 10 77 67 Zürich 044-422 19 11 Brüssel 02-514 05 86 [email protected] www.lempertz.com
UM DIE ECKE
LOWER EAST SIDE
NEW YORK
Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir
stellen sie vor. In New York schlendern wir
mit der Schriftstellerin Lily Brett von der
Henry Street zum Seward Park, treffen
die Kinder der Boheme und lassen uns von
chinesischen Ziehnudeln hypnotisieren
APÉRO
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N
ach 25 Jahren in SoHo sind mein
Mann und ich umgezogen. In die
Lower East Side. Die Vorstellung
umzuziehen, machte mich nervös. Vieles
macht mich nervös. Niemand würde mich je
mit einem Zen-Buddhisten verwechseln.
Obwohl das SoHo, das wir verlassen
haben, nichts mehr mit dem SoHo gemein
hatte, in das wir gezogen waren, und obwohl
ich mir nicht hätte träumen lassen, gegenüber einer Chanel-Boutique und um die
Ecke von Tiffany und Konsorten zu wohnen, fürchtete ich mich vor dem Umzug.
AM NABEL DER WELT
WO DAS LEBEN LANGSAMER
LÄUFT, SIND AUCH DIE
KÜNSTLER UND GALERIEN
WIE RAWSON PROJECTS
UND REGINA REX (OBEN
LINKS) ZIEMLICH
BODENSTÄNDIG. GLEICH
HINTER DER MANHATTAN
BRIDGE BEGINNT
BROOKLYN
Aber umziehen mussten wir.
Und wir haben es getan.
Mein Mann hat ein menschenfreundliches Naturell.
Er umarmt andere Leute
wortwörtlich. Menschen, die er eben erst
kennengelernt hat, nimmt er in die Arme.
Wäre er ein Labrador, würde er allen die
Hand lecken. Mein Mann hat sich am ersten
Tag, den wir in der Lower East Side verbrachten, in das Viertel verliebt. Wie glücklich er dort ist, hat mich nicht überrascht. Er
fühlt sich fast überall zu Hause. Und er verliebt sich schnell. In Umgebungen, sollte ich
hinzufügen. Nicht in andere Frauen.
Was mich tatsächlich erschreckt hat, war
der Umstand, wie glücklich auch ich in der
neuen Umgebung war. Bis auf den Tag, an
dem ich meinen Mann kennenlernte, habe
ich mich noch nie Hals über Kopf verliebt.
Und auf einmal war ich in die Lower East
Side verliebt. Ohne Wenn und Aber.
Die Lower East Side, vor allem das
Südende der Lower East Side, ist eines der
letzten weitgehend unentdeckten Gebiete
von Manhattan. Es verblüfft mich, wie viele
erfahrene New Yorker diesen Teil Manhattans nicht kennen. New Yorker, die sich
etwas darauf zugute halten, alles über diese
Stadt zu wissen, und die unerschrockene
Erforscher neuer Restaurants, neuer Kunstgalerien und neuer Gegenden sind, sehen
mich ratlos an, wenn ich ihnen erzähle, wie
gut es mir in der Lower East Side gefällt.
New York City ist die am dichtesten
besiedelte und die kulturell vielfältigste Stadt
der Vereinigten Staaten. Hier gibt es irische,
italienische, deutsche, russische, jüdische,
puerto-ricanische und chinesische Einwohner. Wir haben hier die größte afroamerikanische Gemeinschaft des ganzen Landes und
die größte indische Population der ganzen
westlichen Welt. Wir haben die größte asiatische Bevölkerungsgruppe in Amerika und
darüber hinaus Menschen aus der Dominikanischen Republik, aus Jamaika, aus Guyana,
Mexiko, Ecuador, Haiti, Trinidad und
Tobago, aus Kolumbien und aus El Salvador.
Die Stadt ist eine der kulturell durchmischtesten Städte der Welt.
APÉRO
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Im Alltagsleben haben wir in vielen
Bereichen miteinander zu tun, doch die Vielfalt endet dort, wo unsere Haustür beginnt.
In der Lower East Side ist das nicht so. Die
Lower East Side ist multikulturell. Und sie ist
multigenerationell und sozioökonomisch
vielseitig. Die Vielseitgkeit kann man auf der
Straße sehen. Wir haben Menschen aus allen
Schichten. Hier gibt es Arme, Reiche, Alte
und Junge. Hier leben Menschen in allen Farben, in allen Formen und Größen. Wir beten
zu verschiedenen Göttern oder zu keinem
Gott.
Niemand hat es eilig, die Leute lachen
auf der Straße, gehen gelassen und unterhalten sich dabei. Alles wirkt so normal. Und ist
dennoch nie langweilig. Die Gegend hat
etwas Pulsierendes, Lebendiges, Verschrobenes, eine Ausstrahlung von Ruhe und verhältnismäßig wenig Verkehr.
ALLES DURCHEINANDER
ZWISCHEN BASKETBALL IM
SEWARD PARK UND ENTZUG MIT
CHINESISCHER MEDIZIN DARF
DIE KUNST GERNE BUNT SEIN: DIE
GALERISTIN CAROLINE TILLEARD
(RECHTS UNTEN) MACHT IHRE
DINNER MITTEN IN DER
AUSSTELLUNG. BEI STÉFAN
JONOT (RECHTS OBEN) VOM
RESTAURANT LES ENFANTS DE
BOHÈME IST FAST JEDER
KELLNER AUCH KÜNSTLER
Mir gefällt das spannungsgeladene
Ambiente mancher Straßen. Die Graffitis,
die Imbisse, die unrenovierten und heruntergekommenen alten Gebäude, Geschäfte und
Lagerhäuser. Diese spannende Atmosphäre
verbindet sich mit einer Atmosphäre des
Anti-Establishments. Das sieht man an den
Hipsters, die hier leben, und an den Schildern. Das Schild an der Tür von Cheeky
Sandwiches in der Orchard Street besagt:
„Öffungszeiten: von ziemlich früh bis ziemlich spät (bis auf Weiteres).“
Diese Spannungsgeladenheit birgt Möglichkeiten. Möglichkeiten von Veränderungen. Zeichen solcher Veränderungen machen
sich jeden Tag bemerkbar. Jede Woche
scheint eine neue Kunstgalerie zu eröffnen.
Es gibt schon so viele Kunstgalerien. Und
viele haben sich ungewöhnliche Orte ausgesucht. Rawson Projects und Regina Rex aus
der Madison Street haben sich im Souterrain
eines Miethauses mit leicht heruntergekommener Fassade und einem Schild, das den
Notausgang bei Feuer anzeigt, angesiedelt.
Ramiken Crucible befindet sich
am Ende einer Sackgasse an der
Grand Street hinter einem Spirituosenladen.
Endless Editions in der Henry Street
mit eklektischen und interessanten Projekten
organisieren Online-Workshops und stellen
Kunst aus. In einem Kellerraum, dessen
Türen sich von unten nach oben hin zum
Gehsteig hin aufklappen lassen. Der Eingang
führt über eine verrostete und gefährlich aussehende Wendeltreppe hinunter. Das ist die
Wendeltreppe meiner Albträume. Ich kann
sie nicht einmal ansehen, ohne dass es mir
schwindelig wird. Glücklicherweise geht es
nicht allen so. Die Galerie scheint sehr gut
besucht zu sein.
Die Galerien in der Lower East Side
machen den Eindruck, als wären sie Teil der
Nachbarschaft, der Gemeinschaft. Sie haben
nicht das kühle Ambiente viel zu vieler der
großen und unpersönlichen Galerien in
Chelsea. Sie sind von dem Leben um sie
herum nicht abgesondert und entfernt. Sie
sind Teil unserer Lebenskraft.
Caroline Tilleard von Cuevas Tilleard
Projects in der Henry Street hat sich ganz
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offen über die Galerie geäußert, die sie mit
ihrer Partnerin Anna Maria Cuevas 2014
eröffnet hat. „Wir wollten eine weniger förmliche Galerieatmosphäre schaffen, in der sich
junge Künstler wohlfühlen können“, sagte
sie. „Die Lower East Side ist die Gegend, in
der sich alle jungen Galerien ansiedeln. Elitäre und furchteinflößende Galerien wie in
Chelsea haben wir uns hier nicht gewünscht.
Wir wollten an einem Ort leben, wo man
kommen und die Künstler kennenlernen
kann. Hierher kommen viele Künstler, um zu
sehen, was die anderen machen. Bei großen
Eröffnungen gibt es immer ein Abendessen
in der Galerie, wo junge Sammler eingeladen
sind oder Leute, die sich mit uns über Kunst
unterhalten, ohne bisher etwas gekauft zu
haben, und sie unterhalten sich mit dem
Künstler. Das ist eine sehr schöne Atmosphäre.“
Die Restaurants und Cafés sind vom
gleichen Geist der Zugehörigkeit zur
Gemeinschaft geprägt. Es gibt zahllose Restaurants und Cafés. Das Spektrum reicht von
dem teuren und erstklassigen Chinalokal
Mission am East Broadway über den einfachen und authentischen Spanier El Castillo
in der Madison Street bis zu dem sehr billigen und winzig kleinen Lam Zhou, das ebenfalls am East Broadway liegt. Im Lam Zhou
habe ich zugesehen, wie ein Teigklumpen in
FOTOS: FRIDA STERENBERG
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
ÜBERSETZUNG: MELANIE WALZ
APÉRO
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Berliner Festspiele
21. Januar bis 16. Mai 2016
Kunst der Vorzeit
Felsbilder aus der
Sammlung Frobenius
Günter Brus, Wiener Spaziergang, 5. Juli 1965. Innenstadt, 1010 Wien
© BRUSEUM / Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum;
Foto: Ludwig Hoffenreich
D
Martin-Gropius-Bau
Rote Malerei, Simbabwe,
Chinamora Reserve, Chipuku Höhle, 8.000-2.000 v.Chr., Aquarell von Elisabeth
Mannsfeld, 1929 65x121 cm © Frobenius-Institut Frankfurt am Main
die Länge gezogen
und wie ein Lasso zu
Ziehnudeln geworfen
wurde, während an
einem kleinen Tisch
Hunderte von Teigklößchen geformt
wurden. Das hat
etwas Hypnotisches.
Mein Lieblingsrestaurant in New York ist das Les Enfants
de Bohème in der Henry Street. Sobald ich
das Les Enfants de Bohème betrete, bin ich
glücklich und fühle mich zu Hause. Der
Inhaber Stéfan Jonot hat eine eigene Theorie
über Räumlichkeiten. Ihm zufolge ziehen
Räume die Leute an, für die sie geschaffen
sind. Wenn das stimmt, dann wäre es die
Erklärung, warum ich im Les Enfants de
Bohème esse. Regelmäßig.
as Essen ist köstlich, die Atmosphäre
ist typisch Lower East Side, sehr entspannt und sehr intellektuell. Alle Mitarbeiter des Lokals sprechen mehrere Sprachen und haben mehrere Berufe. Michelange
ist Dokumentarfilmer, Hypnotherapeut und
Kellner. Ich habe ihn über die Herkunft des
Begriffs „Kollaboration“ räsonnieren hören
und darüber, dass Künstler ihren eigentlichen Lohn im Schaffen ihrer Werke sehen
sollten, statt auf finanziellen Erfolg zu schielen. Und ich weiß, wie unglücklich es ihn
macht, wenn das Lieblingsgericht eines
Stammkunden nicht auf der Karte steht.
In der Lower East Side unterhalten wir
uns gerne darüber, welches Glück wir haben,
hier zu leben. Neulich sprach ich darüber mit
dem Juwelier Ray Griffiths, der ein Atelier an
der Fifth Avenue hat und seit 14 Jahren in der
Lower East Side wohnt. „Die Gegend
kommt einem vor wie Manhattan in den
Fünfzigern“, sagte er. „Hier gibt es Familien,
die seit 50, 70, 100 Jahren in diesem Viertel
leben. Ich wohne ganz nahe am Fluss. Im
Handumdrehen bin ich am East River, den
ich liebe. Und in warmen Sommernächten
kann man um ein Uhr nachts im Park alte
Knaben Schach und Karten spielen sehen.“
Dieser Park ist der Seward Park. Er
umfasst mehr als einen Hektar Land. Im
Seward Park ist immer etwas los. Es gibt TaiChi-Unterricht, spielende Kinder, arbeitende
Erwachsene, Sport treibende Erwachsene,
lernende Studenten und übende Musiker.
Die bunte Mischung aus Alt und Jung,
Neuankömmlingen und Alteingesessenen,
und die Vielfalt der Sprachen liebe ich ganz
besonders an diesem Viertel. Letzte Woche
war ich zum Einkaufen in dem Supermarkt
um die Ecke. In Supermärkten verliere ich
schnell die Übersicht. Mein Orientierungsvermögen tendiert gegen null. Wer mich
nach dem Weg fragt, hat Pech. Ich bin gerne
hilfsbereit. Zahllose Touristen habe ich
schon in die falsche Richtung geschickt.
In dem Supermarkt um die Ecke arbeiten hauptsächlich spanischsprachige Angestellte. Ich wollte Brot kaufen. Eine Frau, die
gerade Regale einräumte, fragte ich nach der
Brotabteilung. Sie nickte, lief los und kam
mit einem Einkaufswagen voller Hühnerteile
zurück. Sie waren im Sonderangebot.
„Brot?“, sagte ich fragend. Sie ließ die Hühnerschenkel fallen, die sie in der Hand hielt,
und griff nach Hühnerbrüsten. Ich schüttelte
den Kopf. Sie bot mir Hühnerflügel an. Viele
Hühnerflügel. Mittlerweile machte ich vermutlich einen gequälten Eindruck. Sie grub
tiefer in den Hühnerteilen und bot mir zehn
Hühnerbeine für drei Dollar an. Dann lief
ich mit meinen Hühnerbeinen nach Hause.
Ich kam an sieben riesengroßen runden
Nudelpackungen vorbei, die auf dem Gehsteig lagen. Ich war versucht, mich zu bedienen. Die Nudeln hätten hervorragend als
Beilage zu den Hühnerbeinen gepasst. Aber
die Packungen waren zu groß. Außerdem
habe ich nicht mehr gestohlen, seit ich als
Zehnjährige beim Ladendiebstahl erwischt
wurde.
Bei einem kleinen 99-Cent-Laden, an
dem ich vorbeikam, kaufte ich ein Spanischlehrbuch für Anfänger.
