Programmheft - hildegardkeller.ch

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Programmheft - hildegardkeller.ch
Ahoi!
Eine närrische Soirée
Infos: www.ds.unizh.ch/hikeller/kultur
Samstag, 19. Juni 2004, 20 Uhr
auf dem Greifensee
Von und mit Studierenden des Seminars «Lob der Torheit»
Deutsches Seminar der Universität Zürich
Ahoi!
Eine närrische Soirée
Von und mit Studierenden des Seminars “Lob der Torheit”
Deutsches Seminar der Universität Zürich
Samstag, 19. Juni 2004
Sonntag, 20. Juni 2004
www.ds.unizh.ch/hikeller/kultur
Samstag, 19. Juni 2004, 20 Uhr
auf dem Greifensee
Programm
Begrüssung
«Eine Welt voller Narren!»
Ein szenischer Dialog zwischen dem «Lob der Torheit» und Studierenden-Texten.
Frau Torheit:
Stimmen:
Narren:
Begleitjumpfern:
Ursula Meier und Corina Enzler
Rachel Kyncl und Rolando Henrich
Aurel Hassler und Andrea Ritzmann
Sybille Diethelm und Sandra Suter
Musik:
Johannes Brahms: 2 Schwestern; Aus «Cinderella»: So This Is Love
Sängerinnen und Sänger: Sibylle Diethelm, Sandra Suter und Aurel Hassler
Klavier: Simone Baumann
Speis und Trank
Musikalisches Intermezzo:
Aus «Cinderella»: A Dream Is A Wish Your Heart Makes
Sängerin: Sandra Suter
Klavier: Simone Baumann
«Der Narr vom Greifensee»
Eine Collage aus Texten von Gottfried Keller, Johanna Kapp, Ludwig Feuerbach und anderen.
Erzähler:
Gottfried Keller:
Johanna Kapp:
Ludwig Feuerbach:
Narren:
Charles Mori
Stefan Schöbi
Corina Enzler
Urs Baldinger
Andrea Ritzmann und Aurel Hassler
Musik:
Hugo Wolf/Gottfried Keller: Tretet ein, hoher Krieger und Du milchjunger Knabe
Sängerin: Sybille Diethelm
Klavier: Bettina Rutgers
2
Programm
Landung
«Salam! – im Orient der Narren»
Julia Sandor erzählt Geschichten von Mulla Nasrudin
Musik:
Aus «Aladdin»: Arabian Nights; Leonard Bernstein, aus «La bonne cuisine»:
Tavouk Gueunksis; 2 ägyptische Kinderlieder; Mani Matter: Arabisch (mit Julia
Sandor und Aurel Hassler)
Klavier: Simone Baumann und Bettina Rutgers
Sängerinnen: Sibylle Diethelm und Sandra Suter
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Ahoi! Oder: Sind Narren greifenseetauglich?
Liebes Publikum
«Ich sehe es euch an, ihr wartet auf ein Schlusswort, doch ihr seid nicht recht
bei Trost, wenn ihr meint, ich könne mich jetzt noch daran erinnern, was ich
palavert habe, habe ich doch vor euch eine ungeheure Wortsauce ausgegossen.»
Mit diesen trotzigen Worten beendet Frau Torheit ihre Ansprache ans versammelte Publikum. Ihr geistiger Vater ist der gelehrte Humanist Erasmus von
Rotterdam. Auf einer Reise im Herbst 1509 hat er sie in seinem berühmtesten
Werk, dem «Lob der Torheit», mit einem unergründbaren Schalk in die Welt
gesetzt. Und da steht sie noch immer und redet auf uns ein! Diese geschwätzige Jungfer kann uns eigentlich nur recht sein, wenn wir mit anderen, mehr
oder weniger redseligen Käuzen jetzt in See stechen.
Frau Torheit behauptet, sie bewahre die Menschen vor ihren eigenen Ängsten und Kümmernissen, mit denen sie Tag und Nacht ihre Seele zermartern
würden. Sie wolle den Menschen dazu verhelfen, dass sie sich selbst weniger
im Weg stünden, dass wir – um es im Blick auf unseren universitären Alltag
zu sagen – die Angst loslassen, «in der forschenden Gemeinschaft Närrin zu
sein». Wir nehmen die olle Weise beim Wort.
