Fall 1

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Fall 1
Repetitorium Grundrechte
Prof. Dr. Gersdorf
WS 2012/2013
Fall 1: Luftsicherheitsgesetz
Anlässlich erneuter Terrordrohungen gegen Deutschland im Jahr 2012 (z.B. zum Oktoberfest)
rückt auch die Bedrohung aus der Luft wieder in den politischen Fokus. Die vom BVerfG für
nichtig erklärte Norm des § 14 III LuftSiG soll wiederbelebt werden, um der veränderten Terrorbedrohung gerecht werden zu können. Daher wird ein neuer § 14 III LuftSiG ordnungsgemäß in den Bundestag eingebracht und beschlossen.
§ 14 LuftSiG lautet:
(1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die
Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz
von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben.
(2) …
(3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den
Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, die Waffengewalt das einzige Mittel zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr ist und fest steht, dass Unbeteiligte durch einen Abschuss des
Flugzeuges nicht zu Schaden kommen.
Die Landesregierung von X begrüßt zwar grundsätzlich Maßnahmen zur Terrorabwehr, hat
aber Zweifel an der Verfassungskonformität der Neuregelung. Auch wenn das jeweilige Flugzeug ausschließlich mit Terroristen besetzt sei, würden diese Menschen zum bloßen Objekt
staatlichen Handelns gemacht. Dem Staat sei generell die gezielte Tötung von Menschen
verboten.
Frage 1:
Hätte ein abstraktes Normenkontrollverfahren der Landesregierung von X
gegen § 14 III LuftSiG Aussicht auf Erfolg?
Hinweis: Wehrverfassungsrechtliche Aspekte sind nicht zu untersuchen.
§ 21 LuftSiG lautet:
Die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person (Artikel
2 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes), das Grundrecht des Postgeheimnisses (Artikel 10 Abs. 1 des Grundgesetzes) und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden nach Maßgabe dieses Gesetzes
eingeschränkt.
Frage 2:
Kann die Landesregierung von X mit Erfolg einen Verstoß gegen das Zitiergebot rügen, weil Art. 1 I GG nicht aufgeführt ist?
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Lösungsvorschlag
Frage 1: Abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG)
I. Zulässigkeit
1. Zuständigkeit des BVerfG für abstrakte Normenkontrollverfahren

(+) aus Art. 93 I Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG
2. Antragsberechtigung


„Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages“, Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG
(+) da Landesregierung (LReg X) Antrag stellt
3. Prüfungsgegenstand


„Bundes- oder Landesrecht“, Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG
(+) da Bundesrecht; § 14 LuftSiG ist eine Bundesnorm
4. Antragsbefugnis


„bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln“, Art. 93 I Nr. 2 GG bzw. „FürNichtig-Halten“, § 76 I Nr. 1 BVerfGG
(+) ernsthafte Zweifel reichen aus; diese liegen lt. SV vor
5. Form

schriftliche Begründung, § 23 I BVerfGG; (+) zu unterstellen
6. Zwischenergebnis

Antrag wäre zulässig
II. Begründetheit


Normenkontrollantrag begründet, wenn das LuftSiG verfassungswidrig ist. Bei der abstrakten Normenkontrolle handelt es sich um ein objektives Beanstandungsverfahren,
d.h. es geht gerade nicht um die Verletzung konkreter subjektiver Rechte (wie bei einer
VB). Gleichwohl geht es (meist) um die Vereinbarkeit mit den Grundrechten, weshalb der
Aufbau in der Begründetheit jenem eines subjektiven Beanstandungsverfahrens ähneln
kann.
in Betracht kommen vorliegend hauptsächlich Verstöße gegen Art. 2 II 1 GG und Art. 1 I
GG sowie gegen Vorschriften der Wehrverfassung (Art. 87a GG)
1. Verstoß gegen Art. 2 II 1 GG
a) Schutzbereich
 persönlich: „Jeder“
 sachlich: schützt das Leben i.S. körperlicher Existenz; Lebensschutz beginnt schon
vor der Geburt und endet mit dem Hirntod
 schützt jedenfalls vor Tötung eines Menschen
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b) Eingriff
 ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder erheblich erschwert
 vorliegend ermöglicht § 14 III LuftSiG den Abschuss eines Flugzeuges und damit
die Tötung der Insassen (ergibt eine systematische Analyse des Abs. III mit Abs. I)
 nicht zu folgen ist der Argumentation, dass § 14 III LuftSiG nur eine Zuständigkeitsregelung beinhalte
 Tötung wird zwar erst durch den Vollzugsakt vorgenommen, indes kann nicht auf
diesen gewartet werden; ein unmittelbarer Eingriff liegt daher schon in der Ermächtigung im Gesetz
 Ausführungen dazu, dass bereits eine Gefährdung des Lebens einen Eingriff darstellt, sind daher überflüssig
 Teilweise wird die Möglichkeit einer (hypothetischen) Einwilligung diskutiert, diese aber überwiegend abgelehnt. Fraglich ist, ob dies für Terroristen fruchtbar gemacht werden kann: Sie besteigen ein Flugzeug, um dieses als Waffe zu benutzen
und dabei zu sterben, so dass man (möglicherweise) annehmen könnte, dass sie
in ihre Tötung eingewilligt haben. Indes gilt auch hier, dass das Recht auf Leben
grundsätzlich kein zeitliches Element kennt und einer zeitlichen Abwägung entzogen ist. Daher spricht viel für eine Rechtfertigungslösung und gegen eine Tatbestandslösung.
c) Rechtfertigung
 Rechtfertigung des Eingriffs nach Maßgabe der Schranken des Grundrechts
 hier Einschränkungen durch formelles Gesetz möglich
 § 14 III LuftSiG ist ein formelles Gesetz; müsste aber zur Rechtfertigung formell
und materiell rechtmäßig sein