12. März bis 6. Juni 2016
Günter Brus
Störungszonen
Berliner Festspiele
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
T +49 30 25486 0
Mi–Mo 10–19 Uhr, Di geschlossen
INTERVIEW
FUKUSHIMA HAT
ALLES VERÄNDERT
Bunte Blumen,
poppige
Monster, teure
Handtaschen –
Takashi Murakamis
Kunst war bisher
erst auf den zweiten
Blick böse. In
Tokio zeigt er nun
seine Welt nach
dem Supergau
T
akashi Murakami, geboren 1962, ist
Japans berühmtester Künstler. Seine
Arbeit mixt Pop, Mode und japanische
Fankultur. Er selbst spricht von superflat,
kollaboriert mit jungen Künstlern, Musikern
und Marken, produziert Filme und
Animationen. Sein Bild The 500 Arhats (2012),
100 Meter lang und drei Meter hoch,
entstand als Reaktion auf die Katastrophe
von Fukushima. Es zeigt 500 erleuchtete
Buddha-Schüler in einer apokalyptischen
Ästhetik, die alles auf den Kopf stellt,
wofür Murakami sonst weltweit gefeiert, in
Japan allerdings verachtet wird. Seine
Schau im Mori Art Museum in Tokio ist
die erste Einzelausstellung in seiner Heimat
seit 14 Jahren. Sie kreist um spirituelle
Erleuchtung, die Kraft der Natur und die
Conditio humana in einer feindlichen Lebenswirklichkeit. Inspiriert sind die 500 Arhats
von dem gleichnamigen Gemälde von
Kano Kazunobu (1816 – 1863): Der malte
seine Buddha-Schüler 1855, als ein starkes
Erdbeben Tokio erschütterte. BLAU sprach
mit Murakami über die Folgen Fukushimas
für seine Kunst – und das Japan von heute.
APÉRO
24
Herr Murakami, Sie sind Japans bekanntester Künstler. Nach 14 Jahren ohne institutionelle Ausstellung dort zeigt das Mori Art
Museum Ihre neuen Werke. Wieso hat es so
lange gedauert?
— Ich denke, das steht symbolisch
dafür, wie sehr ich in Japan gehasst werde.
Diese Ausstellung kam nur deshalb
zustande, weil die Mori Building Company
mich zuvor ausgewählt hat, mit ihr an
ihrem Markenauftritt zu arbeiten und wir
eine langfristige Beziehung miteinander
haben. Trotzdem nehme ich an, dass ich
nach dieser Ausstellung zu meinen
Lebzeiten keine weitere Einzelpräsentation
mehr in einem japanischen Museum
haben werde.
Wie hat sich Ihr Land seit dem Tsunami im
März 2011 verändert – und wie hat sich
dieses Ereignis auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
— Japan bewegt sich momentan nach
rechts. Nun ja, ich glaube, das gilt wohl für
einen Großteil der Welt. Aber so oder
so lässt die Regierung um Nichtigkeiten
herum ihre Muskeln spielen. Die Art und
Weise, wie das passiert, ähnelt der Militärregierung des Tokugawa-Shogunats kurz
vor ihrem Kollaps vor 150 Jahren. Es wird
eine wie auch immer geartete Revolution
geben, bevor diese Regierung zusammenbricht. Damals kam sie in Form der
Meiji-Restauration, die Japan den Weg zur
Verwestlichung geebnet hat. Ich habe
immer versucht, ein Selbstporträt von Japan
und seinen Schwächen zu zeichnen.
Deshalb weisen meine Arbeiten gerade eine
versteckte Düsterheit auf. Damit einher
TAK ASHI MURAK AMI
Oben: The 500 Arhats (BLUE Dragon), 2012,
Installationsansicht Mori Art Museum, Tokio, 2015
geht das Bedürfnis, diese unveränderbare
Situation, die Stimmung allgemeiner
Mutlosigkeit, die das Japan von heute erfasst
hat, aus vollem Halse wegzulachen.
Inwiefern hat Fukushima Ihr Leben
beeinflusst?
— Wer heute in Tokio lebt, muss sich
eingestehen, zukünftig hohen Dosen von
Radioaktivität ausgesetzt zu sein.
Wer nicht in Tokio lebt, kann sich kaum
vorstellen, was für ein immenses Umdenken das erfordert. Ich glaube, die
Menschen außerhalb Japans sind sich
viel eher bewusst, wie gefährlich das
Essen hier in den letzten fünf Jahren
gewesen ist.
Die 500 Arhats sind im Gegensatz zu
Ihren früheren Bildern alles andere als
mangaähnlich oder niedlich. Wie genau
kam es zur dieser dunkleren Ästhetik?
— Waren meine früheren Arbeiten
ausschließlich niedlich? Das wäre
natürlich enttäuschend. Gleichzeitig fi nde
ich es überraschend, dass die Arhat-Arbeiten
APÉRO
25
dunkel wirken sollen. Für mich sind sie
ein Versuch, diese Art von kraftvoller,
spiritueller Energie von Zen-Malereien zu
evozieren. Ich kann verstehen, wenn
man in ihnen eine gewisse Unnahbarkeit
ausmacht, aber dass sie „dunkel“ wirken
sollen, kommt für mich etwas unerwartet.
Wenn Sie von Ihrer Erfahrung mit dem
japanischen Publikum ausgehen: Glauben
Sie, Ihre Kunst wird an der Einstellung zu
der Politik Ihres Landes etwas verändern?
— Ich habe keinerlei Ehrgeiz in dieser
Richtung. Ich bin nur ein Maler ohne praktische Fähigkeiten. Ich werde niemals von
Nutzen für die Allgemeinheit sein. Ich
lasse lediglich die Dinge, die ich denke und
fühle, in Bilder und Skulpturen einfl ießen.
INTERVIEW: GESINE BORCHERDT
TAKASHI MURAKAMI: THE 500 ARHATS, BIS
6. MÄRZ IM MORI ART MUSEUM, TOKIO
TAKASHI MURAKAMI’S SUPERFLAT COLLECTION –
FROM SH HAKU AND ROSANJIN TO ANSELM
KIEFER, 30. JANUAR – 3. APRIL IM YOKOHAMA
MUSEUM OF ART, YOKOHAMA, JAPAN
PORTRÄT
„AM ENDE BIN ICH
WOHL EIN POPULIST“
In den 3D-gedruckten Installationen
des Josh Kline scheint noch einmal
die Möglichkeit einer politischen Kunst auf.
Eine Begegnung mit der Gallionsfigur
des kritisch gebliebenen New York
APÉRO
26
I
n der Kunstwelt von New York City
war es sein Jahr, 2015, das Jahr von Josh
Kline. Als die Kunstkritiker sich im
Frühling letzten Jahres darauf einigten, die
Neueröffnung des Whitney Museums als
einen Glücksfall für die örtliche Museumswelt zu bejubeln, da erwähnten viele Artikel
nicht nur den schicken Neubau oder
die Riesenleinwände wohlbekannter Malerhelden, sondern auch ein fliederfarbenes
Wägelchen, von dem man auf den ersten
Blick glauben konnte, die morgendliche
Putzkolonnen hätten es in einer Galerieecke
vergessen. In Wirklichkeit handelte es sich
bei dem müllsackbewehrten Gefährt um
Josh Klines Cost of Living (Aleyda) aus dem
gleichen Jahr.
Wenn das Whitney solche Werke
sammelt, so die Kritikerhoffnung, dann
entwickeln die New Yorker Museen nach
Jahren wirtschaftsfinanzierter Partylaune
vielleicht wirklich wieder so etwas wie ein
politisches Gewissen.
Die politische Sprengkraft des eigentlich eher unscheinbaren Wagens verbirgt
sich in der Ladung. Neben säuberlich
sortierten Bürsten und Schwämmchen liegt
eine körperlose Hand. Ihre Finger verkrampfen sich so eng um den Abzug einer
Fleckenwasser-Sprühflasche, dass Werkzeug und Benutzer nicht mehr zu unterscheiden sind. Ein geisterhaft bleicher Frauenkopf liegt auf der mittleren Ablage. Die früh
ergrauten Haare sind schmucklos zurückgebunden, der müde Blick geht ins Leere.
Darüber nochmals Fleckenwasser
und noch ein Kopf, doch hier hat sich der
Werbeaufdruck der Flasche bereits weit
über das Gesicht ausgebreitet. Arbeit und
Arbeitnehmer verschmelzen. Der Mensch
wird zur Mensch-Maschine.
Inmitten des Eröffnungsspektakels
erinnerte Cost of Living feierlustige Vernissagen-Gäste an all die outgesourcten Reinigungskräfte, Küchenhilfen und Aufpasser,
die man bei solchen Gelegenheiten gerne
vergisst. Klines Skulptur war in der Ausstellung ein leises, aber wirksames Zeichen
dafür, dass so mancher junge Künstler in
New York auch heute noch genauso
politisch denkt, wie es hier vor 50 oder 60
Jahren einmal jeder Künstler tat.
Kline gibt gerne zu, dass es sich
manchmal seltsam anfühlt, in der relativen
Bequemlichkeit New Yorks politische
Kunst zu machen: „Jeder weiß, dass es in
unserem Land vielen schlechter geht, als
es ihnen gehen müsste. Aber es fällt schwer,
politisch zu denken, wenn im eigenen
Stadtviertel immer neue Yogastudios jedes
Zeichen von Armut verdrängen.“ Kline
will der Gegenwart dabei helfen, sich selbst
ernst zu nehmen. Der bisher vielleicht
publikumswirksamste Versuch war Skittles –
eine Arbeit die er vor zwei Jahren mitten
auf der New Yorker High Line zeigte. Hier,
in einem Stadtteil, der wie kein anderer
für die gnadenlos schnelle Gentrifizierung
steht, stellte er einen grell leuchtenden
Getränkeautomaten auf, gefüllt mit den gleichen Plastikfläschchen, in denen die
Fitnessclubs der Nachbarschaft horrend
teure Grünkohl-Saftkuren und DetoxShakes verkaufen. Nur wer genauer hin-
COST OF LIVING (ALEYDA), 3D-DRUCKSKULPTUREN AUS GIPS, INKJET-TINTE UND CYANOACRYLAT,
HAUSMEISTERWAGEN, LED-LICHT, 103 × 91 × 50 CM.
Links: HOPE AND CHANGE (DETAIL), 2015, INSTALLATION 2015, TRIENNIALE: SURROUND AUDIENCE,
NEW MUSEUM, NEW YORK
schaute, erkannte, was es mit den Säften auf
sich hatte. Gefüllt waren die Flaschen mit
all dem Wohlstands- oder Armutsmüll, den
modernes Leben wirklich verursacht:
Kombucha, Agavendicksaft und AmericanApparel-Kleidung für die Hipsterhochburg
Williamsburg; Champagner, Dollarscheine
und Lachskaviar für die Wall Street Broker.
Bei aller Direktheit der Werke hält Josh
Kline nicht viel von erhobenen Zeigefingern. Wie viele New Yorker Künstler
APÉRO
27
weiß er aus eigener Erfahrung, wie es ist,
wenn sich die persönliche und die professionelle Identität irgendwann nicht mehr
auseinanderhalten lassen. Im Gespräch
wirkt er jünger als seine 36 Jahre. Nein,
fotografieren lassen möchte er sich
nicht, doch in seiner Ecke der New Yorker
Kunstwelt erkennt ihn ohnehin jeder
schon von Weitem an der in den Nacken
geschobenen Baseball-Mütze und dem
lauten Lachen.
Dass Kline für manche zum Repräsentanten einer jungen, von neuen Technologien begeisterten Szene geworden ist, liegt
auch an seinem ungewöhnlichen Werdegang. Kurz nach dem Abschluss der Film
School in seiner Heimatstadt Philadelphia
zog er 2002 nach New York. Kaum
angekommen stellte er fest, dass er so kurz
nach 9/11 nirgendwo einen passenden
Job finden würde, und so schlug er sich für
anderthalb Jahre mit Gelegenheitsarbeiten
und Praktika durch. Bei einem seiner
Assistentenjobs verstand er sich so gut mit
seinen Kollegen und Vorgesetzten, dass
ihn die New Yorker Videokunstinstitution
Electronic Arts Intermix zum Kurator
ernannte – eine Position, die er ganze zehn
Jahre innehatte, auch noch, als er sich die
Ateliermiete schon mit der eigenen Kunst
finanzieren konnte.
s war am Anfang nicht leicht gewesen,
sich einen Namen zu machen. Als er
2009 in einem leer stehenden Ladenlokal eine Ausstellung mit den Werken
einiger Freunde organisierte, nannte er sie
mit resigniertem Humor Nobodies New
York. Heute werden die dort versammelten
Künstler fast alle von der Galerie 47 Canal
vertreten, die zu den erfolgreichsten in
der jungen Lower East Side gehört. Was die
Gruppe damals vereinte, erinnert sich
Kline, war die allgemeine Ratlosigkeit nach
dem Börsencrash 2008 und eine gewisse
Genervtheit angesichts des Bad-Boy-Gehabes der damals in New York gerade angesagten Großformat-Maler. Klines Umfeld
interessierte sich mehr für die Zukunft als
fürs Ringen mit der Kunstgeschichte,
eher für neue Medien als für die Mythen des
terpentinverseuchten Malerateliers.
Die in dieser Zeit innerhalb
und außerhalb der Kunstwelt geknüpften
Bekanntschaften und die miteinander
geteilten Zukunftssorgen wurden schnell
zu Klines künstlerischem Rohmaterial.
Für eine Installation, die 2012 im Kasseler
Fridericianum ausgestellt war, machte
er Silikonabgüsse von den Händen seiner
Freunde, die sich so krampfhaft an Arbeitswerkzeuge (iPhones, Blackberrys) klammerten, dass man die Verlustangst in der
Muskelspannung zu erkennen glaubte.
Zu den Aufgaben des Porträts gehört
nach allgemeinem Verständnis, die einzig-
E
artige und unverwechselbare Persönlichkeit
des Dargestellten einzufangen. Kline hat
in den letzten Jahren in den verschiedensten
Medien und Formaten gearbeitet und ist
doch immer wieder zurückgekehrt zur Frage,
wie man noch Porträts machen kann in
einer Stadt, in der eben jene unverwechselbare Persönlichkeit für immer mehr
Menschen in Bergen von Überstunden
verschwindet. Was hat sich geändert
zwischen den frühen Silikonhänden und
Cost of Living im Whitney? Nicht viel,
sagt Kline, aber irgendwie auch alles.