Wir lassen uns herausfordern und freuen uns sehr, dass Sie unserer Einladung
auf den Greifensee gefolgt sind. Hier und heute wird sich erweisen, ob Narren
seetauglich sind. Vom schönsten Erfolg, den wir uns wünschen könnten,
erzählen bereits Kellers Figuren, und Frau Torheit hat die Lebensweisheit auf
den Punkt gebracht: Wir wünschen uns das Glück, das «schliesslich massgeblich darin besteht, nichts anderes sein zu wollen, als was man ist.»
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen!
Ein Ahoi im Namen der ganzen Besatzung!
Hildegard Elisabeth Keller
4
Narren. Ein Phantombild
A
W
n seinem Hofnarren hat sich
schon mancher König die Zähne
ausgebissen, obwohl Narr ursprünglich «verwachsene Frucht ohne Kern»
bedeutet. Denn der Ausdruck Narr
bezeichnet nicht allein jene körperlich oder seelisch Verkrüppelten, die
verlacht und verjagt wurden. Narrheit – damit konnte man sich auch
ein Auskommen sichern, ja, vielleicht
war es gar ein Beruf? Narren sind
schelmische Spötter; Gestalten, die
mit hintergründigem Witz versteckte
Wahrheiten oder Weisheiten verkünden. Gerade mittelalterliche Hofnarren fungierten primär als Mahner und
Warner. Geschützt durch ihre sprichwörtlich gewordene Narrenfreiheit
äusserten sie sich kritisch gegenüber
der Obrigkeit. Den dummen Narren
vortäuschend, hielten sie den Mächtigen selbst zum Narren. Der erste Blick
darf also nicht täuschen: Narren sind
weniger einfältig, als die Schlauen
meinen.
orauf verweisen ihre Attribute? Die Narrenkappe mit den
langen Ohren erinnert an die dem
Esel nachgesagte Torheit, die Schellen verweisen auf das leere Geklingel
närrischen Redens und Handelns. Die
Marotte – eine Stabpuppe – in der
Narrenhand symbolisiert die Selbstverliebtheit, somit auch die Unfähigkeit zur christlichen Nächstenliebe.
Die lederne Wurst, die er manchmal
in den Händen hält, erinnert an die
überbordende Lust am Körperlichen.
Dieses Phallussymbol verkörpert zudem die närrische Ignoranz gegen
Gott. In Ps. 52 murmelt der erste Narr
der jüdisch-christlichen Kultur in seinem Herzen: «Es gibt keinen Gott.»
Auch deshalb wurden der Teufel oder
der Tod oftmals als Narren dargestellt.
pottende
Narren,
Hofnarren,
Liebesnarren, teuflische Narren,
dumme und schlaue Narren – in ihnen allen äusserte sich ein Gegenbild
zum sittlich-religiösen Menschen. Der
Narr war ebenso verhasst wie geliebt,
er wurde gehätschelt und verlacht.
Er war ein Prestigeobjekt im spätmittelalterlichen Adligen- und PatrizierHaushalt, ein Ärgernis im sozialen
Gefüge einer Stadt. Es scheint schwer
vorstellbar, dass die Fischbachs und
Giacobbos, die Raabs und Rassers
unserer Tage zur weit verzweigten
Verwandtschaft der mittelalterlichen
Narrenfiguren gehören sollen.
S
Rachel Kyncl und Hildegard Elisabeth Keller
5
Die närrische Welt loben?
Zum szenischen Dialog mit dem «Lob der Torheit»
U
nsere Collage montiert in einen
der berühmtesten Texte des 16.
Jahrhunderts studentische Texte aus
dem beginnenden 21. Jahrhundert.
Zunächst ein paar Worte zum ersten
Text:
rasmus wurde 1466 in Rotterdam
geboren und starb am 11.7.1536
in Basel. Sein Leben in einer äusserst
bewegten Zeit machte ihn selbst
intellektuell beweglich. Er wurde
zu einem Denkakrobaten, zu einem
scharfen Beobachter seiner Zeit und
zu ihrem scharfzüngigen Diagnostiker. Keiner seiner Texte zeigt dies
frecher als sein «Lob der Torheit». Er
schrieb es im Hui, im Herbst 1509,
und lancierte damit einen Text, der
nicht nur für damalige Verhältnisse
zum Bestseller werden sollte. Im
Seminar dieses Sommersemesters haben wir Erasmus’ genialen Kunstgriff
diskutiert: Er lässt die Frau Torheit
selbst auf eine Rednerkanzel steigen
und spricht durch ihren Mund über
die allgegenwärtige Narrheit der
Welt. Seine Kunstfigur redet so frech
und so bitter, so entlarvend und so
widersprüchlich, wie man sich nur
denken kann. Kein Zweifel: Erasmus’
Torheit will verwirren. In unserer
Collage reagieren wir darauf mit der
Doppelbesetzung der Frau Torheit.
