23 Karans lange Reise mit Pegasur von Barden über Landor nach

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23 Karans lange Reise mit Pegasur von Barden über Landor nach
Karans lange Reise mit Pegasur von Barden über Landor nach
Duhn
Es war schon spät am Morgen, als er erwachte. Er bemühte sich zu
verstehen, wo er aufgewacht war. Er sah sich um. Die Erinnerung
kam zurück. Wieso war er alleine aufgewacht? Wo war Xera? Er
schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Er konnte das Tageslicht
nicht sehen. Er schaute auf die Uhr. Der Tag war schon einen Eiszapfen alt.
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„Xera!“ rief er nach ihr. Sein Herz pochte schneller.
„Xera! Wo bist du?“ rief er nach ihr.
War sie gegangen? War wieder etwas passiert? Er trat in den Gang.
Die Eisblocker waren bereits beiseite geschoben und das schwach
durch vorbeiziehende Wolken schimmernde Sonnenlicht erhellte den
Raum. Nein, das konnte nicht sein!
„Ich bin hier“, rief sie aus dem Wohnraum. Er beruhigte sich. Sicher
war sie schon vor ihm aufgestanden und vielleicht wartete gar ein
Frühstück auf ihn.
„Okay, ich dusche mich und komme dann“, antwortete er ruhiger.
Er ging ins Bad, zog den Pyjama aus und drehte den Hahn auf. Er
genoss die warme Dusche. Das Wasser prasselte auf seine Haut, lief in
Millionen unterschiedlicher Tropfen an ihm herab zu Boden.
So viele Tage hatte er draußen im Freien mit Pegasur kampiert. Besonders die letzte Nacht vor Duhn war es noch einmal bitter kalt
gewesen. Der eisige Wind war ihm am frühen Morgen ins Gesicht
geschlagen. Da halfen auch die muffigen Iso-Anzüge kaum. Er hatte
sich zwar an Reisen ohne feste Bleibe gewöhnt, Gutes und Schlechtes
daran gefunden, aber nun freute er sich über die Annehmlichkeiten zu
Hause. Der Wohnquader war unverändert und das Bad seit der Flucht
offenbar unbenutzt gewesen. Ein letzter Moment und er stellte die
Dusche ab. Er stieg heraus, trocknete sich ab und zog sich etwas über.
Er blickte sich suchend um und erinnerte sich an seine Kindheit,
bevor das Chaos begonnen hatte. Damals hatten seine Eltern noch
gelebt. Die Welt hatte noch klare Konturen für ihn gehabt. Damals –
das war nun vorbei. Zuviel hatte sich inzwischen ereignet. Zu weit war
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er gereist. Zu viele verschiedene Menschen hatten seinen Weg gekreuzt und sich gegen ihn gestellt oder waren seine Freunde geworden. Zu viele Eiszapfen waren zwischenzeitlich geschmolzen und
wieder gewachsen, als dass er das Haus jener Kindheit noch mit den
gleichen Augen wie früher hätte sehen können. Wo waren seine
Freunde? Wo war Kaher? Was machte Dr. Stern und wer dirigierte die
Firma seiner Eltern? Im Süden war König Legot gestorben, im Norden die Neu-Nordische Bewegung gestürzt – wer hielt die Zügel nun
in der Hand? Zu viele Fragen, zu wenig Antworten. Ungewissheit
legte sich wie ein dichter Wolkenschleier am Berg auf seine Seele. Der
Ausblick fehlte und Gipfel waren nicht in der Nähe auszumachen. Ein
undurchsichtiges, endlos weites Gebirge mit tausend Eishöhlen tat
sich da vor ihm auf. Er wusste nicht, was in den Höhlen verborgen lag
und auch nicht, was er dort zu suchen hatte. Karan wurde unruhig. Er
war zu lange im Schnee umhergeirrt und musste seine eigene Zukunft
finden. Er stand irgendwo zwischen zwei Abschnitten – im Nichts.
Leere umgab ihn und schnürte ihn ein. Der eine Abschnitt war zu
Ende und der zweite hatte noch nicht richtig angefangen. Karan
musste Halt und Sinn finden. Er sah in den Spiegel. Er musterte sich.
Er beobachtete seine Augen. Sie waren ruhig und blau wie ein wolkenloser Himmel. Mut stieg in ihm auf. Es war an der Zeit etwas zu tun
und sich damit aus den Irrgängen seiner Gedanken zu befreien, bevor
sie ihn zu sehr lähmten. Ein erster Anfang war, nach dem Rechten in
der Pelzfabrik zu sehen. Das war eine Aufgabe um sich neu zu sortieren. Ja, sein Entschluss war gefasst. Er würde zur Firma fahren.
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Er verließ das Bad und trat in die Küche. Er konnte kaum glauben,
was er dort vorfand. Xera hatte ihm ein Frühstück mit den besten
nach dem Krieg noch auffindbaren Zutaten serviert. Er gab ihr einen
Kuss, drückte sie an sich und bedankte sich: „Du musst meine Gedanken gelesen haben.“
„Du warst gestern so ausgemergelt. Da war die Schlussfolgerung nicht
allzu schwer.“ Danach begannen beide zu essen. Karan hatte die
letzten Tage nicht immer ein gutes Frühstück gehabt, geschweige
denn andere üppige Mahlzeiten. Er war hungrig und stopfte PerotPflanzen, Kiwips und Eisbärenfleisch in sich hinein.