Wo zu Beginn vor allem der eigene, aus
Teilnehmern der sogenannten Kreativwirtschaft bestehende Freundeskreis das
Material lieferte, da geht es nun um einen
zwar ungleich größeren, aber manchmal
erschreckend ähnlichen Wirtschaftszweig.
Arbeiten wie Cost of Living behandeln das
Fußvolk des supply chain management; Reinigungskräfte und FedEx-Paketboten mit
zeitfressenden Mindestlohnjobs; der Teil
der Gesellschaft also, den man in Amerika
„the working poor“ nennt.
ür den Wagen im Whitney freundete
sich Kline mit dem Reinigungspersonal
eines großen New Yorker Hotels an –
vor allem Frauen aus Lateinamerika. Eine
von ihnen, Aleyda, erklärte sich bereit, ihm
in voller Arbeitsmontur Modell zu stehen.
Um später ein dreidimensionales Bild zu
bekommen, fotografierte Kline sie mit einer
hochauflösenden Kamera hunderte Male
F
aus allen Richtungen. Die so entstandene
Bildermasse schweißte anschließend
ein befreundeter IT-Techniker zu einem
einzigen, dreidimensionalen Computermodell zusammen. Zur Skulptur wird das
Ganze erst im letzten Schritt, wenn
Kline die digitalen Dateien mit Hilfe von
3D-Druckern aus der virtuellen in die reale
Welt befördert. Kline selber hält solche
Fragen letztlich für technischen Kleinkram.
Natürlich sei es als Künstler
seine Aufgabe, ein Bild
seiner eigenen amerikanischen
Gegenwart zu zeichnen
Doch man kann sich natürlich trotzdem
fragen, was es für eine Skulptur bedeutet,
dass sie hauptsächlich am Computer
entworfen wurde. Als das Whitney Cost of
Living (Aleyda) in seine Sammlung aufnahm,
da gehörte zum physischen Objekt auch
eine riesige 3D-Datei und ein Vertrag, der
vorschreibt, die mit der Zeit verblassenden
Druckstücke bei Bedarf zu ersetzen – und
zwar immer mithilfe des aktuell leistungsfähigsten 3D-Druckers.
In seiner Zeit als Kurator hat Kline
gelernt, dass frühe Videokunst aus den
Siebzigern im Laufe der Jahre immer
schlechter aussieht. Für seine eigene Arbeit
dreht er die Sache daher schlichtweg um:
FREEDOM, 2015. INSTALLATIONSANSICHT MODERN ART OXFORD.
Links: SKITTLES (DETAIL), 2014, KÜHLSCHRANK, LICHTBOX, FLASCHEN MIT
FLÜSSIGKEIT. IM AUFTRAG VON FRIENDS OF THE HIGH LINE.
„Immer, wenn meine Arbeit in der Zukunft
erneuert werden muss, wird sie ein bisschen
besser aussehen, weil die Qualität von
3D-Drucken immer weiter zunehmen wird.“
Nur wenige Monate vor der WhitneyEröffnung hatte bereits ein anderes
Werk von Kline für Gesprächsstoff gesorgt.
Anlässlich der Triennale im New Museum
hatte Kline die größte Galerie des Museums mit einem Rudel mannsgroßer Teletubbies bestückt. In police riot gear starrten sie
den Besuchern entgegen, während sich auf
ihren Bauchbildschirmen ehemalige NYPDPolizisten durch die Twitterfeeds politischer Aktivisten wühlen. Schattenspendende Bäume stellen sich auf den zweiten
Blick als Handy-Sendemasten heraus. Bei
den seltsamen Früchten an ihren Ästen
handelt es sich um Kreditkarten. Für New
Yorker, deren Erinnerung an die Polizeitaktiken gegen Occupy Wall Street ebenso frisch
war wie die Trauer um den von weißen
Polizeibeamten erwürgten Afroamerikaner
Eric Garner, ergab die Kombination aus
drolligen Kindercharakteren und Polizeistaatssymbolik einen schwerverdaulichen
Albtraum-Cocktail. Im schummrigen Licht
der Galerie werden die sonst so fröhlich
blubbernden Babyfernsehstars zu Idealbewohnern eines futuristischen Polizeistaats. Vier genetisch manipulierte Kindwesen, denen Ortungsantennen und
ruhigstellende Unterhaltungselektronik
bereits implantiert sind.
Fragt man Kline nach seinem manchmal fast altmodisch wirkenden Interesse
an klassisch linken Themen wie Arbeitswelt
oder Polizeigewalt, kann er sich schnell
in Rage reden. Natürlich sei es als Künstler
seine Aufgabe, ein Bild seiner eigenen
amerikanischen Gegenwart zu zeichnen –
und natürlich gehörten da die Erinnerungen an Polizeigewalt genauso dazu wie die
Allgegenwart entwürdigender Akkordjobs.
„Nichts interessiert mich mehr, als Kunst zu
machen, die neben einer Kunstelite auch
ganz normale Leute anspricht. Am Ende
bin ich wohl vor allem ein Populist.“ Als
er die Überraschung bemerkt, die seine
Selbstbeschreibung auslöst, grinst er: „Soll
ich das böse Wort noch mal sagen? Kein
Problem: Po-pu-list!“
TEXT: GREGOR QUACK
APÉRO
29
Zart bist du, mein Deckchen.
Es bewegt sich auf dir
ein buntes Volk der Träumer
auf einer Lichtung,
in einem Wald, in einem Tal?
DICHTER DRAN
WONDER
GIRLS
TRAVEL
Gekauft aus Sehnsucht,
weil Kreuzstich, Perlgarn,
Miniaturen ständig versprechen,
mit mir Spiel im Blick
zu führen, Wort zu halten.
Nora
GOMRINGER
Was für Energien werden
frei, wenn die Sprachkunst
auf die Bildkunst triff t? Für
BLAU hören Lyriker auf den
Klang der Kunst. Nora Gomringer, Jahrgang 1980, stickt
„morgenbang“ und „Abendsang“ und „Seufzerklang“.
Ich bin das Füchslein, ich renn
mit Silberkrallen, ich bin der Bär
und blicke irritiert.
Töten, töten und dann
den Planeten unterwerfen,
das piepst die kleine Delegation.
Inspiriert von
Und dann gibt’s Jackpotpunktescore!
Der Fliegenpilz, Waldsteher,
männleinstumm, mantelum!
Dingdingdingdingdingding!
Musst dich nur im Blick verdingen.
Ana Botezatu
Und über allem ein Gott,
so viel ex-Näh-machina!
(Die zarte Hand der Künstlerin,
die nenn ich so.)
Und bei allem Trubel gegenseitigen
Auslöschens ist das Deckchen
zart. Bist zart, so zart, mein Deckchen.
Bist wie alle Kriegsschauplätze nach
den Schlachten. Bist morgenbang,
bist Abendsang, bist Seufzerklang.
Und bist auch Wahnsinnskichern
durch den Stich hindurch.
ANA BOTEZATU
Wonder Girls Travel, 2010, Tuch, 43 × 43 cm
APÉRO
30
Hubertus Hamm
Time Modelling
30. Januar–5. März 2016
GALERIEKORNFELD
Fasanenstraße 26 | 10719 Berlin
Di – Sa, 11– 18 Uhr | www.galeriekornfeld.com
Venice, No. 4; 26.06.2015, 18:29 CET, 2015, Pigmentprint, 108 x 161 cm, Unikat (Detail)
Seiten
seines Lebens
Die Liebe, der Spott, das
allesfressende Auge:
Am 9. März 1956 beginnt
PICASSO ein Skizzenbuch.
In den Hauptrollen:
seine letzte Frau Jacqueline
und das Atelier in der
Villa La Californie.
Genau 60 Jahre später
ist das Buch in BLAU zu
sehen. Und sein Biograf
Sir John Richardson
erinnert sich an die Jahre
mit dem Meister
CARNET 1133, 9. MÄRZ – 17 JUNI 1956,
China-Tinte, Bleistift, Graphitmine, Kohle, Kreide und Gouache auf Velinpapier,
42 × 33 cm, spiralgebundenes Skizzenbuch mit 22 Zeichnungen
REVUE
34
„Es war eine glückliche
Zeit für Picasso.
Jacqueline Roque war
die neue Frau an
seiner Seite. Er war
verrückt nach ihr, sie
war verrückt nach
ihm. Und unterwürfig
war sie bis zur
Selbstaufgabe“
— SIR JOHN RICHARDSON
SIR
JOHN RICHARDSON
im Gespräch mit Cornelius Tittel
Sir John, im März 1956, als Picasso
das Skizzenbuch beginnt, das
wir in BLAU dokumentieren, sind
Sie 32 Jahre alt, leben auf einem
Schloss in der Provence und gehören
zum engsten Kreis um Picasso.
Wie muss man sich diese Tage vor
genau 60 Jahren vorstellen?
— Für mich war es eine traumhafte
Zeit. Ich lebte gemeinsam mit
Douglas Cooper auf Château de
Castille in der Nähe von Avignon,
an den Wänden die damals mit
Abstand wichtigste Sammlung
kubistischer Meisterwerke – was für
mich als jungen Kunsthistoriker
die beste Schule bedeutete, die ich
mir hätte vorstellen können. Hinzu
kam, dass von den vier Künstlern,
die Douglas gesammelt hatte, nur
einer gestorben war.
sie mit ihm zu Tisch saß, vielleicht
am Ende eines gemeinsamen
Essens. Man darf nicht vergessen,
dass fast alle Gemälde, die seine
Frauen zeigen, entstanden sind,
ohne dass sie Modell gesessen
hätten. Sie waren im Hintergrund
präsent, kamen vielleicht zwischendurch ins Atelier, um etwas zu
bringen. Aber hier, bei diesen ersten
vier Skizzen, hat er Jacqueline
vor sich. Er fängt vier völlig verschiedene Ausdrücke von ihr ein.
Was war Jacqueline für ein
Mensch?
— Ich mochte sie. Allerdings
war sie Picasso gegenüber bis zur
Selbstaufgabe unterwürfig.
Sir John Richardson, fotografiert von François Halard.
Wenn er gerade nicht am vierten Band seiner Picasso-Biografie
arbeitet, kuratiert der 91-jährige Kritiker der New York Review of Books
und frühere USA-Chef von Christie´s Ausstellungen für Gagosian
Juan Gris.
— Richtig. Die anderen gehörten
zu unserem Freundeskreis und
wohnten mehr oder weniger in der Nähe. Fernand Léger hatte kurz
nach unserem Einzug in Castille das große Treppenhaus mit
seinem Wandgemälde Les Trapézistes verziert, mit Georges Braque
verbrachte ich lange Nachmittage im Gespräch über sein Werk.
Doch am häufigsten trafen wir Picasso. Entweder kam er nach
Castille, um mit uns zum Stierkampf zu gehen und dann meist mit
seiner Entourage zum Abendessen zu bleiben. Oder wir fuhren
nach Cannes und besuchten ihn in La Californie.
Erinnern Sie sich an Ihre erste
Begegnung mit ihr?
— Nun, in Vallauris, wo Picasso
vor Cannes gewohnt hatte, half
sie dem Ehepaar Ramié in ihrer
Keramikwerkstatt, die hauptsächlich damit beschäftigt war,
Picasso-Keramiken in großen Auflagen herzustellen. Wir trafen sie
dort bei unseren Besuchen, wir wussten, dass sie geschieden
war und eine kleine Tochter hatte. Aber erst, nachdem Picasso von
Françoise Gilot verlassen worden war, begann sie auch jenseits
der Werkstatt in Picassos Leben aufzutauchen. Picassos Suche nach
einer neuen Gefährtin begann und es wurde ein Schauspiel, das
ich aus nächster Nähe erleben durfte.
Wo die Skizzen entstanden, die vor uns liegen.
— Es war eine glückliche Zeit für Picasso. Jacqueline Roque war
die neue Frau an seiner Seite. Sie war unsterblich verliebt in ihn,
er war verrückt nach ihr. Die ersten vier Skizzen zeigen Jacqueline.
Und sie sind insofern ungewöhnlich, als dass er sie offensichtlich
gemalt hat, während sie vor ihm saß. Nicht, dass sie ihm explizit
Modell gesessen hätte – ich vermute, er hat sie gezeichnet, während
Bitte erzählen Sie uns davon.
— Eines Tages, es muss 1954 gewesen sein, Picasso hatte gerade
mit uns und seiner Entourage einen Stierkampf besucht und
war über Nacht mit Cocteau und den anderen im Château de Castille
geblieben, bat er uns, ihn nach Perpignan zu begleiten. Graf de
Lazerme, der das schönste Stadt-Palais in Perpignan bewohnte und
ein Verehrer Picassos war, hatte ihn für ein paar Tage eingeladen.
REVUE
50
Und da Picasso schon länger ein Auge auf
Paule, die junge und unwerfend schöne
Frau des Grafen geworfen hatte, sagte er
zu. Graf Lazerme war unglaublich
stolz, Picasso und seine Freunde als Gäste
begrüßen zu dürfen, auch wenn der
prominenteste Hausgast ganz offensichtlich mit seiner Frau schlief. Um die
Sache noch komplizierter zu machen, hatte
Picasso zwei weitere Frauen in seiner
Reisegesellschaft, die beide als neue Lebensgefährtin in Frage kamen. Da war
Jacqueline, deren Hingabe er auch jenseits
der Keramikwerkstatt zu testen gewillt
war. Und Rosita, die schöne, an eine Zigeunerin erinnernde Tochter seines verstorbenen Freundes Manolo Hugué …
… eines nicht sonderlich bedeutenden
Paulo Picasso, Pablo Picasso, Jacqueline Roque, Paulos Frau Christine, John Richardson, Jean Cocteau
katalanischen Bildhauers, mit dem Picasso
und Douglas Cooper auf dem Weg zum Stierkampf in Arles, 1957
40 Jahre vorher viel Zeit verbracht hatte.
— Exakt. Und Manolos Witwe hatte
sich in den Kopf gesetzt, ihre Tochter an
Picasso zu verkuppeln und nutzte den Ausflug, um sie in Stellung
regelmäßig Fans und Bittsteller, die auf eine Audienz hofften. Der
zu bringen. Picasso schien die Spannung zwischen den drei Frauen Concierge kam dann und überbrachte Picasso die Botschaften.
zu genießen. Dass drei derart attraktive, junge Frauen mehr oder
Da war der Fotograf mit bester Empfehlung von Cocteau – „Lasst
weniger offensiv um ihn buhlten, machte ihm, dem über 70-Jährigen ihn rein“, war Picassos Kommentar. Da war der Schweizer
ganz offensichtlich gute Laune. Mir kam es vor wie in einem
Journalist, der ein Interview wollte – „Auf keinen Fall.“ Da war
klassischen Theaterstück – wir alle warteten nur darauf, wem der
der alte, aber langweilige Freund – „Warum nicht?“ Und ich
Held den Apfel geben würde.
erinnere mich an zwei schwedische Mädchen, die in einer Fernsehsendung namens „Wir machen ihre Träume wahr“ den großen
Jacqueline.