Sie erhält auf diese Weise zwei Gesichter und spricht mit zwei Stimmen. Die gewählten Textausschnitte
handeln von der Liebe, die – wenn
wir der Torheit glauben wollen – ihr
bevorzugtes Spielfeld ist.
E
U
nd die Texte der Studierenden?
Vor Seminarbeginn haben die
Studierenden die Aufgabe bekommen, selbst Porträts von Narren
unserer Zeit zu schreiben. Erasmus
hätte seine helle Freude daran gehabt, denn die Vielfalt an Narrheit
ist in televisionärer Zeit nicht kleiner
geworden. Viele Studierende haben
auch die Chance zur Selbstreflexion
genutzt, auch auf die Gefahr hin,
selbst zum Narren zu werden. Vor
ihr muss man sich nicht fürchten,
behauptet Erasmus, denn die Torheit
stärkt das Selbstvertrauen und den
Mut, sich in eine neue Erfahrung zu
stürzen: «Auf dem Wege der Lebenserfahrung gibt es nämlich hauptsächlich zwei Hindernisse, die Scham, die
den Sinn umnebelt, und die Furcht,
die die Gefahr zeigt und von Abenteuer abrät. Die Torheit befreit uns
davon gründlich.»
Hildegard Elisabeth Keller
6
Die Torheit singt
«B
H
esonders bei den Schauspielern, Sängern, Rednern wiegt
jeder sich um so mehr in Selbstgefälligkeit, brüstet sich um so stärker
und macht sich um so breiter, je
dümmer er ist.» Diese Worte spricht
bei Erasmus die Torheit. Aber angesichts der Tatsache, dass es üblich
ist, ein Lob zu singen, müsste man
doch eigentlich sagen «die Torheit
singt»! Ist es nicht so? Sprechen kann
jeder. Aber mit dem Singen - da ist
es anders: nur wer ein Tor ist, singt!
Wir wollen deshalb Erasmus korrigieren und an Stelle von «Die Torheit
spricht» «Die Torheit singt» setzen.
eutzutage, wenn man sich an
der Musikhochschule bewirbt,
um Sängerin zu werden, und die
Experten mit einer guten schriftlichen Arbeit erfreut, bekommt man
zu hören: „Solch gute Theoriekenntnisse sind wir uns von Sängern nicht
gewöhnt. Sie spielen doch sicherlich
noch ein anderes Instrument?“
A
m heutigen Abend werden Sie
neben zwei von Hugo Wolf
vertonten Keller-Gedichten auch
Lieder zu hören bekommen von
Brahms bis hin zu Bernstein, ferner
von Walt Disney-Komponisten wie
Alan Menken und dem Schweizer
Chansonnier Mani Matter. Die Texte
stammen unter anderem aus den Federn Mörikes und Shakespeares und
zeigen, dass auch sie nicht immer nur
ernst genommen werden wollen. Um
die vollendete Narrheit zu erreichen,
dürfen selbstverständlich ein, zwei
Kochrezepte und Kinderlieder aus
dem fernen Ägypten nicht fehlen.
H
ört man Musiker lachen und
Sprüche klopfen, so kann man
sicher sein: Zielscheibe ihres Spotts
sind Sänger. Denn für Instrumentalisten steht fest, dass Sänger die Narren
unter den Musikern sind. Am ärgsten
trifft es stets die Tenöre, zumeist
klein, ohne Hals, leicht untersetzt
und penetrant näselnd, dicht gefolgt
von den Sopranen, oftmals divisch
veranlagt, mit enormen Allüren, nervenaufreibend kopfiger Sprechstimme und pfeiftonhohem Lachen.