„Du hast nicht viel gegessen die letzten Tage“, bemerkte Xera. Karan
nickte nur und aß, was hinein passte.
Er hatte mit seinem Schneepferd eine weite Strecke zurücklegen
müssen. Im grünen Tal in Barden hatte ihre gemeinsame Reise angefangen. Der Weg hatte sie in das Südreich nach Landor geführt, von
dort nach Seta (Ekat). Gemeinsam hatten sie den Angriff eines Kewocks überlebt, gemeinsam hatten sie Duhn erreicht. Den halben
Schneeball hatten sie umrundet. Das Pferd hatte nie seinen Dienst
versagt. Es war ein ganz besonderes Geschenk von seinem Freund
Ecotu gewesen. Mit jedem neuen Tag wurde es wertvoller. Auch mit
dem heutigen? Das Tier – er dachte an das Tier. Gleich nach dem
Frühstück würde er sich noch um Pegasur kümmern müssen. Xera
ahnte, was ihn beschäftigte:
„Es roch heute morgen fürchterlich nach Vieh im Eingangsbereich.
Ich habe nachgesehen und mich nicht schlecht darüber gewundert ein
wieherndes Schneepferd in der Wohnung vorzufinden. In der An26
nahme, dass es deins ist, hat es zu fressen und zu trinken bekommen.
Ich habe es sogar streicheln können. Es hat ein tolles weiches Fell.“
„Da bin ich beruhigt. Ich hatte es gestern Abend schlicht vergessen.“
„Ja, Du hast wirklich ein wundervolles Schneepferd. Ich habe noch
nie so ein Tier gesehen. Es wirkt majestätisch stolz und voller Kraft –
trotz der langen Reise.“
„Es kommt aus Barden“, erklärte ihr Karan.
„Ich hatte das Gefühl, dass es genau wusste wer ich war. Es vertraut
mir.“
„Bardens Schneepferde sind schlaue Tiere. Sie spüren viele Dinge, die
wir nicht erkennen.“
„Ich glaube nicht, dass es im ganzen Norden noch einmal so ein Tier
gibt.“
„Das hoffe ich doch.“
Xera und Karan unterhielten sich noch eine Weile nach dem Frühstück. Karan erklärte ihr ausführlicher, was im Krieg im Südreich
passiert war. Im Südreich hatten sich Kaher und er der Armee angeschlossen. In einem Gefecht in der Luft war das Schiff, in dem sich
Karan befunden hatte, auf falschen Kurs geraten und im abgelegenen
Land Barden notgelandet. Dort hatte Karan einiges über seine Familie
erfahren. Mit dem Schneepferd war er dann schließlich wieder über
Umwege nach Duhn zurück gekehrt.
Auch Karan hatte einige Fragen an Xera. Sie zielten vornehmlich auf
Duhn.
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Die Pelzfabrik seiner Eltern stand noch. Xera wusste aber nicht, wer
diese leitete.
„Die Lage in Duhn und in den anderen nördlichen Städten ist generell
sehr unübersichtlich. Es gibt keine Autorität, die den Staat leiten kann.
Eine Übergangskomission lenkt die Geschicke mehr schlecht als recht
und ist eher in eigene interne Machtkämpfe verwickelt, als den Wiederaufbau voran zu treiben. Korruption breitet sich aus. Es ist fürchterlich. Wir haben keine Ordnung. Dabei gilt es soviel wieder aufzubauen. Während des Krieges sind Teile von Äquatoriana durch Luftangriffe beschädigt worden. Auch die ehemalige Hauptstadt Pergnon
hat es getroffen. Gerüchte über die Ursache des Krieges und die
eigentlichen Absichten des nunmehr abgesetzten Tyrannen Peseistron
führen zu neuen Spekulationen. Eine Atmosphäre des Misstrauens ist
nach dem Kriegsende entstanden. Es muss sich was ändern“, erklärte
ihm Xera. Aber auch ihr war es nicht möglich gewesen mehr Licht ins
Dunkel zu bringen. Sie hatte versucht über alle ihr zugänglichen
Kanäle weitere Informationen zu erhalten – ohne Erfolg.
Karan nickte nur stumm. Aufgrund seiner Beobachtungen während
der Reise hatte er so etwas schon befürchtet. Karan erinnerte sich an
Barden. Misstrauen – das Wort existierte dort kaum. Barden kam ihm
nun so unwirklich vor wie ein Traum. Würde Karan je wieder nach
Barden reisen können? Würde er den Weg zu seinen Freunden dort
wieder finden?
Nun, aktuell hatte er andere Sorgen. Er war aber froh, dass der
Wohnquader noch intakt und nicht besetzt war. Somit hatten sie eine
Bleibe.
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