Preis gewonnen hatten und nun wollte man ihnen den Traum ihres
— Zuerst sah es nicht danach aus. Am zweiten oder dritten Tag
Lebens erfüllen, und der war, Picasso zu treffen.
befahl er ihr, zurück nach Vallauris zu fahren. Er habe genug
von ihr. Doch Jacqueline stoppte alle 50 Kilometer und rief bei den Und?
Lazermes an, ließ sich Picasso geben und flehte ihn an, zurückkeh— Picasso ließ sie wegschicken. Er habe nicht vor, zum ersten
ren zu dürfen. Sie drohte sogar, sich umzubringen. Ich weiß nicht, Preis in einer TV-Sendung zu werden. Aber er liebte es, all
nach wie viel Kilometern Picasso das Gefühl hatte, Jacqueline
die Geschenke seiner Verehrer aufzumachen. Ob es Boomerangs
habe die Probe bestanden. Jedenfalls erklärte er ihr, dass, wenn
waren oder ein aus einem Elefantenfuß gemachter Papierkorb,
sie gewillt sei, ihr ganzes Leben ihm zu widmen, dass sie dann,
alles kam irgendwo im Haus unter. Die Blumensträuße wurden
nur dann zurückkehren dürfe.
einfach in die Regale gestellt, wie Picasso forderte: stets ohne
Wasser. Und dort trockneten sie dann vor sich hin. Je absurder die
Danach wurden Sie unzertrennlich.
Geschenke, desto erfreuter war er meist. Ein Rolle Klopapier
— Und zogen nach Cannes, in die Villa Californie. Die Tuschezeich- mit Geldscheinen bedruckt hatte es ihm besonders angetan. Und in
nungen, in denen die Augen einer Frau immer größer werden und
diesem Wirrwarr, zwischen peruanischen Masken und einem
mit dem Bild vor ihr verschmelzen, zeigen den großen Saal, in dem alten Panettone, den die Mäuse angeknabbert hatten und der nun
Picasso Gäste empfing. Es ist das Fenster, das hier keinen Zweifel
aussah wie ein Modell des Kolosseums, standen seine Bilder und
zulässt. Und der Schaukelstuhl, der das wichtigste Möbel darstellte. die berühmte bronzene Katzenskulptur, die er als Hocker benutzte.
Ihn finden wir auch auf vielen Fotografien aus diesen Tagen.
Sie sagten es bereits: glückliche Zeiten.
Wie sah der Alltag in La Californie aus?
— Und für Jacqueline immens anstrengende. Sie schmiss diesen
— Wenn Picasso malte, herrschte eine angespannte Atmosphäre. großen Haushalt mit wenig Hilfe und musste dabei regelmäßig bis
Wenn er gerade nicht an etwas Wichtigem arbeitete, war es lockerer,
spät in die Nacht wach bleiben, weil er dann arbeitete. Er brauchte
er empfing Freunde zum Lunch. Vor dem Haus versammelten sich sie unentwegt.
REVUE
51
Sie tat, was er damals in Perpignan gefordert hatte.
— Das tat sie. Sie opferte sich ihm regelrecht. Es muss 1959 gewesen
sein, da hätte Jacqueline sich dringend einer Operation unterziehen müssen, einer dieser Frauen-Operationen. Doch sie schob es
immer weiter auf, weil Picasso meinte, nicht auf sie verzichten
zu können. Eines Abends kamen sie zu uns zum Dinner. Ich öffnete
die Tür und da stand Picasso mit einer kreidebleichen Jacqueline.
Picasso war offensichtlich bewusst, wie seine Freundin aussah,
denn er sagte etwas wie: „Es scheint, als ginge ich heute mit einer
Leiche aus“, übergab sie mir und ging hinein. Ich brachte Jacqueline
in mein Zimmer und redete auf sie ein, dass sie unbedingt die
Operation machen müsse. Und sie sagte: „Picasso will nicht mit
einer Eunuchin leben.“ Erst als sie wenig später in seinem
Studio kollabierte, wurde sie ins Krankenhaus gebracht. Nachdem
sie entlassen wurde, hatten wir Lunch in ihrem Zimmer, am
Fuße ihres Bettes.
Eine Märtyrerin.
— Sie sagen es. Jahre später erst, nach Picassos Tod und kurz
bevor sie sich das Leben nahm, hat mir Jacqueline eine Erklärung
für sein Verhalten geliefert. Sie verriet mir ein Geheimnis, von
dem Picasso nur seinen Frauen erzählt hatte, eine Geschichte, die
mir später auch Dora Maar bestätigte. Als Picasso 14 Jahre alt
ist, erkrankt seine kleine Schwester Conchita an Diphtherie. Picasso
schwört zu Gott, nie mehr zu malen und zu zeichnen, wenn
seine Schwester die Krankheit übersteht. Doch schon bald bricht er
seinen Schwur, er malt erneut – und seine Schwester stirbt. Das
erklärt auch seine lebenslange Identifikation mit dem Minotaur. Die
Frauen in seinem Leben, so war Picasso nach diesem Schicksalsschlag überzeugt, müsse er auf dem Altar seiner Kunst opfern. Es
ist dieser gebrochene Schwur, der beispielsweise seine wichtigste
Grafik, Minotauromachie, erst verständlich macht, in der er 40 Jahre
nach ihrem Tod Conchita mit einer Flamme in der Hand ins
Zentrum der Szenerie stellt und diese beleuchten lässt. Ebenso
wissen wir heute, dass er während der Arbeit an der Minotauromachie
ein Bild in einem für die Periode völlig untypischen Stil aus seinen
ganz frühen Tagen malt. Es zeigt seine Mutter, die Conchita als
Baby in ihren Armen hält, zwischen ihr und dem Vater stehen der
Pablo Picasso und Jacqueline Roque tanzen, hinter ihnen die
Badenden am Strand von La Garoupe, 1957
kleine Pablo und seine Schwester Lola. Ein Gemälde als Exorzismus. Erst als er damit fertig war, konnte er weiter an Minotauromachie
arbeiten.
Sie haben inzwischen drei Bände ihres Picasso-Buches veröffentlicht,
fast 2.000 Seiten, auf denen Sie minutiös sein Leben aufrollen.
Einerseits wird die bemerkenswerteste Künstler-Biografie überhaupt
gefeiert. Andererseits stößt Ihr Ansatz, das Werk Picassos über
eine detaillierte biografische Spurensuche zu erklären, auf Ablehnung
unter den meisten Kunsthistorikern, die heute den Diskurs über
moderne Kunst prägen. Als kürzlich der postmarxistische Star-Theoretiker T. J. Clark sein Buch Picasso and Truth veröffentlichte,
konnte man auf der Rückseite des Buches lesen, dass dieses Buch
endlich die biografischen und psychologischen Traktate der letzten
Jahrzehnte ersetze, ja sie obsolet mache.
— Das war ein Zitat von Rosalind Krauss, die tatsächlich Generationen von Kunsthistorikern entscheidend geprägt hat.
Und, was empfinden Sie, wenn sie so etwas lesen?
— Nun, ich danke Rosalind Krauss jede Nacht in meinen Gebeten,
dass mir in den letzten 30 Jahren das ganze Feld Picasso quasi
überlassen wurde. Die Art, wie früher Kunstgeschichte betrieben
wurde, als Geschichtsschreibung, Sichtung der Quellen, unnachgiebige Archivarbeit, das alles gibt es kaum noch. Wenn Sie heute
als Student über ein Bild von van Gogh schreiben und das Paar
Schuhe auf dem Bild erwähnen, wird sie ihr Professor wahrscheinlich fragen, woher sie wissen, dass es wirklich ein Paar ist.
Der vierte Band, an dem sie gerade arbeiten, wird die Jahre 1933
bis 1945 behandeln. Verraten Sie uns, was genau Sie in diesem
Moment beschäftigt?
— Seit Tagen beschäftige ich mich mit dem Bild La Suppliante,
einem sehr kleinen Bild, das am 18. Dezember 1937 entstand
und das anders ist als die anderen Werke zu dieser Zeit. Es ist ein
im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnliches Bild.
Weshalb?
— Nun, es zeigt Dora Maar, vor Rage geradezu entstellt. Wir wissen,
das Picasso und Dora Maar eine Krise haben, Dora ist in Paris,
Picasso auf dem Lande, wo er sich in die Arme seiner Geliebten
Marie-Thérèse wirft und ein Porträt nach dem anderen von ihr
malt. Dora muss das gefühlt haben. Eine Woche vor Weihnachten
kommt es zur Wiedervereinigung mit Dora. Diese kann nicht
gut verlaufen sein, wenn wir uns dieses Bild anschauen. Ob das
anstehende Fest ihren latenten christlichen Glauben getriggert
hat? Das würde Picassos Vision von ihr als kreischender Marquise im
Look des 17. Jahrhunderts erklären, inspiriert von Velázquez’
Infanta oder auch von einem prie-dieu, einem gepolsterten Gebetshocker. Andere Hinweise liefern die Füße, einer nackt, der andere
diabolisch behuft. Sowie die Brüste, von denen eine aus dem Korsett
herausquillt. Das Bild ist für mich prophetisch insofern, als es Dora
Maars Nervenzusammenbruch vorwegnimmt sowie ihre Wandlung
zu einer reaktionären Katholikin. Picasso muss sehr wütend
auf sie gewesen sein. Also malt er dieses furchterregende Bild.
REVUE
52
Meine Bilder sind mein Tagebuch, hat er gesagt.
ein harter Verriss des Buches Life with Picasso von Françoise Gilot,
— Hat er. Doch wenn es nur so einfach wäre! Er hat den Strand
der Vorgängerin von Jacqueline. Ein Buch, das Picasso zu verhinund Badende auch mitten im Winter gemalt, nicht weil er da war,
dern versucht hatte.
sondern weil er den Strand, die Sonne, die Badenden vermisst hat.
Er malt Dora als diese furchterregende Frau, gleichzeitig steht
diese Frau für alles, was er an den Marquesas hasst, den religiösen
Grand Dames der spanischen Gesellschaft, die Franco unterstützen und den Bürgerkrieg. Es gibt bei Picasso immer Bedeutungsschichten, die sich überlagern. Nur selten ist es so einfach, wie
es sein Tagebuch-Zitat verspricht. Oft ist von dem sehr Richtigen,
was man über Picasso oder ein Bild von ihm sagen kann, eben
auch das Gegenteil wahr. Meine Mission ist es, die verschiedenen
Bedeutungsebenen freizulegen. Zu zeigen, was sie mit der
Geschichte und Politik zur Entstehungszeit zu tun haben und mit
seinem privaten Leben. Manchmal muss man dafür ein extrem
detailliertes Wissen über dieses Leben haben, manchmal reicht eine
Art philosophisches Gefühl dafür, was ihn angetrieben haben mag.
Picasso hat fast alles in seinem Leben datiert. Nicht nur Bilder und
Zeichnungen, auch Zettel, die er Jacqueline oder Freunden
zuschiebt. In einem Gespräch mit Brassaï hat er gesagt: „Man
muss es auch wissen, wann, warum, wie und unter welchen
Bedingungen der Künstler sie schuf. Es wird sicher eines Tages eine
Wissenschaft geben, vielleicht wird man sie die Wissenschaft
vom Menschen nennen, die sich mit dem schöpferischen Menschen
befasst, um neue Erkenntnisse über den Menschen im Allgemeinen zu gewinnen. Ich denke oft an diese Wissenschaft und es ist
mir wichtig, der Nachwelt eine möglichst vollständige Dokumentation
zu hinterlassen.“ Es scheint, als hätte er Ihre Arbeit erleichtern wollen.
— Ich glaube eher, er hat es für sich selbst gemacht. Mit dem
Abstand der Jahre hatte er teilweise keine Ahnung mehr, wie er zu
einem bestimmten Ergebnis, einer neuen Idee gekommen war.
Doch wenn er eine Reihe von Zeichnungen vor sich hatte, die datiert
waren, konnte er zurückschauen und nachvollziehen, wie sich
40 oder 60 Jahre zuvor seine Vision verändert hat, wie die Bilder
entstanden sind. Deshalb sind die Skizzenbücher auch so ungemein wichtig.
165 davon sind in seinem Nachlass gefunden worden.
— Das erste von 1895, das letzte von 1967, viele davon 100 Seiten
stark. Stellen Sie sich vor, Sie würden diese in einem Rutsch
durchblättern. Jemand, der diese geistige Entwicklung macht, diese
Sprünge, der landet normalerweise in der Psychiatrie. Nicht so
Picasso.
Fällt Ihnen irgendein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts ein,
über den sie so lange hätten forschen können?
— Nein. Ich habe auch eine Braque-Biografie geschrieben, aber
damit war ich schnell fertig. Vielleicht hatte Braque neben seiner
Frau eine Geliebte, einmal nur, aber selbst das ist nicht mit Sicherheit überliefert.
1964 veröffentlichten Sie Ihren ersten Text für die New York Review
of Books, für die Sie heute noch schreiben. Es war ausgerechnet
John Richardson, Douglas Cooper und Pablo Picasso beim Lunch in
La Californie, fotografiert von der bettlägerigen Jacqueline
— Nun, ich habe sowohl meinen Verriss als auch ihr Buch vor
Kurzem wieder gelesen, weil ich für Gagosian in New York eine
große Ausstellung zu Picasso und Gilot kuratiert habe. Sagen wir
so: Ich bin nicht stolz auf den Verriss. Das Buch ist wichtiger und
treffender, als ich es damals wahrhaben wollte.
Ich frage danach, weil Ihre Kritik aus heutiger Sicht wie ein Freundschaftsdienst wirkt. Und Picasso verlangte von seinen Freunden
absolute Gefolgschaft. War es Ihnen möglich, Picasso zu kritisieren,
ihm Kontra zu geben?
— Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, Picasso zu kritisieren.