Sybille Diethelm und Sandra Suter
D
ie Liste von Sängerwitzen ist
schier endlos lang, die Torheit
der Sänger scheint grenzenlos zu
sein. Um an dieser Stelle ein wenig
aus dem Nähkästchen zu plaudern:
- Wissen Sie, was ein Tenor macht,
wenn der Regen an sein Fenster
prasselt? Er verbeugt sich. – Oder
haben sie eine Ahnung, was der Unterschied zwischen einer Sopranistin
und einem Klavier ist? Ein ViertelTon.
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«Die Welt ist voller Torheit, und wir alle sind insgesamt Narren.»
W
ie Kant mit der Aussage «die Welt ist voller Torheit, und wir alle sind
insgesamt Narren» erkannt hat, ist Torheit allgegenwärtig. In den
folgenden Kurzinterviews wird die Torheit aus verschiedenen Perspektiven
betrachtet. Ein herzliches Dankeschön an alle Interviewpartner.
Torheit in der älteren Literatur
rige eine Funktion auf dieser Erde
erfüllt, die religiös ergründet wird. Es
(Interview mit Hildegard E. Keller)
wird als Zulassung Gottes gedeutet,
Welchen Stellenwert nimmt die Torheit
somit als eine Grundbedingung von
in der älteren Literatur ein?
Heil. Im Spätmittelalter nimmt eine
eigentliche «Freude am Bösen» (WerIn der zweiten Hälfte des 15. und
ner Röcke) in literarischen Texten
im 16. Jahrhundert wird «Torheit»
Gestalt an. Schelmen- und Narrenzu einem zentralen Motiv. Literaten,
figuren ziehen in die europäische
Philosophen und bildende Künstler
Literatur ein und zeigen, wie sie sich
haben sich in einer vielfach aufbredurchs Leben schlagen und oft genug
chenden Welt daran abgearbeitet.
selbst zu Prügelknaben werden. DaDeshalb sind uns so viele (und wichrin sieht die Forschung auch geselltige) Zeugnisse davon überliefert.
schaftliche Entwicklungen widerWichtig zu wissen ist aber, dass die
immer gleiche Bezeichnung «Torheit» spiegelt: Der französische Historiker
Georges Duby zeigt, wie sich vom
darüber hinwegtäuscht, dass von
14. Jahrhundert an die wechselseitige
sehr unterschiedlichen Phänomenen
Solidarität der Stände aufzulösen
die Rede sein kann: von Lebenshalund ein Kampf aller gegen alle sich
tungen, die als unmoralisch oder
durchzusetzen beginnt. Leistung und
(in einem religiösen Sinne) heillos
Profitdenken sind im Vormarsch.
gelten, von Menschen, die dem
Leben in irgendeiner Hinsicht nicht
Wann kamen Sie sich zuletzt närrisch
gewachsen scheinen, von schrägen
vor?
Figuren, die als Profis an den AdelsMir kommt eines der vorletzten Male
höfen arbeiten, von vordergründig
in den Sinn, eine richtige Kettenreakvielleicht lächerlichen Figuren, die
tion der Narrheit. Das war jener Jaihren Zeitgenossen in süssen Pillen
nuartag, an dem mir einfiel, mit dem
Wahrheit verabreichen.
Seminar ein Schiff zu mieten. Schon
In der Literatur sowie in den Bräuchen
flitzte die zweite Idee daher, die mit
des Mittelalters ist Torheit häufig mit
der literarischen Soirée. Als dann die
Gewalt verbunden. Wie kam es zu dieser
Studierenden sich dafür erwärmten,
doch sehr widersprüchlichen Verknüpwar das närrische Vorhaben geboren
fung?
und die Besatzung angeheuert. ErasDas ist ein heikles Thema, das nicht
mus hat recht: Frau Torheit streut uns
monokausal angegangen werden
immer wieder Salz in die Suppe -- ich
kann. Aus der historischen Entferbin heilfroh, dass sie die universitänung ist wichtig zu wissen, dass das
ren Teller nicht vergisst!
Böse, das Gemeine, auch das Nied8
Torheit in der neueren Literatur
Torheit und Psychologie
(Interview mit Peter von Matt)
(Interview mit Eugen Teuwsen)
Welche Rolle spielt die Torheit in der
neueren Literatur?
Aus Gründen der «Political Correctness» dürfen nur noch durchschnittlich intelligente Leute in den Romanen auftreten.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen
Torheit und Psychologie?