aa) Fehlende Bundeskompetenz?
Voraussetzung für die formelle Rechtmäßigkeit ist u.a., dass das Gesetz
kompetenzgerecht erlassen wurde
dem Bund könnte hier Gesetzgebungskompetenz fehlen
Gefahrenabwehr liegt grds. in der Kompetenz der Länder
anzudenkende Kompetenztitel des Bundes:
o Art. 73 Nr. 6: Luftsicherheit - (+)1
o Art. 73 Nr. 1: Verteidigung: Problem: Begriff der Verteidigung;
grundsätzlich nur gegen Kombattanten von außen, daher (-)(str.)
o Art. 73 I Nr. 9a: behandelt zwar Terrorismusabwehr, erfasst aber
nur Befugnisse des BKA; daher (-)
o Art. 87 a II: kein Fall der Verteidigung; daher (-)
o Art. 35 II, III (-), da keine Gesetzgebungskompetenz
bb) Zwischenergebnis
 Kompetenz aus Art. 73 Nr. 6 GG
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Unbedingt dazu beachten: BVerfG NVwZ 2012, 1239.
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cc) Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?
 § 14 III LuftSiG könnte darüber hinaus auch materiell gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen.
 Beurteilung der Verhältnismäßigkeit setzt eine Abwägung der betroffenen Güter/Interessen im Einzelfall voraus; Maßstab sind z.B. die Intensität des Eingriffs, Nähe der Gefahr, die Gewichtigkeit der betroffenen und geschützten
Güter, das Bestehen verfahrensrechtlicher Absicherungen, die Betroffenheit
von Unbeteiligten, etc.
 vorliegend:
o Zweck: Rettung von Menschenleben
o Eignung: nicht schlechthin ungeeignet; Zweckförderung ausreichend
o Erforderlichkeit: § 14 I, III LuftSiG als ultima ratio ausgestaltet
o Angemessenheit:
- Eingriff in hohes Rechtsgut Leben der Terroristen
- bedroht ist gleichsam das Leben vieler Unbeteiligter
- gleichwertiger (str.) Grundrechtskonflikt zwischen Eingriffsdimension und Schutzdimension der Grundrechte; führt zu Einschätzungsspielraum des Staates
- hier:
 Besonderheit: Terroristen machen Flugzeug und ihr Leben zur Waffe (Unbeteiligte werden nicht „Teil der Waffe“)
 geringerer Grundrechtschutz; Terroristen müssen sich
die Grundrechtsgefährdung der potentiellen Opfer zurechnen lassen
 Terroristen entscheiden selbstbestimmt und könnten
dem staatlichen Eingriff jederzeit durch Aufgabe entgehen
 die hohen Eingriffsvoraussetzungen (sichere Erkenntnisse) garantieren Angemessenheit
 umstritten ist neuerdings, ob Argumente wie die Zahl
der Opfer oder die potentielle Restlebenserwartung berücksichtigt werden können
- Abwägung fällt nicht zu ungunsten von § 14 III LuftSiG aus
dd) Verstoß gegen Wesensgehaltsgarantie?
 § 14 III LuftSiG könnte wegen Verstoßes gegen die Wesensgehaltsgarantie
(Art. 19 II GG) materiell verfassungswidrig sein.
 Die Wesensgehaltsgarantie verbietet, dass eine staatliche Maßnahme für
die Allgemeinheit oder individuell (Theorie vom Wesensgehalt ist umstritten) vom Grundrechtsgehalt nichts mehr übrig lässt.
 Indes ist für das Grundrecht aus Art. 2 II GG, das unter Gesetzesvorbehalt
steht und daher im Extremfall auch eine Entziehung des Lebens erlaubt,
anerkannt, dass in der ultima ratio Möglichkeit des Lebensentzuges kein
Wesensgehaltsverstoß liegt.
 Für Art. 2 II GG gilt insofern eine absolute Betrachtung des Wesensgehaltes: vom Leben generell bleibt auch bei Entzug für einen Einzelnen etwas
übrig.
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daher: kein Verstoß gegen den Wesensgehalt von Art. 2 II GG
ee) Zwischenergebnis
 § 14 III LuftSiG ist formell verfassungswidrig, materiell hingegen verfassungsgemäß.
2. Verstoß gegen Art. 1 I GG
a) Schutzbereich
 Menschenwürdebegriff ist vielschichtig
 Leistungsformel: bestimmt sich nach der Verwirklichung des Menschen
 Mitgiftformel: ist dem Menschsein inhärent; Menschsein an sich geschützt