Ihr Lebensgefährte Douglas Cooper hat es getan.
— Wir waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr liiert und ich weiß
auch nicht, ob ich es „kritisieren“ nennen würde. Und das Ganze
hat ein sehr hässliches Ende genommen. So sehr, dass sich
Douglas aus gekränkter Ehre öffentlich gegen Picasso wendet und
über seine letzte Ausstellung zu Lebzeiten schreibt, es seien
unzusammenhängende Schmierereien eines rasenden Greises im
Vorzimmer des Todes.
Was war dem vorangegangen?
— Es muss in den späten 60er-Jahren gewesen sein, ich lebte damals
schon in New York. Douglas ging zu Picasso, um ihn zu überzeugen, dass er seine unehelichen Kinder adoptieren und damit zu
legitimen Erben machen solle. Außer Paulo, seinem ersten Sohn,
waren ja alle Kinder unehelich. Vielleicht hatte sich Douglas von
Françoise und ihren Kindern Claude und Paloma als Emissär
einspannen lassen, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall explodierte
Picasso. Das Ganze gehe ihn, Douglas, nichts an, schrie er
und warf ihn raus. Jacqueline erzählte mir von diesem Abend: Als
Picasso mehr als deutlich gemacht hatte, dass er seinen alten
REVUE
53
Freund nie wieder sehen wolle, begleitete Jacqueline Douglas aus
dem Haus, die Treppe hinunter. Es gab viele Stufen und Douglas
brach auf jeder zusammen, weinte und flehte darum, zurück zu
Picasso zu dürfen. Aber Jacqueline sagte nur: „Nein, es ist vorbei,
du hast eine große Dummheit begangen.“
wir schaffen, es gibt noch immer ungesichtetes Material. Nur den
fünften, letzten Band muss vielleicht doch jemand anderes
übernehmen.
Was war so schlimm an Coopers Initiative?
— Nun, jeder, der Picasso besser kannte, wusste von seiner panischen Angst vor dem Tod. Picasso hatte kein Testament gemacht,
er lehnte das ab. Seine unehelichen Kinder zu legitimieren, hätte
nichts anderes bedeutet, als die Tatsache anzuerkennen, dass er, der
nun auf die 90 zuging, nicht mehr lange leben würde. Es wäre
einem Testament gleichgekommen. Douglas Cooper hatte an ein Tabu gerührt.
— Picassos Angst vor dem Tod war seinem Umfeld so bewusst,
dass es teilweise fast komische Züge annahm. Ich erinnere
mich an einen Lunch, es muss zu der Zeit gewesen sein, als das
Skizzenbuch entstand. Eine russische Frau war zu Gast, ich
weiß nicht mehr, wer sie war oder was sie wollte, ich weiß nur noch,
dass sie extrem langweilig war und dabei sehr viel redete. Sie
hörte gar nicht mehr auf und Picasso schlief ein, sein Kopf war
gesenkt und man hörte ein leichtes Schnarchen, was die Frau
nicht davon abhielt, immer weiterzureden. Hinter Picasso war
eine Wand mit vielen Vogelkäfigen und während er schlief
und die Frau redete, fiel ein Kanarienvogel tot von der Stange.
Jacqueline war sehr besorgt, dass Picasso den toten Vogel
entdecken könnte, also wurde er leise entsorgt und der Fahrer
wurde in die Stadt geschickt, um einen möglichst ähnlich
aussehenden Ersatzvogel zu besorgen, der schon 20 Minuten
später in den leeren Käfig gesetzt wurde. Als Picasso erwachte,
waren alle Vögel wieder vollzählig und wir sehr erleichtert.
Der tote Vogel hätte ihn schwer beunruhigt, er hätte ihn als
böses Omen gesehen.
Werner Spies hat in seinem Essay Malen gegen die Zeit darauf
hingewiesen, dass Picasso nur zu Beginn seiner Karriere Selbstporträts gemalt habe und dann erst wieder ganz zum Schluss, in
den letzten Monaten seines Lebens. Der Grund: seine Angst vor
dem Tod.
— Picasso erfährt 1918 vom Tod seines Freundes Apollinaire.
Die Nachricht wird ihm überbracht, während er sich gerade rasiert
und in den Spiegel schaut. Danach gibt es tatsächlich keine Selbstporträts mehr.
Sie selbst sind nicht abergläubisch?
— Weshalb?
Weil Sie im Februar 92 Jahre alt werden und damit so alt wie
Picasso, als er starb.
— Ich bin überhaupt nicht abergläubisch. Und nein, ich habe nicht
vor, bald abzutreten. Mir geht es gut, ich habe fantastische
Mitarbeiter, ich wüsste nicht, warum wir nicht weitermachen und
Dinge erledigt bekommen sollten. Den vierten Band werden
Wenn Sie noch einmal in das Skizzenbuch schauen und an das Jahr
1956 zurückdenken …
— … dann fällt mir auf, dass wir, seine Freunde, nicht ahnten, was
ihn damals neben privaten Dingen am meisten beschäftigt haben
muss. 1956 ist das Jahr, in dem Picasso tatsächlich mit Franco
verhandelt. Franco schickt einen ersten Emissär, den Picasso als
Gesprächspartner ablehnt. Dann einen zweiten, nicht so eng mit
dem Regime verstrickten. Den akzeptiert Picasso. Wir wissen das
alles, weil eine Mitarbeiterin von mir die Akten im spanischen
Außenministerium gefunden hat. Eine Akte hieß „Picasso“, die
andere „Picasso und der Kommunismus“.
Was will Picasso vom Franco-Regime?
— Er will eine Retrospektive. Seine Sehnsucht nach seiner Heimat
Spanien, die er seit Jahrzehnten nicht besucht hat, ist so groß,
dass er von einer triumphalen Rückkehr träumt. Picasso ist so
getrieben, dass er, der bekennende Kommunist, mit den Faschisten verhandelt.
Über eine Retrospektive, die nie stattfinden wird.
— Die Verhandlungen sind streng geheim und man einigt sich
vorher darauf, dass, falls irgendetwas durchsickern sollte,
beide Seiten behaupten, es habe niemals Gespräche gegeben. Es
sickert aber durch. Und damit hat sich die Retrospektive
erledigt. Jacqueline, die ihre Augen niederschlägt, der Schaukelstuhl in La Californie, ein Käfer, der eine Pflanze hochklettert –
von der Spannung, den Nerven, die diese Verhandlungen Picasso
gekostet haben mussten, sehen wir nichts in seinem Skizzenbuch.
Und noch etwas fällt mir auf. Wie sehr die Darstellung von
Jaime Sabartés aus dem Rahmen fällt. Wie derb und komisch das
Bild ist – eine Karikatur seines langjährigen Sekretärs, der auf
den Boden pinkelt, während ein anderer, mir unbekannter Mann
auf dem Klo sitzt.
Sie konnten Sabartés nicht leiden.
— Nein. Das, was seine Gegenwart erträglich machte, war, dass
Picasso ihn gerade, weil er so fanatisch loyal war, immer wieder
mit teilweise recht grausamen Scherzen testete. Sabartés war dafür
bekannt, ins Studio zurückzukehren, wenn Picasso es verlassen
hatte. Er durchwühlte dann den Mülleimer – angeblich, damit
Mülldiebe, die es auf Picassos verworfene Zeichnungen abgesehen hatte, keine Beute machen konnten. Eines Abends erklärte
Picasso, er werde Sabartés eine kleine Lektion erteilen. Er schüttete
den Mülleimer aus, platzierte ganz unten am Boden einen Zettel
und bedeckt ihn mit dem Müll.
Was stand auf dem Zettel?
— Sabartés, du bist ein Idiot.
Sir John, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
REVUE
54
2KxUNST
WELT
EI
KOSTENFR
WIR ZEIGEN KUNST.
Die WELTKUNST, das Kunstmagazin aus dem Hause der ZEIT, bietet opulent bebilderte
Kunstgeschichten von der Antike bis zur Gegenwart. Dazu finden Sie Berichte aus
der Museumswelt, das Wichtigste von Handel und Auktionen sowie News der
zeitgenössischen Szene. Für Kunstkenner und alle, die es werden wollen. Entdecken
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ENCORE
„ ALLE VÄTER
STERBEN,
NUR NICHT
DIESER“
KÜNSTLERNACHLÄSSE —
—
GR AND PRIX — WERTSACHEN
R
AU KT IO NE N — BL AU K ALENDE
— DER AUGENBLICK
Sie war Deutschlands
jüngste Richterin,
heute betreut sie den
Nachlass von Hans
Arp. Jetzt hat Loretta
Würtenberger ein
Buch über Künstlernachlässe geschrieben
D
as Geschäft mit toten Künstlern
boomt. Fast jede Woche erreichen
uns E-Mails großer Galerien, die
einen neuen Künstlernachlass vertreten.
Loretta Würtenberger, deren Firma
Fine Art Partners vier Nachlässe betreut,
hat die Erben von Donald Judd, Max
Beckmann oder Robert Mapplethorpe
gefragt, wie man tote Künstler lebendig hält.
Entstanden ist ein Ratgeber – und das
weltweit erste Institute for Artist Estates.
Frau Würtenberger, ein Künstler stirbt, die
Kinder erben seinen Nachlass. Was bedeutet
das für die Kunst – und was für die Kinder?
— Es gibt einen berühmten Satz, ich
glaube, er bezog sich auf Thomas Mann:
„Alle Väter sterben, nur nicht dieser.“
Es ist ein großer Schatten, den ein Künstler
auf das Leben seiner Kinder werfen
kann – von Anfang an muss sich das Kind
die Liebe des Vaters oder der Mutter mit
der Kunst teilen. Das gilt sogar generations-
LORETTA WÜRTENBERGER fotografiert von CHRISTIAN WERNER
übergreifend. Mayen Beckmann, Enkelin
von Max Beckmann, drückte es so aus:
„Wenn man mit seinen Gemälden groß
geworden ist, ist man bis zum 20. Lebensjahr auf jeden Fall ‚gebrainwashed‘,
sodass man im Grunde nur durch die Bilder
sehen kann.“ Zu der psychologischen
Herausforderung kommt aber auch eine
fachliche. Viele Künstler verdrängen
ihre eigene Sterblichkeit und hinterlassen
alles unter dem Motto „nach mir die
Sintflut“. Geerbt wird dann nicht nur Kunst,
sondern auch immense Verantwortung.
Die wenigsten Kinder sind Kunstprofis.
Sie haben keine Ansprechpartner. Künstlernachlässe sind also eine heikle Angelegenheit – und bisher gab es kein Regelwerk
zum Umgang damit.
ENCORE
57
Ihr Buch über das Management von Künstlernachlässen, das im kommenden Frühjahr
erscheinen wird, soll das nun ändern.
Wie lautet Ihre Grundregel für erfolgreiche
Nachlassarbeit?
— Jede Generation von Kuratoren, Wissenschaftlern und Sammlern muss einen
eigenen, frischen Blick auf das Werk werfen
können. Um ein Werk posthum lebendig
zu halten, müssen alle drei Säulen gestützt
werden: die Museumswelt, die akademische
Welt und der Markt.
Wieso braucht ein Nachlass eine Galerie?
Ist es nicht wichtiger, das Werk in Museen
zu zeigen?
— Eine gute Galerie ist ebenso wichtig wie
regelmäßige Museumsausstellungen! Die
meisten Nachlässe sind reich an Kunst aber
arm an Mitteln. Sie müssen sich selbst
fi nanzieren. In den USA ist es normal, dass
Nachlässe auch verkaufen. In Europa hat
man da immer noch moralische Vorbehalte – dabei ist die behutsame Positionierung eines wichtigen Künstlernachlasses
auch deshalb wichtig, damit nicht nur
immer wieder dieselben Blockbuster aus
dem Lager geholt werden. Es geht darum,
das Werk für Sammler und Museen
aufzufächern und auch Nebenaspekte oder
das Früh- und Spätwerk zu würdigen. Kein
Künstler, der nicht am Markt anerkannt ist,
wird auf Dauer große Museumsausstellungen haben. Und nur das, was ausgestellt ist,
wird auch akademisch bearbeitet.
Für das Buch haben Sie mit den Erben von
Donald Judd, Robert Mapplethorpe,
Robert Rauschenberg, Max Beckmann und
anderen gesprochen. Was haben sie
gemeinsam, außer dem großen Schatten?
— Sie alle verbindet ein immenses Bedürfnis nach Austausch. Als ich Donald
Judds Tochter Rainer erzählte, mit wem
ich sonst noch spreche, rief sie: „Die
will ich auch alle treffen!“ Mich hat diese
Begegnung sehr bewegt: Da saß eine
immens intelligente Frau vor mir, Mitte 40,
und man merkte ihr immer noch das
junge Mädchen an, das in diese Rolle der
Ver walterin des Erbes ihres Vaters
geschmissen wurde. Diese Divergenz aus
emotionaler Fragilität und intellektueller
Durchdringung, aus Abgrenzung und
Umarmung ihrer Aufgabe fand ich zutiefst
beeindruckend.
Das klingt, als hätte sie keine Wahl gehabt.
— Ja, man muss sich das vorstellen: Ein
Kind ist gerade auf dem Weg in ein eigenes
Leben, da stirbt der Vater und hinterlässt
einem diese irre Aufgabe. Rainer war
damals sehr jung, 24 Jahre alt. Sie und ihr
Bruder Flavin waren für diese Aufgabe
vorgesehen, aber sonst gab es kaum
Instruktionen. So ist es meistens. Die
Frage, ob eine gute Nachlassverwaltung
klappt, entscheidet oft das Talent der
Familie. Als ich Rainer fragte, welchen Rat
sie anderen Künstlerkindern geben
würde, sagte sie: Finde einen Mentor und
sprich mit so vielen Leuten wie möglich!
Sie haben gerade das erste Institut für
Künstlernachlässe gegründet – eine bisher
einmalige Anlaufstelle in diesem Bereich.
Was bezwecken Sie damit?
— Ich verstehe es als Plattform, die drei
Dinge tun soll: Erstens, Akademiker für
das Thema zu gewinnen – wir wollen ein
Archiv für Nachlassforschung aufbauen.
Zweitens, Vernetzung – also einen Ort zu
bieten, wo sich Erben austauschen können.
Drittens: Beratung und Betreuung von
Nachlässen. In allen drei Gebieten wollen
wir ständig Steine ins Wasser werfen –
die Ringe müssen selbst entstehen, aber wir
setzen die Impulse.