Viele junge Leute verlassen ihr
behütetes Elternhaus und sind zu
weltfremd, als dass sie auf eigenen
Beinen stehen könnten. Zwei berühmte Beispiele aus der Literatur
wären Parzival und Hans im Glück.
Bei beiden Figuren kommt der Realitätsbezug nicht richtig in Gang.
Ein Studienabschluss bedeutet noch
nicht, dass man durch das Leben
kommt. Oder mit den Worten von
Goethes Faust ausgedrückt: «Durchaus studiert, mit heissem Bemühn. /
Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und
bin so klug als wie zuvor.»
Hat das Närrische im wissenschaftlichen
Betrieb Platz?
Wo das Närrische im wissenschaftlichen Betrieb gezielt produziert wird,
ist es etwa so lustig wie Bundesrat
Deiss am Sechseläuten. Hingegen
nehmen die unfreiwilligen Formen
einen immer grösseren Raum ein.
Wann kamen Sie sich zuletzt närrisch
vor?
Als ich in meinem letzten Semester
an der Universität den Evaluatoren
die Vor- und Nachteile meines Lehrstuhls schriftlich schildern sollte.
Lässt sich die literarische Figur des weisen Narren psychologisch erklären?
Wissen hilft abzuschätzen, was man
sagen darf. Der weise Narr hält den
Leuten auf tollpatschige Weise einen
Spiegel vor. Die Leute fühlen sich so
weniger konfrontiert.
Ein grosses Wissen bedeutet zudem,
dass sich vieles relativiert. Man wird
toleranter gegenüber menschlichen
Unzulänglichkeiten und lernt, die
Dinge weniger ernst zu nehmen.
Närrisch kam ich mir das letzte Mal vor
als ...
... ich in Barcelona von einem Fremden angesprochen wurde und mich
– im Glauben, dass er mir helfen
wollte – auf ein Gespräch einliess.
Seine wahre Absicht wurde mir erst
klar, als ich bemerkte, dass mein
Portemonnaie fehlte.
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Als Moderator der Literaturshow nehmen Sie nicht gerade ein Blatt vor den
Mund. Sehen Sie sich selbst als modernen Hofnarren, der das Privileg der
Narrenfreiheit geniesst?
Ja, denn sehen Sie: ich kann an dieser
Stelle den grösstmöglichen Unfug
schreiben, und er wird gedruckt!
Zum Beispiel «Obladi oblada life
goes on bra / Lala how the life goes
on / Obladi oblada life goes on bra
/ Lala how the life goes on» (habe
ich heute Morgen unter der Dusche
schnell gedichtet). Leider lauern hinter jeder Strassenecke Leute, die mir
dieses Privileg wegnehmen wollen,
vor allem grosse muskulöse Germanistikstudenten mit Peter-von-MattTattoos am ganzen Körper!
Torheit aus Sicht eines Autors
(Interview mit Gion Mathias Cavelty)
Welchen Stellenwert nimmt die Torheit
in Ihrem literarischen Schaffen ein?
Ich habe von Anfang an den «Weg
des Narren» gewählt, den nobelsten
aller Initiationswege! Noch bevor
ich geboren war, wusste ich, dass ich
allergisch reagieren würde, wenn
mir jemand etwas Vernünftiges
beibringen will. Und präzis so ist es
gekommen! In der dritten Primarschule habe ich begonnen, selbstgezeichnete Comics («Oma Puh») auf
dem Pausenplatz zu verkaufen. Mit
dem verdienten Geld konnte ich mir
eine erste Villa in Miami Platja an der
Costa Dorada kaufen. Dass ich danach überhaupt noch etwas geschrieben habe, zum Beispiel «Endlich
Nichtleser - die beste Methode, mit
dem Lesen für immer aufzuhören»,
war dann nur noch töricht.
Wann kamen Sie sich zuletzt närrisch
vor?
Jeden Tag aufs neue! Es ist harte
Arbeit, närrisch zu sein! Kaum passt
man mal eine Sekunde nicht auf, und
schon ist man Dr. phil.!
Die Interviews führte Martina Gut
Hildegard Elisabeth Keller ist Assistenzprofessorin für ältere deutsche Literatur an der
Universität Zürich.