 keine allgemeingültige Definition; aber Subjektivität des Einzelnen geschützt
b) Eingriff
 für Art. 1 I GG durch das BVerfG i.S.d. Objektformel dahingehend konkretisiert, dass der Staat den Einzelnen nicht zum bloßen Objekt machen darf
(Objektformel)
 daran ist Kritik geübt worden und die Formel hat weitere Konkretisierungen erfahren, wird aber vom BVerfG weiter verwendet
 jedenfalls: allein die Tötung stellt keinen Verstoß gegen Menschenwürde
dar
 Problem: vorliegend ist der Abschuss von Unbeteiligten ausgeschlossen;
die Menschenwürde ist aber dann nicht betroffen, wenn Kompensationsregelungen vorhanden sind, welche die Subjektivität des Betroffenen bewahren; hier liegt die „Restsubjektivität“ in der Usurpierung des Flugzeugs
als Waffe; damit ist „nur“ noch das Leben betroffen und keine Herabwürdigung zum bloßen Objekt mehr vorhanden
 da Unbeteiligte nicht betroffen werden, liegt ein Eingriff in Art. 1 I GG
nicht vor
Exkurs:
 Bejahte man einen Eingriff in die Menschenwürde der Terroristen, gälte
folgende Besonderheit: Eingriff in Art. 1 I GG hat grds. per se die Verfassungswidrigkeit zur Folge und kann nicht gerechtfertigt werden; Ausnahme: Man vertritt die Ansicht, dass Menschenwürde mit Menschenwürde
kollidieren kann und nimmt eine (gleichwertige!!! str.) Kollision zwischen
Schutzpflicht und Eingriff an. Auch die Betroffenen am Boden bzw. der Stelle, an der das Flugzeug zum Absturz gebracht werden soll, haben ein Recht
auf Menschenwürde und u.a. auf einen würdevollen Tod. Der Staat muss
sich schützend vor dieses Recht stellen.
 Mit diesen Erwägungen könnte man versuchen, mit viel Begründungsaufwand den dem Wortlaut nach strikt unzulässigen Eingriff zu rechtfertigen.
c) Zwischenergebnis
 § 14 III LuftSiG verstößt nicht gegen Art. 1 I GG und begegnet auch insofern keinen materiell-rechtlichen Bedenken.
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3. Verstoß gegen Art. 35 II, III GG?
o Einschlägigkeit von Art. 35 II oder III GG?
- möglicherweise Art. 35 II GG:
 hier aber problematisch: Anwendung soll nach Art.
35 II GG das jeweilige Landesrecht finden; hier aber
§ 14 III LuftSiG als Bundesrecht
 darüber hinaus: Landesrecht sieht Einsatz militärspezifischer Waffen nicht vor; Art. 35 II 2 GG setzt
ein „Anfordern“ voraus; alleinentscheidende Kompetenz des Bundes nach § 14 III LuftSiG kann nicht
als Anfordern angesehen werden
 daher: Art. 35 II GG nicht einschlägig
- möglicherweise Art. 35 III GG:
 Art. 35 III GG erlaubt Einsatz durch den Bund
 umstritten, ob aufgrund des Einsatzbegriffes auch
militärische Mittel zugelassen sind und ein besonders schwerer Unglücksfall vorliegt
 problematisch ist auch die Überregionalität nach
Art. 35 III
 Einsatz ist nach Art. 35 III GG zugelassen/ nicht zugelassen (Entscheid offen)
III. Ergebnis

Ein abstraktes Normenkontrollverfahren der LReg X wäre zulässig (unstr.) und begründet
(str.).
Frage 2: Verstoß gegen das Zitiergebot
 Art. 19 I 2: Grundrechtseinschränkendes Gesetz muss Grundrecht nennen, das eingeschränkt wird
 Art 1 I GG wird aber nicht genannt
 Problem: ist Art. 1 I GG ein Grundrecht? (str.; Argumente: materieller Inhalt; Systematische Stellung)
 aber: bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt gilt Zitiergebot nicht! Darüber hinaus
wäre nach der (noch) vorherrschenden Auffassung eine Nennung des Art. 1 I schlicht
sinnlos, da Eingriffe nicht zu rechtfertigen wären.
 kein Verstoß gegen das Zitiergebot
Achtung: Bei der letzten Besprechung vor einem Jahr wurde dieser Fall noch anders besprochen – im Juli 2012
gab es zum Thema eine wichtige Entscheidung des BVerfG („Einsatz der Bundeswehr im Inland“, s.o. Hinweis
innerhalb der Falllösung)
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