FRANZ WEST in Chicago, 2000
Was kann passieren, wenn die Familie
denkbar untalentiert ist für diese Aufgabe?
— Schlimmstenfalls ein Desaster, wie
im Fall von Oskar Schlemmer. Dort haben
Streitigkeiten über Dekaden verhindert,
dass das Werk weiterhin spannend rezipiert
wird. Einer der Enkel nutzte das Eigentum
des Urheberrechts dazu, jede Aktivität
zu boykottieren. Er stimmte etwa bei der
Katalogproduktion von Ausstellungen
dem Abdruck der Arbeiten nicht zu. So
verging Museumsleuten die Lust, etwas
über Schlemmer zu machen, ebenso wie
Doktoranden, weil ihnen keine Reproduktionsgenehmigung der Bilder erteilt wurde.
Als vor drei Jahren das Urheberrecht frei
wurde, gab es sofort große Retrospektiven
und einen Markt. Aber über sieben
Dekaden ist praktisch nichts passiert!
Wie kann ein Künstler so etwas im Vorfeld
verhindern?
— Franz West ist hier wohl aktuell das
prominenteste Beispiel: Kurz vor seinem
Tod im Juli 2012 gründete er eine Stiftung.
Seine Familie partizipiert daran zwar
finanziell, hat aber keinen Einfluss auf den
Umgang mit seinem Werk. Als Vorstand
wurde ein Anwalt eingesetzt. Gut möglich,
dass West sich an dem Bildhauer Bartolomeo Cavaceppi orientierte, der mit seinem
Tod 1799 seinen Nachlass der Accademia
di San Luca vermachte. Seine Familie
erhielt eine regelmäßige Geldsumme, doch
kein einziges Wohnhaus, Möbelstück
oder Kunstwerk.
ENCORE
58
In Ihrer Firma Fine Art Partners betreuen
Sie vier Nachlässe, darunter den von Hans
Arp, der bis vor einigen Jahren mit dem
Skandal um posthume Güsse für Schlagzeilen sorgte. Der Name Arp stand für Ungereimtheiten, heute vertritt ihn die Galerie
Hauser & Wirth. Wie ist diese Neubewertung gelungen?
— Unsere Firma unterstützt Galerien bei
der Finanzierung ihres Sekundärmarktgeschäftes. Weil wir so eine gute Übersicht
über den Kunstmarkt haben, fragte uns
die Arp-Stiftung vor fünf Jahren, ob wir
eine Strategie entwickeln würden, mit der
man das Vertrauen in das Werk Arps
wiederherstellen könnte. Uns war klar, dass
das Thema Arp nur wieder auf die Beine
gestellt werden kann, wenn die Stiftung
die Archive öffnen und Transparenz in die
Frage der posthumen Güsse bringen
würde. Also rieten wir
als Erstes zu einem
Werkverzeichnis durch
unabhängige Wissenschaftler. Danach zog
die Stiftung in ein
Schaulager nach Berlin.
Heute konzentriert
sich der Nachlass
hauptsächlich auf die
Vergabe von Stipendien
an Akademiker,
organisiert Tagungen
und initiiert Ausstellungen – so wurde Arp
rehabilitiert und
die Galerien bekamen
PHILIPPE VANDENBERG
wieder Vertrauen.
No Title, 2009
Was haben Sie vom Beispiel Arp gelernt?
— Etwas ganz Banales: Selbst der anerkannteste Künstler stirbt einen zweiten
Tod, wenn sein Nachlass nicht gut gemanaged wird. Arp genoss die letzten 15
Lebensjahre eine erstaunliche Anerkennung. Er hatte fast jedes Jahr eine Einzelausstellung und erhielt 1954 den Großen
Preis für Plastik auf der Biennale von
Venedig. 1966 stirbt er auf dem Zenit
seines Ruhms und hinterlässt sein Werk
einer sehr tüchtigen Witwe, Marguerite
Hagenbach-Arp, die ihn auch schon zu
Lebzeiten gemanagt hat. Sie führt sein
Werk hervorragend weiter, es gibt Einzelausstellungen wie 1969 die GuggenheimRetrospektive. Dann erkrankt Marguerite
und überführt den Nachlass in eine
Stiftung, die von Johannes Wasmuth geführt
wird. Mitte der 90er-Jahre stirbt sie.
Man kann genau nachverfolgen, wie Arps
Motor, der bis zu Marguerites Krankheit
sehr gut lief, immer schwächer wird. Bis in
die 2000er gibt es nur noch drei große
Museumsausstellungen, kaum noch Doktorarbeiten und fast keine relevanten
Publikationen.
Und dann kam die Sache mit den posthumen Güssen …
— Ja, von rund 1.600 Bronzeskulpturen
waren circa 36 nicht in Ordnung. Das
Problem war nicht, dass nach Arps Tod
nicht weiter gegossen werden durfte,
sondern dass die Stiftung gelinde gesagt
über das Ziel hinausgeschossen ist und
nicht nur die fünfte, sondern auch eine
sechste und siebte Skulptur gegossen
hat. Es ist tragisch: Arp befand sich auf
Augenhöhe mit Max Ernst, Henry Moore
und Joan Miró, er galt als Titan der
Bildhauerei des 20. Jahrhunderts – doch
ohne den geölten Motor fängt selbst so
ein anerkanntes Werk an, aus der Mode
und sogar in Misskredit zu fallen.
anerkannt, aber Mitte der 80er-Jahre hat er
mit dem Kunstmarkt radikal gebrochen
und alles zurückgezogen. Er starb 2009
und hinterließ drei Kinder. Und die
machten alles richtig. Als Erstes schlossen
sie das Atelier für ein Jahr, um herauszufi nden, was sie wollten – für das Werk, für
sich persönlich und finanziell. Dann wurde
alles sehr solide aufgestellt, das Atelier
wurde wieder geöffnet und zu einem
lebendigen Ort gemacht. Hauser & Wirth
vertritt heute Philippe Vandenberg,
der Sammler Harald Falckenberg hat ihn
ausgestellt: Es gibt eine Renaissance
der Wahrnehmung.
Dabei scheint das Thema ja hochemotional
zu sein.
— Ja, sobald man sich mit Nachlässen
befasst, werden die Geschichten meist sehr
berührend. Es geht um Familienkonzeption. Nehmen Sie Francesca Woodman, die
sich mit 22 Jahren umgebracht hat. Um
ihren Nachlass kümmern sich die Eltern,
es gibt einen hinreißenden Film über sie.
Die beiden im Gespräch zu sehen, wie sie
ihr Kind weiter pflegen und in die Welt
bringen – das Ganze erscheint wie die
Re-Inszenierung einer Kindheit!
Die Nachlasspflege als Lebensinhalt …
— Tja, Rainer Judd sagte es so: „Wir waren
dazu bestimmt. Als Donald Judds Kinder
hätten wir nie etwas anderes tun können
als das Richtige, für ihn und seine Welt.“
Oder Charlotte Berend Corinth, die Witwe
des deutschen Impressionisten Lovis
Corinth. Sie sprach von einem „inneren
Schwur, mein Leben Dir so lange und so
weit zu weihen, wie es nach allen Richtungen hin notwendig ist, um hier alles zu
erhalten, was Dein Lebenswerk ausgemacht
hat“. Ihr Sohn Thomas war nicht minder
engagiert, sammelte jede Meldung über
seinen Vater und gab sogar Postkarten mit
seinen Werken heraus. Als er 1988 starb,
Wie ist das bei Künstlern, die nicht so bekannt vermerkte seine Schwester Wilhelmine
sind? Haben die überhaupt eine Chance,
nüchtern: „Auf mir allein liegt nun die
nach ihrem Tod in neuem Licht wahrgevolle Verantwortung, für alles zu sorgen.
nommen zu werden?
Nur das ist noch meine Aufgabe!“ Auf
— Natürlich gibt es Nachlässe, die dafür
die Spitze getrieben hat es wohl Nina
nicht die besten Voraussetzungen haben.
Kandinsky. Sie ließ in ihrer Gegenwart
Zum Beispiel Philippe Vandenberg. Der
keine anderen Gesprächsthemen zu als
war einmal der Polke von Belgien und sehr über ihren Mann …
ENCORE
59
FRANCESCA WOODMAN
Untitled, New York, 1979
Welcher Künstler hat denn noch zu Lebzeiten seinen Nachlass auf so gute Beine
gestellt, dass alle Beteiligten glücklich sind?
— Robert Mapplethorpe, der wusste, dass
er an den Folgen von AIDS sterben
würde. Mithilfe des Rechtsanwalts Michael
Ward Stout legte er gemeinsam mit seinem
Lebensgefährten Sam Wagstaff im
Vorfeld fest, wohin das Geld fl ießen sollte:
in die AIDS-Forschung und Unterstützung von Fotografie. Mit über 200 Millionen Dollar Vermögen hat der Nachlass
unfassbar Wirtschaftliches geleistet!
Mapplethorpe hat zahlreiche Editionen
noch vor seinem Tod ausführen lassen,
damit der Estate später ausreichend Kunst
hat, mit der er arbeiten kann.
Das klingt nach Überproduktion …
— Nein, die Fülle der Arbeiten bedeutete
viel Verkauf, aber keine Überflutung,
sodass der Wert weiterhin gesteigert wird.
Das Archiv wurde inzwischen ans
Getty Research Institute übergeben, dem
besten Ort für konservatorische Rahmenbedingungen und akademische Aufarbeitung. Heute steht Stout vor der Frage,
ob die Bestände verkauft werden sollten.
Der Erlös ginge dann an Organisationen
mit den Zielen, die dem Künstler so
wichtig waren.
INTERVIEW: GESINE BORCHERDT
DER KÜNSTLERNACHLASS. HANDBUCH FÜR
KÜNSTLER, IHRE ERBEN UND
NACHLASSVERWALTER ERSCHEINT IM MAI 2016
IM HATJE CANTZ VERLAG
WERT
SACHEN
L ÄSSE —
KÜ NST LERN ACH
— A U K TI O N EN
—
WERTSACHEN
AU K AL EN DER
— GRAND PRIX — BL
K
DER AUGEN BLIC
Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem Angebot
des Kunsthandels
Kopfstark
Sie sah sich in der großen plastischen
Tradition, die die Figur aus dem 19.
ins 20. Jahrhundert hinübergerettet
hat. Und bei all den verwegenen Körperkonstruktionen hat sich das Werk der
französischen Bildhauerin Germaine Richier nie in die Abstraktion entfernt. In
eigenwilliger Auslegung der expressiv surrealen Zeichen hat die Künstlerin
ihre Figuren bis aufs Skelett abmagern lassen oder aus Tier- und Menschenteilen
Mischwesen synthetisiert, die sehr einsam und sehr
markant in der Formengeschichte der Moderne verblieben
sind. Wie gestrandete Nixen thronen Richiers
hagere Gestalten auf den Zinnen des PicassoMuseums in Antibes. Eine sechsköpfige
Pferde-Bronze aus dem Spätwerk
(1954–56) kommt bei Bonhams
zur Auktion. Schätzung:
260.000 –390.000 Euro. MÜ
SPA
CE
AGE
Eigentlich sollte er nur
am Magen operiert werden.
Doch als Woody Allen in seiner
Science-Fiction-Parodie Der Schläfer
Design meets Movie
von 1973 wieder aufwacht, ist
23. Februar 2016 bei
nichts mehr, wie es war. Er hat 200 Jahre
Quittenbaum
eingefrostet durchgeschlafen. Man
in München
wohnt in Betonskulpturen. Liebe wird
mithilfe von Apparaten gemacht. Die Welt wird von
einem Diktator beherrscht. Und Woody Allen soll dem
Widerstand helfen, eine Revolution anzuzetteln.
Willkommen im Space-Age! Zur futuristischen Ausstattung der irren Persiflage gehörte auch der Video
Capsule 3100R: Der 1972 von JVC Yokohama entworfene Hybrid aus Fernseher und Radio mit einklappbarem
Bildschirm brachte genau die richtige Mischung aus
exaltiertem Design und technoidem Funktionalismus für das spektakuläre Filmset mit. Heute
ist die Zukunft längst da und die Videokapsel
wirkt wie eine verspielte Skulptur aus vergangener Zeit. In einer Sonderauktion bietet
das Auktionshaus Quittenbaum nun ein gut
erhaltenes Gerät zum Schätzpreis von 600
bis 800 Euro an – und rund 100 andere Objekte
aus berühmten Kinofilmen. WOE
ZEUGE
MIT
DER
KAMERA
Er hat sie alle vor seiner mitfühlenden, mitdenkenden Kamera gehabt, die namhaften Künstler von Beuys bis
Auktion Nachkriegs- und Baselitz, die Politiker der Bonner Republik. Er hat den Mauerbau
erlebt und den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy bei
Gegenwartskunst
seinem Deutschland-Besuch begleitet. Guido Mangold war der
11. Februar bei
Bonhams in London Fotojournalist der 60er- und 70er-Jahre. Und von Quick über
Playboy, Stern bis zu GEO haben sie alle von seinen Reportagen
gelebt. Als seine Aktaufnahmen von Uschi Obermaier in twen erschienen, war ihre Karriere
als Topmodel gesichert. Und legendär sind die Bilder, die der
inzwischen 82-jährige Fotokünstler 1963 vom Staatsbegräb„Man sieht nur, was man weiß“
nis nach der Kennedy-Ermordung mitbrachte. In einer
12. Februar – 1. Mai
großen Verkaufsausstellung ist ein Überblick über das Werk
Ausstellung Guido Mangold
bei Ketterer in Berlin zu sehen. MÜ
bei Ketterer in Berlin
ENCORE
60
EINE AUSWAHL der BLAU
REDAKTION
AUKTIONEN
2./3. FEB.
CHRISTIE’S IN LONDON Impressionismus und Moderne
3./4. FEB.
SOTHEBY’S IN LONDON Impressionismus und Moderne
4. FEB.
BONHAMS IN LONDON Impressionismus und Moderne
9./10. FEB.
PHILLIPS IN LONDON 20. Jahrhundert und Gegenwart
10./11. FEB.
SOTHEBY’S IN LONDON Gegenwartskunst
11. FEB.
BONHAMS IN LONDON Nachkriegs- und Gegenwartskunst
11./12. FEB.
CHRISTIE’S IN LONDON Nachkriegs- und Gegenwartskunst
17./18. FEB.