Peter von Matt ist Autor und Publizist. Bis 2002
war er Professor für neuere deutsche Literatur
an der Universität Zürich.
Eugen Teuwsen ist Leiter der Psychologischen
Beratungsstelle für Studierende der Universität und der ETH Zürich.
Gion Mathias Cavelty ist Autor und Publizist;
zudem moderiert er die «Literaturshow» im
Moods.
10
Der Narr vom Greifensee
W
ie der Landvogt von Greifensee stürzt sich Keller in eine
Reihe von rauschhaften Liebesabenteuer – unter ihnen die anmutige
Johanna Kapp, die ihm ausgerechnet
Ludwig Feuerbach vor der Nase
wegschnappt – um am Ende auf die
ernüchternde Wirklichkeit zu prallen,
die sich in den meisten seiner Novellen niederschlägt. Immer wieder
treffen Liebende aufeinander, die
offensichtlich füreinander bestimmt
sind, aufgrund tragischer Hindernisse und Missverständnisse aber
dennoch ihr Glück verfehlen, und
wenn nicht, dieses nur im gemeinsamen Liebestod finden wie Romeo
und Julia.
ene wie eine Fata Morgana am
Horizont leuchtende Glückseligkeit, das ist “die schöne Welt auf der
holperigen Erde”, von der er spricht
und an welcher er selber zeitlebens
gelitten hat.
enn wie dem Landvogt von
Greifensee ist Keller die Erfüllung in der Liebe nie zuteil geworden. Als Künstler hat er alle vergebene Liebesmüh in seine Geschichten
verwoben und hat die Tragik der
eigenen Biografie um so humorvoller
in die Narrenfiguren seiner Erzählungen zu verlegen vermocht. In «Der
Landvogt von Greifensee» zeigt sich
schliesslich die Narrheit Kellers, die
bestens über sich selbst zu lachen
versteht.
«Die Empfindung ist die Geburtsstätte des
Selbst. Nur in der Empfindung liegt die Gewissheit meines Daseins, meines Selbstes»
(Ludwig Feuerbach)
G
ottfried Keller hatte Mitte des 19.
Jahrhunderts den Vorlesungen
Ludwig Feuerbachs beigewohnt und
war von dessen anthropologischer
Philosophie derart begeistert, dass sie
ihn zeitlebens beeinflusst hat. Anders als die atheistischen Ansichten
Schopenhauers beinhaltet Feuerbachs
Religionskritik eine ausdrücklich
weltzugewandte Komponente, die
sich aus Menschenliebe und Sinnlichkeit zusammensetzt. Entsprechend
aufbauend äussert sich Keller 1849 in
einem Brief an Eduard Dössekel:
J
«Für die poetische Tätigkeit aber
glaube ich neue Aussichten und
Grundlagen gewonnen zu haben,
denn erst jetzt fange ich an, Natur
und Mensch so recht zu packen und
zu fühlen.»
D
– und damit das schöne Geschlecht.
Charles Mori
11
Der weise Narr aus dem Morgenland
D
ie Narrenzunft ist international.
Ohne Rücksicht auf politische
oder religiöse Grenzen treibt sie auf
der ganzen Welt ihre Possen. Doch
jedes Volk hat einen Lieblings-Narren
– den Landesvertreter der Zunft sozusagen: Till Eulenspiegel ist es für die
Flamen, der Baron von Münchhausen
für die Deutschen, in Spanien ist es
Don Quijote und in Italien Pasquino.
ie Türkei, und mit ihnen die
ganze islamische Welt, lacht seit
Jahrhunderten über Mulla Nasrudin,
oder Nasreddin Hoça, wie er auch
genannt wird. Laut Überlieferung hat
er im 13. oder 14. Jahrhundert in der
türkischen Stadt Akschehir gelebt,
wo er als Imam und Lehrer tätig war.
n den Erzählungen, von denen
es unendlich viele gibt, erscheint
Nasrudin meist ärmlich: Er lebt in
einer armseligen Hütte, ist in Lumpen gekleidet, reist auf einem klapprigen Esel umher und oft fehlt es ihm
auch am Notwendigsten zum Leben.
Viele Anekdoten handeln deshalb
vom Essen. Sein Charakter ist der
eines wahren Narren, ein Gemisch
also aus grenzenloser Einfalt und
Dummheit sowie von natürlichem
Geist und Witz. Grausamkeit und
Liebenswürdigkeit, Geiz und Freigiebigkeit sind in seinem Wesen vereint.
Das Widersprüchliche, das bei ihm
selbst so offen zu Tage tritt, entdeckt
und enttarnt er auch immer wieder
bei seinen Mitmenschen: Den Guten
beweist er, dass auch in ihnen das
Böse lauert, den Bösen begegnet er
mit Nachsicht, weil er auch in ihnen
einen Rest Güte entdeckt. Er staunt
D
I
über die Weisheit in den Taten der
Dummen und lacht über die Klugen
und die, die sich dafür halten. «Manche Menschen», soll er einmal gesagt
haben, «halten das, was sie dreissig
Jahre lang falsch gemacht haben, für
Erfahrung».
Julia Sandor
12
Zum Weiterlesen ...
Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Eine Lehrrede. Übersetzung aus
dem Lateinischen und Nachwort von Kurt Steinmann. Mit dreissig Zeichnungen von Hans Holbein d.J., Zürich 2002.
Gottfried Keller: Der Landvogt von Greifensee. In: Gottfried Keller, HistorischKritische Gottfried Keller-Ausgabe, Band 6, Züricher Novellen, Zürich/
Frankfurt am Main 1999.
Impressum
Umschlaggestaltung: Sarah Fehr
Heftgestaltung: Johann Fichtner, Hildegard Elisabeth Keller
Abbildung auf der vorderen Umschlagseite: Hans Holbein d.J: Narr. Bearbeitet von Sarah Fehr.
Abbildungen im Heft: Illustrationen von Hans Holbein d.J. zu Erasmus von Rotterdams «Lob der
Torheit».
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Herzlichen Dank!
An Herrn Herrn Eggimann (Herrenschneiderei) und Frau Kaspar
(Damenschneiderei) vom Schauspielhaus Zürich, an die Crew der
MS Uster und die Fotografin Cristina Zilioli.
An die Kerngruppe von Studierenden aus meinem Seminar «Lob
der Torheit» (Sommersemester 2004, Namen kursiv): Seit Anfang
April haben sie mit mir zusammen diese Soirée gewagt und organisiert. Sie haben damit eine unkonventionelle Studienleistung
erbracht. Aussergewöhnlich ist auch ihr Einsatz gewesen, und
überraschend ihre Talente, die einer Professorin sonst verborgen
bleiben.
An die Studierenden aus dem Seminar «Lob der Torheit», die sogar
ohne den Lohn einer Dozentenunterschrift mitgemacht haben und
weit über das erwartbare Mass ihre Fantasie, ihre Spielfreude und
ihre Schreib- und Layoutkompetenz ins Projekt einfliessen liessen.
An die auftrittserfahrenen Studierenden aus unserem Bekanntenund Freundeskreis, die unserem Lockruf gefolgt sind und auf der
Bühne sowie hinter den Kulissen aktiv geworden sind.
An die Pianistinnen und den Narren, die trotz Maturaprüfungen
und Konsi-Ausbildung an Bord kommen wollten.
Hildegard Elisabeth Keller
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Wir
Hildegard Elisabeth Keller
Charles Mori
Julia Sandor
Katja Minetti
Rachel Kyncl
Sandra Suter
Sibylle Diethelm
Ursula Meier
Corina Enzler
Martina Gut
Johann Fichtner
Andrea Ritzmann
Aurel Hassler
Stefan Schöbi
Urs Baldinger
Rolando Henrich
Gesamtleitung, Autorin «Eine Welt voller
Narren!», Programmheft
Budgetplanung, Autor «Der Narr vom Greifensee», Schauspieler, Programmheft
Textauswahl und Rezitation «Salam! - im
Orient der Narren», Programmheft
PR, Sekretariat, Finanzen, Ticketverkauf
Schauspielerin, Catering, PR, Programmheft
Liedauswahl, Sängerin, Schauspielerin,
Programmheft
Liedauswahl, Sängerin, Schauspielerin,
Catering, Programmheft
Schauspielerin, Kostüme
Schauspielerin, Kostüme
Programmheft
Layout und Chefredaktion Programmheft
Schauspielerin
Schauspieler, Sänger, Trompeter
Schauspieler
Schauspieler
Schauspieler
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