CHRISTIE’S IN NEW YORK Fotografie
23. – 25. FEB. QUITTENBAUM IN MÜNCHEN Design, Murano-Glas
MESSEN
von JANUAR bis JULI
BIS 31. JAN. BRAFA ART FAIR IN BRÜSSEL
Nature morte
Wer heute mit
Blumensträußen
Rekordpreise
am Kunstmarkt
landen will,
muss entweder van
Gogh heißen
oder Jeff Koons.
Denkt man.
Und dann wäre da
noch Adrian
Ghenie. Der
38
j h i Rumäne
38-jährige
zählt zu den
teuersten Malern
seiner Generation,
Auktion zeitgenössische Kunst
ist in Sammlungen vom MOCA Los
10.–11.
Februar bei Sotheby’s
Angeles bis zum S.M.A.K. in Gent
in London
vertreten. Bürgerliche Motive wie
Porträts, Stillleben und Interieurs
verwandelt er in Bacon-artige Albtraum-Szenarien, sodass einen
selbst ein Bild wie The Sunflowers in 1937 (2014) in eine Sinnkrise
stürzen kann. Bei Sotheby’s ist die Großleinwand von fast drei mal
dre
drei Metern auf 400.000 bis 600.000 Pfund taxiert. GB
Kunst von der Antike bis zur Gegenwart und Antiquitäten
11.–14. FEB.
ART ROTTERDAM Gegenwartskunst
18.–21. FEB.
ART KARLSRUHE Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst
24.–28. FEB. ARCO MADRID Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst
3.–6. MÄRZ
THE ARMORY SHOW IN NEW YORK
Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst
11.–20. MÄRZ TEFAF IN MAASTRICHT
Kunst von der Antike bis zur Gegenwart und Antiquitäten
16.–19. MÄRZ ART DUBAI Gegenwartskunst
19.–28. MÄRZ ART & ANTIQUE IN SALZBURG Kunst, Antiquitäten, Design
24.–26. MÄRZ ART BASEL HONG KONG Gegenwartskunst
30. MÄRZ – 4. APR. SALON DU DESSIN IN PARIS
Zeichnungen von Alten Meistern bis zur Gegenwart
14.–17. APR.
ART COLOGNE Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst
22.–24. APR. ART BRUSSELS Gegenwartskunst
5.–8. MAI
FRIEZE IN NEW YORK Gegenwartskunst
16.–19. JUNI
ART BASEL Klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst
30. JUNI – 6. JULI MASTERPIECE IN LONDON
Kunst, Antiquitäten und Design
PRE-FAB
Recycling ist ein großes Thema in der zeitgenössischen Architektur.
Dass man nicht nur Baustoffe wiederverwenden kann, sondern
auch ganze Häuser, hat der französische Architekt Jean Prouvé
schon in den 40er-Jahren vorgemacht. Wie man die vielen Flüchtlinge, die zurzeit nach Europa kommen, unterbringen kann, ist
eine Herausforderung auch an die aktuelle Stadtplanung. Nach
dem Zweiten Weltkrieg haben sich für Prouvé ganz ähnliche Fragen
gestellt. Wie kann man wohnungslose Menschen schnell und
kostengünstig unterbringen? Für die französische Regierung konstruierte er ein Holzhaus aus Fertigteilen, das in einem Tag aufgebaut
werden konnte. Ebenso schnell konnte das Modell 6×6 an anderer
Stelle wieder errichtet werden.
Brafa Art Fair, Brüssel
Es existieren von Prouvés
bis 31. Januar
Häusern nicht mehr viele. Eines
bei Frank Landau, Frankfurt/M., bietet Frank Landau gemeinsam
Galerie Dierking, Zürich
mit der Galerie Dierking zum
Preis von
900.000 Euro
auf der
Kunstmesse
Brafa in
Brüssel an.
WOE
LÄSSE —
KÜNSTLERNACH
— A U K TI O N EN
—
WERTSACHEN
K AL EN DER
AU
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BL
IX
PR
ND
— GRA
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DER AUGEN BLIC
GRAND PRIX
BEST NEW GALLERY
Wie Galerien heute
nach neuen
Räumen für
ie Kunst war nie anspruchsvoll. Sie brauchte keine aufregende Architektur, um richtig
gesehen zu werden. Licht, Raum, Wände, Ende. Ein weißer, fensterloser, kontextfreier
die Kunst des
Raum, der White Cube, war jahrzehntelang das Ideal. Marcel Duchamp aber hatte schon
1942 den Besuchern einer Surrealismus-Ausstellung gezeigt, wie wenig solche Zusammenhang21. Jahr- freie Präsentation von Kunst erreicht. Mit seinem Fadenwebspiel Sixteen Miles of String hat er in New
York den Weg zu den Bildern durchkreuzt, versperrt und auch noch Kinder mitgebracht, die in dem
hunderts Raum mit Bällen für Lärm sorgten. In den folgenden Jahrzehnten haben die Künstler überall in Europa
und Amerika den fetischisierten weißen Ausstellungsraum verstellt, als seien sie pubertierende Jugendsuchen
liche, die sich an ihren strengen Eltern abarbeiten müssten. Ausgerechnet auf ihre Angriffe folgte ein
MARCEL DUCHAMPS INSTALLATION
SIXTEEN MILES OF STRING IN
DER AUSSTELLUNG FIRST PAPERS OF
SURREALISM, 1942 IN NEW YORK
D
beispielloser Boom: Immer mehr Museen entstanden. Immer mehr Galerien für immer mehr Kunst.
Aber Ruhe ist in die Diskussion um den Ort der Kunst nie wirklich gekommen. In der Zwischenzeit
fragen sich auch Galeristen, wie die Galerie der Zukunft aussehen könnte. Schicken wir uns nicht
Bilder nur noch als JPEG hin und her und schauen uns Ausstellungen in virtuellen Instagram-Welten
an? Unterdessen eröffnen viele neue Kunsthandlungen, ziehen um, expandieren. Im vergangenen Jahr
lud die Gagosian Gallery in ihre dritte Londoner Galerie – jetzt in Mayfair. Hauser & Wirth eröffnen
im März ihre zweite Dependance in Los Angeles in einer Kornmühle. Wer mit Kunst spielen will,
braucht auch im digitalen Zeitalter einen realen Raum. Und es gibt ja durchaus Beispiele, wie Galeriearchitektur im 21. Jahrhundert aussehen kann, wenn man an die dunkle Kirche von Johann König in
Berlin denkt. Oder an das lichte Gebäude von Capitain Petzel, die 2008 ins ehemalige „Kunst im
Heim“-Gebäude der DDR auf der Karl-Marx-Allee in Berlin zogen. Oder an den Chipperfield-Bau
der Galerie CFA. Auch Sprüth Magers eröffnen eine neue Dependance in Los Angeles Ende Februar
in einem Gebäude am Wilshire Boulevard aus den späten 60er-Jahren, entworfen vom Architekten
William L. Pereira. Der Glaskubus wirkt wie eine minimalisierte Korallenwabe. „Mal fast ohne Wände
für Skulpturen, dann wiederum mit Wänden, die aber das Tageslicht nicht aussperren. Die Ausstellungsräume bieten viele Möglichkeiten zum Spielen“, schwärmt die Galeristin Philomene Magers. Sie
und Monika Sprüth haben einen Preis für ihre neue Galerie gewonnen, den Design Award 2016, den
das MagazinWallpaper vergibt. Der Titel der Auszeichnung lässt aufhorchen: Best New Gallery. Die
beste neue Galerie? Wie sähe wohl die beste neue Galerie aus, wenn man nicht schon in ein bestehendes
Gebäude einziehen müsste? Wie ein verschnörkeltes Labyrinth, in dem man in jedem Raum auf neue
unbekannte Augmented-Reality-Kunstformen trifft? Marcel Duchamp wäre gewiss etwas eingefallen.
SWANTJE KARICH
ENCORE
62
BLAU IM ABO
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BILDNACHWEISE
Nr. 8 / Februar 2016
Titel: © FABA. Foto: Marc Domage. Editorial: S. 5: Foto:
Yves Borgwardt für BLAU. Inhalt: S. 6 o. Foto: Ullstein Bild.
S. 6. l.: Courtesy Josh Kline and 47 Canal, New York. Foto:
Achim Hatzius. S. 6 r.: Courtesy Gagosian Gallery, New
York. © 2005 – 2015 Takashi Murakami/Kaikai Kiki Co.,
Ltd. All Rights Reserved. Contributors: S. 8 o.: Foto: Ullstein
Bild. S. 8 M.: Foto: Marcel Nöcker. S. 8 u.: Foto: Frida Sterenberg. Essay: S. 11: Courtesy of Ahmed Mater. Apéro: S. 14 l. :
Foto: Jörg Potschaske. S. 14 r.: © Rijksmuseum, Amsterdam.
S. 15 o.: Foto: Chris Warde-Jones. S. 15 u.: Foto: Jörg Hempel.
O-Ton: S. 16 l. o.: Courtesy of Benjamin Renter. S. 16 u.: Courtesy Dan Halter and WHATIFTHEWORLD. Schnellste
Skulpturen: S. 16 o. .r.: Foto: Ferrari. Blitzschlag: S. 18 o.:
Andy Kania für BLAU/www.brigitta-horvat.com. S. 18 u.:
Foto: Wolfgang Günzel für BLAU. Um die Ecke New York:
S: 20: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 21 – 23: Fotos:
Frida Sterenberg für BLAU. Takashi Murakami: S. 24/25:
© 2012 Takashi Murakami/Kaikai Kiki Co., Ltd. All Rights
Reserved. Foto: Takayama Kozo. Courtesy Mori Art Museum Tokyo. S. 25 u.: Foto: Okazumi Chika. Josh Kline: S. 26,
S. 27: Courtesy the artist and 47 Canal, New York. Foto:
Joerg Lohse. S. 28: Courtesy the artist and 47 Canal, New
York. Foto: Yuko Torihara. S. 29: Foto: Courtesy the artist
and 47 Canal, New York. Foto: Ben Westoby. Dichter
dran: S. 30: Foto und Courtesy Ana Botezatu. Picassos
Skizzenbuch: S. 33 – 49: © FABA. Fotos: Marc Domage. Titel der Picasso-Zeichnungen: Zeichnung 1: S. 33: „Portrait
de Jacqueline“, Bleistift. Datiert und nummeriert oben links:
„9.3.56/I“. Zeichnung 2: S. 34: „Portrait de Jacqueline“, Kohle, Kreide und Bleistift. Datiert und nummeriert oben rechts:
„9.3.56/II“. Zeichnung 3: S. 35: „Portrait de Jacqueline“, Kreide und Bleistift. Datiert und nummeriert oben rechts:
„9.3.56/III“. Zeichnung 4: S. 37: „Portrait de Jacqueline“, Kreide und Bleistift. Datiert und nummeriert unten links: „9.3.56/
IV“. Zeichnung 5: S. 39: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und
nummeriert unten rechts: „7.6.56/I“. Zeichnung 6: S. 40 o.:
„L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links:
„7.6.56/II“. Zeichnung 7: S. 40 M.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „7.6.56/III“. Zeichnung 8:
S. 40 u.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert unten rechts: „7.6.56/IV“. Zeichnung 9: S. 41 o.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „7.6.56/V“.
Zeichnung 10: S. 41 M.: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und
nummeriert oben links: „7.6.56/VI“. Zeichnung 11: S. 41 u.:
„L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links:
„7.6.56/VII“. Zeichnung 12: S. 43: „L’atelier“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben rechts: „7.6.56/VIII“. Zeichnung 13: S. 44 o.: „Etude de mains“, Bleistift und China-Tinte.
Datiert und nummeriert oben rechts: „11.6.56/I“. Zeichnung 14: S. 44 M.: „Etude de mains“, Bleistift und China-Tinte.
Datiert und nummeriert oben rechts: „11.6.56/II“. Zeichnung 15: S. 44 u.: „Profil de Jacqueline“, Graphitmine. Zeichnung 16: S. 45 o.: „Plante“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „17.6.56/I“. Zeichnung 17: S. 45 u.: „Plante et
insecte“, China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links:
„17.6.56/II“. Zeichnung 18: S. 46 o.: „Plante et insecte“: Tuschezeichnung mit China-Tinte. Datiert und nummeriert unten links: „17.6.56/IX“. Zeichnung 19: S. 46 u.: „Plante et insecte“: Tuschezeichnung mit China-Tinte. Datiert und
nummeriert unten links: „17.6.56/XI“. Zeichnung 20: S. 47 o.:
„Caricature de Jaime Sabartés (Retour de Bruxelles)“, China-Tinte und Gouache. Datiert und nummeriert oben links:
„17.6.56/XII“. Zeichnung 21: S. 47 u.: „Plante et insecte“, Tuschezeichnung mit China-Tinte. Datiert und nummeriert
oben rechts: „17.6.56/XIII“. Zeichnung 22: S. 49: „Plante et
insecte“, Tuschezeichnung mit China-Tinte. Datiert und nummeriert oben links: „17.6.56/XIV“. Interview Sir John
Richardson: S. 50: Foto: François Halard. S. 51, S. 52: © David Douglas Duncan. Courtesy Kunstmuseum Pablo Picasso Münster. S. 53: Foto Jacqueline Roque. Courtesy Archiv
Sir John Richardson. S. 55: Foto: Edward Quinn, © edwardquinn.com. Interview Loretta Würtenberger: S: 57:
Foto: Christian Werner für BLAU. S. 58: Foto: bpk-Images.
S. 59: © George and Betty Woodman, Moderna Museet
Collection. Wertsachen: S. 60 l.: Courtesy Bonhams.
S. 60 r. o.: Courtesy Quittenbaum. S. 60 r. u.: Courtesy Ketterer. S. 61 o: Courtesy Sotheby’s. S. 61 u.: Foto: Emmanuel
Crooy. Kolumne: S. 62: Foto: John D. Schiff. Gift of Jacqueline, Paul and Peter Matisse in memory of their mother Alexia Duchamp. Courtesy Philadelphia Museum of Art. Kalender: S. 64 l. o.: Städel Museum, Frankfurt am Main. Foto:
Städel Museum-ARTOTHEK. S. 64 M. o., S. 64 M. u. l.: Kunsthaus Zürich. S. 64 M. u. r.: Privatbesitz. S. 64 r.: Courtesy the
artists and Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin. S. 65 o.: Mussels: The Museum of Modern Art, New York. Partial gift of
Daled Collection and partial purchase through the generosity of Maja Oeri and Hans Bodenmann, Sue and Edgar
Wachenheimm III, Marlene Hess and James D. Zirin, Agnes
Gund, Marie Josée and Henry R. Kravis, and Jerry I. Speyer
and Katherine G. Farley, 2011. ©Estate of Marcel Broodthaers/Artist Rights Society (ARS), New York/SABAM, Brussels. S. 65 o.: French Fries: Private Collection, New York. ©
2015 Estate of Marcel Broodthaers/Artist Rights Society
(ARS), New York/SABAM, Brussels. S. 65 u.: The Museum of
Modern Art, New York. Fractional and promised gift of Jo
Carole and Ronald S. Lauder, 1992. ©2015 Estate of Marcel
Broodthaers/Artist Rights Society (ARS), New York/SABAM, Brussels. S. 65 M.: Louisiana Museum of Modern Art.
S. 65 r. o. : Courtesy the artist, Zagreb. Foto: Boris Cvjetanovic. S. 65 r. u.: Courtesy of the artist and Andrew Kreps Gallery, New York. Der Augenblick: S. 66: ©Lars Tunbjörk/
Agence Vu/Laif
VG Bild-Kunst , Bonn 2016
Willi Baumeister, Marcel Broodthaers, Marcel Duchamp,
John Heartfield, Hannah Höch, Pablo Picasso, Germaine
Richier, Philippe Vandenberg, Jean-Pierre Yvaral
DA
Für die Humanisten am
Florentiner Hof der Medici
war es undenkbar, dass das
freie Denken, das sie mit so
viel künstlerischer Fantasie
und Erkenntnissen über das
Individuum erkämpft hatten,
einmal aus der schicklichen
Form geraten könnte. Aber es
dauerte nicht lange, da erstarb
sie wieder, die Faszination an
den Formeln, die man der
Antike abgeschaut hatte. Die
Maler des 16. Jahrhunderts
ließen die Muskeln anschwellen, ihre Körper bogen und
krümmten sich. Auf Maß
folgte Maßlosigkeit, aus
Geist wurde Stil, die
Maniera. Die Ausstellung
des Frankfurter Städel
beschreibt mit Bronzino,
Pontormo, Andrea del
Sarto oder Vasari den
Stimmungswandel
einer florentiner
Epoche, in dem die
Handschrift des
Künstlers wichtiger
wurde als die Regeln,
auf die sich das
Jahrhundert zuvor
geeinigt hatte. mü
Unsere TERMINE im Februar
DA
AGNOLO BRONZINO Bildnis einer Dame
in Rot (Francesca Salviati?), um 1533
MANIERA
STÄDEL
MUSEUM,
FRANKFURT
AM MAIN
24.02. –
05.06.2016
BLAU
K ALENDER
L ÄSSE —
KÜ NST LERN ACH
— A U K TI O N EN
—
WERTSACHEN
AU K ALENDER
— GRAND PRIX — BL
K
DER AUGEN BLIC
Landesmuseum Zürich, 05.02. – 28.03.2016
Kunsthaus Zürich, 05.02. – 01.05.2016
„Und morgen wird ganz Zürich davon reden.“ Schon im Eröffnungsmanifest vom Juli 1916 prophezeiten die Dadaisten Großes.
Und behielten damit mehr als recht. Dada wucherte rasend
schnell zur weltweiten Bewegung. Chaos, Unsinn und die Lust am
abseitigen Humor waren mitten im Ersten Weltkrieg die Absage
an den Wahnsinn der sich selbst zerstörenden bürgerlichen Welt des
19. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag will Zürich nun an diese
Sprengkraft erinnern. So vermittelt das Landesmuseum mit Sophie
Taeuber-Arps bunten Kostümen und den Traumzeichnungen
von Max Ernst eine Idee von der ästhetischen Spannbreite und
intellektuellen Schubkraft des Dadaismus.
Das Kunsthaus widmet sich unterdessen einem nie vollendeten
Buchprojekt von Tristan Tzara,
der sich 1921 aus aller
Links: HANNAH
Welt Kunstwerke und Texte
HÖCH Die
zuschicken ließ. Für die
Dada-Mühle,
1920.
Ausstellung finden die über
Rechts: SOPHIE
200
Versatzstücke nun
TAEUBER-ARP
erstmals
in ihrem verworrenen
Porträt Hans Arp,
1918.
Gefüge zueinander. Beide
Oben: JOHN
Ausstellungen sind Teil des breiten
HEARTFIELD
Jubiläumsprogramms, zu dem auch
Doppelporträt
die Manifesta gehört. Und
Baader / Hausmann, um
wieder spricht ganz Zürich
1910 / 20
über Dada. MW
ARS VIVA,
GFZK LEIPZIG
20.02. –
22.05.2016
Mit dem Ars-Viva-Preis ist es
wie bei Hase und Igel: Er
ist meist schon vorher da. So
erhielt ihn 2014 James
Richards, bevor er mit dem
Turner-Preis nominiert
wurde. Letztes Jahr war
Flaka Haliti dran, kurz darauf
vertrat sie den Kosovo auf
der Biennale von Venedig.
Seit 1953 zeichnet der Kulturkreis des BDI jährlich drei
junge Künstler aus, mit
5.000 Euro Preisgeld und
drei Ausstellungen. Neben
Haliti zeigen nun Hanne
Lippard und das Duo Calla
Henkel & Max Pitegoff
CALLA HENKEL & MAX PITEGOFF
Joe (new theater), 2012
Arbeiten, die sich im Bereich
der Kommunikation
und Performance bewegen:
Kindheitserinnerungen,
bürokratische Wendungen,
SMS-Texte und Theatermöbel nehmen einen Alltag
ins Visier, in dem Kommunikation Selbstzweck geworden
ist. GB
French Frie s, 1966
M u s s e l s wi t h wh i t e s a u c e ,
1967
MARCEL
BROODTHAERS
MoMA, New York
EYE
ATTACK
LOUISIANA MUSEUM,
HUMBLEBAEK
04.02. – 05.06.2016
Die Anfänge reichen zurück
in die Zeit des Bauhauses,
wo schon Oskar Schlemmer
mit den kubischen Kostümen
seiner kreiselnden Figurinen
ein Spektakel aufführte, dass
es den Zuschauer ganz
flimmrig vor Augen wurde.
Seinen Nachfolgern, die sich
in den 60er-Jahren unter
dem Markennamen Op-Art
zusammentaten, ging es
um nichts anderes. Auch sie
nutzten die eigentümlichen
FLUIDITY
Kunstverein in Hamburg
30.01. – 10.04.2016
Herzlichen Glückwunsch! Seit
50 Jahren gibt es
Marcel Broodthaers (1924–1976) hatte nicht viel
Kunst, die es
Zeit. Erst mit 40 Jahren beschloss der Belgier, kein
eigentlich nicht
Dichter mehr zu sein, sondern bildender Künstler:
gibt – oder
Er versiegelte seinen letzten Gedichtband Pense-Bête
vielmehr, die man
mit Gips – und hatte so seine erste Skulptur. Es ist
nicht sieht. Als
dieser subversive Esprit, der sein Werk die nächsten
Erste beleuchtete
zwölf Jahre bis zu seinem Tod umhüllt. Was dabei
die berühmte
entsteht, verändert die Kunstgeschichte: Broodthaers
Kunsthistorikerin
macht das Museum zum Thema seiner Kunst –
Lucy R. Lippard
als Ort in der Gesellschaft, in dem Dinge definiert,
dieses Phänomen
kategorisiert und ausgestellt werden. 1968 gründet
1973 in ihrem
er in seiner Wohnung ein eigenes Museum mit
legendären Essay
poetisch-humorvollen Installationen aus Vitrinen mit
Six Years – The
Pflanzen, Bildern, Fotografien, Waffen und ausgedematerialization
stopften Tieren. Die einzelnen Objekte versieht er mit
of the art object
der Aufschrift „Dies ist kein Kunstwerk“: eine
JEAN-PIERRE YVARAL
from 1966 to 1972.
dialektische Anspielung auf das berühmte Bild Dies
Forme ambique mobius, 1970
Der Gedanke,
ist keine Pfeife seines Landsmannes René Magritte.
Solche Grundsatzfragen an
Schwächen unseres Sehens dass Kunst kein
Resultat zeigen
die Kunst wirft Broodthaers
und erzeugten mit abstrakt
immer wieder in den Raum,
geometrischen Farbmustern muss, sondern
genauso gut
stellt ihre Sinnproduktion und
die Illusion von Bewegung.
die Diskrepanz zwischen Bild,
Wenn man so will, eine Kunst Ideen und Konzepte vorstellen
Wort und Bedeutung heraus,
der optischen Täuschung,
kann, richtete sich
wobei er zugleich ihre
die sich nicht wirklich verdamals gegen
Vermarktungsstragien entlarvt. braucht. Noch heute steht
Kommerz und
Bis heute entzieht sich sein Werk man vor den Werken
Institutionen. In
jeder kunsthistorischen Einord- von Bridget Riley und ihrer
einer hypervernung. Als Künstler in den
Kollegen Victor Vasarely,
80er-Jahren anfangen, sich mit Almir Mavignier oder Jesús
Archiven, Sammlungen und
Rafael Soto und der alte
dem Kontext zu befassen, in dem Zauber funktioniert noch
Kunst präsentiert wird, hat
immer. Wer’s nicht glaubt,
Broodthaers längst die wichtigskann sich im Louisiana
White cabinet and
white table, 1965
ten Gedanken dazu formuliert.
Museum von der Eye attack
Das MoMA zeigt nun seine große
der Op-Art überzeugen.
Retrospektive. GB
MÜ
14.02. – 15.05.2016
ENCORE
65
netzten Welt
erscheint er
jedoch aktueller
als je zuvor.
Heute reflektieren
Künstler das
Flüchtige nicht
mehr unbedingt
als Gegenbewegung zum kommerziellen Kunstobjekt, sondern
als Tendenz
in unserer unverbindlichen
Gesellschaft. Der
Kunstverein
Hamburg widmet
sich dem Fluiden
mit Arbeiten
von Darren Bader,
Jason Dodge,
Maria
DARREN
Eichhorn, BADER
Goat as a
Pierre
microprocessor
Huyghe, that vomits blood
Lee
to grow basil, o. J.
Lozano Oben: MLADEN
STILINOVIĆ
und
An artist who
Mladen cannot speak
Stilinovi . English is no
artist, 1992
gb
DER AUGENBLICK
IN VOLLER
FAHRT
Eine Fotografie und ihr Mythos
LARS TUNBJÖRK
Aus der Serie Vinter, Schweden, Stockholm 2006, Cibachrome-Print
S
chweden im Winter bleibt
ein herrliches Klischee.
Das nordische Bilderbuch
aber hat den Schweden Lars
Tunbjörk nie interessiert. Was er
beobachtete, war eine weit
fortgeschrittene Industriegesellschaft, superpraktisch aufgestellt: gut motorisiert, beschildert, beleuchtet und selbstverständlich „vernetzt“. Um so
schriller sieht das alles aus, wenn
man den Blitz draufhält, in den
Häusern und in der Natur. Eine
solche fotografische Passion
gibt sich weder familienfreund-
lich noch patriotisch. Dafür zeigt
sie Dinge, die man sonst selten
zu sehen bekommt.
Aus Tunbjörks Zyklus Vinter
entnehmen wir ein Bild von
außergewöhnlicher Gewöhnlichkeit. Eilig von Schnee befreit, ist
das silberne Fahrzeug unterwegs
auf einer Straße mit bereits
gefrorenem Untergrund. Auf
den vorderen Sitzen ein Paar,
angegurtet beide. Unwillkürlich
sieht man die Außenspiegel als
Zeichen einer ehelichen Symmetrie. Und viel mehr ist auf diesem
Bild in der Tat nicht zu sehen.
Man kann sich natürlich
noch mehr ausmalen: dass
die beiden allein im Auto sind
oder auf dem Rücksitz
Kinder; dass sie ein kostbares
Geschenk in den Händen hält
oder etwas Dringendes für das
Krankenhaus. Dass die beiden
sprechen oder schweigen –
und so weiter. Überhaupt,
viele Menschen glauben, dass
„Fotos Geschichten erzählen“,
und es spricht wirklich nichts
dagegen, Bildern eine Narration zu entnehmen oder sie
ihnen anzudichten.
ENCORE
66
Entscheidende Erfindungen der Moderne aber sind
Aussparung und Abstraktion.
Die Fotografie hat diese
Verfahren parallel zu anderen
Kunstformen entdeckt, sich
lange aufgehalten mit Schatten
und Unschärfen, bildschönen
Vagheiten – zurzeit fortgesetzt
in digitalem Pointillismus,
bestens geeignet für die Jahresgabe des Kunstvereins.
Der schwedische Fotograf
Tunbjörk aber wollte woanders
hin. Er schneidet in die Wirklichkeit wie in einen Eisblock, aus
dem überraschenderweise eine
erkennbare Form entsteht.
Dieses Bild, obwohl es Vorläufer hat, handelt nur sehr bedingt
von Menschen und Straßen.
Es benennt stattdessen äußerst
kühl einen bestimmten Zustand,
der als Sieg der Technik über
die Natur beschrieben werden
könnte. Banaler gesprochen
verdichtet er die Erfahrung des
Autofahrens unter TÜV-sicheren Bedingungen. Dass „Insassen im Fahrgastraum“ dies
als Zustand der Behaglichkeit
empfinden, weiß der Fotograf
natürlich auch. Gezeigt wird
aber das Gegenteil, der blanke
Mythos, das Unaufhaltsame
der industriell-technischen Welt.
Bis ins Stockholmer
Moderna Museet hat er es
gebracht mit diesem Zyklus im
Herbst 2007. Tunbjörk war
ein getriebener Fotograf, immer
dran am Entlegenen, Schrillen
und Grotesken, aber nicht,
wenn es von anderen zum
Schauen inszeniert wurde. Sein
sezierender Blick galt dem
Alltag. Mit nur 59 Jahren ist
Tunbjörk im vergangenen Jahr
an einem Herzinfarkt gestorben, gestoppt in voller Fahrt.
ULF ERDMANN ZIEGLER
E VON BL AU
DIE NÄCHSTE AUSGAB UA R 2016
BR
ERSCHEIN T AM 27. FE CH IM
NA
DA
D
UN
IN DER WELT
SCHRIFTENHANDEL
S E I T 17 0 7
Lucio Fontana, Concetto spaziale, Attesa, 1968, erzielter Preis € 1.071.400
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Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien, www.dorotheum.com
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